Eine Woche in Berlin.#

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  1. Wolfgang Rasch
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04.12.2024
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396 Eine Woche in Berlin.#

I.#

Berlin wächst an Straßen, mehrt sich an Menschen, aber man kann des Abends um neun Uhr doch im Anhaltischen Bahnhofe ankommen und wird, mit einer Droschke von der Wilhelmsstraße zu den Linden fahrend, glauben, in Herculanum und Pompeji zu sein; denn selbst die große Friedrichsstraße gleicht dann schon einer verlängerten Gräberstraße. Auf fünf von der Eisenbahn herwackelnde Droschken zwei Menschen zu Fuß, einer auf dem Trottoir rechts, einer auf dem Trottoir links. Doch es ist eigen mit der Stille einer großen Stadt. Am Gendarmenmarkt feierliche Ruhe und in dem so gespenstisch einsam daliegenden Schauspielhause stürmte vielleicht eben ein vielhundertstimmiges Da capo. In seinem Concertsaale sang wenigstens Jenny Goldschmidt-Lind.

Wenn man nicht in der Lage ist, seine Ankunft in Berlin vermittels telegraphischer Depesche irgend einem Hôtelier unter den Linden anzeigen und sich eine Suite Zimmer im ersten Stock zweckmäßig vorrichten zu lassen, so wird man in der Hauptstadt der Intelligenz immer einige Mühe haben, sich in seinem Absteigequartier mit dem Wahlspruche auszusöhnen: Ländlich, sittlich. Die Rechnungen der Hôtels bleiben gewiß hinter den Fortschritten der Zeit nicht zurück, aber die Aermlichkeit der Zimmerausstattungen, das Ge-397präge der auf allen möglichen Auctionen zusammengekauften Möblirung und die scheinbare Halbeleganz gewisser, durch übermäßige Ausnutzung halbverwitterter Verzierungen, z. B. des unvermeidlichen Wachstuchs auf den Fußböden, stellt immer wieder die Aermlichkeit des berliner Comforts heraus, von den Betten, ihrer Enge, ihren centnerschweren Federpfühlen nicht zu reden. Von Doppelfenstern ist in der lichtliebenden Stadt wenig die Rede. Man erkennt auf diesem Gebiete immer wieder in Berlin seine alten Pappenheimer und läßt sich’s an ihnen genügen, wenn nur dafür die Ausbeute an geistiger Anregung desto belohnender zu werden verspricht.

Regen und Schnee, Sturm und Kälte lassen die großen Schmuzflächen der berliner Plätze und Straßen doppelt schauerlich erscheinen. Unabsehbar sind diese Wasserspiegel. Unter den Linden fegen die Straßenkehrer eine ganz eigenthümliche breiige Masse zusammen, ein fünftes Element, das bekanntlich auch nur in oder doch bei Berlin die Erfindung einer gewissen Plastik aus Straßenkoth möglich gemacht hat. Ob sich nicht auch aus der flüssigen und kaltgewordenen Lava, die von Kranzler bis zum Victoriahôtel stündlich zusammengekehrt wird, wie aus Chausséestaub eine Terra cotta für Eichler’s plastisches Cabinet bilden ließe? An Ordnung in der Handhabung der das Eis, den Schnee und den Schmuz betreffenden polizeilichen Vorschriften fehlt es nicht. An jeder Straßenecke der belebten Gegenden steht ein Constabler, der nach dem Charakter der preußischen Monarchie, als einer vorzugsweise spartanischen, auch nur im Helme des Kriegers für den öffentlichen Frieden sorgt. Man hätte aber die Neuerung des Helms nicht zu weit sollen um sich greifen lassen. Von der Ehre, ihn tragen zu dürfen, hat man jetzt die Droschkenkutscher glücklicherweise wieder ausgeschlossen.

Eine in die Augen springende Verschönerung der Stadt, die sie seit einigen Jahren gewonnen, sind die nun endlich fertiggewordenen Standbilder auf den großen Granitwürfeln der Schloßbrücke. Wol über zwanzig Jahre schon standen diese blanken Quadersteine und harrten ihrer künftigen Bestimmung. Was hatte man nicht anfangs auf ihnen einst zu erblicken gehofft? Heilige und Propheten, Panther und Löwen, berühmte Divisionsgenerale und bewährte wachsame Residenz-Commandanten. Jetzt ist „Das Leben des Kriegers“ daraus geworden in griechischer Auffassung. Ob die vielen Klagen über allzu große Natürlichkeit dieser Gruppen einen Grund haben, läßt sich noch nicht recht von dem heutigen Wanderer beurtheilen. Das Schneegestöber verdeckt alle Aussicht, der durch die einfache Trottoirreihe ohnehin beengte Fußboden ist zu naß, um irgendwo bequem nach dem ionischen Himmel aufblicken zu können, der sich über diesen weißen Marmorgruppen ausspannen sollte. Die armen Krieger, wie es scheint gewöhnt an die Ebenen von Griechenland, wo sie als Ringkämpfer bei den Nemeischen Spielen den Preis gewannen, haben heute dicke Epaulettes von Schnee auf ihren Achseln liegen. Man darf mit ihnen einiges Mitleid haben, man darf annehmen, daß sie frieren; denn zu ersichtlich sind sie nach Modellen der schönsten Grenadiere vom ersten Garderegiment gemeißelt; zu ersichtlich ist ihre Nacktheit keine gewohnte, sondern nur ein zufälliges Ausgezogensein bei einem gutgeheizten berliner Atelierofen; zu ersichtlich ist ihre nur auf die allgemeine Militärpflicht, die ein- und dreijährige Dienstzeit, die Manoeuvrezeit und ein mobilisirtes Ausrücken nebst endlicher Errungenschaft eines ehrenvollen Ordens oder einer Anstellung gehende Allegorie. Die übergroßen Flügel der Victorien sind schon für die Harmlosigkeit einer Beziehung auf Griechenland zu verdächtig. Man hat diese Flügel der Victorien hier in neuerer Zeit schon zu stereotyp neupreußisch, d. h. als Cherubimsschmuck, ausgebildet: es sind dieselben christlichen Victorien, die auf Wach’schen Bildern das Grab des Heilands hüten, die den Eingang in die Kuppeldachkapelle des Schlosses bewachen und auch sonst schon in die gewöhnlichen Verzierungen der Stadt übergegangen sind, selbst bei gewerblichen Zwecken. Diese mehr christlichen als antiken Cherubim wecken in der Bekränzung der Krieger immer nur die Vorstel-398lung eines seine Pflicht erfüllenden modernen jungen Landesvertheidigers und darum scheint das berliner Mitleid um die erfrierenden jungen Conscriptionspflichtigen und der mehrfach geäußerte Wunsch, ihnen warmhaltende Mäntel und Beinkleider zu schenken, nicht ganz unmotivirt. Nur über die allzu natürliche Wiedergabe der Natur hat man sich mit Unrecht beklagt. Die jungen Grenadiere stehen so hoch, die Granitwürfel haben erst noch einen so ansehnlichen Ueberbau erhalten, daß eine junge Dame schon sehr neugierig sein muß, wenn sie, aus einer Predigt im Dom kommend, an dem modernen Griechenthum auf der Schloßbrücke ein Aergerniß nehmen will.

Wie praktisch sich unsere Zeit zum alten Griechenthum und sogar zu dem sonst so beliebten unverfälschten Mittelalter bewährt, zeigt die erste, wirklich zweckmäßig verbesserte gothische Kirche, die man hier kürzlich eröffnet hat. Die unglückliche, so oft vom Feuer zerstörte Petrikirche hat in ihrem Neubau mit dem Feuer einen andern Vertrag geschlossen; sie wird geheizt. Der geschickte Baumeister Dieckhoff brachte in die versteinerte Palmenwelt der christlichen Architektur eine Versöhnung mit dem nordischen Klima, die unsere Erwin von Steinbach vergessen hatten. Kirchen, für das Bedürfniß Italiens und Spaniens erbaut, hatte man Jahrhunderte lang auf deutschem Boden nachgeahmt zum Kummer aller Christen, die auch im Winter fromm sein wollen. Manchem Christabend von zwanzig Grad Réaumur unter Null mußte, um die andächtige Phantasie in eine Sternennacht von Palästina zu versetzen, der Kohlentopf nachhelfen. Jetzt aber ist in eine schnell emporgewachsene schöne gothische Kirche vom ehrwürdigsten augsburger und nürnberger Aussehen ein heißer Fußboden von Ziegelsteinen mit einer Art von Dampfdrainage (Röhren sind vom unterirdischen Kessel in tausendfacher Zahl durch das ganze Gewölbe verbreitet) gekommen und schon beeifern sich andere Kirchen, deren Geistliche auch im Winter Zuhörer haben wollen, die Gothik mit der amerikanischen Nützlichkeitstheorie zu verbinden. Der Architekt Dieckhoff soll jetzt schon einer Menge Kirchen warme Fußböden legen, eine zu beachtende Neuerung, die vielleicht auf die gesunde Vernunft nicht ohne vortheilhaften Einfluß ist. Denn kalte Füße treiben bekanntlich das Blut empor und erzeugen nicht selten Ansichten, die ein behaglicheres Gleichgewicht der Körperfunctionen berichtigen kann.

Die Zunahme Berlins an Straßen, Häusern, Menschen, industriellen Unternehmungen aller Art ist außerordentlich. Auf Stellen, wo ich mich entsinne, mit Gespielen im Grase gelegen und an einer Drachenschnur gebändelt zu haben, sitzt man jetzt mit irgend einer Dame des Hauses, trinkt Thee und unterhält sich über eine wissenschaftliche Vorlesung aus der Singakademie. Wo sonst die blaue Kornblume im Felde blühte, stehen jetzt großmächtige Häuser mit himmelhohen geschwärzten Schornsteinen. Die Fabrik- und Gewerbsthätigkeit Berlins ist unglaublich. Bewunderung erregt es z. B., einen von der Natur und vom Glück begünstigten Kopf, den Maschinenbauer Borsig, eine imponirende, behäbige Gestalt, in seinem runden Quäkerhut in einer kleinen Droschke hin und her fahren zu sehen, um seine drei großen, an entgegengesetzten Enden der Stadt liegenden Etablissements zu gleicher Zeit zu regieren. Borsig beschäftigt 3000 Menschen in drei verschiedenen Anstalten, von denen das große Eisenwalzwerk bei Moabit eine Riesenwerkstatt des Vulcan zu sein scheint. Es kommen dort Walzen von 120 Pferdekraft vor. Borsig baut gegenwärtig an der fünfhundertsten Locomotive. Man berechnet ein Capital von sechs Millionen Thalern, das allein durch Borsig’s Locomotivenbau in Umsatz gekommen ist. Es macht dem reichen Manne Ehre, daß er sich von den glücklichen Erfolgen seiner Unternehmungen auch zu derjenigen Förderung der Kunst gedrungen gefühlt hat, die im Geschmacke Berlins liegt und dem Könige in seinen artistischen Unternehmungen secundirt. Er hat sich eine prächtige Villa gebaut und pflegt einen Kunstgarten, der schon ganz Berlin einladen konnte, die Victoria regia in ihm blühen zu sehen.

Für gewisse industrielle Specialitäten gibt es in Berlin Betriebsformen, die wenig-399stens auf dem Continente ihres Gleichen suchen. Vor dem Schlesischen Thore liegen die Kupferwerke von Heckmann. Hier werden jene riesigen Vacuumpfannen geschmiedet, die man in den Rübenzuckerfabriken nöthig hat; hier werden die Kupferdrähte für die elektrischen Telegraphen gezogen. Heckmann bezieht sein Material direct aus England, Schweden und vorzugsweise Rußland. Ebenso großartig ist Ravené’s Handel mit Schmiedeeisen, Blei, Messing, Zinn und allen metallischen Rohproducten. Es charakterisirt den berliner Großkaufmann, der seine ursprünglichen naiv-bürgerlichen Triebe nicht lassen kann, daß Ravené in einem Anfall guter Laune sämmtliche verkäufliche Weine in Bordeaux aufkaufte und sich das Privatvergnügen machte, das Modell einer großartigen, aber soliden Weinhandlung aufzustellen, an der es ihm in Berlin sehr nöthig schien. Goldschmidt und Dannenberger haben Kattunfabriken im Gange, die Tausende von Menschen, die Bevölkerung kleiner Stadtbezirke, beschäftigen, überdies ein pauperistisches Element enthalten, das eine umsichtige Behandlung erfordert.

Suchen wir nun in einigen weitern Artikeln die Eindrücke eines kurzen Carnevalbesuchs in Berlin ausführlicher festzuhalten.

409 II.#

Es gibt ein Wort, das man nur in Berlin versteht. Aber auch nur in Berlin finden sich Erscheinungen, die man damit bezeichnen muß. Es ist dies der Ausdruck: Quatsch.

Quatsch ist der Anlauf zum Witz, der, auf dem halben Wege stehen bleibend, dann natürlich noch hinter dem halben Verstande zurückbleibt. Denn man kann eine halbwegs 410 vernünftige Meinung, ein halbwegs ernstes Urtheil noch immer als eine leidliche Manifestation gesunder Vernunft gelten lassen. Der halbe Verstand gehört oft der Mystik an, die bis auf einen gewissen Punkt auch gewöhnlich eine Art Logik für sich hat. Der halbe Witz aber ist schrecklich. Er ist das absolut Leere. Er macht die Voraussetzung, etwas Apartes bringen zu wollen und bleibt in der Grimasse stecken. Er schneidet ein pfiffiges Gesicht und sagt eine Dummheit. Quatsch ist nicht etwa der Unsinn. Es lebe unter Umständen der Unsinn! Den Unsinn haben Aesthetiker göttlich genannt, den echten, wahren, natürlichen Unsinn, der die Hälfte z. B. des wiener Witzes ausmacht. „Ein vollkommener Widerspruch fesselt Weise und Thoren“, sagt Goethe; aber der relative Widerspruch ist das ewig Gesuchte, das niemals Zutreffende, das herren- und ziellos Herumtaumelnde und Faselnde, mit einem Wort das Quatsche.

Berlin ist groß im Quatschen. Es kichert über jede Grimasse zum Witz, wenn auch der Witz ausbleibt. Irgend eine zwei mal wiederholte absonderliche Redensart findet unverzüglich ihr Publicum. Man findet hier Menschen, die für witzig gelten, weil sie keinen Satz enden wie andere Menschen, jedes Ding mit einem andern Namen nennen, Begriffe verwechseln und das Ernsteste im Tone der Ironie sagen. Es herrscht bei ihnen ein ewiges Vermeiden der geraden Linie, die andere Menschen gehen; sie fallen, sie stolpern über sich selbst; die Berliner nennen das Alles witzig, während ein Vernünftiger es quatsch nennen muß. Ich sah „Müller und Schultze bei den Zuluh-Kaffern“. Der Gegensatz war burlesk genug. Die wilden Hottentotten mit ihrem rasenden Tanze, ihrem Kriegsgeschrei, ihrem gellenden Pfeifen, mit Geberden, die eine Hetze wahnsinniger Affen zu zeigen schienen und im Grunde Furcht und Entsetzen, Grauen und Mitleid, solches Gebahren menschlich nennen zu müssen, einflößte, und unter ihnen die beiden Stereotypen des „Kladderadatsch“, zwar ziemlich treu im Aeußern, aber in jedem Worte, das sie sprachen, Vertreter des absolut Quatschen bis zum Ekel. „Schultze!“ „Müller!“ „Müller!“ „Schultze!“ „Bist du et?“ „Ja, ik bin et.“ „Hurrjeh!“ u. s. w. Man denke sich einen solchen Scherz auf dem Palais-Royal-Théâtre in Paris, wir wollen nicht einmal sagen mit Levassor und Ravel, sondern nur mit Sainville und Kalekaire! Das Kroll’sche Theater mag die Mittel nicht besitzen, gute Komiker zu bezahlen, aber der Text von Cormon, Clairville, Dennery und wie die Fabrikanten solcher Gelegenheitsscherze in den kleinern pariser Theatern heißen, würde nicht so unbedingt nur fade sein. Man muß das pariser Oh! Oh! gehört haben bei jedem abblitzenden Einfall eines solchen Unsinn-Textes, um zu verstehen, wie die Franzosen auch bei solchen Veranlassungen witzig und geistreich sein können. Diese berliner Dramatisirung der Zuluh-Kaffern war aber so widerwärtig, als wenn man sich vorstellen wollte, der Naturgeist selbst erhübe einmal seine gewaltige Stimme, finge zu reden an und verwechselte dabei Mir und Mich.

Das Quatsche ist doch wol in den Berliner dadurch gekommen, daß sein ursprünglich einfacher, sogar naiver und kindlicher Sinn den Anforderungen einer immer mehr anwachsenden und über seine geistige Kraft hinausgehenden Stadt nicht gleichkommt. Schon das verdorbene Plattdeutsch, das den Volksjargon bildet, trägt den Stempel der Unzulänglichkeit an sich. Es ist die absolute Sprache der Unterordnung, der Beschränktheit; es ist die Sprache der Hausknechte, Hökerinnen, kleinen Rentiers, der Kinder, des in die Stadt versetzten Bauers. Die Sprechweise der Gebildeten trägt so sehr noch die Spuren vom Tonfall des Volksdialekts, daß es zu einer ganz freien Sprachbehandlung im Sinne des reinen Oberdeutschen hier nur bei sehr Wenigen kommt. Wird nun ein so beschränktes und in seiner Art doch wieder sehr scharf ausgeprägtes Sprachmaterial bestimmt, dem großen Ideenkreise einer Stadt, die eine Hauptstadt der deutschen Intelligenz sein will, zum Ausdruck zu dienen, so entsteht dadurch jenes absolut Alberne, das man eine Art Geistespatois nennen möchte. Diese Misgeburt entstand erst mit der Zeit, wo Berlins Trieb 411 nach öffentlicher Bewährung wuchs. Seine Bevölkerung emancipirte sich zum Großstädtischen. Die Schusterjungen machten wol die öffentliche Meinung schon zu Friedrich’s des Großen Zeit; der König sagte den Katholiken, die das Fronleichnamsfest öffentlich feiern wollten: Er hätte nichts dagegen, wenn die Schusterjungen es nicht hinderten. Allein die literarische Vertretung des Schusterjungenthums ist neu und schreibt sich von den bekannten Eckensteherwitzen her. Dieser Fortschritt war an sich nicht unwichtig. Es ist mit diesem Neu-Berlinerthum viel gesunde Vernunft zur Geltung gekommen und wer würde verkennen, daß „Kladderadatsch“ ganz Deutschland, von Saarlouis bis Tilsit, vorm Einschlafen geschützt hat? Aber die „Gelehrten des Kladderadatsch“ sind witzige Ausländer, die sich nur berlinischer Formen bedienen. Ohne die Schärfe dieses Blattes würden diese Formen, wie die Erfahrungen auf den neueröffneten hiesigen Bühnen zeigen, ganz ins Quatsche zurückfallen.

Die Art, wie hier in neuerer Zeit Bühnen eröffnet worden sind (um diese Fährte des Geschmacklosen weiter zu verfolgen), ist eine der unglaublichsten Inconsequenzen einer Regierung, die in allen andern geistigen Fächern so außerordentlich schwierig ist. Das Ministerium Ladenberg ging auf eine so gewissenhafte Revision der Theaterconcessionen aus und in Berlin durften Kaffeehäuser und Tanzlocale sich in Theater verwandeln! Es ist noch ein wahres Glück, daß unser Schauspielerstand durch die sogenannten Tivolitheater nicht ganz verwildert ist, was freilich in einigen Jahren immer mehr der Fall sein wird; es finden sich immer noch einzelne Darsteller, die den Ehrgeiz besitzen, mit ihrer Kunst nicht ganz zu Grunde zu gehen. Kaum ist die nächste materielle Noth befriedigt, so werden sie bestrebt sein, den glücklicher gestellten Collegen an den Hof- und großen Stadttheatern gleichzukommen und Besseres und Edleres zu spielen. So hat sich das hiesige Friedrich-Wilhelmstädtische Theater, besonders durch die Bemühungen der trefflichen HH. Görner und Ascher, zu einer überraschenden Geschmacksrichtung, die sich in den schwierigsten ästhetischen Aufgaben versucht, emporgearbeitet, allein im Sommer verwandelt es sich wieder in ein Parktheater und noch ist die Bevölkerung zu sehr geneigt, an dem Ton Freude zu haben, der auf einigen andern Theatern im Sinne des Quatsch angeschlagen wird. Theater über Theater! Hier gehen Menschen herum, die, ohne die geringste geistige Bildung, ohne Geldmittel sogar, eine Theaterconcession in der Tasche haben; Andere glauben sie ohne weiteres durch ein geeignetes Fürwort an hoher Stelle erlangen zu können. Einen Circus zu eröffnen oder eine Bühne scheint nach den Gesetzen der Gewerbefreiheit einerlei und allerdings hat jeder Speculant Recht, wenn er sich auf seine Vorgänger beruft und z. B. frägt: wie kommt der Cafétier Kroll zu einer Bühne, wie kommen zwei Gebrüder Cerf, Handlungsbeflissene, dazu, wie kommt jener einst zum Gespött der Vorstädte declamatorische Vorstellungen gebende Rhetor Gräbert dazu? Wer ist Herr Carli Callenbach, der auch ein Theater besitzt? Diese Anarchie auf dem dramatischen Gebiete macht dem Freunde der Literatur ganz denselben Eindruck, wie es dem Freunde militärischer Ordnung peinlich war, sogenannte Bürgerwehr in rundem Hut und Ueberrock die Armatur der königlichen Zeughäuser tragen zu sehen. Nicht daß die Bürgerwehr als solche zu verwerfen war, aber sie bedurfte der Organisation, sie bedurfte jener Haltung, die dem Waffendienste geziemt; ebenso verletzt wendet sich die dramatische Muse ab, wenn man ihr opfert wie dem Gambrinus in bairischen Bierstuben. Man kann die treffliche Organisation der pariser Theater mit diesen Polkawirthschaften Thaliens in keine Vergleichung bringen, man vergleiche wenigstens die Theater der wiener Vorstädte. Die Josephstädter Bühne ist vielleicht diejenige unter ihnen, die am tiefsten steht und doch hat sie eine bestimmte Specialität; manches Talent, z. B. Mosenthal’s, entwickelte sich zuerst auf ihr, „Deborah“ erschien zuerst auf der Josephstädter Bühne.

Das Repertoire des Königlichen Theaters fand ich im Schauspiel sehr wenig anziehend, 412 „Waise von Lowood“, „Deutsche Kleinstädter“, „Geheimer Agent“ u. s. w. Es herrscht hier eine Unsitte, mit der sich kein noch so wohlmeinender ästhetischer Sinn vereinbaren läßt, nämlich die Befolgung der Specialbefehle, welche die einheimischen und fremden höchsten Herrschaften über die Stücke aussprechen dürfen, die sie zu sehen wünschen. Es ist dies eine Form des Royalismus, die in der That etwas auffallend Veraltetes hat und in dieser Form in keiner Monarchie der Welt vorkommt. Bald heißt es: „Auf höchstes Begehren“, bald: „Auf hohes Begehren“, bald: „Auf Allerhöchsten Befehl“, bald nur einfach: „Auf Befehl“, unter welcher bescheidenern und auch seltener vorkommenden Form sich die Wünsche des Königs zu erkennen geben. Was ist das aber für eine Unsitte, daß die Kammerherren auch jeder durchreisenden, prinzlichen Herrschaft die Stücke bestellen, welche diese zu sehen wünschen! Die geistigen Armuthszeugnisse, die sich Prinzen, Prinzessinnen, ab- und zureisende kleine Dynasten und Dynastinnen mit ihren Wünschen um dieses Ballet, um jene Oper, um eine kleine Posse geben dürfen, sind schon an sich kläglich und fallen ganz aus der Rolle, welche die Monarchie heutiges Tags zu spielen hat; aber der Gang der Geschäfte wird dadurch auch auf eine Art unterbrochen, unter welcher Kunst und Publicum leiden. Hat eine Prinzessin eine Empfehlung von auswärts bekommen, die ihr eine Schauspielerin oder Sängerin überbrachte, so bestellt sie die Stücke, in denen sie auftreten soll. Kommt der Hof aus Mecklenburg-Strelitz, so legt man ihm die Stücke vor, die gerade leicht anzurichten sind, er streicht sich einige an und man liest: „Auf höchstes Begehren: «Der geheime Agent»“, ein Stück, das jetzt auf jedem Liebhabertheater gesehen werden kann. Der König besitzt so viel Geist, daß ihm diese Manifestationen des Privatgeschmacks seiner Brüder oder Neffen oder Vettern ohne Zweifel viel Heiterkeit verursachen; er sollte aber einen Schritt weitergehen und diesen Misbrauch der von den Kammerherren veränderten Repertoires im Interesse der Kunst und des Publicums verbieten. Es macht sich dies öffentlich kundgegebene Denken und Mitreden der „Herrschaften“ in einem Staate, der ja doch wol ein constitutioneller sein soll, sehr wenig nach dem Geiste der in ihm allein anständigen Oeffentlichkeit.

Natürlich ergibt sich unter solchen Umständen, wo die Großen und Mächtigen öffentliche Fingerzeige über ihren eigenen Geschmack geben dürfen, die Förderung des Gedankenvollen und Nothwendigen an einer Bühne weit schwieriger. Wenn sich die Großen „Satanella“ oder „Aladin’s Wunderlampe“ commandiren, wenn Pferde auf dem Königsstädter Theater agiren, Klischnigg, der Affenspieler, und die Zuluh-Kaffern auf dem Kroll’schen Theater ihr Wesen treiben, kann eine erste Aufführung eines neuen Dramas im Schauspielhause nur ein kleines Publicum finden; vor einem halbbesetzten Hause sah ich die erste Aufführung des „Demetrius“ von Hermann Grimm. Es war ein kleines Geheimrathspublicum aus der gothaer Richtung; ein paar Offiziere, einige Professoren, wenig Studenten, auf zehn Menschen immer ein bestallter Recensent. Die Darstellung war ebenso warm wie die Ausstattung glänzend. Das funkelte von Farbenpracht, Frische und Neuheit der Costümstoffe, überall, in den kleinsten Ausschmückungen der Wände zeigte sich ein vorhergegangenes Studium der betreffenden Geschichte, Sitten und Kleidertrachten der Zeit, in welcher die Handlung spielte. Das Stück war eine Anfängerarbeit, die kaum Talent verrieth (nur aus Ueberfülle sprudelt der Quell einer geistigen Zukunft, nicht aus einer Dürftigkeit, wo sich Armuth den Schein der Einfachheit geben will), aber die Darstellung ging von einem schönen Glauben an den Werth des Stückes aus; nirgends sah man ihr eine Misstimmung über die aufgebürdete, undankbare und für die Zeit der besten Saison verlorene Aufgabe an und mit dem halbunbewußten Pflichtgefühl verband sich die noch immer außerordentlich ansprechende Natürlichkeit der Hendrichs’schen Spielweise. Rollen, die keine Schwierigkeiten der Dialektik bieten, wird Hendrichs immer vorzüglich spielen. Dieser Künstler ist ein schwacher Hamlet, aber ein liebenswürdiger und überredender Romeo. 413 In seiner Passivität liegt Poesie und da er nur die Contouren ausfüllt, die der Dichter ihm vorzeichnet, so nimmt er durch die Treue und Einfachheit, mit der er sich seinen Aufgaben unterzieht, überall für sich ein, wo einmal die Macht der Gewöhnung ein Publicum für ihn gewonnen hat, wie in Berlin, Frankfurt und Hamburg, wo er gewohnte Triumphe feiert.

Ich bedauerte, Dessoir nicht beschäftigter zu finden. Dieser geistvolle Schauspieler leidet hier an der üblichen Abgrenzung unserer Rollenfächer. Der Begriff eines Charakterspielers, den er zu vertreten hat, ist so vieldeutig. Man kann Hamlet als Liebhaber spielen, man kann ihn aber auch, wie Dawison und Dessoir thun, als Charakterzeichnung geben. Dessoir ist einer jener Schauspieler, die zwar in jedem Ensemble eine Zierde sein werden, selbst wenn sie nur zweite Rollen spielen, aber Dessoir hat den ganzen Beruf, eine Stellung einzunehmen, die ihn zum Matador einer Bühne macht und jede bedeutende Aufgabe, die nicht ganz dem Liebhaberfache angehört, ihm zuweist. Alle die Rollen indessen, auf die ihn sein künstlerischer Trieb hinführen muß, sind noch im Besitze der Herren Rott und Döring. Es spricht für die geistige Anregung, die Berlin bietet, für die Belohnung, die man im Beifall eines natürlich sich hingebenden Publicums findet, daß Dessoir darum doch seinen hiesigen, höchst ehrenvoll behaupteten Platz mit keinem andern vertauschen möchte.

Vom Schauspiel sagt man an der Verwaltungsstelle, es würde keineswegs vernachlässigt und es hat sich seit Düringer’s Mitwirkung sehr gehoben; dennoch muß man bei dem Vergleiche der unverhältnißmäßigen Pracht, die das Opernhaus umgibt, wünschen, es würde doch endlich ganz von der Musik und dem Ballet getrennt, es verfolgte seine ernste und schwierige Aufgabe für sich allein. Das Schauspiel kann nur ein Stiefkind erscheinen gegen die Art, wie die Leistungen des Opernhauses nicht etwa von der Verwaltung geboten, sondern vom Publicum empfangen werden. Neun glänzende Prosceniumslogen ziehen fast ebenso viel Aufmerksamkeit auf sich wie die Leistungen der Scene. Das Opernhaus ist das Stelldichein der höhern und mittlern Gesellschaft, der stete Besuchsort der Fremden, die Sehnsucht der allgemeinen Schaulust und ein Tempel des Genusses. Nicht Paris und Wien finden im Ballet ihre speciellsten sinnlichen Bedürfnisse so befriedigt wie Berlin. „Satanella“ und „Aladin’s Wunderlampe“ sind die Ballete des Tags, die Jeder gesehen haben muß und die Derjenige, der die Mittel besitzt, nicht oft genug sehen kann. Welche Fülle von Licht, Farbe, Glanz aller Art, von Jugend, Schönheit und Gefallsucht! Die musikalischen Kräfte sind hier so groß, daß z. B. an Einem Abend im Opernhause der „Prophet“ gegeben werden kann, im Schauspielhause die Zwischenaktmusik zu „Egmont“ vollständig da ist und noch in der Singakademie ein Concert mit der königl. Kapelle begleitet werden kann. Es ist dies nur möglich durch die Unzahl von Accessisten und Exspectanten, die zwar nicht die Leistungen vorzüglich, aber alle Fächer, auch die des Chors und des Balletcorps so vollständig machen. Auf dreißig Tänzerinnen, welche die Verwaltung besoldet, kommen ebenso viel junge, hübsche, talentvolle Mädchen, die unentgeltlich mitwirken, nur um der Anstalt anzugehören und vielleicht einmal in die besoldeten Stellen einzurücken. Vor der Auswahl von jungen Leuten, die Aeltern und Angehörige „um Gotteswillen“ der Verwaltung zu Gebote stellen, kann diese sich kaum retten. Daher auf der Scene die überraschendste Massenentfaltung. Die Kunst der Beleuchtung, der Glanz der Costüms, der Geschmack der Decorationen ist aufs höchste getrieben. Da steigen Feentempel aus der Erde, da senken sich Wolkenthrone mit allen Heerscharen des orientalischen Himmels nieder, da leuchten und blitzen unterirdische Grotten von Edelsteinen, da sprudeln natürliche Springbrunnen im Mondenschein und fallen, vielfach gebrochen, in Bassins herab, an deren Rändern die lieblichsten Gestalten schlummern. Jede Demonstration der Scene ist ganz und vollständig. Nirgendwo erblickt man die Hülfsmittel der bloßen Andeutung, die an andern Bühnen die Illusion vorzugsweise in die ergänzende Phantasie der Zuschauer legt; 414 hier ist die Schere der Oekonomie verbannt, die aus Amazonenröcken von heute für morgen Pantalons für Verschnittene macht. Hier fangen alle Schöpfungen immer wieder von vorn an. Kein Costümier und Decorateur ist an die Wiederaufstutzung alter Vorräthe gewiesen; hier regieren jene Waarenmagazine, wo es immer wieder neue Seide, neuen Sammet und für die geschmackvollsten Maler neue Leinwand gibt.

Ein Ballet in Berlin zu sehen wie „Satanella“ ist in vieler Hinsicht lehrreich. Dem Aesthetiker macht vielleicht die Grazie und herausfodernde Keckheit z. B. der jungen Marie Taglioni eine besondere Freude, aber die Vorstellung im Großen und Ganzen mit Allem, was dazu auch von Seiten des Publicums gehört, ist culturgeschichtlich merkwürdig. Dieser Marie Taglioni sollte man eine Denktafel von Marmor mit goldenen Buchstaben und mitten in Berlin aufstellen. Sie tanzt die Hölle, aber sie ist der wahre Himmel des Publicums; sie tanzt die Lüge, aber sie verdient ein Standbild als Göttin der Wahrheit. Denn man denke sich nur dies junge, reizende, übermüthige Mädchen mit ihren beiden Teufelshörnchen an der Stirn, mit dem durchsichtigen Tricot, mit den allerliebsten behenden Füßchen, mit den tausend Schelmereien und Neckereien der Koketterie, wie nimmt sie sich unter den ehrwürdigen Thatsachen des gegenwärtigen Berlins aus! Dieser kleine Teufel da, im rosaseidenen, kurzen Flatterröckchen, ist sie etwa die in der Vorstadt tanzende Pepita? Nein, sie ist das enfant chérie des berliner Ballets und das berliner Ballet ist das enfant chéri der Stadt, des Hofs, ist die Kehrseite der frommen Medaillen, die hier auf der Brust der Heuchelei von Tausenden getragen werden. Büchsel, Krummacher, Bethanien, Diakonissen, Campo-Santo, Sonntagsfeier, Innere Mission - was ist das Alles gegen einen Sonntag Abend, wenn Berlin in „Satanella“ seine wahre Physiognomie zeigt! Die Prinzen und Prinzessinnen sind anwesend. Hinten auf der Scene funkelt ein Ordensstern neben dem andern, jede Coulisse ist von einem Prinzen besetzt, der sich mit den kleinen Teufelchen des Corps de ballet unterhält. Der erste Rang zeigt die Generale und Minister, das Parket den reichen Bürgerstand, die Tribüne und der zweite Rang die Fremden, die den Geist der Residenz in der Provinz verkünden werden, die obern Regionen beherbergen die arbeitenden Mittelclassen und selbst die halbe Armuth, der man sonst nur Tractätchen in die Hand gibt, hat hier das Frivolste aller Textbücher mühsam nachzustudiren, um die stumme Handlung der Scene zu verstehen. Welche Wahrheit deckst du doch auf, du echte berliner, in der Treibhauswärme der speciellsten, königlich preußischen Haus-Traditionen großgezogene Pflanze, Marie Taglioni geheißen! O so werft doch, ihr besternten Herren, eure Masken ab! Verrathet doch nur, daß euer Privatglaube nichts mehr liebt als die Götter Griechenlands und daß nicht etwa hier der Cultus des Schönen, sondern draußen euer officielles System eine Komödie ist!

Satanella verführt einen jungen Studenten, dem das Repetiren seiner Collegia bei Stahl und Keller zu langweilig scheint. Er hat eine Verlobte, die vielleicht Geibel und „Amaranth“ liest, aber Niemand wird zweifelhaft sein, daß der junge, künftige Referendar besser thut, sich an Heinrich Heine, an die schöne Loreley und die Taglioni zu halten. Wie kalt und nüchtern ist auch die Liebe eines Fräulein Forti gegen die Liebe einer Satanella! Es geht mit letzterer allerdings bergab und geradewegs in die Hölle, aber welcher Zuschauer wird der Narr sein und nicht einsehen, daß der Satan den jungen Lebemann nur Anstands halber holt! Kann das eine echte Hölle sein, in der sogar schon kleine Kinder tanzen, schon kleine Kinder mit Satanshörnern umherspringen und, wie von Selma Bloch geschieht, ein recht widerliches Solo tanzen? Kann das die echte Hölle sein, deren Vorhof die wunderbarste Mondscheinnacht von Gropius mit dem reizendsten Château d’eau und der stillschlummernden antiken Marmorwelt ist? Wird irgend ein Vernünftiger einräumen, daß die Consistorialräthe Recht haben, wenn sie die Venus von Milo eine schöne „Teufelinne“, die Antiken des Vatican überhaupt, wie Tholuck gethan, „schöne Götzen“ 415 nennen? Verwandelt sich all’ diese Lust und Liebe, all’ diese Freude und Behaglichkeit nicht vielmehr nur rein „Anstands halber“, d. h. um dem Vorurtheil zu genügen, in Pech und Schwefel und wird irgend Jemand eine solche Vorstellung, wo besternte Prinzen jede Attitüde der Solotänzerinnen beklatschen, mit einer andern Meinung verlassen als der: Ich fühle wol, es muß einen Mittelweg zwischen Elisabeth Fry und Marie Taglioni, einen Mittelweg zwischen Bethanien und dem Opernhause, einen Mittelweg zwischen den Concerten des Domchors und Satanella geben? Diese berliner Balletabende wecken einen ebenso großen Abscheu vor der mätressenhaften Sinnlichkeit, die durch sie hindurchblickt, wie vor der Kasteiung des Fleisches in der neuen Lehre vom Gefangengeben der Vernunft und dem fashionablen Büßerthum, dessen neupreußische Früchte wir hinlänglich kennen.

Beide Extreme gehen in Berlin auf eine erschreckende Art nebeneinander. Sie gehen nicht etwa getrennt nebeneinander, sondern im Durchschnitt in denselben Personen. Die Heuchelei und die Rücksicht auf Carriere miethet sich einen „Stuhl“ in der Matthäuskirche, nur damit an dem Schilde desselben zu lesen ist: „Herr Assessor N. N.“ und die stille Sehnsucht des wahren innern Menschen ist hier doch allein - der Genuß. Dem Genuß bauen auch andere Städte Altäre; die buntesten, mit Rosen geschmückten Altäre baut z. B. Wien. Aber Berlin ergibt sich immer mehr einer Form des Genusses, die nur ihm ganz allein angehört. Es ist dies die Genußsucht eines Fremden, der in vierzehn Tagen durch seine gefüllte Börse Alles bezahlt, was man in einer Residenz, die er vielleicht in Jahren nicht wieder sieht, für Geld bekommen kann. Es ist die Genußsucht des Gutsbesitzers, der seine Wolle in die Stadt fährt und sich mit vierzehn Tagen Ausgelassenheit für ein Jahr der Entbehrung auf seiner Scholle entschädigt. Dies berliner Lecken und Schlecken hat die Bevölkerung so angesteckt, daß man mit Austernschalen die Straßen pflastern könnte. Wohlleben und Vergnügen ist die Devise des hiesigen Vegetirens geworden, nirgends wird man z. B. den Begriff „Bowle machen“ jetzt so schleckerhaft ausgesprochen finden. Die Betriebsamkeit wird durch den Luxus wol eine Weile gestachelt werden, an Großstädtigkeit der Unternehmungen fehlt es nicht; aber wenn die natürlichen Kräfte versagen, tritt das Raffinement ein und das Raffinement des Verkehrs, gewöhnlich Schwindel genannt, soll hier in einem Grade herrschen, der keine Grenzen mehr kennt. Denn was ist die Grenze, die man Bankrott nennt? Aus Nichts werden die glänzendsten Unternehmungen hervorgerufen. Mit einem Besitze von einigen tausend Thalern muthet man sich die Stellung eines Capitalisten zu. Der Credit gibt nicht dem Redlichen mehr Vorschub, sondern dem Muthigen. Die Entschlossenheit des industriellen Waghalses leistet das Unglaublichste. Wo die größten Spiegel glänzen, wo die goldenen Rahmen tief bis zur Erde niedergehen, wo in den Schaufenstern der Boutiken die fabelhafteste Scheinfülle des Vorraths mit dem Geschmack der Anordnung zu wetteifern scheint, kann man gewiß sein, auf hundert Fälle bei neunzig nur eine Grundlage anzutreffen von eitel Luft und windiger Leere.

Es ist mannichfach schon eine Aufgabe der neuern Poesie, der socialen Romantik geworden, den Lebenswirren, die sich aus solchen Zuständen ergeben müssen, nachzuspüren. Der Todtenwagen rasselt still und ernst durch dies glänzende Gewühl. Rauschende Bälle, in der Faschingsnacht ein Wagendonner bis zum frühen Morgen und die Chronik der Verbrechen, die Statistik der Selbstmorde gibt dem heitern Gemälde doch eine dämonische Beleuchtung. Erschütternd war mir z. B. die Nachricht, daß der Philosoph Beneke von der Universität plötzlich vermißt wurde und wahrscheinlich sich entleibt hat. Erst jetzt kam zur Sprache, daß dieser redliche Forscher, der sich in der Erfahrungsseelenkunde einen Namen erworben und besonders auf die neuere Pädagogik einen nützlichen Einfluß gehabt hat, seit länger als zwanzig Jahren nicht endlich ordentlicher Professor werden konnte und sich mit einem jährlichen Gehalte von 200 Thalern begnügen mußte! Zweihundert Thaler jährlich für einen Denker, während es hier Geistliche gibt, die es auf jährlich 5000 Thaler bringen! 416 Beneke war ein Opfer des Ehrtriebes, der hier noch zuweilen einen edeln Menschen ergreift, nicht auf der allgemeinen Bahn des Schwindels gehen zu wollen. Des Mannes Erscheinen war einfach, war fast pedantisch. Er hatte vor zwanzig Jahren die etwas steifen Manieren eines göttinger Professors nach Berlin gebracht. Seine Vorträge waren etwas ängstlich, seine Perioden allzu gewissenhaft, sein System knüpfte wieder an Hume und Kant an, er ging über die endlichen Bedingungen unsers Denkens nicht tollkühn in die Unendlichkeit; was sind Kennzeichen solcher altbackenen Solidität in einer Stadt wie Berlin, wo nur die glänzende Phrase, der saillante Witz und Esprit, das kecke Paradoxon und jener doctrinäre Schwindel etwas gilt, den Hegel aufbrachte, Hegel, der Jahre lang die trivialsten Köpfe, die nur in seiner Tonart zu reden wußten oder die es verstanden, ihrem sogenannten Denken eine praktische Anwendung auf beliebte Religions- und Staatsauffassungen zu geben, zu ordentlichen Professoren befördern konnte! Hamlet ist auch darin das große und Shakspearen auf den Knieen zu dankende Vorbild aller mit der Welt verfallenen Geistesfreiheit, daß er auf des Königs Frage, wie es ihm ginge, antwortet: „Ich leide am Mangel der Beförderung.“

  • - - Wer ertrüge
  • Den Uebermuth der Aemter und den Kummer,
  • Den Unwerth schweigendem Verdienst erweist!
  • 442 III.#

    Eine derjenigen Schöpfungen des Königs, in denen man unbehindert von irgend einer drückenden Nebenempfindung athmet, ist und bleibt das Neue Museum. Der Fremde wird es bei jedem Besuche wiederzusehen sich beeilen, er wird sich der Fortschritte freuen, die die Vollendung des Ganzen inzwischen gemacht hat, er wird sich in diesen Räumen aller lästigen Beziehungen auf locale Absichten und Einbildungen erwehrt fühlen und im Zusammenhange wissen nur mit jenen allgemeinen deutschen Kunstbestrebungen, die uns die Schönheit und Pracht von München, die Ausschmückung des königlichen Schlosses in Dresden, die neuen Pläne für Weimar und Eisenach, unsere neuen Denkmäler, Kunstausstellungen, Kunstvereine und den Aufschwung unserer Akademieen geschaffen haben. Das Neue Museum liegt in einem versteckten, zur Stunde noch beengten, unfreundlichen Winkel der Stadt, aber es ist die traulichste Stätte der Begrüßung, das heiterste Stelldichein des Geschmacks und der prüfenden, immer mehr wachsenden Neugier der Einheimischen und der Fremden, die sogleich hierher eilen. Es entwickelt sich langsam, aber reich und gefällig. Es entwickelt sich unter Auffassungen, die uns wahlverwandt sind. Wir sind in Italien und in München vorbereitet auf Das, was wir hier wiederfinden. Diese Räume hat mit den Eingebungen seines Genius vorzugsweise eine große, freie Künstlernatur zu beleben, ein Dichter mit dem Pinsel, ein Denker nach Voraussetzungen, die nicht aus dem märkischen Sande stammen. So stört uns denn auch hier kein beliebter byzantinischer Schwulst, keine russischen Pferdebändiger, oder Athleten oder Amazonen erfüllen uns, während wir an Athen denken wollen, mit lacedämonischen Vorstellungen; selbst die hier in Berlin überall aushängende Devise: „Nach einem Schinkel’schen Entwurf“, stört uns nicht. Man muß Schinkel einen erfindungsreichen und sinnigen Formendichter nennen, aber er schuf doch wahrlich zu viel auf dem Papiere, er zeichnete zu viel Abends bei der Lampe; es waren geniale Studien und Ideen, die er ersann von Palastentwürfen an bis zu Verzierungen von Feilner’schen Oefen; aber es fehlte ihm doch wol eine gewisse Kraft, Reinheit und Einfachheit des Stils.

    Es findet sich auch im Neuen Museum Manches, was so nicht sein sollte. Es hat eine ägyptische Abtheilung, die eine Spielerei geworden ist. Um ja den Charakter der alten Hieroglyphenzeit zu treffen, hat man die Wände mit Inschriften bedeckt, die Herr Lepsius erfand, hat man falsche Mumien unter die echten gemengt, Pyramideneingänge gebaut und ähnlichen Spaß getrieben, der eines Museums, das vor allen Dingen instructiv sein soll, nicht würdig ist. Man muß beim dritten der hier vorgeführten Symbole fragen: Ist dieser Gegenstand echt oder nachgeahmt? Schon die Malerei der Wände mußte in einem Stile gehalten sein, der dem aufgesammelten echten ägyptischen Vorrathe als Folie diente und nicht im mindesten die Aufmerksamkeit, die jenem gebührt, ablenkt und theilt. Es ist hier, wie wenn man Theaterdecorationen mit menschlichen Figuren bemalen wollte. Die Marmorsäle für die Plastik sind etwas gedrückt und beengt und kommen der traulichen Heiterkeit der unübertrefflichen Glyptothek in München nicht gleich. Aber das Treppenhaus söhnt mit Misständen aus, von denen mancher ohnehin noch bei weiterer Befreiung des Gebäudes 443 von seinen alten Nachbarschaften fallen wird. Bedauerlich wird unter allen Umständen die Schwierigkeit bleiben, mit Bequemlichkeit die Hauptzierde des Treppenhauses zu genießen, die Kaulbach’schen Wandgemälde. Früher auf den Gerüsten war das eine leichte Aufnahme der wachsenden Arbeit, jetzt aber hat das Auge gewaltige Distanzen zu überwinden und, was noch schlimmer ist, durch die Perspective rücken die großen Gemälde zu nahe aneinander. Die drei fertigen Hauptstücke der einen Wand scheiden sich zu wenig und „Die Blüte Griechenlands“, das dritte, seither enthüllte Bild leidet unter den dunkeln Tönen seiner beiden unruhigen Nachbarn. Die Völkerscheidung und die Zerstörung Jerusalems haben außerdem zu viel von ihrem Farbencharakter an die Griechenzeit abgegeben, die mit ihrem auf einem Kahne schwimmenden Sänger, ihren Schwänen und Wassernixen etwas Nordisches, an die Seejungfern, an die Rheinnixen und den Schwanenritter Erinnerndes hat. Wenn die große schlanke Gestalt mit der Leier Homer sein soll, so erinnert sie zu sehr an das übliche Modell der Kaulbach’schen Helden, an seine Christus, seinen Wittekind, an die Michel-Angelo-Gestalten, wie er sie liebt, Figuren, die zu lang und zu hager für den Sänger der „Iliade“ sind, der nichts von dem Reckenhaften des nordischen Wuchses gehabt haben kann. Die neben ihm sitzende Sibylle ist für Griechenland vollends fremdartig und Thetis erscheint in solcher Umgebung mehr wie die Helena aus dem zweiten Theile des „Faust“. Das ganze Bild ist etwas ungeordnet und einheitlos. Es erklärt sich nicht natürlich. Seine Vorgänge sind getheilt und die Gruppen haben, scheint es, nicht bequem Platz, so vortrefflich gedacht und nur bei Kaulbach’s Natürlichkeit wiederzufinden z. B. die Art ist, wie sein Achilles, wenn er es sein soll, sich’s im Sitzen bequem macht. Der Tanz um den Altar im Hintergrunde erinnert an ähnliche Kampfspiele und Balletkünste auf alten Bildern, Tapeten und Theatervorhängen und scheint uns mehr ein sinnloses Rasen um die oben dargestellte, wunderbar herrlich ausgeführte Göttergruppe auszudrücken als den entsprechenden reinen Cultus und am wenigstens das Wesen etwa der alten Waffenspiele und Ringkämpfe. Die Färbung des Bildes ist zu dämonisch innerlich und zu dunkel äußerlich. Es sollte seinem Gegenstande gemäß gegen seine beiden Nachbarn durch die lichtesten hellblauen, grünen, lichtgelben und Rosa-Farben abstechen und schon dadurch sogleich eine ganz andere Welt vergegenwärtigen als das Heiden- und Judenthum.

    Weit mehr befriedigt wird man sich von den inzwischen aufgestellten Fortsetzungen der Cartons zu dem berühmten Fries finden. Diese Arabesken zur Geschichte sind hier ganz besonders beliebt und zufälligerweise auch in dem Geschmack gehalten, den die Berliner so gern haben. Es findet da Jeder seine Erinnerungen aus Becker’s „Weltgeschichte“ wieder und zwar in Form eines „Witzes“. Ich habe mich nie darüber freuen können, daß gewaltige Thatsachen der Geschichte hier von kleinen Kindern carikirt werden: eine Handlung wie die des Mucius Scävola ist zu ernst gewesen, als daß sie ein seine Hand ins Feuer steckender und vor Schmerz greinender Knabe persifliren könnte. Vieles kommt fast auf den Geist der „Jobsiade“ und der travestierten „Aeneïde“ von Blumauer heraus. Doch nur anstreifend berührt diese Sphäre der Humor der Malers. Er weiß sich immer wieder auf das reine Schönheitsgebiet zurückzuziehen, er weiß immer wieder einzulenken aus der Caricatur in die Grazie und sinnige Idealität. Die jetzt fertigen Momente des Mittelalters enthalten ganz ausgezeichnete Gedanken und die vollgültigsten Belege von ebenso viel Bildung im Wissen wie Freimuth in der Gesinnung dieses Künstlers. Es thut wohl, unendlich wohl, einen Künstler hier walten zu sehen, der sich losgerungen hat von den traditionellen Auffassungen unserer Künstlerwelt, von diesem nur akademischen Andeuten, diesem nichtssagenden und jede scharfe Sprache vermeidenden Allegorisiren. In diesem erfindungsreichen Kopfe nistet nichts Reactionäres, wie bei den meisten Künstlern, die ihn um seine Erfolge anfeinden und beneiden. Er wird die Würde der Tradition nicht opfern, er wird den Heiligenschein da 444 nicht profaniren, wo er hingehört, er wird das Märchen, die Sage, die lyrische Empfindung ehren, aber er benutzt die schöne Vergangenheit nur als ein edles Hülfsmittel zum Aufbau der Zukunft. Gesättigt, gekräftigt von dem Marke der alten Kunstzustände führt er den Griffel des Zeichners mit einer seit Rubens nicht mehr dagewesenen Meisterschaft, nur um die vorurtheilsfreie Anschauung der Gegenwart, die er nicht, wie Overbeck, Cornelius, Schnorr u. s. w., haßt, sondern an die er glaubt, geltend zu machen. Er kann sich irren, er kann in dem Streben nach Charakteristik über die Schönheitsgesetze hinausgehen, wie er in einem Theile seiner münchener Fresken gethan hat, aber er schläft nicht mit unter dieser allgemeinen fürchterlichen Schlafmütze, die sich die neuere deutsche Kunst, als wenn es eine Elfenkrone wäre, über die Ohren gezogen hat. Man findet ihn auf der Seite des Lichts und der Vernunft und deshalb thut mir eigentlich leid, daß er in dem letzten Verlaufe seiner in den mittlern Partieen so trefflichen Arabesken das Zeitalter der modernen Wissenschaft wiederum etwas zu carikirt auffaßte. Ein Kaulbach soll an Kant, an Herschel, an Volta und Wollaston nicht die Perücken sehen, die sie zufällig trugen, er soll nicht verweilen an der komischen Unschönheit der galvanischen Batterieen, der Locomotiven oder auch nur des Tintenfasses und der nächtlichen Studierlampe; ein Kaulbach soll in allen diesen Apparaten nur die gewaltige Seele entdecken und diese Seele wie einen geflügelten Genius auch echter Schönheit darstellen, einen Genius von weltbezwingender Poesie, gegen den die Nymphen und Nixen des Baums und der Welle sich nur wie andächtige und staubgeborene Sterbliche zu verhalten haben. Solchen Genien des Gedankens nur die grüne Brille der Pedanterei aufsetzen, ist schwach und ziemt allenfalls einem jungen Maler aus Düsseldorf oder München zweiter oder dritter Studienclasse. Für Kaulbach muß Kant, der die Kritik der reinen Vernunft schrieb, etwas mehr als nur Homunculusse hervorgebracht haben. Zur Symbolik der Kant’schen „Kritik der reinen Vernunft“ gehört keine Retorte und kein Destillirkolben an einem aufgespaltenen Schädel angebracht, sondern ein flammendes Michaels-Schwert, bei dessen Streichen Throne beben und die Altäre zittern.

    Wie dem auch sei, man muß den Künstler verehren. Man verläßt das Neue Museum mit Gefühlen des Dankes, daß seine Ausschmückung gerade an ihn gekommen ist. Man wünscht sich in die Lage, sich das kostbare Werk aneignen zu können, das hier der Hofbuchhändler Alexander Duncker herausgibt, die im Stahlstich wiedergegebene ganze künstlerische Arbeit der Wände des Treppenhauses. Es wird dies ein Prachtwerk, wie nur England solche Unternehmungen aufzuweisen hat. Zwei Lieferungen, jede im Preise von etwa neun Thalern, sind erschienen und bringen die Anfänge des Frieses und die Zwischenbilder der Geschichte, des Solon, des Moses und die wunderbare, Kaulbach ganz eigenthümliche Gruppe der Sage, diese Nornengestalt mit den beiden, ihr das Grauenhafte und Unerhörte zuraunenden Raben, diese erhabene Versinnlichung von Juno’s und Chriemhildens Rache, vom Schmerz der Niobe und dem letzten Gericht durch das Schwert des alten Hildebrand. Die Stiche werden von den ersten Künstlern, Jacoby, Eichens, Thäter, ausgeführt. Manches davon wird sich in der Zeichnung vielleicht noch gefälliger machen als in der Farbe.

    Eine zweite große Schöpfung des Königs ist die Kuppeldachkapelle des Schlosses. Sie hat eine halbe Million gekostet und ist unstreitig eine Zierde des Schlosses nach dem ihm eigenthümlichen Geschmack, wenn auch eben keine Bereicherung der Kunst. Der Baumeister Schadow errichtete die gewaltige Wölbung auf einem Platze, der bisher im Schlosse unbeachtet gewesen war, verfallene Wasserwerke enthielt, altem Gerümpel, freilich aber auch den vortrefflichen Schlüter’schen Basreliefs, die jetzt die Treppe zieren, als Aufbewahrungsort diente. Die Spannung des mehr ovalen als runden Bogens ist meisterhaft ausgeführt. Einen überraschenden Eindruck wird der Eintritt in diesen Tempel Jedem gewähren, der sich erst im Weißen Saale an den schönen Formen der Rauch’schen Victoria geweidet hat und 445 zu ihm dann auf Stiegen emporsteigt, die mit lebenden Blumen geschmückt sind und mit Kronleuchtern, die nur etwas zu salonmäßig durch Milchglasglocken ihre Flammen dämpfen sollen. Man erwartet in der Kapelle weder diese Größe noch diese Pracht. Bei längerer Betrachtung schwindet freilich der erste Eindruck. Das steinerne, mit Marmor und Bildern auf Goldgrund überladene Gebäude wird dem Auge kälter und kälter. Der Altar, wenn auch mit einem aus den kostbarsten Edelsteinen zusammengesetzten Kreuze geziert, die Kanzel, der Fußboden, Alles erscheint dann plötzlich so nur für die Schwüle der südlichen Luft berechnet, daß man das lebendige Wort Gottes hier weder recht innerlich vorgetragen noch recht innerlich empfangen sich denken kann. Das Auge ist zerstreut durch das Spiel aller hier zur Verzierung der Wände aufgebrachten Marmorarten. Da gibt es keine Farbe, keine Zeichnung des kostbarsten Bausteins, von der nicht eine Platte sich hier vorfände wie in einer mineralogischen Sammlung. Zu dieser durch die Steine hervorgerufenen Unruhe gesellt sich die Ungleichartigkeit der Bilder. Sie scheinen alle nach dem Gedanken zusammengestellt, die Förderer der Religion und des Christenthums zu feiern. Aber auch dies ist ein Galerie- oder Museumsgedanke, kein reiner Kirchengedanke. Huß, Luther, die Kurfürsten von Brandenburg stehen vis-à-vis den Patriarchen und den Evangelisten. Da muß es an der einigen Stimmung fehlen, die Andacht hebt sich nicht auf reinen Schwingen, man kann in einem solchen Salon nur einen conventionellen Gottesdienst halten. Ach, und dieser Fanatismus für das conventionell Religiöse sitzt ja wie Mehlthau auf all’ unsern Geistesblüten! Man denkt nicht mehr, man prüft nicht mehr, man übt Religion nur um der Religion willen. Man ehrt sie um ihre Ehrwürdigkeit, man ehrt sie wie man Aeltern ehrt, deren graues Haar unsere Kritik über die Schwächen, die sie besitzen, entwaffnen soll. Das ist der Standpunkt der Salon-Religion. Man will nicht prüfen, man will nicht forschen, man umrahmt mit Gold und Edelstein die Tradition, die man auf sich beruhen läßt. Man schlägt sein rauschendes Seidenkleid in künstlerische Falten, wenn man im Gebetstuhl niederkniet; man schlägt sein goldenes Gebetbuch auf, liest halb gedankenlos, was alte Zeiten dachten, denkt vielleicht mit Rührung dieser Zeiten, wo der Glaube von so vielem Blute mußte besiegelt werden, gesteht wol auch seine eigenen sündigen Einfälle und Neigungen ein, gibt sich den Klängen einer vom Chor einfallenden Musik mit einigen quillenden Thränen der Nervenschwäche und Rührung hin und verläßt die Stätte der Andacht mit dem Gefühl, doch dem Alten Rechnung getragen, doch eine Demonstration gegeben zu haben gegen die anstößige und in allen Stücken gefährliche neue Welt! Das ist die Religions-Mode des Tags. Für diese Richtung eines vornehmen Dilettirens auf Religion kann man sich keinen zweckentsprechendern Tempel denken als die neue berliner Schloßkapelle. Sie erleichtert vollkommen die manchmal auch wol lästig werdenden Rücksichten einer solchen Art von Pietät.

    Weitentlegen vom Geräusch der Stadt und nur leider in einer zu kahlen, baumlosen Gegend liegt Bethanien, die seit einigen Jahren errichtete Diakonissenanstalt. Man fährt an einer neuen, im Bau begriffenen katholischen Kirche vorüber und bewundert die großartige Anlage dieses vielbesprochenen Krankenhauses, das sich bekanntlich hoher Protection zu erfreuen hat. Dennoch soll die Stiftung eine städtische sein und ab und zu wird man von Bitten in den Zeitungen überrascht, die Bethanien zu unterstützen auffodern, Bitten, die wiederum dies Institut fast wie ein privates hinstellen. Zweihundert Kranke ist die gewöhnliche Zahl, für welche die nöthigen Einrichtungen vorhanden sind. Dem fast zu luxuriös gespendeten Raume nach könnten noch einmal soviel untergebracht werden. Man hat hier ein Vorhaus, eine Kirche, einen Speisesaal, Wohnungen der Diakonissen und Corridore von einer Ausdehnung, die fast den Glauben erweckt, als wäre die nächste Bestimmung der Anstalt die, eine Art Pensionat, oder Stift oder Kloster zu sein, das sich nebenbei mit Krankenpflege beschäftigt. Ohne Zweifel ist auch die Anlage des Unternehmens auf eine ähnliche Voraussetzung begründet. Bethanien soll eine Demonstration der 446 werkthätigen christlichen Liebe sein; die Kranken, mag auch für sie noch so vortrefflich gesorgt werden, nehmen gewissermaßen die zweite Stelle ein.

    Die Oberin der Diakonissen ist ein Fräulein von Rantzau. Unter ihr stehen etwa zwanzig „ordinirte“ Diakonissen und eine vielleicht gleiche Anzahl von Schwestern, die erst in der Vorbereitung sind. Einige der ordinirten sind auf Reisen begriffen, um auswärts ähnliche Anstalten begründen zu helfen. Die Tracht der größtentheils jungen und dem gebildeten Stande angehörigen Damen ist blau, mit einem Häubchen und einer weißen, über die Schulter gehenden Schürze. Wie gründliche Vorkenntnisse hier vorausgesetzt werden, ersah ich in der Apotheke, die von zwei Diakonissen allein bedient wird. Auch ein Lehrzimmer findet sich zu theoretischen Anleitungen. Die groben Arbeiten verrichten gemiethete Mägde, die im Souterrain an den höchst entsprechenden praktischen Waschhaus- und Küchenvorrichtungen beschäftigt sind. Auch Männer fehlen nicht. Die Diakonissen sind überhaupt mehr bei den weiblichen Kranken beschäftigt und müssen die schwerere Dienstleistung, die besonders im Heben und Umbetten der Kranken besteht, dem stärkern Geschlechte überlassen. Man bekommt auch hierdurch wieder die Vorstellung von einem gewissen Luxus, der im Charakter der ganzen Anstalt zu liegen scheint. Man kann den damit verbundenen Tendenzbeigeschmack nicht gut offen bekämpfen, da unfehlbar ein zwangloses Behagen in der Nähe von Kranken und Sterbenden die ganze Stimmung unsers Herzens für sich hat. Die Sauberkeit der Erhaltung, die reine Luft, das Gefühl von Comfort und Eleganz kommt doch auch den Kranken selbst zugute.

    Einen Freund der Diakonissenanstalten frug ich: Aus welchem Geiste erklären diese Frauen und Mädchen sich bereit, den Leidenden mit ihrer Pflege beizustehen? Er erwiderte: Um der Liebe Gottes willen. Unstreitig bedarf der Mensch, um sich zu seltenen Thaten anzuspornen, des Hinblicks auf einen höhern sittlichen Zweck. Dennoch hätt’ ich lieber gehört: Diese Institution wäre von der Menschenliebe hervorgerufen. Ich glaube, der Ton würde inniger, die Haltung weniger kaltvornehm sein. Ein Zusammenhalt bei gemeinschaftlichem Wirken ist nötig, eine gleiche Stimmung muß Alle verbinden. Ob aber dazu eine Kirche, ob Gesang und Gebet beim Essen, ob das herrnhuter, in „Gnadau“ gedruckte Liederbuch, das ich auf dem Piano aufgeschlagen fand, dazu gehört, möcht’ ich bezweifeln. Ein Anderes ist der katholische Cultus von Barmherzigen Schwestern, die sich für Lebenszeit diesem Berufe hingeben und von der Welt für immer getrennt haben; ein Anderes diese vorübergehende Wirksamkeit einer Diakonissin, die nach vorhergegangener rechtzeitiger Anzeige ihren Beruf wieder aufgeben und immer noch eine Frau Professorin oder Assessorin. Der Titel oder die Berufsbezeichnung des Ehemannes wurde auf die Gattin übertragen. werden kann. Für einen solchen Beruf reicht Herzensgüte, Menschenliebe und eine, durch äußere Umstände hervorgerufene Neigung, einen so schwierigen Platz anzutreten, vollkommen aus. Und sollte denn wirklich im 19. Jahrhundert die Bildung der Gesellschaft, die Humanität der Gesinnung, die Liebe zum Gemeinwohl, die Sorge für die gemeinschaftlichen Glieder Einer Stadt, Eines Staats und Einer Nation noch nicht so weit als werkthätiges Princip durchgedrungen sein, daß man, um hier dreißig Frauen in einem Geiste der Hingebung und Liebe zu verbinden, nöthig hat, nach dem Gnadauer herrnhuter Gesangbuche zu greifen?

    Man wird ein jedes Krankenhaus mit Rührung verlassen. Auch in Bethanien sieht man des Wehmüthigen genug. Ich trat in ein Krankenzimmer von Kindern. Abgezehrte oder aufgedunsene kleine Gestalten lagen in ihren Bettchen und spielten auf einem vor ihnen aufgelegten Brete mit bleiernen Soldaten und hölzernen Häuserchen. Ein blasser Knabe, der an der Zehrung litt und vielleicht in einigen Wochen stirbt, reichte freundlich grüßend die Hand. Einen andern hatt’ ich gut auf den Sonnenschein, der lachend in die Fenster fiel, auf die Lerchen, die schon draußen wirbelten, auf ein baldiges freies Tummeln im erwachenden Frühling vertrösten, der Kleine litt am Rückenmark und wird nie wieder 447 gehen können. Ein Krankenhausbesuch ist eine Lehre, die nach „Satanella“ und Aladin’s „Wunderlampe“ sehr nützlich, sehr heilsam sein kann. Aber Bethanien verläßt man doch mit dem Gefühl, daß hier, wie in unserer Zeit überhaupt, noch mehr Menschen krank sind, als die da offen eingestehen, des Arztes bedürftig zu sein.

    Apparat#

    Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin#

    1. Textüberlieferung#

    1.1. Handschriften#
    1.1.1. Übersicht#

    Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.

    1.2. Drucke#

    Gutzkows Beitrag Eine Woche in Berlin wurde zuerst in den "Unterhaltungen am häuslichen Herd" veröffentlicht und zweiundzwanzig Jahre später weitestgehend unverändert in die zweite Ausgabe der Gesammelten Werke aufgenommen. Weitere Drucke oder Teildrucke zu Lebzeiten Gutzkows sind nicht bekannt.

    1. J. Eine Woche in Berlin. Vom Herausgeber. In: Unterhaltungen am häuslichen Herd. Leipzig. Bd. 2, Nr. 25, [18. März] 1854, S. 396-399; Bd. 2, Nr. 26, [25. März] 1854, S. 409-416; Bd. 2, [8. April] 1854, S. 442-447. (Rasch 3.54.03.18)
    2. A2. Eine Woche in Berlin. In: Karl Gutzkow: Gesammelte Werke. Erste vollständige Gesammtausgabe. Erste Serie. Bd. 11. Jena: Costenoble, [1876]. S. 208-235. (Rasch 1.5.11.6)

    2. Textdarbietung#

    2.1. Edierter Text#

    J. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.

    Die Liste der Texteingriffe nennt die von dem Herausgeber berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.

    Kommentar#

    Der wissenschaftliche Apparat wird hier zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.

    Stellenerläuterungen#

    1,4 Anhaltinischen Bahnhofe]

    Der Anhalter Bahnhof am Askanischen Platz (vor dem Anhalter Tor), 1841 fertiggestellt und zunächst Endhaltepunkt der Strecke Köthen (Herzogtum Anhalt) – Berlin, die von der Berlin-Anhaltischen Eisenbahn-Gesellschaft betrieben wurde. Über die Stammbahn Berlin-Wittenberg-Köthen hinaus wurde in den 1840er Jahren das Streckennetz durch Ausbau und Anschlüsse nach Süden hin bedeutend ausgedehnt. Im Anhalter Bahnhof endeten auch die Züge aus Dresden und Leipzig, wo Gutzkow zugestiegen war.

    1,5-6 von der Wilhelmsstraße zu den Linden]

    Vermutlich fuhr Gutzkow nach seiner Ankunft vom Askanischen Platz über die Anhalter Straße zur Wilhelmstraße, durch die Wilhelmstraße in nördliche Richtung bis zum Boulevard Unter den Linden, wo er in einem der dortigen Hotels abstieg.

    1,6 Herculanum und Pompeji]

    Berühmte antike Städte am Golf von Neapel, die im Jahr 79 beim Ausbruch des Vesuvs im Aschenregen verschüttet wurden.

    1,7 Friedrichsstraße]

    Die etwa drei Kilometer lange Friedrichstraße durchschnitt den damaligen westlichen Teil Berlins vom Halleschen Tor im Süden bis zum Oranienburger Tor im Norden. Sie war nicht nur eine wichtige Verkehrsader Berlins, sondern mit zahlreichen Ladengeschäften, Warenmagazinen, kleinen Werkstätten, Speiselokalen, Trinkhallen, Hotels und Absteigen tagsüber eine der lebhaftesten Geschäftsstraßen der Stadt. Zur nächtlichen Stunde wurde sie im mittleren Bereich zwischen der Leipziger Straße und Unter den Linden bevorzugt von Prostituierten frequentiert.

    1,11 Gendarmenmarkt]

    Der Gendarmenmarkt in der Berliner Friedrichstadt (heute Bezirk Berlin-Mitte), unweit von Wilhelmstraße und Unter den Linden. Hier wurde zweimal wöchentlich ein Markt abgehalten. Das mittig zwischen zwei Kirchen des 18. Jahrhunderts gelegene, 1821 erbaute Königliche Schauspielhaus von Karl Friedrich Schinkel machte den Platz zu einem kulturellen Zentrum Berlin.

    1,14-15 Jenny Goldschmidt-Lind]

    Die gefeierte schwedische Opern- und Konzertsängerin Jenny Lind (1820-1887; → Bild), genannt ›die schwedische Nachtigall‹, war seit 1852 mit dem Pianisten Otto Goldschmidt verheiratet und lebte zwischen 1852 und 1855 in Dresden, wo sie auch mit Gutzkows zweiter Frau Bertha befreundet war (vgl. Rasch, Gutzkow-Doku., S. 217 u. 482). Am Abend des 21. Februar 1854 sang sie im Rahmen eines Konzerts „zum Besten der Gustav-Adolph-Stiftung“ im Berliner Schauspielhaus (Ankündigung in: Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen. (Spenersche Zeitung.) Berlin, Nr. 44, 21. Februar 1854). Möglicherweise traf Gutzkow zu diesem Zeitpunkt in Berlin ein. Weitere Konzerte von Jenny Lind im Schauspielhaus während seines Berlin-Besuchs fanden am 23. Februar und am 7. März 1854 statt.

    1,20 Hauptstadt der Intelligenz]

    Das Schlagwort von Berlin als Hauptstadt der Intelligenz war besonders in den 1850er und 1860er Jahren verbreitet. Es fand etwa als Buchtitel einer Sammlung von Berlin-Schilderungen plakativen Ausdruck (Eduard Schmidt-Weißenfels: Die Stadt der Intelligenz. Geschichten aus Berlin’s Vor- und Nachmärz. Berlin: Seehagen, 1865). Der Ursprung des Schlagworts geht auf das frühe 19. Jahrhundert zurück: „Preußen als Staat der Intelligenz ist ein in der Hegelschen, vielleicht auch schon in der Fichtischen Zeit geprägtes, in dieser wenigstens schon vorbereitetes Schlagwort, auf das Gutzkow in den Säkularbildern 2, 159 (1845) als schon bekannt hinweist: ‚das theologische Parteigezänk und die vielen abnormen Erscheinungen, die besonders in Preußen gegenwärtig mehr auf einen Staat der geistigen Ohnmacht als der Intelligenz schließen lassen‘. Vergl. auch [Gutzkows] Deutschl. am Vorabend 8 (1848): ‚Preußen, der Staat der Intelligenz, wirft das unwürdige Joch des bureaukratischen und militärischen Despotismus ab‘. Als Hegelscher Lieblingsausdruck tritt uns wieder bei Treitschke 3, 425 die Bezeichnung entgegen: ‚Fast‚ noch überschwenglicher als die Beamten pries Hegel den Staat der Intelligenz‘. […] Die Anwendung auf Berlin liegt nahe, und so wird diese Stadt, meist halb scherzend oder auch mit deutlichem Hohn, als Stadt der Intelligenz bezeichnet.“ (A[lbert] Gombert: Noch einiges über Schlagworte und Redensarten. In: Zeitschrift für Deutsche Wortforschung. Straßburg. Bd. 3, 1902, S. 308-309.) Weniger ironisch als vielmehr mahnend, der Rolle als Geistesmetropole auch gerecht zu werden, verwendet Gutzkow hier die Wendung. Vgl. auch 8,22-23, wo er davon spricht, Berlin wolle eine Hauptstadt der deutschen Intelligenz sein.

    14,10 Accessisten und Exspectanten]

    Anwärter (Heyse 1859, S. 8) und Personen, die Hoffnung bzw. „Aussicht […] auf ein Amt“ haben (Heyse 1859, S. 339).

    1,28 Wachstuchs]

    Gemusterte Wachstuchteppiche bestanden aus grober Leinwand, „welche mit Leinölfirniß in verschiedenen Farben u. häufig mit einem Lack überzogen“ wurden (Pierer 1857-65, Bd. 18, S. 727-728; Zitat S. 727). Sie waren schon lange gebräuchlich, bevor sie von dem um 1860 entwickelten Linoleum mehr und mehr verdrängt wurden.

    2,2 seine alten Pappenheimer]

    Nach dem geflügelten Wort aus Schillers „Wallenstein“: „Daran erkenn’ ich meine Pappenheimer“ (Büchmann 1879, S. 114).

    2,12-13 von Kranzler bis zum Victoriahôtel]

    Berühmte Berliner Lokale an der Kreuzung Unter den Linden / Friedrichstraße: Das 1825 von dem Wiener Zuckerbäcker Johann Georg Kranzler gegründete Café Kranzler befand sich an der Südostecke, diagonal gegenüber an der Nordwestecke der Straßenkreuzung das Hotel Victoria, ein Gasthof 1. Klasse.

    2,14 Terra cotta]

    Durch Hitze gefestigter Töpferton; ital. „gekochte, gebackene, d. i. gebrannte Erde“ (Heyse 1859, S. 90).

    2,14 Eichler’s plastisches Cabinet]

    In der „Plastischen Kunstanstalt und Gipsgießerei“ von Gustav Eichler (1801-1877) Unter den Linden 27 wurden Büsten prominenter Persönlichkeiten, Statuetten, Reliefs, Porträtmedaillons und andere plastische Artefakte zum Verkauf angeboten, Nachbildungen berühmter Kunstwerke, aber auch eigene plastische Schöpfungen, die in Eichlers Werkstatt hergestellt wurden. Das 1841 gegründete Geschäft genoss in der Berliner Kunst- und Gewerbewelt einen ausgezeichneten Ruf.

    2,18 Constabler]

    Bezeichnung für einen Schutzmann (Heyse 1859, S. 204). Eine Berliner Constabler-Truppe wurde als „Executiv-Sicherheits-Mannschaft“ im Sommer 1848 von König Friedrich Wilhelm IV. ins Leben gerufen. Diese „Schutzmannschaft von 2000 Mitgliedern, sie trugen blauen Uniformjacken, Säbel und schwarze Hüte mit Dienstnummern, wurde nach dem Modell der Londoner Constabler aufgestellt“ (Ribbe 1987, Bd. 2, S. 632). Die Constabler waren dem Polizeipräsidenten unterstellt, wurden im Revolutionsjahr zur Auflösung von Straßenansammlungen und Kundgebungen eingesetzt, aber auch zur Bespitzelung der Bevölkerung. Sie „übertrafen die Säbelautorität der alten Gendarmen“ (Ribbe 1987, Bd. 2, S. 632) und waren bei vielen Bürgern unbeliebt.

    2,21 die Neuerung des Helms]

    Im Jahre 1843 wurde für die preußische Armee die Pickelhaube eingeführt, ein Militärhelm, der sich durch eine aufgesetzte Metallspitze auszeichnete. Friedrich Wilhelm IV. hatte sich für diese Helmform, die auf mittelalterliche Vorbilder zurückgeht, begeistert. Der Helm fand in Preußen später auch bei nicht-militärischen Einrichtungen wie Polizei oder Feuerwehr Verwendung.

    5,6-7 Singakademie]

    Die hinter der Neuen Wache und dem ›Kastanienwäldchen‹ zwischen 1825 und 1827 im klassizistischen Stil erbaute Singakademie war nicht nur Veranstaltungsort von Konzerten, sondern auch von öffentlichen Vorlesungen und populärwissenschaftlichen Vorträgen, die sich im bildungshungrigen 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten. 1848 tagte hier auch die Preußische Nationalversammlung.

    2,25-26 endlich fertiggewordenen Standbilder]

    Schinkel hatte bereits 1819 Figurengruppen zur repräsentativen Verschönerung der Brücke entworfen, König Friedrich Wilhelm III. die Vollendung des Baus jedoch zurückgestellt. „Die teilvollendete Brücke mit ihren unverhältnismäßig mächtigen, doch nur bis zur Oberkante des Geländers reichenden Sockelstümpfen hatte nun das Aussehen eines sehr breiten, aber etwas klotzigen Torsos. In dieser Form bildete die unvollendete Schloßbrücke für fast drei Jahrzehnte eine charakteristische ‚Kulisse‘ im Berliner Stadtbild.“ (Peter Springer: Schinkels Schloßbrücke in Berlin. Zweckbau und Monument. Frankfurt/M., Berlin, Wien: Propyläen Verl., 1981. S. 54.) Erst Friedrich Wilhelm IV. nahm nach der Thronbesteigung 1840 das Bauvorhaben wieder auf. 1841 begannen die Vorbereitungen zur Ausführung der Schlossbrückenskulpturen, für die ein Zyklus von acht Lebensstationen eines griechischen Kriegers, der von antiken Kriegs- und Siegesgöttinnen begleitet wird, bestimmt wurde (→ Erl. zu 2,32). Die Wahl des Kriegermotivs bezog sich auf die Erinnerung an die antinapoleonischen Kriege 1813/15. Es dauerte nochmals etliche Jahre, bis endlich „zwischen August und Oktober 1853 […] die sechs damals vollendeten Statuengruppen auf ihre Sockel gestellt“ wurden (Springer, S. 56). Ganz komplett war die Riege der Brückenstandbilder noch nicht, als Gutzkow sie im Februar 1854 sah. Im Laufe dieses Jahres kam die siebte Figurengruppe des Bildhauers Gustav Blaeser hinzu und erst im Oktober 1857 wurde das Bauwerk mit der achten Figurengruppe von August Wredow abgeschlossen.

    2,26-27 Schloßbrücke]

    Die Berliner Schlossbrücke (→ Bild), die den westlichen Spreearm überquert, Schloss und Lustgarten mit der breiten Prachtstraße Unter den Linden verbindet, war von 1821 bis 1824 nach Plänen Schinkels gebaut worden. Mit einer Breite von nahezu 32 Metern und einer Länge von fast 19 Metern war sie damals die größte Brücke Berlins.

    2,32 „Das Leben des Kriegers“]

    Für diesen Zyklus wurden von den damals bedeutendsten preußischen Bildhauern folgende Gruppen geschaffen: Von Emil Wolff „Nike lehrt den Knaben Heldensagen“ (fertiggestellt 1847), Hermann Schievelbein „Athena unterrichtet den Jüngling im Waffengebrauch“ (fertiggestellt 1853), Karl Heinrich Möller „Athena bewaffnet den Krieger“ (fertiggestellt 1851), Friedrich Drake „Nike krönt den Sieger“ (fertiggestellt 1853), Ludwig Wichmann „Nike richtet den Verwundeten auf“ (fertiggestellt 1853), Albert Wolff „Der Jüngling wird von Athena in neuen Kampf geführt“ (fertiggestellt 1853), Gustav Blaeser „Der junge Held wird von Athena beschützt“ (fertiggestellt 1854) und von August Wredow „Iris trägt den gefallenen Krieger zum Olymp empor“ (fertiggestellt 1857).

    2,33-34 Klagen über allzu große Natürlichkeit]

    Vgl. → Erl. zu 3,33.

    3,4 ionischen Himmel]

    Die Ionier gehörten zu den altgriechischen Hauptstämmen, hatten ihren Sitz in Mittelgriechenland (Attika mit Athen), von wo aus sie zwischen 1000 und 900 v. u. Z. die westlichen und südwestlichen Teile Kleinasiens (der heutigen Türkei) besiedelten, Städte gründeten und eine bedeutende kulturelle Höhe erreichten. Im kleinasiatischen Ionien entstanden im 8. Jahrhundert v. u. Z. die homerischen Gesänge. Die Wendung ›ionischer Himmel‹ war unter Gebildeten im frühen 19. Jahrhundert wohl gängig, denn Karl von Rotteck erklärt 1834: „[N]och gilt der Ausdruck ‚Ionischer Himmel‘ zur Bezeichnung des mildesten Klimas, und der reichsten Natur.“ (Carl von Rotteck: Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntniß bis auf unsere Zeiten. Bd. 1. Neue Ausg. Rottenburg/Neckar: Engel, 1834. S. 132.) Gutzkow verwendet die Metapher vom ionischen Himmel auch an anderen Stellen: In den Briefen aus Paris spricht er 1842 einmal vom ionischen Himmel der Idealität (BaP, Bd. 1, S. 85), im Zauberer von Rom ironisch von einem (norddeutschen) Land, das im Höhenrauch seinen ewig blauen ionischen Himmel fände (GWB I, Bd. 11/1, S. 345).

    3,7 Nemeischen Spielen]

    Im griechischen Bergtal Nemea, südwestlich von Korinth, befand sich in der Antike ein Zypressenhain mit dem Tempel des nemeischen Zeus. Ihm zu Ehren wurden hier seit 573 v. u. Z. sportliche Wettkämpfe veranstaltet, die Nemeischen Spiele, die alle zwei Jahre stattfanden.

    3,8 Epaulettes]

    Frz.: Schulterdecken; Schulterstück der Uniform, „mit halbmondförmigem, vergoldetem oder versilbertem Blech und einer Tresse umgebene ‚Felder‘ von Tuch, Samt, Silber, Gold, dienen als Abzeichen der Offiziere“ (Meyer, Bd. 5, S. 857).

    3,15 ein- und dreijährige Dienstzeit]

    Im Zuge der antinapoleonischen Kriege und der preußischen Heeresreform wurde durch ein Gesetz vom 3. September 1814 die aktive Dienstzeit für alle Waffenfähigen auf drei Jahre festgelegt. Ausgenommen davon waren die sogenannten Einjährig-Freiwilligen, die nur ein Jahr aktiv dienen mussten und sich dann beurlauben lassen konnten, um in ihren Beruf zurückzukehren. Dieses Privileg galt ausschließlich für Wehrpflichtige mit höherer Schulbildung, die mindestens über die mittlere Reife verfügten und die Geld genug hatten, um für ihre Ausrüstung, Verpflegung und Wohnung selbst zu sorgen.

    5,11 Borsig]

    Der Unternehmer August Borsig (1804-1854; → Bild) hatte 1837 in Berlin eine Maschinenbauanstalt gegründet, die sich in den 1840er Jahren als „Lokomotiv- und Maschinenfabrik A. Borsig“ zum führenden Unternehmen von Dampflokomotiven in Deutschland und Europa entwickelte. Die erste Dampflok lieferte Borsig 1841, die 500. konnte er 1854 fertigstellen.

    3,16 Manoeuvrezeit]

    Diese bezieht sich auf die zwei in Berlin bzw. in Preußen jährlich stattfindenden mehrwöchigen Truppenübungen: Das Frühjahrsmanöver im Mai und das Herbstmanöver im September.

    3,18 Victorien]

    Siegesgöttinnen. Bei den Griechen hieß die Göttin des Sieges Nike. „Dargestellt wurde sie geflügelt, mit Kranz und Palme und meist als schwebend. Diese Darstellung übernahmen auch die Römer für ihre besonders in der Kaiserzeit viel verehrte Victoria, eine Personifikation der kriegerischen Siegeskraft.“ (Meyer, Bd. 14, S. 691, Stichwort ›Nike‹.)

    3,21-22 Cherumbimsschmuck]

    Die Cherubim (Singular: Cherub) sind „Gebilde der religiösen Symbolik des Alten Testamentes, deren Grundgestalt die menschliche ist, mit der aber die leiblichen Attribute anderer Wesen, des Löwen, Stieres, Adlers, besonders Flügel, verbunden sind, indem die Gestalt das Vollkommenste zusammenfassen und als Repräsentant der Herrlichkeit der Schöpfung gelten soll. In der Bibel erscheinen die Cherubim als Wächter des Paradieses nach dem Sündenfall, als Beschirmer der Bundeslade, als Vertreter der Gottesmajestät in den Visionen des Ezechiel, als Thron des richtenden Gottes (Wolken, Blitz und Sturm) in den Psalmen.“ (Meyer, Bd. 4, S. 9.) Als symbolhafter Schmuck finden sie sich auf biblischen Kultgegenständen.

    3,23 Wach’schen Bildern]

    Der vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. geförderte Berliner Maler Karl Wilhelm Wach (1787-1845), 1827 mit dem Titel ›königlicher Hofmaler‹ geehrt, war nicht nur ein gefragter Porträtist, sondern auch ein angesehener Vertreter der religiösen Historienmalerei. Von ihm sind einige Altarbilder sowie mehrere Gemälde mit Motiven aus der biblischen Geschichte überliefert.

    3,24 Kuppeldachkapelle]

    Vgl. → Erl. zu 25,1-2.

    3,30-31 Conscriptionspflichtigen]

    Kriegsdienstpflichtige junge Männer (vgl. Heyse 1859, S. 202).

    3,33 allzu natürliche Wiedergabe der Natur]

    Die Nacktheit der männlichen Krieger hatte nach der Aufstellung der ersten Gruppen viel Lärm gemacht, Entrüstung in christlich-konservativen Kreisen hervorgerufen, aber auch die Spottlust und Schadenfreude bei liberaler denkenden Berlinern geweckt. So notiert Varnhagen von Ense am 25. September 1853 in seinem Tagebuch, „die Gruppen auf der Schloßbrücke“ würden „von Menschen dicht umstanden und begafft, die sich der Unanständigkeit freuen, […] weil hier einmal der Kunstdusel wider Willen mit dem christlichen frömmelnden Dusel in Streit kommt, jener diesen verspottet und höhnt; […] der König wird noch befehlen müssen, den Bildsäulen einmal während der Nacht die Geschlechtstheile wegzumeißeln!“ (K[arl] A[ugust] Varnhagen von Ense: Tagebücher. Bd. 10. Hamburg: Hoffmann & Campe, 1868. S. 275.) Auf Betreiben orthodoxer Kirchenkreise und konservativer Politiker wurde 1854 versucht, die umstrittenen Skulpturen aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Varnhagen vermerkt am 30. Juli 1854 in seinem Tagebuch, der preußische Kultusminister Karl Otto von Raumer habe beim König den Antrag gestellt, „die nackten Bildsäulen von der Schloßbrücke wieder abnehmen zu lassen, und sie im Zeughause zu verwahren!“ (K[arl] A[ugust] Varnhagen von Ense: Tagebücher. Bd. 11. Hamburg: Hoffmann & Campe, 1869. S. 163.)

    4,10 Petrikirche]

    Die Petrikirche befand sich auf dem Petriplatz, der Mitte des Stadtviertels Altkölln (heute Berliner Bezirk Mitte). Altkölln lag auf einer Spreeinsel und war Siedlungsort der im Mittelalter Berlin benachbarten eigenständigen Stadt Cölln. Eine erste Kirche entstand hier schon um 1230. In den folgenden Jahrhunderten wurde der Sakralbau mehrfach umgestaltet. „1717 ließ König Friedrich Wilhelm I. sie wieder erneuern, und 1724 einen Thurmbau anfangen, der bis dahin noch gemangelt hatte.“ Der fast fertige Turm wurde am 29. Mai 1730 vom Blitz getroffen. „Hierdurch brannte dieser Thurm nicht allein ab […], sondern auch die Kirche, die nahe gelegenen Schulen und 40 umstehende Häuser. König Friedrich Wilhelm I. ließ jedoch sogleich den Bau einer neuen […] Kirche wieder anfangen […].“ Dieser Neubau wurde im Juni 1733 eingeweiht. Schon ein Jahr später, am Abend des 25. August 1734, stürzte der Kirchturm ein und beschädigte die Kirche stark. „Diese wurde wieder ausgebessert und der fernere Thurmbau unterblieb.“ (Zedlitz 1834, S. 580.) Ein verheerender Brand in der Nacht vom 19. auf den 20. September 1809 vernichtete das Gotteshaus abermals. Erst 1846 entschloss man sich zu einem Wiederaufbau in neugotischem Stil, den der Berliner Architekt Heinrich Strack entwarf und ausführte. 1847 begannen die Arbeiten, am 16. Oktober 1853 wurde die Kirche feierlich eingeweiht. Die Petrikirche wurde am Ende des Zweiten Weltkrieg zerstört, ihre Ruine in den 1950er Jahren abgetragen.

    4,12 Dieckhoff]

    Der aus Stettin stammende Architekt August Dieckhoff (1805-1891) war an der Berliner Bauakademie ausgebildet worden und hatte dort 1844 seine Baumeisterprüfung absolviert. Seit 1845 wirkte er in Berlin als Privatbaumeister. „1852/53 übernahm er die Ausf. der Berliner Petrikirche von Johann Heinrich Strack.“ (E. K. Wittich: Dieckhoff, August. In: Saur Allgemeines Künstler-Lexikon. Bd. 27. München, Leipzig: Saur 2000. S. 214.) Gutzkow kannte Dieckhoff seit vielen Jahren persönlich. Er war ein Freund der Familie und heiratete 1854 Gutzkows Schwester Caroline, deren erster Mann verstorben war. (Rasch, Gutzkow-Doku., S. 534.) Gutzkow schreibt am 19. Oktober 1854 an Ludmilla Assing über das freudige Ereignis: Meine fast 50 jährige Schwester hat sich zum 2 ten Male verheirathet, mit dem Erbauer der Petrikirche, Dieckhoff. In seiner eignen Kirche wurde ihm zum Lohne eine 50jährige Braut bescheert! (UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 54,289; maschA.)

    4,14-15 unsere Erwin von Steinbach]

    Ironische Bezeichnung Gutzkows für die preußischen bzw. Berliner Kirchenbaumeister. Erwin von Steinbach (geb. um 1244, gest. 1318) war Leiter der Münsterbauhütte in Straßburg und soll die Fassade des Straßburger Münsters wesentlich gestaltet haben. „Sie gehört zu den herrlichsten und in der Ornamentik reichsten Schöpfungen des gotischen Stils“ (Meyer, Bd. 6, S. 81). Der Anteil Erwins an der Vollendung des Straßburger Münsters ist heute umstritten. Seitdem Goethe in seiner Schrift „Von deutscher Baukunst“ (1772) überschwänglich auf ihn als genialen Erbauer des Münsters hingewiesen hatte, war ihm in der Geschichte und der Wiederentdeckung mittelalterlicher Baukunst eine zentrale Bedeutung zuteil geworden.

    5,12 Quäkerhut]

    Aus der Kopfbedeckung von Männern der Quäker, einer während des 17. Jahrhunderts entstandenen religiösen Sekte Großbritanniens und Nordamerikas, entwickelte sich im Laufe der Zeit der Zylinderhut. Er galt als Ausdruck einer entschieden liberalen Gesinnung und als ein Bekenntnis zum Bürgerstolz. Seine Verbreitung in Europa wird mit dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775 bis 1783) in Verbindung gebracht: „Der Puritaner- und Quäkerhut […] kam […] mit dem amerikanischen Befreiungskriege in Mode. Die Sympathien, welche dieser Kampf in den immer zahlreicher werdenden liberalen Kreisen Europas fand, gingen auch auf den amerikanischen Hut über, und so kam unser Cylinder – denn in diese Gestalt hatte sich der Quäkerhut ausgewachsen – als Symbol der liberalen Ideen, des politischen, literarischen und socialen Liberalismus nach Europa.“ (Jakob von Falke: Zur Cultur und Kunst. Wien: Gerold, 1878. S. 78.)

    5,13-15 seine drei großen, an entgegengesetzten Enden der Stadt liegenden Etablissements]

    Borsigs erste Fabrik befand sich vor dem Oranienburger Tor im Norden Berlins an der Chausseestraße, wo mehrere Eisengießereien und Werkstätten ansässig waren. Diese von zahlreichen Schornsteinen und Fabriken geprägte Industrieniederlassung im Nordosten der Stadt wurde von den Berlinern ›Feuerland‹ genannt. Für Borsigs Unternehmen wurde das Anwesen bald zu klein. In den 1840er Jahren kaufte er daher ein großes Areal sumpfiger Spreewiesen in Moabit, einem kleinen Ort an der westlichen Peripherie Berlins. Dort ließ er zwischen 1847 bis 1849 ein großes Eisenwerk errichten. 1850 ergänzte er die beiden Produktionsstätten um eine dritte und erwarb die 1836 errichtete Maschinenbauanstalt der Königlichen Seehandlung in der Kirchstraße (Moabit, heute Berliner Bezirk Mitte). Das Stammwerk in der Chausseestraße existierte bis 1887, die Fabrik in Moabit bis 1898.

    5,19-20 fünfhundertsten Locomotive]

    Die Fertigstellung der 500. Lokomotive wurde am 25. März 1854 vom Fabrikherrn und seinen Arbeitern festlich begangen. Daran nahm auch der preußische Handelsminister August Freiherr von der Heydt teil, der Borsig zu diesem Jubiläum die Ernennungsurkunde zum Geheimen Kommerzienrat überreichte.

    5,26 prächtige Villa]

    Unmittelbar neben seinem neuen Eisenwerk in Moabit ließ sich Borsig 1849 ein repräsentatives Wohnhaus bauen. Die architektonische Gesamtplanung für die Fabrik und die Fabrikantenvilla führte Johann Heinrich Strack aus, während die Gestaltung des parkähnlichen Gartens hinter dem Haus der preußische Gartenkünstler Peter Joseph Lenné (1789-1866) übernahm. Borsig selbst entwarf die Gewächshäuser für den Garten. „Park und Gewächshäuser wurden schon bald berühmt und eine der Berliner Sehenswürdigkeiten. Der Hausherr gestattete der Öffentlichkeit die Besichtigung und hatte [...] den guten Einfall, Eintrittsgeld dafür zu erheben, das der Unterstützungskasse seiner Arbeiter zufloß.“ (Ulla Galm: August Borsig. Berlin: Stapp, 1987. S. 88.) 1898 verlegten Borsigs Erben die Produktionsstätte von Moabit nach Tegel. Das Fabrikgelände abgetragen und seit 1900 mit Mietshäusern bebaut, Borsigs Villa 1911 abgerissen.

    5,28 Victoria regia]

    Name einer Riesenwasserpflanze aus den tropischen Gefilden Südamerikas, die erstmals in den 1830er Jahren nach Europa gebracht wurde. 1852 blühte die exotische Riesenpflanze erstmals in Borsigs Garten. Borsig hatte dafür eigens „ein spezielles Gewächshaus von über 10 Metern Durchmesser bauen lassen. Er hatte eine Forschungsreise nach Südamerika mitfinanziert, von der diese Pflanze mit nach Preußen gebracht wurde. Als sie in dem mit warmem Wasser beheizten Rundbau zu blühen begann, wurde das gleichsam ein gesellschaftliches Ereignis für Berlin.“ (Ulla Galm: August Borsig. Berlin: Stapp, 1987. S. 87-88.)

    5,31 Schlesischen Thore]

    Das Schlesische Tor befand sich im Südosten Berlins, nahe der Spree und der Oberbaumbrücke, am Ende der Köpenicker Straße, die hinter dem Tor Schlesische Straße hieß.

    5,31-32 Kupferwerke von Heckmann]

    Der gelernte Kupferschmied Carl Justus Heckmann (1786-1878) hatte sich auf die Entwicklung und den Bau von Destillieranlagen konzentriert und 1837 in der Schlesischen Straße dicht vor dem Schlesischen Tor ein Messing- und Kupferwalzwerk errichtet. „Mit seinem Gespür für neue Entwicklungen widmete sich Heckmann frühzeitig der Konstruktion von Apparaten für die sich damals stark entwickelnde Zuckerindustrie. Seine Erzeugnisse wurden auch international anerkannt, so daß er sogar nach Übersee exportieren konnte. In Kuba errichtete er später eine eigene Filiale. Auch für die entstehende chemische Industrie lieferte Heckmann Apparaturen: Glyzerin-Destillieranlagen, Fettsäure-Destillationen und Ölhärtungs-Einrichtungen. Alles, was damals aus Kupfer und Messing hergestellt werden mußte, konnte von Heckmann bezogen werden: Geräte für Gerbereien, die Tabak- und Salzindustrie, aber auch Kupferaggregate für Brauereien.“ (Frank Eberhardt: Vom Handwerker zum Großindustriellen. Ein Destillierapparat bestimmte den Weg von Carl Justus Heckmann. In: Berlinische Monatsschrift. Berlin. Heft 12, Dezember 1999, S. 7.)

    6,3 Ravené’s Handel]

    Seit 1785 bestand in Berlin die Eisengroßhandlung von Jacques (Jakob) Ravené (1751-1828), die sein Sohn Pierre (Peter) Louis Ravené (1793-1861) zu einem führenden Unternehmen der Berliner Metallindustrie ausbaute. „Die Eisenhandelsfirma war Großlieferant bei der ersten preuß. Eisenbahn Berlin-Potsdam 1838 und erweiterte mit dem Eisenbahnausbau, später auch dem Industriebau ihre führende Stellung in Berlin.“ (Felix Escher: Ravené, Peter Louis. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 21 (2003), S. 220-221.) Nach dem Tod von Pierre (Peter) Louis führte dessen Sohn Louis Friedrich Jakob Ravené (1823-1879) das Unternehmen erfolgreich fort.

    6,9 Weinhandlung]

    Pierre (Peter) Louis Ravené unterhielt seit 1845 unter dem Firmennamen „Jacob Ravené Söhne & Co.“ einen Weingroßhandel in der Scharrnstraße 19, in dem er vor allem sehr gute französische Rotweine offerierte.

    6,10-11 Goldschmidt und Dannenberger]

    Die Unternehmen von Goldschmidt und Dannenberger entwickelten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den beiden bedeutendsten Kattundruckereien Berlins. Beide befanden sich in der Köpenicker Straße: Die Dannenbergersche in der Köpenicker Straße 3-4 dicht am Schlesischen Tor, die Kattunfabrik R. Goldschmidt und Söhne in der Köpenicker Straße 22-25. Ruben Goldschmidt hatte 1820 sein Unternehmen gegründet, das 1850 auf seine Kinder Eduard (1794-?) und Karl (1792-1857) überging. Der Betrieb von Johann Friedrich Dannenberg (1786-1873) existierte schon seit 1801.

    6,16 Carnevalbesuchs]

    Der Karneval fand 1854 vom 27. bis zum 29. Februar statt, der Fastnachtsdienstag war der 28. Februar. Straßenkarneval war in Berlin unbekannt. Gefeiert wurde auf zahlreichen Maskenbällen. Gutzkows Berlin-Besuch zu Beginn des Jahres 1854 blieb keineswegs nur auf die Karnevalszeit beschränkt (→ 4.2 Entstehungsgeschichte).

    6,20 Quatsch]

    In der Berliner Umgangssprache bedeutet(e) Quatsch „sinnloses Gerede“, verbreitet waren Redensarten wie „Quatsch mit Sooße! Auch: ‚Machen Se man keenen Quatsch!‘ d. i. richten Sie nichts Schlimmes an“ (Hans Meyer: Der Richtige Berliner in Wörtern und Redensarten. 6. Aufl. Berlin: Hermann, 1904. S. 97). Gutzkow verwendet den Ausdruck noch einmal, und zwar 1873 in seiner stark überarbeiteten Vorrede zur ersten Ausgabe von Aus der Knabenzeit, hier in einer vergleichsweise simplen Bedeutung: Berlin ist von Hause aus prosaisch! Das möchte man fast glauben, wenn man sieht, was sich Alles an Ort und Stelle auf der breiten Grundlage Berliner Trivialität, vulgo „Quatsch“ genannt, aufbauen darf [...]. (GWII, Bd. 1, S. 8.)

    7,2-3 „Ein vollkommener Widerspruch fesselt Weise und Thoren“]

    Nicht ganz wörtliches Zitat aus Goethes „Faust“ (1. Teil, Vers 2557-2558), wo Mephisto sagt: „Denn ein vollkommner Widerspruch / Bleibt gleich geheimnisvoll für Kluge wie für Toren“ (HA 1981, Bd. 3, S. 82). Zählte seit dem späten 19. Jahrhundert auch zu den geflügelten Worten (Büchmann 1892, S. 116).

    7,17 „Müller und Schultze bei den Zuluh-Kaffern“]

    Der Titel lautet korrekt: „Schultze und Müller unter den Kaffern. Gelegenheitsschwank in 2 Bildern.“ Verfasser war Rudolph Hahn (1815-1889), der weit über 100 Possen, Schwänke, Lustspiele und andere Unterhaltungsstücke für kleinere Volks- oder Vorstadttheater schrieb. Sein anspruchsloses Bühnenwerk im Berliner Dialekt war erstmals am 22. Januar 1854 im Krollschen Theater gegeben worden und wurde in den folgenden Wochen wiederholt aufgeführt. Anlass dafür war eine sogenannte Völkerschau von Angehörigen des südafrikanischen Zulu-Stammes, die nach damaligen Verständnis zur Völkerfamilie der Kaffern gehörte. Einige von ihnen wirkten auch bei der Aufführung des Schwanks mit.

    7,23-24 die beiden Stereotypen des „Kladderadatsch“]

    Müller und Schultze (→ Bilder Karikaturen) hießen zwei bekannte Spießbürgerfiguren des Berliner satirischen Witzblattes „Kladderadatsch“ (→ Erl. zu 9,2), die im Berliner Dialekt Woche für Woche Ereignisse des Tages glossierten. Die Abbildung der beiden im „Kladderadatsch“ war ein Klischeedruck und behauptete sich jahrzehntelang unverändert im Blatt. Die Popularität von ›Müller und Schultze‹ blieb nicht auf den „Kladderadatsch“ beschränkt. Das Figurenpaar wurde bald auch auf die Bühne gebracht, so etwa im Dezember 1850 mit dem „komisch-satyrischen Genrebild“ von Rudolph Genée „Müller und Schultze oder: die Einquartierung“ (gedruckt 1851). Auch in die humoristische Reiseliteratur fanden Müller und Schultze Eingang. 1853 erschien vom „Kladderadatsch“-Mitarbeiter David Kalisch „Schultze und Müller im Harz“, 1855 „Schultze und Müller in Paris während der Industrie-Ausstellung“, 1856 „Schultze und Müller auf der Leipziger Messe“, Heftchen von etwa 100 Seiten Umfang, die Albert Hofmann, der Verleger des „Kladderadatsch“, bis in die 1870er Jahre herausgab. Müller und Schultze machten Spaziergänge durch Berlin, besuchten Kriegsschauplätze, Gewerbe-, Industrie- und Weltausstellungen, bereisten den Rhein, das Riesengebirge, Helgoland und Hamburg, machten Badereisen nach Ems oder Teplitz oder sahen sich die europäischen Weltstädte London, Paris und Wien an. Mehr als dreißig solcher, zum Teil illustrierten ›Müller und Schultze‹-Heftchen erschienen bis in die 1870er Jahre. Das Berliner Duo war schließlich so berühmt, dass es als „unsterbliches Paar“ 1879 in Büchmanns „Geflügelte Worte“ aufgenommen wurde (Büchmann 1879, S. 152).

    7,28 Palais-Royal-Théâtre]

    Das Théâtre du Palais Royal war eines der vielen, seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts beliebten Vaudevilletheater in Paris, wo Komödien, Possen, Melodramen, Operetten, kleine scherzhafte, satirische, frivole Stücke und Singspiele gegeben wurden. Gutzkow schätzte diese Bühne sehr wohl. In seinen Pariser Eindrücken 1846 heißt es: Wer lachen will, gehe ins Theater des Palais Royal! Hier herrscht die tollste Ausgelassenheit und eine reiche Auswahl von kleinen Stücken und nicht eben großen, aber angenehmen Schauspielern. (GWI, Bd. 12, S. 443.)

    7,29 Levassor und Ravel]

    Pierre Levassor (1808-1870) und Pierre-Alfred Ravel (1815-1885), zwei volkstümliche Pariser Komiker, traten jahrelang im Pariser Théâtre du Palais Royal auf. Dort sah Gutzkow auch 1846 Levassor, den er in seinen Pariser Eindrücken erwähnt: Levassor tritt hier bald als Student, bald als Bauer auf, als Charlatan, als Taschenspieler, als Bänkelsänger, als alte Frau, in hundert Verkleidungen und meistentheils von bester Laune. Ich sage meistentheils; denn Levassor ist eben so leicht zerstreut und kann in einer Parthie, in der er nicht anspricht, eben so flau werden, wie er an einem günstigen Tage uns vor Lachen nicht zu Athem kommen läßt. (GWI, Bd. 12, S. 443.)

    7,30 Sainville und Kalekaire]

    Sainville (eigentl. Auguste Morel, 1800-1854) und Jean François Kalekaire (geb. 1808, gest. um 1868), französische Schauspieler. Über Sainville auf der Bühne des Théâtre du Palais Royal schreibt Gutzkow in den Pariser Eindrücken 1846: Sainville ist einer jener Komiker, die sich mehr den Deutschen nähern, z. B. Rädern in Dresden. Ein unerschöpflicher Gleichmuth und eine rapide, dabei immer monoton ruhige Vortragsweise wirken unwiderstehlich. (GWI, Bd. 12, S. 443.)

    7,30 Kroll’sche Theater]

    Das 1844 von Joseph Kroll im Berliner Tiergarten eröffnete ›Krollsche Etablissement‹ (→ Lexikon) übernahm nach dessen Tod im April 1848 seine älteste Tochter Auguste (1821-1907). Um das finanziell schwer angeschlagene Unternehmen wirtschaftlich wieder in die Höhe zu bringen, richtete sie dort zunächst ein Sommertheater ein. Als im Februar 1851 der Vergnügunspalast abbrannte und anschließend neu aufgebaut wurde, ließ Auguste Kroll dort auch einen Theatersaal für 3.000 Zuschauer einrichten. Im Februar 1852 wurde das neue Haus eröffnet. Treibende Kraft für ein vielfältiges Theater-, Konzert- und Unterhaltungsprogramm wurde der österreichisch-ungarische Geiger und Kapellmeister Joseph Carl Engel (1821-1888), dem Auguste Kroll Ende 1852 die Geschäftsleitung übertrug und den sie 1853 heiratete. Neben Opern und Konzerten, neben Vaudevilles, Lokalpossen und Volksstücken wurden dem Publikum vor allem Varietévorführungen und sensationelle „Spezialitäten-Schauen“ geboten: „Bei Kroll tritt 1853 der Zauber-Künstler Robert Houdin auf, dann folgen eine Zulu-Kaffern-Schau, chinesische Gaukler und der Affenmensch Klischnigg.“ (Gerhard Wahnrau: Berlin – Stadt der Theater. Der Chronik I. Teil. Berlin: Henschel, 1957. S. 433.)

    7,32 Cormon, Clairville, Dennery]

    Eugene Cormon (1811-1903), Louis François Clairville (1811-1879) und Adolphe Philippe Dennery (auch d’Ennery, 1811-1899), sehr populäre und produktive französische Theaterautoren, die für die Pariser Vorstadt- und Boulevardbühnen (zum Teil gemeinschaftlich) zahllose Stücke schrieben.

    1,22 Ländlich, sittlich]

    Verbreitetes Sprichwort, hier von Gutzkow ironisch auf die dürftigen Zustände in Gasthöfen der preußischen Hauptstadt gemünzt; Wander untermalt das Sprichwort mit dem derben Vers: „Ländlich, sittlich; hier scheisst das Pferd, hier pisst die Kuh, dort farzt der Boll den Bass dazu. (Pillau.)“ (Wander, Bd. 2, Sp. 1777.)

    8,22-23 Hauptstadt der deutschen Intelligenz]

    Vgl. → Erl. zu 1,20.

    8,24 Geistespatois]

    Mit Patois (frz. Mundart, Jargon) wurde etwas abwertend „die gemeine (platte) Landessprache, Bauernsprache“ bezeichnet, auch „Kauderwälsch“ (Heyse 1859, S. 668).

    8,31 wenn die Schusterjungen es nicht hinderten]

    Als der katholische Kirchenvorstand Berlins König Friedrich II. einst um die Erlaubnis bat, eine Fronleichnamsprozession in der Stadt durchführen zu dürfen, soll dieser an den Rand der Bittschrift geschrieben haben: „Wenn es die Berliner Straßenjungen erlauben“ (zitiert nach Karl von Hase: Kirchengeschichte auf der Grundlage akademischer Vorlesungen. Bd. 3, Teil 2. Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1892. S. 240). Diese Äußerung des Königs ist später vielfach (leicht variiert) kolportiert worden, vor allem als fast hundert Jahre später, am 2. Juni 1850, in Berlin tatsächlich die erste öffentliche Fonleichnamsprozession stattfand.

    8,33 Eckensteherwitzen]

    Diese wurden Anfang der 1830er Jahre mit der Figur des stets alkoholisierten, schlagfertigen und im Berliner Jargon redenden Eckensteher Nante ungemein populär. Als Schöpfer der Eckensteherliteratur gelten Adolf Glaßbrenner und Friedrich Beckmann, dessen Lokalposse „Der Eckensteher Nante im Verhör“ 1832/33 im Berliner Königstädtischen Theater ein ungeheurer Bühnenerfolg wurde. (Vgl. Olaf Briese: Eckensteher. Zur Literatur- und Sozialgeschichte eines Phantoms. In: Olaf Briese: Eckensteherliteratur. Eine humoristische Textgattung in Biedermeier und Vormärz. Bielefeld: Aisthesis, 2013. S. 195-250.)

    9,2 „Kladderadatsch“]

    Illustriertes Berliner Satireblatt, das im Mai 1848 als „Organ für und von Bummler“ erstmals erschien und seit 1849 den Untertitel „Humoristisch-satyrisches Wochenblatt“ trug. Als eines der wenigen politischen Berliner Witzblätter hatte es, trotz Verbots einzelner Nummern, die Konterrevolution 1848/49 und die 1850 beginnende Reaktionsära überdauert und stieg in den 1850er Jahren zum populärsten und bedeutendsten politischen Satiremagazin Deutschlands auf.

    9,4 „Gelehrten des Kladderadatsch“]

    Scherzhafte Bezeichnung für die Hauptmitarbeiter Ernst Dohm, David Kalisch, Rudolph Löwenstein und den Zeichner Wilhelm Scholz (→ Bilder Gutzkows Zeitgenossen).

    9,4 witzige Ausländer]

    Abgesehen von Scholz waren Dohm, Kalisch und Löwenstein keine gebürtigen Berliner, sondern stammten alle drei aus Breslau.

    9,12 Ministerium Ladenberg]

    Der preußische Politiker und Ministerialbeamte Adalbert von Ladenberg (1798-1855) hatte nach der Märzrevolution 1848 das preußische Kultusministerium (Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten) übernommen, dem er bis Ende 1850 vorstand. In sein Ressort fiel auch die Verwaltung der Theater. Ladenberg war in seiner kurzen Amtszeit für eine gründliche Erneuerung des preußischen Theaterwesens eingetreten. In diesem Zusammenhang sandte ihm Gutzkow seine Flugschrift „Über Bühnenreform“ zu und bemühte sich 1850 um den freigewordenen Posten eines Intendanten der Königlichen Theater in Berlin (vgl. auch BrSchue, S. 168-169, Anmerkungen).

    9,13 Revision der Theaterconcessionen]

    Mit der 1810 in Preußen eingeführten Gewerbefreiheit unterlagen einige wenige Gewerbe noch der staatlichen Konzession, so auch kommerzielle Theaterunternehmen. Während bis zum Jahr 1848 bis auf eine Ausnahme – das Königstädtische Theater 1824, vgl. → Lexikon – kein weiteres Theater in Berlin zugelassen worden war, wurde diese strikte Zurückhaltung nach der Märzrevolution überraschend aufgegeben. Dabei könnte bei den Behörden die Überlegung eine Rolle gespielt haben, dass ein Volk, welches sich bei Possen und Tingeltangel amüsiert, nur wenig Interesse an Politik und Revolution entwickelt. Neben der Hofbühne durften also auch kleinere Volkstheater entstehen. „Die ersten, die von dieser veränderten Haltung der Staatsmacht profitierten, waren unternehmende Gastwirte und Besitzer von Ausflugslokalen“ (Ruth Freydank: Theater in Berlin. Von den Anfängen bis 1945. Berlin: Henschelverl., 1988. S. 254). Ihnen wurde vom Berliner Polizeipräsidenten (dieser war für die Theater in der Stadt zuständig) zunächst eine Konzession für ein Sommertheater erteilt, in mehreren Fällen dann auch die Erlaubnis, in geschlossenen Räumen ein Wintertheater zu betreiben. Die kleinen Bühnen spielten vor allem volkstümliche Possen, Lustspiele und Vaudevilles und bedienten in erster Linie die Unterhaltungsbedürfnisse der mittleren und unteren Gesellschaftsklassen. Diese Festlegung auf Possentheater, Vaudeville oder Varietédarbietung hatte jedoch noch einen anderen Grund: Klassische Bühnenwerke (etwa von Shakespeare, Goethe, Schiller) durften nicht oder nur mit einer Ausnahmegenehmigung gegeben werden. Ihre Auffühung blieb allein dem Hoftheater vorbehalten. Der Spielplan der Bühnen wurde vom Staat überwacht. Vollständige ›Theaterfreiheit‹, Befreiung von der staatlichen Konzessionierungspflicht, brachte erst die Einführung der neuen Gewerbeordnung 1869.

    9,16 Tivolitheater]

    Sommertheater, Bühnen unter freiem Himmel, wo„kleinere Opern, Vaudevilles, Lustspiele, Possen u. dgl. aufgeführt werden“. Sie galten allgemein als "Auswuchs" einer minderwertigen Vergnügungskultur, „denn sie entsprechen durchgehends keineswegs den Hauptanforderungen der Kunst. Die Wahl u. Darstellung der Stücke ist vorzugsweise auf den Beifall des niedern Publicums berechnet, die Schauspieler sind meist untergeordnete Talente ohne künstlerische Ausbildung u. die Haltung des Publicums selbst, welches nicht nur während der Zwischenacte, sondern auch bei offener Scene zu essen, Bier zu trinken u. Tabak zu rauchen pflegt, trägt eben so wenig dazu bei den Geschmack zu läutern od. Kunstsinn zu wecken.“ (Pierer 1857-65, Bd. 16, S. 277, Stichwort ›Sommertheater‹.)

    9,23-24 Friedrich-Wilhelmstädtische Theater]

    Friedrich Wilhelm Deichmann (1821-1879), ein ehemaliger Sänger, war Eigentümer eines Tanz- und Gesellschaftslokals in der Berliner Schumannstraße, des Friedrich Wilhelmstädtischen Casinos. Der theaterbegeisterte Deichmann hatte im Mai 1848 die Konzession für eine Sommerbühne erhalten. Dafür ließ er im Garten des Casinos ein Zelt aufstellen. Im Herbst 1848 wurde Deichmann auch die Erlaubnis für ein Wintertheater erteilt, das Zelt durch einen Bretterbau ersetzt. Durch den Erfolg seiner Possenbühne beflügelt ließ er 1849/50 auf seinem Grundstück in der Schumannstraße vom Berliner Architekten Eduard Titz das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater erbauen, in dem 1600 Zuschauer Platz fanden. Die Eröffnungsvorstellung in dem prachtvollen Gebäude fand am 17. Mai 1850 statt. (Das Gebäude ist heute Sitz des Deutschen Theaters Berlin.) Das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater war in den ersten Jahren seines Bestehens eine reine Possenbühne. Mit dem neuen Theaterhaus verfolgte Deichmann schließlich ehrgeizigere Pläne, brachte größere Opernvorstellungen, stellte 1850 Albert Lortzing als Kapellmeister ein und bot den Zuschauern zu Beginn der 1850er Jahre auch anspruchsvolle Bühnenwerke moderner Autoren (→ Erl. zu 9,25-26).

    9,25 Görner]

    Carl August Görner (1806-1884) war Schauspieler, Regisseur und bis 1848 Direktor des Hoftheaters in Strelitz. Nach einer Zwischenstation in Breslau kam er 1853 an das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater, wo er bis 1855 wirkte. Danach leitete er die Krollsche Bühne und ging 1857 nach Hamburg. Görner war auch ein ungemein fruchtbarer Bühnenautor und verfasste weit über hundert, vornehmlich anspruchslose Stücke für Boulevardtheater.

    9,25 Ascher]

    Der Schauspieler Anton Ascher (1820-1884) war von 1849 bis 1860 am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater engagiert, wo er als Bühnendarsteller und Oberregisseur entscheidend zum Erfolg dieser Bühne beitrug.

    9,25-26 überraschenden Geschmacksrichtung]

    Im Unterschied zu den anderen Berliner Volksbühnen und Vorstadttheatern hatte Deichmann zu Beginn der 1850er Jahre das Repertoire seines Theaters um anspruchsvollere, moderne Bühnenwerke erweitert. So ließ er u. a. Stücke von Gutzkow, Laube oder Gustav Freytag aufführen. Selbst für das in Preußen verbotene, an der Berliner Hofbühne nicht gespielte Lustspiel Gutzkows Zopf und Schwert erwirkte er beim Polizeipräsidenten eine Ausnahmegenehmigung, so dass das Stück für ein Gastspiel von Schauspielern der Weimarer Bühne im August 1853 siebenmal hintereinander gegeben werden konnte. Von Gutzkow ließ Deichmann u. a. im April 1854 auch Otfried aufführen, und kurz bevor Gutzkow in Berlin eintraf, wurde am 21. Februar 1854 Der Königslieutenant gegeben. Für den Dramatiker Gutzkow war Deichmanns Theater also von besonderem Interesse.

    9,28 Parktheater]

    1853 ließ Deichmann die alte Sommerbühne im Garten zum ›Parktheater‹ ausbauen und am 26. Juli eröffnen. Es knüpfte an die Zeit der Sommerbühne von 1848/49 an, wo man sich ausschließlich dem Unterhaltungsbetrieb und der leichten Muse gewidmet hatte.

    10,4 der Cafétier Kroll]

    Nicht Joseph Kroll, sondern dessen Tochter Auguste hatte 1850 und 1852 die Konzession für den Betrieb eines Theaters erhalten (→ Erl. 7,30).

    10,5 zwei Gebrüder Cerf]

    Es handelte sich nicht um ein Brüderpaar, sondern lediglich um Rudolf Cerf (1811-1871), den Eigentümer des Neuen Königstädtischen Theaters in der Charlottenstraße. Sein Vater Karl Friedrich Cerf (1784-1845), ein Pferdehändler und Günstling Friedrich Wilhelms III., hatte 1824 das Königstädtische Theater (→ Lexikon) am Alexanderplatz gegründet. Rudolf Cerf brachte die auf 99 Jahre geltende alte Theaterkonzession von Cerf senior an sich und gründete damit 1852 das Neue Königstädtische Theater in der Charlottenstraße, das aber nur bis zum Sommer 1854 existierte. Für den Misserfolg des Unternehmens war vermutlich auch der Spielort verantwortlich, denn das Theatergebäude bestand nur aus einer großen Bretterbude, die 1850 für den Zirkus Renz gezimmert worden war.

    10,7 Rhetor Gräbert]

    Der Gastwirt und spätere Theaterunternehmer Louis Gräbert (1811-1854) hatte in den 1830er Jahren einen Amüsierbetrieb in der Berliner Waldemarstraße übernommen, das „Alte Ballhaus“. Sein Lokal war berühmt durch anrüchige Tanzdarbietungen, wobei „besonders die Stelzentänze der Damen […] einen weit verbreiteten Ruf erlangt[en], nicht sowohl ihrer Kunstfertigkeit als ihrer Indecenz wegen. Das Publikum spielte bei den Vorstellungen durch schlechte Witze aller Art mit. Die Seele des Vergnügens aber war der dicke Vater Gräbert selbst. Wenn der Skandal zu arg wurde, ermahnte er seine Gäste mit einer komischen Rede zur Ruhe und Sittlichkeit. Diese Reden waren so beliebt, daß oft nur Skandal gemacht wurde, damit Vater Gräbert seine Rede halte […].“ (Adolf Streckfuß: 500 Jahre Berliner Geschichte. 3. Aufl. Berlin: Brigl, 1880. Bd. 2, S. 860.) Darauf bezieht sich Gutzkows leicht ironische Wendung Rhetor. Seit 1843 betrieb Gräbert an Wollanks Weinberg vor dem Rosentaler Tor eine Gaststätte und einen Sommergarten. Im November 1848 erhielt er eine Konzession für ein Sommertheater, das im April 1849 seine Pforten öffnete. „Gleichzeitig begann er […] mit dem Umbau seines Saales zu einem richtigen Theater, da er fest darauf vertraute, daß seine Konzession dafür erweitert würde. Er hatte sich nicht getäuscht. Am 8. Oktober 1849 eröffnet er das Vorstädtische Theater mit der Komödie ‚Die Rettichjungen‘ von Lubojatzky.“ (Gerhard Wahnrau: Berlin. Stadt der Theater. Der Chronik I. Teil. Berlin: Henschelverl., 1957. S. 424.) Nach Gräberts Tod im Dezember 1854 übernahm seine Frau Julie das Theater, die als ›Muttern Gräbert‹ ein stadtbekanntes Original wurde.

    10,7-8 Carli Callenbach]

    Der Schauspieler Carli Callenbach (1809-1874) hatte seine Bühnenkarriere am Königstädtischen Theater begonnen, auf Provinzbühnen fortgesetzt und war 1848 von Neustrelitz aus, wo er während der Wintersaison weiterhin spielte, nach Berlin zurückgekehrt. Er hatte sich um eine Konzession für ein Sommertheater bemüht, das unmittelbar vor dem Oranienburger Tor in der Chausseestraße 21 lag und zur bekannten Restauration der Brüder Hennig gehörte. Callenbach erhielt schon am 13. Mai 1848 die Konzession für das Sommertheater und begann die Saison erfolgreich am 11. Juni des Jahres. Dieses erste Berliner Sommertheater existierte als „Hennigs Garten und Sommertheater“ noch bis zum Beginn der 1860er Jahre.

    10,11 Bürgerwehr]

    Die Berliner Bürgerwehr war eine Frucht der Märzrevolution, wurde am 19. März 1848 mit königlicher Erlaubnis aufgestellt und sollte Ordnungs-, Sicherungs- und Polizeiaufgaben in der Stadt wahrnehmen. Sie bildete sich aus Männern bürgerlicher und kleinbürgerlicher Schichten, von denen sich viele mit Vorliebe in der Rolle eines achtunggebietenden Uniformträgers produzierten. Die Bürgerwehr lieferte sich mit revolutionären Arbeitern immer wieder kleinere und größere blutige Scharmützel, versagte aber, als sie im Juni 1848 das Zeughaus vor anstürmenden Revolutionären schützen sollte. Nach Verhängung des militärischen Belagerungszustands über Berlin am 12. November 1848 wurde die Bürgerwehr aufgelöst und blieb damit eine Episode des Jahres 1848. Gutzkow hatte sich während der Berliner Märzrevolution für eine Volksbewaffnung stark gemacht, ohne die damit verbundenen negativen Folgen zu ahnen. Der Ruhm, an der Wiege und Taufe der preußischen Bürgerwehr gestanden zu haben, hat sich freilich – in der Folge als etwas bedenklich herausgestellt. Diese neue Schöpfung schien sehr bald eine Waffe, die mehr gegen, als für die Freiheit geschmiedet war. „Das Eigenthum ist bedroht!“ Unter diesem Bannerspruch versammelten sich die wohlhabenden Bürger, die in diesen Schreckenstagen sich verborgen gehalten hatten, die Beamten, Pensionär’s, die alten „Kammeraden“ aus den Befreiungskriegen. […] Der alte Satz, jeder Preuße hätte in sich seinen gebornen Gendarmen, erlebte höchst klägliche Beweise. (Vorabend, S. 162-163.)

    10,18 Polkawirthschaften]

    Küpper kennt den Ausdruck „Polkakneipe“ als „Gastwirtschaft minderer Güte mit Tanzbetrieb o. ä.“ (Küpper 1984, Bd. 6, S. 2190); der Begriff ist in Berlin seit 1850 geläufig.

    10,20 Josephstädter Bühne]

    Das Theater in der Josephstadt, 1788 gegründet, gehörte mit dem Theater in der Leopoldstadt und dem Theater an der Wien zu den drei Wiener Vorstadttheatern, die mit ihrem Spielplan vornehmlich der Unterhaltung kleinbügerlicher und bürgerlicher Schichten dienten. Damit bildeten sie einen Kontrast zur Wiener Hofbühne, dem Burgtheater und dem Theater am Kärntnertor, die als Spielstätten ernster Kunstpflege galten.

    10,22 Mosenthal’s]

    Der Dramatiker, Opernlibrettist und Schriftsteller Salomon Ritter von Mosenthal (1821-1877, (→ Bild), Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Kassel, ging 1842 als Hauslehrer nach Wien, wurde 1850 in den österreichischen Staatsdienst übernommen und 1871 in den österreichischen Ritterstand erhoben. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte er zu den bekanntesten und meistgespielten österreichischen Bühnenautoren. Tatsächlich nahm Mosenthals Laufbahn als Bühnendichter am Theater in der Josophstadt ihren Anfang: Hier wurde sein dramatischer Erstling „Der Holländer-Michel“ am 17. Mai 1845 uraufgeführt. (Goedeke/Jacob, Bd. V,2 (M), S. 385.)

    10,23 „Deborah“]

    „Deborah. Volks-Schauspiel in 4 Akten“ war Mosenthals erfolgreichstes Stück und bedeutete für ihn den Durchbruch als Dramatiker. In Wien wurde es zuerst am 10. März 1849 im Theater an der Wien gegeben und nicht im Josephstädter Theater. (Vgl. Goedeke/Jacob, Bd. V/2, S. 386.)

    10,26 „Waise von Lowood“]

    Das Schauspiel „Die Waise aus Lowood, Schauspiel in 2 Abtheilungen und 4 Akten, mit freier Benutzung des Romans von Currer Bell“ hatte Charlotte Birch-Pfeiffer (→ Lexikon) Anlehnung an den Roman „Jane Eyre“ von Currer Bell (d.i. Charlotte Brontë) geschrieben. Es hatte im Berliner Schauspielhaus am 5. November 1853 Premiere. Während des Besuchs Gutzkows in Berlin wurde es dreimal gegeben, am 28. Februar, am 3. März („Auf Höchstes Begehren") sowie am 8. März 1854.

    10,26-27 „Deutsche Kleinstädter“]

    „Die deutschen Kleinstädter“, sehr populäres, in Berlin erstmals 1802 aufgeführtes Lustspiel von August von Kotzebue. Es wurde während des Aufenthalts Gutzkows in Berlin am 7. März gespielt, als Lückenbüßer für das kurzfristig verschobene Lustspiel Hackländers „Magnetische Kuren“.

    10,27 „Geheimer Agent“]

    „Der geheime Agent“, eines der erfolgreichsten Lustspiele von Friedrich Wilhelm Hackländer, hatte im Berliner Schauspielhaus am 10. Mai 1851 Premiere und wurde dort, als Gutzkow Berlin besuchte, am 25. Februar 1854 „Auf Höchstes Begehren“ dargeboten. (Ankündigung in: Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen. (Spenersche Zeitung). Berlin, Nr. 47, 24. Februar 1854.)

    12,1 „Satanella“]

    „Satanella oder Metamorphosen“, ein „fantastisches Ballett in drei Akten und vier Bildern“ des Berliner Tänzers und Choreographen Paul Taglioni, mit Musik von Cesare Pugni und Peter Ludwig Hertel sowie Dekorationen des Hoftheatermalers Karl Wilhelm Gropius. Es war am 28. April 1852 an der Berliner Hofbühne uraufgeführt worden und wurde ein großer Erfolg. Allein bis zum 6. Januar 1885 ist es hier 206-mal gegeben worden. (Die königlichen Theater in Berlin. Statistischer Rückblick auf die künstlerische Thätigkeit und die Personal-Verhältnisse während des Zeitraums vom 5. December 1786 bis 31. December 1885. Zusammengestellt von C[arl] Schäffer u. C[arl] Hartmann. Berlin: Berliner Verlags-Comptoir, 1886. S. 74.)

    12,1 „Aladin’s Wunderlampe“]

    „Aladin oder: ‚Die Wunderlampe‘“, ein „Zauber-Ballet in drei Aufzügen“ des Tänzers und Choreographen Michel François Hoguet, erlebte am 19. Januar 1854 in Berlin seine Premiere und wurde bis zum 21. November 1884 135-mal wiederholt. (Die königlichen Theater in Berlin, S. 2.)

    12,2 Königsstädter Theater]

    Das Neue Königstädtische Theater in der Charlottenstraße, → Erl. zu 10,5.

    12,2-3 Klischnigg, der Affenspieler]

    Der englische Gymnastiker und Tiermimiker William Eduard Klischnigg (1813-1877) „[e]rschloss der Artistenwelt ein ganz neues Genre der gymnastischen Kunst, indem er als Affe auftrat. Zu diesen Productionen dienten ihm theils Dramen, theils Possen als Rahmen.“ (Saltarino Artisten-Lexikon, S. 105.) Klischnigg agierte als Affendarsteller seit 1830 in „Joko, der brasilianische Affe“ auf vielen deutschen Bühnen. In Wien war er so erfolgreich und populär, dass Nestroy für ihn 1836 die Gelegenheitsposse „Der Affe als Bräutigam“ schrieb. Während des Berlin-Besuchs von Gutzkow trat Klischnigg in Rudolf Hahns Gesangsposse „Der junge Engländer, oder: Der Affe als Mensch“ auf, die erstmals am 4. März über die Bühne des Krollschen Theaters ging. Klischnigg übernahm die Rolle des Affen Bijou.

    12,7 „Demetrius“]

    Die Uraufführung von Herman Grimms Drama „Demetrius“ fand am 24. Februar 1854 im Königlichen Schauspielhaus statt. Gutzkow berichtet darüber in einem Brief aus Berlin vom 26. Februar seinem Freund und Dresdener Nachbarn Berthold Auerbach: Gestern [sic!] sah ich die erste Aufführung vom Demetrius des jungen Grimm. Ich glaubte, die ganze Stadt Berlin in Bewegung, den Sohn u. Neffen der berühmten Männer auf der Scene zu sehen u. erstaunte über das nur halbvolle Haus. Die Studenten u. Arnim’schen Partheigänger machten großen Lärm u. Hendrichs gab sich seiner Aufgabe mit einem Glauben an sich hin, der in dem blasirteren Dresdener Schauspielpersonale nicht aufzutreiben wäre. Aber das Stück ist sehr schwach. Armuth giebt sich darin für Einfachheit aus. (UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 54,56 (hsA).) Tatsächlich war Grimms Drama ein Fehlschlag und kam über drei Aufführungen, die am Berliner königlichen Theater für ein neues Stück obligat waren, nicht hinaus.

    12,7 Hermann Grimm]

    Herman Grimm (1828-1901), Sohn des Germanisten Wilhelm Grimm, studierte von 1847 bis 1851 Jura in Berlin und Bonn, heiratete 1859 Gisela von Arnim (Tochter Bettina von Arnims) und wurde später Professor für Neuere Kunstgeschichte in Berlin. Er machte sich vor allem als Essayist, Literaturhistoriker und Kunstschriftsteller einen Namen.

    12,8 gothaer Richtung]

    Im Juni 1849 sammelten sich in Gotha Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung, die das Parlament verlassen hatten, nachdem Friedrich Wilhelm IV. die ihm angetragene Kaiserwürde ablehnte. Sie strebten eine Einigung Deutschlands unter preußischer Führung an, unterstützten Preußens Entwurf einer Bundesstaatsverfassung und setzten sich als Anhänger des Erbkaisertums für den Fortbestand der Monarchie ein. Dabei wurde von ihnen die kleindeutsche Lösung favorisiert, die Einheit Deutschlands unter Ausschluss Österreichs. Sie wurden als Gothaer bezeichnet und repräsentierten eine Richtung im deutschen Nationalliberalismus, der Gutzkow kritisch gegenüberstand.

    12,24-25 Hendrichs’schen Spielweise]

    Der Schauspieler Hermann Hendrichs (1809-1871) war seit 1844 Mitglied des Berliner Hoftheaters und gehörte hier als Heldendarsteller zu den Stars der Berliner Bühne. Als gut aussehender Mann war er ein Liebling des weiblichen Publikums. Gutzkow kannte ihn aus Hamburg, wo Hendrichs zwischen 1840 und 1844 am Stadttheater beschäftigt war. Schon 1841 schrieb Gutzkow entzückt über dessen Bühnenauftritt: Tournüre, Haltung, Manier waren sehr gut getroffen und gaben dem Spiel des Herrn Hendrichs eine geschliffene Rundung, die ihn uns sehr empfohlen hat. ([Anon.:] Aus der Theaterwelt. In: Telegraph für Deutschland. Hamburg. Nr. 66, [24.] April 1841, S. 264.)

    13,1 Dessoir]

    Ludwig Dessoir (1810-1874) war seit 1849 am Berliner Hoftheater engagiert, wo er als eine feste Größe der Berliner Bühne bis zu seinem Ruhestand 1872 wirkte. Zuvor hatte er zehn Jahre am Karlsruher Hoftheater gewirkt. Gutzkow war mit Dessoir, der mehrfach in seinen Stücken auftrat, seit den 1840er Jahren gut bekannt und wechselte gelegentlich mit ihm Briefe über Rollenfragen.

    13,5 Dawison]

    Bogumil Dawison (1818-1872) spielte nach Stationen in Lemberg und Hamburg und einem mehrjährigen Engagement am Wiener Hofburgtheater von 1852 bis 1864 am Dresdener Hoftheater, wo er bei einem Gastspiel in der Rolle des Hamlet außerordentlich gefallen hatte. In Dresden gehörte Dawison zu Gutzkows engerem Freundeskreis. (→ Lexikon: Dawison)

    13,14 Rott]

    Der Prager Moritz Rott (1807-1867) kam nach Engagements in Wien und Leipzig 1832 an das Berliner Hoftheater, wo er bis zu seiner Pensionierung 1855 tätig war.

    13,14 Döring]

    Theodor Döring (1803-1878) war seit 1845 am Berliner Hoftheater engagiert, wo er zu einem Publikumsliebling wurde und bis kurz vor seinem Tod auftrat (→ Lexikon: Döring).

    13,20-21 Düringer’s Mitwirkung]

    Der aus Mannheim stammende Schauspieler und Spielleiter Philipp Jacob Düringer (1809-1870) war seit 1853 an der Berliner Hofbühne als Regisseur bzw. ›technisch-artistischer Direktor‹ beschäftigt. In dieser Eigenschaft hatte Düringer auch gelegentlich mit Gutzkow zu tun. In Gutzkows Nachlass (Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt/M.) existieren mehrere Briefe Düringers an Gutzkow aus den Jahren 1854 bis 1862.

    14,6 „Prophet“]

    „Le prophète“ („Der Prophet“), Große Oper in fünf Akten von Giacomo Meyerbeer (1791-1864), 1849 mit triumphalem Erfolg in Paris uraufgeführt, im Berliner Opernhaus erstmals 1850 gespielt.

    14,7 Zwischenaktmusik zu „Egmont“]

    Von Ludwig van Beethoven, 1810 uraufgeführt für eine Inszenierung von Goethes Schauspiel „Egmont“.

    14,32 Pantalons]

    (Frz.) Hosen, als Fremdwort im 19. Jahrhundert geläufig („lange, weite Beinkleider“, Heyse 1859, S. 651).

    15,6 Marie Taglioni]

    Die Tänzerin Maria Taglioni (1833-1891, → Bild), Tochter des Berliner Choreographen Paul Taglioni (1808-1884), debütierte 1847 in Berlin, wurde 1848 an der königlichen Bühne engagiert und „blieb als erste Berliner Primaballerina bis 1866 an der Spitze des Ensembles.“ (Frank-Rüdiger Berger: Die Taglionis in Berlin. In: Gunhild Oberzaucher-Schüller, Hans Moeller (Hg.): Meyerbeer und der Tanz. Paderborn: Ricordi, 1998. S. 273-285, Zitat S. 276.) In „Satanella“, das sich Gutzkow während seines Berlin-Besuches ansah, stellte sie die Titelheldin dar.

    15,21 Pepita]

    Die spanische Tänzerin Pepita de Oliva (1830-1871) kam 1853 nach Berlin, wo sie zunächst im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater auftrat und zu einem Publikumsmagneten besonders für das männliche Publikum wurde. Sie versetzte „Berlin in den Jahren 1853 und 1854 in einen regelrechten Pepita-Rausch“ (Freydank, S. 245). Ihr leidenschaftlicher, etwas lasziver Tanz rief sogar die Berliner Polizei auf den Plan, „die ihr aufgab, sogenannte ‚Trikots‘ anzulegen, die sie also offenbar nicht immer getragen hat“. (Stephan Kekule von Stradonitz: Über Pepitas Ruh und die Pepita. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins. Berlin. Nr. 1-3, 1925, S. 17.)

    15,21 enfant chérie]

    (Frz.) goldiges, entzückendes Kind; als Fremdwort hier in der Bedeutung von „Schoßkind“ (Petri, S. 301).

    15,24-25 Büchsel, Krummacher]

    Zwei stadtbekannte protestantische Theologen und Prediger: Karl Büchsel (1803-1889) war Pfarrer an der Berliner Matthäikirche (→ Erl. zu 17,16), wo er das servile, frömmelnde und bigotte Berliner Establishment begeisterte; Friedrich Wilhelm Krummacher (1796-1868) war seit 1847 Pfarrer an der Berliner Dreifaltigkeitskirche und seit 1853 Hofprediger in Potsdam.

    15,25 Bethanien]

    Vgl. → Erl. zu 26,32.

    16,13 Stahl und Keller]

    Zwei berühmte Juristen und Rechtsphilosophen, die in Berlin eine Professur inne hatten: Der Schweizer Friedrich Ludwig Keller (1799-1860) lehrte seit 1847, Friedrich Julius Stahl (1802-1861) seit 1840 an der Berliner Universität. Die Namen dieser beiden prominenten Professoren tauchen im Textbuch nicht auf.

    15,25 Campo-Santo]

    (Ital.) wörtlich ›heiliges Feld‹. „Bezeichnung für Friedhof, besonders für die Grabstätte ausgezeichneter Männer, die von einer nach außen geschlossenen, nach innen aber durch Arkaden geöffneten Halle umgeben ist. Der berühmteste C. befindet sich in Pisa neben dem Dom“ (Meyer, Bd. 3, S. 731). Der Campo Santo in Pisa diente König Friedrich Wilhelm IV. zum Vorbild für ein Großprojekt am Lustgarten, das einen Neubau des Doms in Form einer fünfschiffigen Basilika und – daran anschließend – einen Campo Santo als pompöse Begräbnisstätte für die Hohenzollernfamilie vorsah. Mitte der 1840er wurde mit dem Ausbau nach Plänen von Friedrich August Stüler begonnen. 1848 wurden die Arbeiten abgebrochen, danach nicht mehr aufgenommen. Die Umgestaltung des Domgeländes, der Neubau eines Berliner Doms und die Wiederaufnahme der Arbeiten am Campo Santo, einer Lieblingsidee Friedrich Wilhelms IV., blieben aber auch nach 1850 in der Diskussion. Erst 1893 wurden die schon fertigen Teile des Campo Santo abgeräumt, der alte Dom abgetragen und damit Platz geschaffen für einen kaiserlichen Monumental- und Protzbau, der heute noch als Berliner Dom das Areal des Lustgartens beherrscht.

    15,25 Sonntagsfeier]

    Die aus religiösen Gründen streng verordnete Sonntagsruhe (vgl. → auch Gutzkows Berliner Eindrücke (1844), Erl. zu 8,18), mit der in Preußen der ›Tag des Herrn‹ gefeiert werden sollte, beschäftigte die Berliner fortwährend, da die Ruhevorschriften in das gesellschaftliche und städtische Leben stark eingriffen. So notiert Varnhagen von Ense am Montag, den 13. Februar 1854, wenige Tage vor dem Eintreffen Gutzkows in Berlin, erbost in seinen Tagesblättern: „Die dumme Sonntagsfeierstrenge erregt fortwährend Unzufriedenheit und Aergerniß. Behörden erklären öffentlich die Albernheit, das Geräusch des Eröffnens einer Ladenthür, das Sichtbarsein von Verkaufssachen an den Fenstern, störe die Kirchgänger in ihrer Andacht! Solch auserlesener Dummheit ist gar nicht zu antworten, außer daß man ihr auf das Maul schlägt!“ (K[arl] A[ugust] Varnhagen von Ense: Tagebücher. Bd. 10. Hamburg: Hoffmann & Campe, 1868. S. 436.)

    15,26 Innere Mission]

    1843 von dem Göttinger Theologen Friedrich Lücke geprägtes Programmwort für eine in den 1840er Jahren wachsende Bewegung im deutschen Protestantismus, durch Hilfsvereine und -einrichtungen (u. a. Rettungshäuser für verwahrloste Jugendliche, Diakonissenanstalten, Armenpflege, Stadtmissionen) soziale Not zu lindern, um damit (parallel zur ›Heiden- und Judenmission‹) die Bekehrung zum christlichen Glauben und eine starke Bindung an die Kirche zu bezwecken. In Preußen wurde die innere Mission vor allem von König Friedrich Wilhelm IV. gefördert. Gutzkow hat die Abhängigkeit der sozialen Hilfsdienste von christlichem Bekehrungseifer kritisch gesehen (vgl. seinen Beitrag aus dem Jahr 1850 Ueber innere Mission, Rasch 3.50.12.16).

    15,31 Corps de ballet]

    Frz.: „die Gesammtheit der Ballett-Tänzer“ (Sanders 1871, Bd. 1, S. 707).

    16,2 Tractätchen]

    Diminutivform von Traktat, Abhandlung; Massenmedium der religiösen Beeinflussung und Missionierung im 19. Jahrhundert, mit der vor allem bildungsferne, untere Volksschichten erreicht werden sollten. Als Tractätchen bezeichnete man speziell „kleine Schriften od. Flugblätter, im christlichen Geiste geschrieben, um christliches Leben u. christliche Sitte zu fördern. Früher waren sie oft in ganz mystischem Sinne geschrieben u. fanden wenig Abnehmer. Gegenwärtig gehört die Abfassung u. Bearbeitung der T. zu den Arbeiten der Inneren Mission, welche durch die Tractatengesellschaften [...] für diese Zwecke wirkt. Sie werden entweder unentgeltlich vertheilt od. billig verkauft.“ (Pierer 1857-65, Bd. 17, S. 738.) In Berlin war schon 1811 ein evangelischer ›Tractatverein‹ gegründet worden, der seit 1816 „Hauptverein für christliche Erbauungsschriften in den preußischen Staaten“ hieß und für die massenhafte Verbreitung religiösen Schrifttums sorgte.

    16,3-4 Frivolste aller Textbücher]

    Für die Besucher des Balletts wurde zum Preis von 2 ½ Silbergroschen ein Heftchen von 37 Seiten verkauft, das über den Inhalt der (stummen) Handlung, über Tanzszenen und einzelne Bühnenbilder orientiert: „Satanella oder Metamorphosen. Fantastisches Ballet in drei Akten und vier Bildern von Paul Taglioni. Musik von Pugni und Hertel. Dekorationen von Gropius. Maschinerie vom Königl. Inspektor Daubner. Nach Anordnung der Königlichen General-Intendantur.“ (Berlin: Deckersche Geh. Ober-Hofbuchdruckerei, [1852].) Das Fremdwort ›frivol‹ (nach dem lat. Adjektiv frivolus, zerbrechlich, wertlos; im übertragenen Sinne: bedeutungslos, abgeschmackt, fade) galt im 19. Jahrhundert nicht allein als Synonym für ›schlüpfrig‹, sondern in Anlehnung an die Bedeutung des lateinischen Wortes hauptsächlich für „eitel, nichtig, gehaltlos, leer; […] unbedeutend, werthlos, armselig“ (Heyse 1859, S. 367). Gutzkow hält das Ballett also in erster Linie für eine kolossale Geschmacksverirrung. Gemessen an den prüden Moralvorstellungen der Zeit werden im Textbuch allerdings auch allerlei zweideutige, verfängliche Situationen geschildert, in die Satanella (eine Abgesandte der Hölle) den Studenten Carlo bringt. Ihr unverhohlen sinnliches Begehren (etwa in der neunten Szene des ersten Aktes), mit dem sie Carlo tänzerisch umwirbt, lockt, becirct, entspricht keineswegs den Sitten- und Geschlechterkonventionen des 19. Jahrhunderts. Das teuflisch schöne Mädchen verkörpert das Laster- und Sündhafte, Laszive, Unkeusche und bezaubert den ohnehin etwas liederlichen Studenten, der sich zuvor schon mit den Mächten der Hölle eingelassen hatte.

    16,14 Geibel und Amaranth]

    Emanuel Geibels „Gedichte“ (zuerst 1840, 36. Aufl. 1854) und Oskar von Redwitz’ Versdichtung „Amaranth“ (zuerst 1849, 17. Aufl. 1853) gehörten zu den Modebüchern der Reaktionsära, vor allem in konservativ-frommen Kreisen.

    16,18 Forti]

    Die von 1851 bis 1862 an der Königlichen Hofbühne als Solotänzerin engagierte Italienerin Gabriela Forti (Lebensdaten nicht ermittelt) aus Neapel, die neben der jüngeren Marie Taglioni eine reizende Erscheinung gewesen sein soll, übernahm in „Satanella“ die Rolle der Bertha, Tochter des Grafen Montenero, mit der der Student Carlo verlobt ist. Bertha (Forti) ist die Gegenspielerin von Satanella (Taglioni).

    16,24 Selma Bloch]

    Biographische Angaben über die Berliner Tänzerin, die 1854 noch im Kindesalter war, ließen sich nicht ermitteln. In einer Meldung der „Wiener Zeitung“ vom 8. Juni 1853 (Nr. 135, S. 518) heißt es, Paul Taglioni reise mit seiner Tochter Marie zu einem Gastspiel nach Wien und nähme auch „die neunjährige Selma Bloch“ mit. Demzufolge wurde Selma um 1844 geboren.

    16,26 die wunderbarste Mondscheinnacht]

    Gutzkow bezieht sich auf das vierte und letzte Bild des Balletts, das den Titel „Die Strafe“ trägt. Dem Textbuch zufolge stellt das Bühnenbild „einen bezauberten Garten vor. In der Tiefe, sowie rechts und links große hundertjährige Bäume, deren Gipfel ein Laubdach bilden. Hin und wieder Gruppen und Marmorstatuen in verführerischen Stellungen. Durch die Mitte im Hintergrunde sieht man die Fortsetzung des Gartens. Eine Wasserkunst springt empor und fällt in Cascaden nieder, umgeben von hohen Blättern und allerhand Wasserpflanzen. Der Mond beleuchtet das Ganze.“ (Satanella oder Metamorphosen, S. 35.) Nachdem Carlo und Satanella in der siebenten Szene, von tanzenden Nymphen begleitet, eine Grotte aufgesucht haben, genießen sie in der achten, letzten Szene den nächtlichen Garten: „Carlo ist entzückt bei dem Anblick dieses bezaubernden Aufenthalts, welcher seine Augen blendet. Er durchstreift die verschiedenen Gegenden des Gartens, deren Schönheit Satanella, leicht auf seinen Arm gestützt, ihm zu erklären scheint. Vor Freude und Liebe außer sich, bittet er Satanella, mit ihm zu tanzen. Diese willigt mit Freuden ein und beide führen einen kurzen Tanz aus, welchen die Nymphen begleiten. Dann setzen sich Beide auf eine Rasenbank und schwelgen in Liebe, während die Nymphen den Tanz beenden. / Plötzlich ertönt es wie ein Donnerschlag. / Die Glocke schlägt Mitternacht. / Der Mond verschwindet hinter den Wolken. Die erschreckten Nymphen entfliehen. Die Statuen werden durch Teufel von den Postamenten gestürzt. Carlo ist erstarrt. / Die Cascade wirft Ströme von Flammen aus. / Satanella schreitet auf Carlo zu und mit herrischer Gebehrde deutet sie auf den Hintergrund der Scene. Er betrachtet Satanella, aber groß ist sein Schreck als er sieht, wie sie sich in einen Teufel verwandelt. Sie legt ihre Hände auf seine Schultern. Carlo ist verloren. Zitternd fällt er auf die Knie, das Antlitz gegen den Hintergrund der Bühne gewendet, und man erblickt dort Bertha, wie sie den Ehering mit Stephano austauscht. / Carlo in Wuth und Verzweiflung sinkt zu Boden. Satanella setzt als Zeichen, daß sie ihn überwunden, den Fuß auf seinen Nacken. Allgemeine Gruppe.“ (Satanella oder Metamorphosen, S. 36-37.) Damit schließt das Ballett.

    16,26 Gropius]

    Carl Wilhelm Gropius (1793-1870), Landschafts-, Dekorations- und seit 1819 Hoftheatermaler für die Berliner Bühnen. Er schuf bis 1868 zahlreiche großartige Bühnenbilder für das Berliner Hoftheater und die Oper.

    16,27 Château d’eau]

    Frz. Wasserturm. Möglicherweise stellt sich Gutzkow ein phantastisches Wasserschloss vor. Im Textbuch ist an dieser Stelle lediglich von einer „Wasserkunst“ die Rede.

    16,31 Venus von Milo]

    Überlebensgroße, halbnackte Marmorstatue der griechischen Liebesgöttin Aphrodite aus dem 2. Jahrhundert v. u. Z.; sie wurde 1820 auf der griechischen Insel Milos gefunden, vom französischen Staat gekauft und im Pariser Louvre aufgestellt.

    16,31 Tholuck]

    August Tholuck (1799-1877), einflussreicher protestantischer Theologe und konservativer Kirchenpolitiker in Preußen, entschiedener Gegner des (theologischen) Rationalismus. Seit 1825 Professor für Theologie in Halle, 1828/29 vorübergehend preußischer Gesandtschaftsprediger in Rom.

    16,31 „schöne Götzen“]

    Eine Quelle für den Tholuck zugeschriebenen, möglicherweise aus seiner Zeit als Gesandtschaftsprediger in Rom stammenden Ausspruch konnte nicht ermittelt werden. Gutzkow erwähnt ihn schon 1835 in Wally, die Zweiflerin. Da heißt es: Die Wittenberger [...] Reformation war ein großer Fortschritt der Menschheit, wenn es groß ist, wie Herr Tholuck gethan haben soll, in Rom von den antiken Götterstatüen zu sagen: Es sind schöne Götzen! (eGWB I, Bd. 4, pdf 1.0, S. 144,20-23.)

    17,4 Elisabeth Fry]

    Elizabeth Fry (1780-1845), englische Quäkerin und engagierte Sozialreformerin. Sie machte sich aus einem starken christlich-religiösen Antrieb für die Verbesserung von Strafrecht und Strafvollzug stark und gründete zu diesem Zweck mehrere Vereine. Auf vielen Reisen durch Europa setzte sie sich in Vorträgen für die Reform des Gefangenenwesens ein und erhielt wegen ihre großen Engagements für Gefangene und deren Angehörige den Beinamen „Engel der Gefängnisse“. (Meyer, Bd. 7, S. 185-186.)

    17,16 Matthäuskirche]

    Die St.-Matthäus-Kirche (auch: Matthäikirche) am südlichen Rand des Tiergartens wurde in den 1840er Jahren auf Geheiß König Friedrich Wilhelms IV. von Friedrich August Stüler entworfen und 1846 eingeweiht. Zur Gemeinde gehörten Mitglieder des Hofes sowie höhere Beamte, die zum Teil im benachbarten Tiergartenviertel (auch ›Geheimratsviertel‹ genannt) wohnten. Einige Staatsdiener kamen sogar aus entfernteren Stadtvierteln in die Matthäuskirche, nur um hier von ihren Vorgesetzten gesehen zu werden. Prägende Persönlichkeit der Gemeinde war der hochkonservative Karl Büchsel (→ Erl. zu 15,24-25), der hier seit 1846 wirkte.

    17,25-26 Gutsbesitzers, der seine Wolle]

    Reinhold Gensel macht in seiner Gutzkow-Ausgabe darauf aufmerksam, dass der Berliner Wollmarkt zu dieser Zeit noch eine bedeutende Rolle spielte. Bauern und Gutsherren kamen aus den ländlichen Gebieten, um ihre Wolle zu verkaufen und um sich in der Großstadt zu amüsieren. „Der Berliner Witz nannte diese Provinzler die ‚Woll-Lüstlinge‘.“ (GE, Bd. 12, S. 275, Anmerkungen zu Teil 11, S. 274, Zeile 14f.)

    18,12 Boutiken]

    Ladengeschäfte, abgeleitet von (frz.) boutique, Laden.

    18,24 Beneke]

    Der Berliner Philosophieprofessor und Kantianer Friedrich Eduard Beneke (1798-1854), der sich 1820 in Berlin habilitiert hatte und nach einem Intermezzo in Göttingen seit Ende der 1820er Jahre in Berlin dozierte. Er wurde seit dem 1. März 1854 vermisst. Erst Anfang Juni 1856 fand man seine Leiche in einem Charlottenburger Kanal. Die Umstände seines Todes – vermutlich hatte er Suizid begangen – blieben rätselhaft. Beneke gehörte (anfangs neben Schopenhauer) zu den wenigen Hegel-Gegnern an der Berliner Universität. Er konnte sich daher keiner besonderen Förderung erfreuen und blieb auch unter Kollegen weitgehend isoliert. An Benekes Schicksal nahm Gutzkow ganz persönlichen Anteil, denn dieser hatte 1829/31 zu seinen akademischen Lehrern gehört. Er schildert ihn 1869 in seinen Universitätserinnerungen Das Kastanienwäldchen in Berlin und betont dabei, Beneke, den zuerst die Hegel’sche Richtung des Ministeriums Altenstein, dann die frömmelnde seiner Nachfolger elend untergehen ließ, habe die Leiden eines ›ewigen‹ Privatdozenten ertragen müssen (GWB VII, Bd. 3, S. 116).

    19,9 saillante]

    Saillant (frz.), „hervorstechend, sich auszeichnend“, in Bezug auf Witze „treffend, schneidend“ (Heyse 1859, S. 818).

    19,19 „Ich leide am Mangel der Beförderung.“]

    In Shakespeares „Hamlet“ (3. Aufzug, 2. Szene) antwortet die Titelfigur nicht auf eine Frage des Königs, sondern auf die des Hofmanns Rosenkranz, der sich nach der Ursache für Hamlets Missbehagen erkundigt. In der Übersetzung von Schlegel und Tieck lautet die Antwort: „Herr, es fehlt mir an Beförderung.“ (Shakespeare’s dramatische Werke. Bd. 4. Berlin: Reimer, 1854. S. 416.)

    19,20-22 - - Wer ertrüge […] erweist!]

    Unvollständiges Zitat aus Shakespeares „Hamlet“ (3. Aufzug, 1. Szene), wo Hamlet in seinem berühmten, mit „Sein oder Nichtsein“ beginnenden Monolog sagt: „Denn wer ertrüg’ der Zeiten Spott und Geißel, / Des Mächt’gen Druck, des Stolzen Mißhandlungen, / Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub, / Den Uebermuth der Aemter, und die Schmach, / Die Unwerth schweigendem Verdienst erweist, / Wenn er sich selbst in Ruhstand setzen könnte / Mit einer Nadel bloß?“ (Shakespeare’s dramatische Werke. Übersetzt von August Wilhelm von Schlegel u. Ludwig Tieck. Bd. 4. Berlin: Reimer, 1854. S. 399.)

    19,26 Neue Museum]

    Es wurde von 1843 bis 1855 nach Plänen von Friedrich August Stüler (1800-1865) gebaut. ▄ Weiteres in Arbeit. ▀

    20,16-17 russischen Pferdebändiger]

    Anspielung auf die „Rossebändiger“, zwei kolossale Bronzeskulpturen des baltischen Bildhauers Baron Peter Clodt von Jürgensburg (1805–1867), die 1843 vor dem Berliner Schloss, an der dem Lustgarten gegenüber liegenden Front, aufgestellt wurden. Sie waren ein Geschenk von Zar Nikolaus an seinen Schwager König Friedrich Wilhelm IV.

    20,18 lacedämonischen]

    Das nur selten vorkommende und in keinem einschlägigen zeitgenössischen Fremdwörterbuch nachgewiesene Adjektiv ist gleichbedeutend mit ›spartanisch‹, abgeleitet von Lakedaimon bzw. Lacedämon als alternative Bezeichnung für Sparta. Immermann verwendet es in seinem Roman „Münchhausen“ (1838/39), wo der Schulmeister im sechsten Kapitel des ersten Buches erklärt: „Nicht wahr, die alten Spartaner waren Kerle? Keine müßige Gelehrsamkeit, keine Quälerei mit Umlauten, Inlauten, Brustlauten! Alles auf Tatkraft, auf das wirkliche Leben berechnet, den Körper abgehärtet […]! Mich soll der Henker holen, wenn ich mir nicht alles in Zukunft lakedämonisch einrichte!“ (IW, Bd. 3, S. 82.) Und etwas später äußert er, er habe es für seine Pflicht gehalten, „die mir anvertraute Dorfjugend lakedämonisch zu bilden.“ (IW, Bd. 3, S. 84.)

    20,25 Feilner’schen Oefen]

    Der Keramiker, Ofen- und Porzellankachelfabrikant Tobias Christoph Feilner (1773-1839) erwarb sich bedeutende Verdienste bei der Verbesserung des Ofenbaus, entwickelte die weiße porzellanartige Glasur für Kachelöfen und „gilt als Vater des Berliner Kachelofens. […] Der Höhepunkt seines Schaffens war 1825 im Zusammenwirken mit Schinkel erreicht, seine Skulpturen und Reliefs waren eine Grundlage für den Erfolg Schinkels.“ (Volker Thurner-Meischen: Feilner, Tobias Christoph. In: Bodo Rollka, Volker Spiess, Bernhard Thieme (Hg.): Berliner Biographisches Lexikon. Berlin: Haude & Spener, 1993. S. 116-117.)

    20,31 Lepsius]

    Der Ägyptologe und Sprachforscher Karl Richard Lepsius (1810-1884) hatte von 1842 bis 1845 eine preußische Expedition durch Ägypten geleitet und dabei das Niltal bis in den Sudan erkundet. Von der Forschungsreise brachte er zahlreiche wertvolle antike Artefakte mit, die später in die ägyptische Abteilung des Neuen Museums kamen. „Nach seiner Rückkehr wurde er zum ordentlichen Professor in Berlin ernannt, 1850 zum Mitgliede der Akademie der Wissenschaften erwählt. Er wirkte auch bei der Einrichtung und Ausschmückung des Ägyptischen Museums in Berlin mit, zu dessen Mitdirektor er 1855 und Direktor 1865 ernannt wurde.“ (Meyer, Bd. 12, S. 431.) Lepsius war auch ein Spezialist auf dem Gebiet der ägyptischen Hieroglyphen, deren endgültige Entzifferung ihm gelang.

    21,14-15 Kaulbach’schen Wandgemälde]

    ▄ In Arbeit. ▀

    21,30 Christus, seinen Wittekind, an die Michel-Angelo-Gestalten]

    ▄ In Arbeit. ▀

    21,34 Thetis]

    In der griechischen Mythologie eine Meergöttin oder Nereide (Tochter des Nereus), die sich als Unsterbliche mit einem Sterblichen, Peleus, verband. Aus dieser Beziehung ging Achilleus (lat. Achilles) hervor, der berühmteste Held der griechischen Heroenzeit, Anführer der Griechen vor Troja und zentrale Figur in Homers „Ilias“. Im zweiten Teil von Goethes „Faust“ (Vers 6025) wird Thetis als Angehörige einer Schar nahender Nereiden genannt (HA, Bd. 3, S. 186).

    22,1 Helena aus dem zweiten Theile]

    Helena, Tochter des Zeus und der Leda, der griechischen Mythologie zufolge eine der schönsten Frauen, ließ sich von Paris nach Troja entführen und wurde zum Anlass des trojanischen Krieges. Im zweiten Teil von Goethes „Faust“ erscheint sie dem Titelhelden zunächst als Phantom (Vers 6377-6565). Im dritten Akt tritt sie als vollendete Schönheit und Vertreterin der klassischen Antike auf, wird von Faust als dem Repräsentanten nordisch-mittelalterlicher Kultur heftig begehrt und vereint sich mit ihm. Gutzkow war der Stoff sehr vertraut. Er stellte 1849 zur Goethefeier im Dresdener Hoftheater einzelne Szenen aus dem zweiten Teil des „Faust“ zusammen und ließ die Bearbeitung unter dem Titel Der Raub der Helena aufführen.

    22,20 berühmten Fries]

    Über dem sechsteiligen Bilderzyklus zur Weltgeschichte konzipierte Kaulbach einen ›Kinderfries‹, auf dem er die Kulturgeschichte der Menschheit von den mythischen Anfängen bis zur Gegenwart mit humorvoll-verspielten, anspielungsreich-satirischen Kinderszenen illustrierte. Ebenso wie bei den Hauptbildern war davon bis Anfang 1854 nur ein Teil ausgeführt.

    22,24 Becker’s „Weltgeschichte“]

    Zuerst unter dem Titel „Weltgeschichte für Kinder und Kinderlehrer“ (9 Bände, Berlin 1801-1805) erschienenes Werk des Berliner Historikers und Pädagogen Karl Friedrich Becker (1777-1806). Von anderen Autoren jeweils bis auf die Gegenwart fortgesetzt, erschien es in immer neuen Auflagen als ›Beckers Weltgeschichte‹ bis ins frühe 20. Jahrhundert. Es war im 19. Jahrhundert außerordentlich weit verbreitet und prägte Generationen von Heranwachsenden, darunter auch den jungen Gutzkow, der im Haus seines Mentors Karl Friedrich Minter (Cleanth) damit bekannt wurde. Er schreibt in seinem Erinnerungswerk Aus der Knabenzeit (1852): Die einzige Beschäftigung der Phantasie, die Herr Cleanth zuließ, war die mit der Geschichte, zu der seine Knaben durch Beckers damalige zehn Bände und dessen Erzählungen aus der alten Welt frühzeitig angeleitet wurden. (GWB VII, Bd. 1, S. 164-165.) Minter schenkte Gutzkow diese Ausgabe schließlich.

    22,27-28 Mucius Scävola]

    Sagenumwobener römischer Held, der 507 v. u. Z. den Etruskerkönig Porsena bei dessen Belagerung Roms vergebens zu töten versuchte, um seine Vaterstadt zu retten. „Vor den König gebracht und mit Folter und Tod bedroht, streckte er zum Zeichen, daß ihn das nicht schrecke, seine rechte Hand in das Feuer eines nahen Altars und ließ sie unbewegten Gesichts verbrennen, worauf ihn Porsena aus Bewunderung seines Heldenmuts ungestraft entließ und […] Frieden mit Rom schloß.“ (Meyer, Bd. 14, S. 207.)

    22,30 „Jobsiade“]

    „Die Jobsiade. Ein Komisches Heldengedicht in drei Theilen“ von Karl Arnold Kortum (1745-1824), eine mit Holzschnitten illustrierte, in Knittelversen verfasste und oft nachgedruckte und vielgelesene Satire. Erschien zuerst 1784 unter dem Titel: „Leben, Meinungen und Thaten von Hieronymus Jobs dem Kandidaten, und wie er sich weiland viel Ruhm erwarb, auch endlich als Nachtwächter zu Sulzburg starb“.

    22,31 „Aeneïde“ von Blumauer]

    Die „Abentheuer des frommen Helden Aeneas, oder Virgils Aeneis travestirt“, ein zwischen 1782 und 1788 entstandenes Versepos des österreichischen Schriftstellers Aloys Blumauer (1755-1789), gehörte wie Kortums „Jobsiade“ im 18. und 19. Jahrhundert zu den beliebtesten Werken komischer Literatur in Deutschland.

    23,19 Overbeck, Cornelius, Schnorr]

    Die Maler Friedrich Overbeck (1789-1869), Peter von Cornelius (1783-1867) und Julius Schnorr von Carolsfeld (1794-1872) waren Vertreter der nazarenischen Kunstrichtung, die einem romantisch-religiösen, schwärmerischen Ideal huldigte und ihre Vorbilder in der altdeutschen und altitalienischen Malerei suchte. Overbeck lebte seit 1810 in Rom, wo sich auch Cornelius und Schnorr von Carolsfeld zeitweilig aufhielten. Cornelius, der zwischen 1819 und 1824 Direktor der Kunstakademie in Düsseldorf war, gehörte hier zu den Lehrern Kaulbachs.

    23,22-23 seiner münchener Fresken]

    Von 1846 bis 1853 wurde in München die Neue Pinakothek gebaut, deren Außenwände durch einen monumentalen Freskenzyklus Wilhelm von Kaulbachs geschmückt wurden. Kaulbachs Bilder, eine Auftragsarbeit für König Ludwig I., waren umstritten. Dem Wunsche Ludwigs I. entsprechend, hatte Kaulbach als Thema „den neuen Aufschwung der deutschen Kunst und speziell der jungen Münchener Schule zum Gegenstand“ der Freskobilder gemacht, darin aber in sarkastisch-allegorischer Weise, an einigen Stellen maliziös-karikierend alles abgeladen, „was er an persönlichem Groll gegen die Kollegen, was er an tieferer Erkenntnis in bezug auf jenen ganzen ‚Aufschwung der deutschen Kunst’ auf dem Herzen hatte.“ Gegen diese „mokanten Glossen zur Kunstgeschichte“ erhob sich ein „Sturm der Entrüstung“. (Fritz von Ostini: Wilhelm von Kaulbach. Bielefeld u. Leipzig: Velhagen & Klasing, 1906. S. 113.) Zu Kaulbachs entschiedensten Gegnern in diesem Bilderstreit gehörte Schnorr von Carolsfeld. Gutzkow nahm 1853 die Monumentalgemälde in Augenschein und verteidigte sie in einem Beitrag Kaulbachs Fresken an der neuen Pinakothek in München (Rasch 3.53.10.08.1). Die Freskenbilder wurden schon im Laufe des 19. Jahrhunderts durch Witterungseinflüsse zerstört und nicht mehr erneuert.

    23,30-31 Kant, an Herschel, an Volta und Wollaston]

    Aufzählung bedeutender Gelehrter und Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts: Der Königsberger Philosoph und Aufklärer Immanuel Kant (1724-1804), der deutsch-britische Astronom Wilhelm Herschel (1738-1822), der italienische Physiker Allessandro Volta (1745-1827) und der englische Physiker und Chemiker William Hyde Wollaston (1766-1826).

    23,33 galvanischen Batterieen]

    Der italienische Arzt und Naturforscher Luigi Galvani (1737-1798) revolutionierte die Elektrizitätslehre im 18. Jahrhundert. Die nach ihm benannten ›galvanischen Zellen‹ (elektrochemische Energiequellen) verwandeln chemische Energie in elektrische. Technik und Leistungsfähigkeit der Batterien wurden im 19. Jahrhundert fortlaufend weiterentwickelt.

    24,13-14 flammendes Michaels-Schwert]

    Der Erzengel Michael, der der biblischen Überlieferung zufolge im Kampf mit Luzifer diesen in die Hölle stürzte, wird oft mit einem (wellig gezackten) ›feurigen‹ oder ›flammenden‹ Schwert dargestellt.

    25,1-2 Kuppeldachkapelle des Schlosses]

    Die Hauskapelle der Hohenzollern in der Mitte des westlichen Schlossflügels oberhalb des Eosanderpalais wurde seit 1845 neu gestaltet, großzügig ausgestattet und mit einer 70 m hohen, achteckigen Metallkuppel gekrönt, die nach Entwürfen von Friedrich August Stüler (1800-1865) und unter Leitung von Albert Dietrich Schadow (vgl. → Erl. zu 25,5) Ende 1853 fertiggestellt werden konnte. Die Berliner Schlosskuppel prägte seitdem die Silhouette der Berliner Mitte. Schlosskapelle und -kuppel waren ein Lieblingsprojekt des religiösen, auf sein ›Gottesgnadentum‹ beharrenden Königs Friedrich Wilhelm IV. Die Kuppel wurde von einem Aufsatz gekrönt, auf dessen Spitze sich ein etwa 65 cm hohes christliches Kreuz in den Himmel erhob. Die Kapelle, die vom König den Namen ›Jesus-Kapelle‹ erhielt, war am 18. Januar 1854, also wenige Wochen vor Gutzkows Berlin-Besuch, in Gegenwart des Hofes und zahlreicher Gäste feierlich eingeweiht worden.

    24,19 das kostbare Werk]

    „Wilhelm von Kaulbach’s Wandgemaelde im Treppenhause des Neuen Museums zu Berlin. Mit Genehmigung der General-Direction der Kœniglichen Museen hrsg. u. verlegt von Alexander Duncker.“ Das Ansichts- und Tafelwerk im Groß- und Querformat erschien zwischen 1853 und 1871 in 12 Lieferungen in Berlin. Die einzelnen Lieferungen waren sehr teuer und kosteten anfangs jeweils zwischen 9 und 14 Gulden. Gutzkow lagen die beiden ersten vor: „1. Der Fries. 1stes, 2tes Bruchstück. Gestochen von Ed. Eichens. 2. Die Geschichte. Gestochen von L. Jacoby. 3. Moses. Gestochen von A. Hoffmann“ (1853), Lieferung 2: „4. Der Fries. 3tes, 4tes Bruchstück. Gestochen von Ed. Eichens. 5. Die Sage. Gestochen von L. Jacoby. 6. Solon. Gestochen von A. Hoffmann“ (1854).

    24,20 Alexander Duncker]

    Der Berliner Verleger und Buchhändler Alexander Duncker (1813-1897) durfte sich seit 1841 „königlicher Hofbuchhändler“ nennen. Er stand dem preußischen Hof nahe, zu König Friedrich Wilhelm IV. pflegte er engen Kontakt. Neben einem breiten belletristischen Verlagsprogramm – zu seinen Autoren gehörten um 1850 Emanuel Geibel, Christian Friedrich Scherenberg, Gustav zu Putlitz, Ida Gräfin Hahn-Hahn, Fanny Lewald, Paul Heyse oder Theodor Storm – kaprizierte sich Duncker auf die Herausgabe künstlerisch und drucktechnisch hochwertiger Ansichtswerke. Während Gutzkows Anwesenheit in Berlin schickte Duncker ihm die ersten beiden Lieferungen des Prachtwerks von Kaulbachs Wandgemälden mit der Bitte um eine Besprechung. Dieser dankt am 7. März 1854 Duncker für die überreiche Sendung: Da ich längst zu Kaulbachs u Menzels Bewunderern gehöre, wird es mit leicht werden, Ihren Wünschen zu entsprechen u. in meinem kleinen Kreise für diese kostspieligen Unternehmungen zu wirken. Eine Einladung in Dunckers Haus für Donnerstag den 9. März muss er aus Termingründen jedoch absagen: Da ich Donnerstag schon wieder im Kreise der Meinen erwartet bin, so bedaur’ ich ausserordentlich, dss ich mir das Vergnügen versagen muss, Ihrer freundlichen Einladung Folge zu leisten. (UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 54,67 maschA.) Gutzkow versprach, bei seinem nächsten Aufenthalt in Berlin einen Besuch nachzuholen.

    24,29-30 Juno’s und Chriemhildens Rache]

    ▄ In Arbeit. ▀

    24,30 Schmerz der Niobe]

    ▄ In Arbeit. ▀

    24,31 Hildebrand]

    Titelfigur des nur fragmentarisch überlieferten althochdeutsch-altsächsischen Hildebrandsliedes aus dem 9. Jahrhundert, das von einem tragischen, mit Schwertern ausgeführten Zweikampf zwischen Hildebrand und seinem Sohn erzählt.

    24,32 Jacoby, Eichens, Thäter]

    Die Zeichner, Kupferstecher und Reproduktionsgraphiker Louis Jacoby (1828-1918), Eduard Eichens (1804-1877) und Julius Thaeter (1804-1870). Thaeter war an diesem Werk allerdings nicht beteiligt.

    25,5 Schadow]

    Der Berliner Architekt Albert Dietrich Schadow (1797-1869) gehörte seit Ende der 1820er Jahre zur Schlossbaukommission in Berlin, wirkte seit 1843 als ein Baumeister des Berliner Schlosses und übernahm die Leitung für die Neugestaltung des Weißen Saals (vgl. → Erl. zu 25,12-13) und für den Bau der Schlosskuppel. 1847 stieg er zum Hofbaurat auf, 1859 zum Oberhofbaurat. Mit der Familie des Berliner Bildhauers Johann Gottfried Schadow (1764-1850) ist er nicht verwandt.

    25,8-9 Schlüter’schen Basreliefs]

    Der Bildhauer und Architekt Andreas Schlüter (geb. um 1660, gest. 1714) war seit 1698 in Berlin als Schlossbaudirektor tätig und schuf aus dem alten Renaissanceschloss der Kurfürsten in kurzer Zeit einen repräsentativen Barockbau für den frisch gekrönten König Friedrich I., der 1701 hier einzog. Für die Verschönerung des Schlosses gestaltete Schlüter auch einige Basreliefs (ital. basso rilievo), sogenannte Flachreliefs, „bei dem die Figuren nur wenig über den Grund heraustreten“ (Meyer, Bd. 16 (1909), S. 782, Stichwort ›Relief‹).

    25,12-13 Weißen Saale]

    Der größte Festsaal im Berliner Schloss, dessen Wände mit weißem, feingäderten Stuckmarmor ausgestattet waren. Er lag im Nordwesttrakt des zweiten Obergeschosses, war 1728 errichtet worden und wurde seit Mitte der 1840er Jahre mit dem Bau der benachbarten Schlosskapelle umgestaltet, erweitert und teilweise neu ausgestattet. Mit zahlreichen kunstvollen Schmuckelementen, Säulenreihen, Statuen, Wandmalereien gehörte er zu den prächtigsten Repräsentativräumen des Schlosses und wurde zu besonders festlichen Anlässen genutzt.

    25,13 Rauch’schen Victoria]

    Die in Marmor ausgeführte, sitzende, geflügelte Siegesgöttin von Christian Daniel Rauch (1777-1857), einem Schüler Schadows und bedeutendem Vertreter des Berliner Klassizismus, gehörte zu den Prachtstücken des neu gestalteten Weißen Saales.

    26,32 Bethanien]

    Das Krankenhaus Bethanien (→ Bild), eine Klinik und Ausbildungsstätte für Diakonissen, wurde zwischen 1845 und 1847 nach Plänen des Architekten Ludwig Persius in der Luisenstadt (heute Berliner Bezirk Mitte, Kreuzberg) erbaut. Es lag am Rand des Köpenicker Feldes, das mit zahlreichen Gärten, Feldern und öden Brachen noch einen ländlichen Charakter hatte. Das Haupthaus, ein Mittelbau mit zwei langen Seitenflügeln, beherbergte neben dem Erdgeschoss in zwei weiteren Etagen die Wohnungen der Oberin, der Diakonissen und der männlichen Verwaltungsleute, eine Apotheke, Küche, Büros, Waschräume, eine Kirche und die Krankenstationen, in der bis zu 350 Patienten aufgenommen werden konnten. Der Name des Hauses nahm Bezug auf das biblische Dorf Bethania in Palästina, wo Jesus der biblischen Legende nach Lazarus von den Toten auferweckt haben soll. Die Krankenheilstätte war Teil des protestantische Projekts der inneren Mission, d. h. die Kranken sollten nicht nur von ihren körperlichen Leiden genesen, sondern auch ›wiedererweckt‹, bekehrt, zum ›wahren Glauben‹ zurückgeführt werden. Damit stieß das Krankenhaus auf Widerstand in der Bevölkerung und geriet in den folgenden Jahrzehnten immer wieder in den kritischen Fokus der liberalen Presse. Mit dem pietistischen Bekehrungseifer verband sich ein politisch streng konservativer, antirevolutionärer und antidemokratischer Geist. Theodor Fontane berichtet, dass Bethanien 1848 und in den folgenden Jahren ein Treffpunkt hochkarätiger reaktionärer Politiker und Journalisten gewesen sei, vor allem von „führenden Kreuzzeitungs-Leute[n]“. (GBA, Das autobiographische Werk, Bd. 3, S. 280; vgl. auch S. 407 und den Kommentar von Wolfgang Rasch dazu.)

    26,33 Diakonissenanstalt]

    Diakonissenanstalten gab es noch nicht lange. 1836 war in Kaiserswerth von Pfarrer Theodor Fliedner die erste Diakonissenanstalt zur Ausbildung von Krankenpflegerinnen gegründet worden. Damit nahm das Diakonissenwesen einen bedeutenden Aufschwung und zahlreiche Neugründungen von Diakonissenhäusern folgten. Wurde der Begriff der „Diakonissa od. Diakonissin“ in Heyses „Fremdwörterbuch“ 1848 noch als rein historische Erscheinung aus der „ältesten christl. Kirche“ für „bejahrte weibliche Personen, welche die Armen- und Krankenpflege besorgten und die Aufsicht über die weibl. Gemeindeglieder hatten“ (Heyse 1848, 10. Aufl., S. 232) erklärt, so erhielt der Ausdruck in der folgenden Auflage 1853 zusätzlich eine aktualisierte Bedeutung: „jetzt in der evangel. Kirche: Kranken- und Kinderpflegerinnen.“ (Heyse 1853, 11. Aufl., S. 251.) Die Diakonissinnen der Neuzeit blieben unverheiratet und ordneten sich gehorsam unter: „Die ‚Schwestern‘ werden nach einer je nach Charakter und Vorbildung längern oder kürzern Probezeit kirchlich eingesegnet (Ordination); Gelübde finden nicht statt. Die Verbindung mit der Familie bleibt frei, ebenso Besitz und Verwaltung des Privatvermögens; doch hängen die Schwestern in fast militärischer Weise vom Mutterhaus ab, das über ihre Stellung und Sendung verfügt und sie dafür in Krankheit und Alter versorgt. Wollen sie in die Ehe treten, so müssen sie aus dem Mutterhaus ausscheiden“ (Meyer, Bd. 4, S. 862). Zu ihren Aufgaben gehörte die Arbeit in der Gemeinde, in Kleinkinderschulen, Waisen- und Erziehungshäusern und in der Krankenpflege. Neben dem karitativen Engagement stand die Bekehrung oder Wiedererweckung zum ›wahren‹ Christentum im Zentrum ihrer Arbeit.

    26,34 katholischen Kirche]

    Die Sankt-Michael-Kirche, 1851 bis 1856 gebaut, ausgeführt im romanischen Rundbogenstil aus naturfarbenen Backsteinen. Vollendet wurde das Gotteshaus, das auch als katholische Garnisonskirche in Berlin diente, erst 1860/61.

    27,2 hoher Protection]

    Offiziell stand die Anstalt unter dem Protektorat der preußischen Königin. Vor allem aber ihr Mann, König Friedrich Wilhelm IV., der den Baugrund für das Haus Bethanien zur Verfügung gestellt hatte, verwendete sich für Bethanien. Er setzte sich nachdrücklich für die Gründung des Hauses ein und förderte es nach Kräften. In der Gründungsurkunde, die der König im Juli 1845 ausstellte, heißt es: „Wir Friedrich Wilhelm von Gottes Gnaden, König von Preußen, haben Uns bewogen gefunden, in Unserer Residenzstadt Berlin ein Institut zur Ausbildung von Krankenpflegerinnen zu errichten, mit welchem, zum Vorbilde für ähnliche Anstalten, eine eigene Kranken-Anstalt verbunden werden soll. Diese Stiftung, welche Wir der Pflege des von Uns erneuerten Schwanenordens zu überweisen beabsichtigen, wird, so hoffen Wir, Anregung dazu geben, daß nach Art der Diaconissinnen in den apostolischen Gemeinden, auch in der evangelischen Kirche, Jungfrauen und Wittwen dem geordneten Dienste der Kranken und Nothleidenden sich widmen, im freiwilligen Berufe helfender Liebe und Barmherzigkeit. […] Für die Kranken und Pflegerinnen wird täglicher Gottesdienst in dem Hause gehalten werden. In der Anstalt sollen 350 Kranke Raum finden; für 100 derselben werden Wir die Mittel zur Unterhaltung mit 10,500 Thlr. jährlich aus Staatsfonds anweisen.“ (Zitiert nach Th. Stein: Das Krankenhaus der Diakonissen-Anstalt Bethanien zu Berlin. Mit 16 Tafeln. Berlin: Reimarus, 1850. S. 1.)

    27,20 Fräulein von Rantzau]

    Marianne Gräfin Rantzau (1811-1855), Tochter eines Großherzoglich-Mecklenburgischen Oberforstmeisters, trat 1845 als Diakonisse in die von Pfarrer Fliedner geleitete Diakonissenanstalt Kaiserswerth. Auf Empfehlung Fliedners war sie schon 1846 von König Friedrich Wilhelm IV. zur Oberin des Diakonissenhauses Bethanien berufen worden, dem sie bis zu ihrem Tod vorstand. In dieser Funktion gehörte Marianne von Rantzau zur Minorität von Frauen im 19. Jahrhundert, die selbstverantwortlich einen Beruf ausübten und eine Leitungsfunktion inne hatten: Ein Weiblichkeitsentwurf, der in kirchlich-konservativen aber auch in bürgerlich-liberalen Kreisen nicht unumstritten war. (Vgl. Ursula Röper: Marianne von Rantzau und die Kunst der Demut. Frömmigkeitsbewegung und Frauenpolitik in Preußen unter Friedrich Wilhelm IV. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1997.)

    27,24 ähnliche Anstalten]

    Die in Bethanien ausgebildeten Diakonissen übernahmen Pflegedienste und Leitungsaufgaben in Filialanstalten des Mutterhauses und anderen Krankenhäusern Preußens. So wurde schon 1850 das Mariannenstift in Schlesien von zwei Diakonissen aus Bethanien verwaltet und mit einem Krankenhaus 1852 eine Filialanstalt Bethaniens in Polzin (Pommern) gegründet.

    27,24 Tracht]

    Die Diakonissen trugen „bei der Arbeit ein blaugestreiftes Nesselkleid, sonst ein Kleid von schwarzem Wollstoff. Als Haube war […] die Kaiserswerther Rüschenhaube im Gebrauch“ ([G. Schulze:] Bethanien. Die ersten fünfzig Jahre und der gegenwärtige Stand des Diakonissenhauses Bethanien zu Berlin. Berlin: Diakonissenhaus, 1897. S. 190).

    27,28-29 von zwei Diakonissen]

    Diese beiden Diakonissen, Emmy Dankwerts (1812-1865) und Aurelie Platen (1824-1904), hatte der approbierte Apotheker Theodor Fontane zwischen Oktober 1848 und September 1849 in Bethanien pharmazeutisch ausgebildet. (Vgl. das Kapitel „Zwei Diakonissinnen“ in Theodor Fontanes „Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographische“, GBA, Das autobiographische Werk, Bd. 3, S. 419-423.)

    28,21 herrnhuter]

    Die Evangelische Brüdergemeinde der Herrnhuter ist eine nach dem Ort Herrnhut (Oberlausitz) benannte, im frühen 18. Jahrhundert entstandene, stark pietistisch geprägte Erweckungs-, Frömmigkeits- und Missionsgesellschaft. Ihre Mitglieder verstehen sich als „Gemeinschaft erweckter Seelen“. Sie wurde von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700-1766) ins Leben gerufen worden, der 1722 den aus Mähren vertriebenen evangelischen Brüdern erlaubte, sich in unmittelbarer Nähe seines Gutes Mittelberthelsdorf niederzulassen, wo schließlich die Siedlung Herrnhut gegründet wurde. Zinzendorf hat sich auch als Dichter vieler Kirchenlieder einen Namen gemacht hat.

    28,22 „Gnadau“ gedruckte Liederbuch]

    Zu den Orten, die von Herrnhuter Kolonisten im 18. Jahrhundert gegründet worden waren, gehörte „Gnadau, Marktflecken u. Herrnhutercolonie […] im Kreise Kalbe des preußischen Regierungsbezirks Magdeburg“ (Pierer 1857-65, Bd. 7, S. 427), wo neben frommen Traktaten, Missionsschriften usw. in der Unitätsbuchdruckerei das Herrnhuter Gesangbuch hergestellt wurde. Vermutlich handelte es sich hier um die Ausgabe „Gesangbuch, zum Gebrauch der evangelischen Brüder-Gemeinen“ (Gnadau: Verlag der Buchhandlung der evangelischen Brüder-Unität bei H. L. Menz, so wie in allen Brüder-Gemeinen, 1850).

    28,24 Barmherzigen Schwestern]

    Unter diesem Namen existierten schon seit dem 17. Jahrhundert in der katholischen Kirche zahlreiche weibliche Ordensgemeinschaften, die sich vor allem der Krankenpflege, aber auch der Armutsbekämpfung widmeten. Wegen ihrer Kleidung wurden sie auch „Graue Schwestern“ genannt.

    28,27 Wirksamkeit einer Diakonissin]

    Dieses Thema behandelte Gutzkow 1852 in seinem Schauspiel Die Diakonissin (vgl. Rasch 6.52.1 und 6.52.2), das er 1854 zu dem gleichnamigen kleinen Roman umarbeitete (Die Diakonissin. Ein Lebensbild. GWB I, Bd. 10.)

    28,29 eine Frau Professorin oder Assessorin]

    Vorausgesetzt, die ehemalige Diakonissin heiratete einen Professor oder Assessor. Der Titel oder die Berufsbezeichnung des Ehemannes wurde auf die Gattin übertragen.

    29,11-12 Zehrung]

    Alternative Bezeichnung für ›Auszehrung‹, im 19. Jahrhundert ein Sammelbegriff für die krankhafte „Abzehrung des Körpers bis zu dem Grade, wo, unter immer steigendem Mißverhältniß des Abganges von zum Leben nöthigen Stoffen u. des Wiederersatzes derselben das Leben selbst nicht lange mehr bestehen kann. Man rechnet, daß wenigstens 1/5 Menschen an auszehrenden Krankheiten stirbt. Sie sind, wo sie entschieden hervortreten, immer mit chronischem Fieberzustand (auszehrendem Fieber) verbunden.“ (Pierer 1857-65, Bd. 2, S. 84.) Dazu zählten Lungenschwindsucht und Tuberkulose, deren bakterielle Verursacher lange nicht bekannt waren und die daher auch nicht gezielt bekämpft werden konnten.

    29,22 des Arztes bedürftig]

    Möglicherweise Anspielung auf Matthäus 9, 11-12: „Da das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isset euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Da das Jesus hörete, sprach er zu ihnen: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.“ Der letzte Satz gehörte im 19. Jahrhundert zu den geflügelten Worten (vgl. Büchmann 1879, S. 28).