Briefe eines Narren an eine Närrin#
Metadaten#
- Herausgeber / Herausgeberin
- Richard J. Kavanagh
- Fassung
- 1.8: TEI-Transfer Text u. Kommentar, Zusätze Stellenerläuterungen
- Letzte Bearbeitung
- 08.11.2024
Text#
Briefe eines Narren an eine Närrin.#
V Vorwort.#
Den nachfolgenden Briefwechsel – von dem, wie vom Monde nur eine Seite sichtbar ist – fand der Unterzeichnete bei einem unruhigen Kopfe, der selbst in seinem Tode die Narrheiten noch nicht lassen konnte.
Nächtlich ward ich aus meinem Schlafe durch ein ungewöhnliches Lärmen und Poltern aufgeschreckt, und vor einigen Monaten gelang es mir in einer mondhellen Stunde zwei Schädel über die Gräber des Friedhofes tollen zu sehen, die sich bald zu necken, VI bald zu küssen, erst zu verfolgen, dann wieder sich zu nähern schienen. Ich trat heran, und bemerkte an beiden silberweißen Schädeln einen seltsamen Schmuck, die Augen- und Ohrhöhlen waren mit Blumen besteckt, der eine trug zwischen seinen Zähnen eine Rose, der andere eine Lilie.
Ich mochte aber den Spuk nicht länger ertragen, und schlug nach §. 7 meiner Bestallung, die mir erlaubt, jeden Ruhestörer von der mir anvertrauten Stätte mit den gerade zu Gebote stehenden Mitteln zu vertreiben, dem Rosenritter mit meinem Spaten die Hirnschale von einander, die Lilie entsprang, und in meinem scharfen Eisen saßen die nachstehenden Briefe, hier und da durch den Hieb verletzt, was der Kenner an seinem Orte finden und meinem Eifer zu Gute halten wird.
VII Doch sind diese Briefe nach dem Urtheile sachkundiger Männer – es besuchen mich deren, um ihren Sinn fürs Schauerliche bei mir zu üben – nicht so merkwürdig, als ein Rechtsstreit, den sie veranlaßt haben. Ich konnte nämlich nicht umhin, den nächtlichen Vorfall meinen Vorständen zu melden, ja es fanden sich sogar Proceßlustige, die mich des Todtschlags angeklagt hätten, wenn nur über den Mord eines erweislich Todten ein Gesetz vorhanden gewesen wäre. Es handelte sich nun aber um die Herausgabe dieser Briefe, und der Arzt unseres welthistorischen Instituts stritt mit dem Prädicanten desselben, wem das Recht der Vorrede gebühre.
Jener wollte das unläugbare Factum der Seelenstörung an unserem Briefsteller durch seine Vorliebe für Verhältnisse des Lebens, die mit dem Materiellen alle Verbin-VIIIdung aufgehoben hätten, erklären, und freuete sich über diese passende Gelegenheit zu einer psychologischen Dissertation so ausnehmend, daß ich mir seine Erbitterung denken kann, als das Recht der Vorrede von unserem Magister reclamirt wurde.
Er habe – darauf stützten sich des Letztern Behauptungen – über diesen merkwürdigen Fall schon mehrmal vor seiner Bedlamitischen Gemeinde gepredigt, habe nachgewiesen, wie hier die Verrückung ihren Erklärungsgrund in Nichts Anderem fände, als in dem von ihm bemerkten geringen Grade christlicher Gesinnung, in dem gänzlichen Mangel an Sinn für das Ewige und Unsterbliche, und er müsse die Vorrede als eine Art Belohnung ansprechen, da er durch seine Reden über dies Thema schon viele Glieder der Gemeinde veranlaßt habe, sich ähnliche IX Briefe, aber voller Salbung und Hingebung an die bestehenden Formen der Erde und des Himmels zu schreiben.
Ich hab’s schon gesagt, daß aus diesen vermeinten Rechtsansprüchen ein Proceß von größter Bedeutung entstanden ist, und da die Theilnahme des Publicums sich schon so lebhaft für ihn ausgesprochen hat, so werden hiermit diese Briefe als corpus delicti bekannt gemacht. Dies bescheidene Vorwort wird von dem künftigen Sieger durch eine tiefere und gehaltvollere Vor- oder vielmehr Nachrede ersetzt werden.
Ich selbst wage über den streitigen Punkt nur die schwache Vermuthung, daß vielleicht die Kirche ihr Recht wird geltend machen. Durch Veränderung eines einzigen flüssigen Buchstaben wird jedes Lazareth zu einem Nazareth, so wie Bedlam zu Ehren Bethlehems, der Kleinsten in Juda, gegründet ist.
X Den freundlichen Gruß an den Leser behalte ich zurück. Er könnte ihn für Beleidigung halten; nicht des Todes wegen, weil die Behauptung, wir müßten Alle sterben, viel Wahrscheinlichkeit für sich hat; wer möchte aber auf meinem Kirchhofe ruhen wollen?
Todtengräber zur St. Bethlehemskirche
des Bedlam in London.
1 Erster Brief.#
Wenn ich von meiner Freundin schriftliche Ergüsse ihrer Liebe erhalte, so sollte sie billig selbst nicht ausbleiben, um Zeuge der Aufnahme zu sein, die ich ihnen angedeihen lasse.
Wie die Flammen mir zur Seite aufprasseln! wie die Düfte des wohlgefälligen Brandopfers in die blaue Ferne des Himmels wirbeln! Mit andächtigem Entzücken kniee ich an den Stufen des Altars, auf dessen Oetahöhen sich Dein gesammelter Briefwechsel dem Herculischen Opfertode weiht, um wie der entfesselte Gott am Mahle der Unsterblichen Theil zu haben.
Hörst Du denn nicht in dem Resonanzboden Deiner Thäler das siebenfache Echo meiner Gesänge, wenn ich durch die dunkeln Laubengänge ziehe, 2 die Urne mit Deiner epistolarischen Phönixasche in der Hand, wie ich des Augenblicks lausche, da sich der Vasendeckel – ein Sargdeckel zum Leben – hebe, und der Wundervogel seine goldenen Schwingen ausbreite?
Noch ist Alles, was Du denkst, für mich Traum; in dem Zauber Deines Geistes schlaf’ ich wie im Kelche einer Lotosblume. Schon senkt sich auf mein dunkles Auge Dämmerung nieder, nicht Dämmerung zur Nacht, sondern Morgengrauen.
Jeden Deiner Briefe ehr’ ich dadurch, daß ich ihn für die Liebe halte, die sich an meinem Grabe opfert. Wie eine Glocke häng’ ich dann im brennenden Stuhle des Thurms, und läute fort in meinen bangen, pochenden Herzensschlägen, immer leiser und dumpfer, bis ich schmelzend verstumme.
Mit dem Aschenkruge Deiner Briefe, Geliebte, will ich die Alpenhöhen erklimmen, und hoch über den Wolken die Wimpel meiner Gedanken lustig flaggen lassen. Der kleine Kreis dieser Grotte beengt mich. Ein Glühwurm leuchtet wie aufs weiße Papier. Ein Schmetterling setzt sich wie ein Wetterhahn auf die Fahne meiner Schreibfeder. Eine Nachtigall muthet meinem Sinnen gar zu, daß ich ihre Sangesweise zum 3 Thema, und meine Empfindungen zu dessen Variationen mache.
Du hast mir ein Boot geschickt, auf dem wir eine ferne Insel suchen wollten. Aber warum ist der Mast auf ihm nicht so hoch, daß ich die Welt im verjüngten Maßstabe sehe? daß ich einen Punkt habe, von dem ich Alles und Alles zugleich sähe? warum ist überhaupt kein Mast darauf?
Du wirst mich ungeduldig nennen, Deine Liebe wird mich tadeln wollen, aber ich bin ein Kind meiner Zeit, und heut’ einmal gerade stolz darauf. Gegen die Wind- und Wetterhosen, in denen die Jahrhunderte über die Erde schreiten, gehen wir ewig in den Kinderröcken, und treten die ersten Schuhe nicht aus. Die größten Ideen, die die Geschichte aufweisen kann, waren für die, die in ihnen lebten, nur Spielzeug. Ich werde die Wahrheit nie lieben, ohne auch an ihr meine Freude zu haben. Und da das Letztere in unsern heißen Tagen unmöglich ist, so wird die Wahrheit, wenn nicht gehaßt, doch nicht gesucht. Es fehlt unserer Zeit ein Ideenhanswurst, ich vermag die Tage, die einen solchen besaßen, zu preisen, und bin mit der Gegenwart doch zufrieden.
Du sprachst die Wahrheit. Es lebten einst Völker, die jedes Wort aus dem Munde ihres 4 Richters, jede begeisterte Rede des Propheten auf die unmittelbare Eingebung eines göttlichen Geistes zurückführten. In die Schatten geweihter Höhlen legten sich die Völker mit allen ihren Schmerzen und Freuden hin, und im Traume nahte sich ihnen der Gott, der die Leiden linderte, und die Glücklichen nur an den Wankelmuth des Glückes, nie an das geringere Verdienst, so glücklich zu sein, erinnerte. Für eine verhüllte Sage aus dem verachteten Judäa, für ein über Länder und Meere nur dämmerndes Licht himmlischer Hoffnungen legten einst Tausende im fernen Occident ihre Häupter auf den blutigen Henkersblock. Für die Erlaubniß, mit seinem Munde ein geweihtes Brod berühren zu dürfen, stieg ein Kaiser von seinem Throne, warf ein härenes Gewand um, und litt Tage lang büßend den harten Frost des Winters. Wenn ich von solchen Betrachtungen mein Auge aufschlug, so nahm ich ein Licht, und suchte in der Welt vergebens einen Gedanken, für den noch einige Hundert zu sterben bereit wären. Ein Anderer, Du z. B., würdest das Licht ausgelöscht, und Dich in die tiefe Nacht Deines Schmerzes begraben haben, mich erfüllte diese Täuschung nur mit Entzücken; denn ich liebe diese Zeit, weil ich Ungebundenheit, Zerstörung, Auflösung liebe.
5 Du hast mir ein Boot gesandt, um mit mir aus der Welt zu fliehen. Aber man muß ein Ruder haben, mit dem man durch die Wogen steuert. Man muß ein Segel aufziehen können, um dem Winde eine solche Richtung zu geben, daß man dabei sein Fortkommen hat.
Die allgemeine Verwirrung der Gegenwart läßt sich darum so leicht verstehen, weil überhaupt kein Gesetz herrscht, weil Jeder das Bedürfniß fühlt, sich verständlich zu machen. Jetzt, da kein Gedanke mehr an der Spitze steht, vor dem die Völker sich in den Staub würfen und anbeteten, hat eine jede Meinung das factische Recht ihrer Gültigkeit. Kein geheimnißvoller Spruch wird jetzt noch Tausende zu Handlungen verleiten, die sie hinterher meist immer bereut haben; und wenn es heilige Gräber wieder zu erobern gibt, so liegen sie in dem gelobten Lande der eigenen Brust. Kreuzzüge unternehmen jetzt nur Skeptiker, und selbst die sind schon aus der Mode gekommen. In den Processen der Gährung und Zersetzung ist der befriedigendste Standpunkt die völlige Unbefangenheit. Wer über einen Abgrund einen Unglücklichen schweben sieht, den er doch nicht retten kann, macht seinen Fall nur um so fürchterlicher, je länger er ihn an dem Zipfel seines Rockschooßes zurückhält: der Fallende sammelt so eine größere 6 Schwere als er im ersten Augenblicke seines Sturzes gehabt hätte.
Ich zweifle sehr, ob Du ein Recht hast, Dich so bestimmt gegen alle Mode zu erklären. Bald trägst Du Dich nach antiker, bald nach orientalischer Sitte, trägst abwechselnd einen spanischen Mantel mit Barett und fliegender Feder, dann wohl wieder einen Reifrock, Tituskopf und Fächer. So bist Du, ohne es zu wollen, eine Sklavin der Mode, nur daß Du sie nicht auf die Putzläden der Galanteriehändler, sondern auf die Garderobe des Theatercostümiers begründest. Ich trage meine Kleider und meine Meinungen immer nach dem neuesten Schnitt. Denn je länger ich Nein sage, desto öfter werd’ ich künftig Ja sagen müssen. Je mehr ich mir meine Anhänglichkeit an die alte Sitte gestände, desto schwerer wird mir die Annahme der neuen werden. Ich wohne schon lange nicht mehr im ersten oder zweiten Stockwerk meines Hauses, sondern auf dem Dache, und werde mich, wenn einst der Sturm losbricht, wohl hüten, noch hinunter zu steigen und meine Habseligkeiten zu holen.
Du hast mir einen Nachen gesandt, um mit mir eine neue Welt zu entdecken. Aber mein fröhlicher Ton muß Dich wohl belehren, daß ich nicht zu den Mißvergnügten gehöre; ich bleibe 7 gern in diesem Chor von hunderttausend Narren, weil ich in ihm zu leben weiß. An einer abgeküßten Zehe einer Christusstatue kann ich Dir die Geschichte nicht nur des Christenthums, sondern aller Religion und Kirche demonstriren. Ich mache mich anheischig, an die Bandschleife Deines Hutes alle Tendenzen unserer Zeit anzuknüpfen. In dem Augenblick verstand ich die Wahrheit dieses Jahrhunderts, als sie Paganini vor einer bezauberten Menge auf der G-Saite geigte.
Willst Du aber doch noch mit den eilenden Wolken, den Seglern der Lüfte, davonziehen, so wird Dich meine Liebe begleiten, nur laß uns jene G-Saite als Mast unseres Entdeckungsschiffes aufziehen. Wenn die Gräfin Rossi noch Rossignol wäre, so müßten die Luftwirbel vor ihrem süßen Munde wie erwünschter Wind uns forttrillern. Ich kenn’ einen deutschen Gelehrten, der jedes Lied in die Melodie des Dessauer Marsches zu zwingen verstand, auf unserer Fahrt wirst Du mir erlauben, eine Chronik des neunzehnten Jahrhunderts nach der Melodie der Barcarole zu singen.
Aber ich will dem Kleinode meines Herzens Nichts verschweigen, ich habe Deinen Plan errathen, und nicht umsonst bin ich auf das neapolitanische Fischerlied gekommen. Einen Eroberungszug wolltest Du mit mir unternehmen nach 8 den Gewässern des Mittelmeeres; jenes neue Eiland, die Ferdinands- oder Grahamsinsel, im Namen der deutschen Freiheit in Besitz nehmen, und alle Deine Brüder und Schwestern einladen auf dies großartige Zeugniß ewig dauernder Schöpfung auszuwandern. Doch gewiß ist Dir nicht unbekannt geblieben, daß jener insularische Säugling der Natur vor Kurzem an den Folgen des Besitzergreifungsstreites zwischen England und Neapel, entweder an dem mal de Naples oder an der englischen Krankheit verstorben ist. Dieser Fall hat mich so in Erstaunen versetzt, daß ich mich nicht eher trösten konnte, bis ich Deine Absicht mit mir zu fliehen erfuhr. Da konnt’ ich Gottes gütige und weise Vorsicht nicht genug erheben: denn ich gestehe Dir, noch weil’ ich gern unter meinen Brüdern. Aber ich weiß nicht, war es das meinem Herzen entströmende Gefühl der Dankbarkeit für seine wunderbare Einmischung, für den bekannten Finger Gottes, oder war es Wehmuth über die geringe Dauer des menschlichen Lebens – ich stand auf und hielt folgende Leichenrede an dem Sarge einer früh gestorbenen Insel:
Ihr Berge und Thäler alle, all’ Ihr großen Vehikel der Naturgeister, die Ihr jetzt leidtragend an dem kühlen Grabe dieser zur Gruft gesenkten 9 Leiche stehet, hemmet nicht den Lauf Eurer Thränen: denn sie sind Eurer und der Verstorbenen gleich würdig!
Noch ruhen unsere sehnsüchtigen Blicke auf dem tiefen Abgrunde, der die Hülle der geliebten Schwester aufgenommen, das Meer zieht mit seinen Wogen auf und nieder, aber Sie, Sie, die Dahingegangene, kommt nicht zurück.
Habt Ihr wohl je einen größern Schmerz empfunden, als den, wenn ein junges Herz schon dann gebrochen wird von den Stürmen dieses Lebens, noch eh’ es dies selbst gekannt hat? Ihr Alle habt sie gesehen, diese unschuldigen Blicke, mit denen die junge Weltbürgerin diese blauen Räume hienieden begrüßte; ach! und kaum sich ahnend und fühlend muß sie schon demselben Gesetz anheim fallen, dem wir Alle verkauft sind. Ohne durch irgend eine Uebertretung der Sittengesetze den Tod verwirkt zu haben, mußte sie schon seinen herben Stachel empfinden.
Wenn es schon die schmerzlichsten Gefühle weckt, mitten unter den schaffenden und wirkenden Kräften des Lebens so viel verborgene, unentdeckte Anlagen und Talente, deren Benutzung die erstaunenswerthesten Resultate zu Tage fördern müßte, zu bemerken – um wie viel trauriger ist es, schon in der ersten aufkeimenden Lebensregung 10 das Opfer eines unerbittlichen Schicksals zu werden! Wenn das Ungewitter in einem Walde wüthet, so mögen die alten, hundertjährigen Stämme sinken; denn sie haben Sonnenschein genug gesehen, Früchte genug getragen; aber wenn schon das erste Hälmchen, die erste Knospe vom Sturme geknickt wird, ach! dann weint der Menschenfreund über die Hinfälligkeit dieses Lebens heiße Thränen. Ja! Du Ceder auf Libanon, Du Veilchen am Bache, lasse den Strom Deiner Thränen rinnen, sie schmücken Dich wie köstliches Geschmeide!
Du befürchtest vielleicht, ich hätte über meine politischen Studien die Gesetze der Homiletik vergessen? Ich weiß noch gar wohl aus dem Cursus, den ich in Jena bei Schott in der Theorie der Beredsamkeit gemacht habe, daß nichts der Rede mehr Lebendigkeit gibt, als Einwürfe, die man sich selbst macht, und daß in keinem Schlusse die Hindeutung auf einen höhern Trost fehlen darf. Ich fuhr also fort:
Doch, wollen wir murren gegen Gottes weise Fügung? Seine milde Vaterhand auch da, wo er uns prüfen und unsere Treue erforschen will, verkennen? Nein, meine Freunde. Es gibt ein höheres Dasein. Ja! wir werden uns wiedersehen, wenn einst die Stimme in die Gräber 11 ruft und die Todten zu neuem Leben auferstehen werden. Wenn uns hienieden alle Hoffnungen täuschen, wenn selbst der kleinste Halm, an dem eine untergehende Seele sich retten möchte, zurückweicht, dann bleibt uns noch jener felsenfeste Trost eines schönern Jenseits, einer Zukunft, wo unsere Thränen getrocknet, unsere Leiden in Freuden verwandelt werden.
So schlummre auch Du, geliebte Seele, in kühler Grabesruh! Schlummre jenem Ostermorgen entgegen, wo Du in schönerer Gestalt, wie der Schmetterling aus seiner Hülle, Dich verklären wirst! wo Du unter die Zahl der lilientragenden Unschuldsengel wirst aufgenommen werden!
Ach! wenn ich dann das weiße Sternengewand meiner unvergeßlichen Freundin werde küssen können, wenn wir in seliger Umarmung uns wiederfinden an den Stufen des göttlichen Thrones – o! daß ich die ganze Wonne dieses Gedankens fassen könnte!
Beten will ich, daß mir der Vater seinen Todesengel sende. Eine umgestürzte Fackel – und wir sind auf ewig vereint. Bange nicht, Geliebte, ich komme! Ja! ich komme, Geliebte!
12 Zweiter Brief.#
Theure, daß Du ein so weites Herz hättest, die Größe meines Schmerzes zu fassen!
Dort die Nebel auf den kahlen Bergen werden nie mehr sinken, die weißen Bäume, die sich mit ihren tausend Armen so ängstlich nach den rothen Wolken strecken, wird kein junges Laub mehr schmücken, kein Veilchen der Ankunft des Frühlings mehr entgegen duften.
Man ist dahinter gekommen, daß die schönste Pracht der Lenzesfeier in nichts Anderem besteht, als in den blühenden Pfirsichbäumen, wenn sie über Hecken und Gartenzäune uns mit ihren weißen carmoisingesprenkelten Blüthendolden grüßen. Der Frühling hat sich für die polnische Sache entschieden, und die Nationalfarben des Landes zu 13 den seinen gemacht, darum soll er nun in keinem deutschen Bundesstaat eingeführt werden. Man will das Erwachen jeder Leidenschaft vermeiden, vielleicht setzt man auch voraus, daß zwar die Blindheit der Menschen diesen wunderbaren Fingerzeig des Gottes in der Natur wie alles Tiefe und Ahnungsreiche nicht finden wird, doch fürchtet man, daß die Vögel auf den Zweigen von den Farben verlockt und an schönere Hoffnungen und Träume erinnert, von der gehässigen Sache singen könnten. Man weiß es, daß die Deutschen auf diesem Wege der Dichtung immer zur Wahrheit kommen. Das will vermieden sein, daher diese Maßregel.
Die Bibel lehrt, daß der letzte König kein Mensch ist, die Thatsache, daß zum Haß, zur Rache immer zwei Personen gehören, beweist, daß der letzte Mensch kein König sein kann. Daraus lernt man einerseits, daß die Monarchie nicht ewig sein wird, andrerseits, daß die Völker nur ein Gedächtniß für empfangene Wohlthaten, die Herrscher nur eines für erlittene Beleidigungen haben. Von Alexander an, der Theben zerstörte, weil er dort den besten Theil seiner Jugend zubringen mußte, bis auf Karl X. haben Könige nicht vergessen und verzeihen können. Darum wird auch Rußland nie aufhören, Polen, dieses in der 14 Reihe der europäischen Staaten jetzt anerkannte Reich, doch immer noch mit seinem verderblichen Einflusse zu verfolgen. Preußen verleitet die andern deutschen Staaten, den Befehlen des russischen Cabinets auch hierin Folge zu leisten. Und doch hat Polen seine Selbstständigkeit errungen, die heldenmüthigen Anstrengungen mußten von diesem glücklichen Erfolge gekrönt werden, es hat sogar einen Prinzen aus dem Hause Oestreich zu seinem Herrscher gewählt.
In alten Geschichten erzählt man von ruchlosen Kindern, die ihre Väter in die Wildniß führen, oder in tief verborgene Kerker, um nur desto früher in den Besitz ihres Erbes zu kommen. Von ihrer Schuld getrieben, lauschen sie ängstlich an den eisernen Gitterstäben, die das Opfer ihres Verbrechens verschlossen halten. Wie erschraken sie, als der gefesselt Geglaubte in voller Mannesschönheit neben ihnen stand. So feiert jetzt Polen das Fest seiner Wiedergeburt. Das noch rauchende Blut der erschlagenen Tyrannen wischen die Helden jetzt von ihren schartigen Säbeln, und wie sich in ihren Mienen dabei die Erhebung des Selbstgefühls und die Freude über den errungenen Sieg zu einem leisen, fast spottenden Lächeln mischt – das ist ein in der Geschichte nie gesehener Anblick! Die Freunde der Freiheit waren zwar bestürzt, 15 als die Mehrheit des Reichstages für die Wohlthat des Friedens selbst die würdige Erfüllung besserer Hoffnungen zum Preise setzte, aber auf den Grund dieses bestehenden Verhältnisses haben nun auch dieselben Freunde das Recht, zu fragen, warum Polen nicht ein Glück genießen soll, zu dessen Erreichung es dem Willen der Mächte das verlangte, bedungene Opfer, die Wahl eines fremden Prinzen, so großmüthig gebracht hat? Das Wiener Cabinet hat wohl nie geahnt, daß es mit dem Liberalismus einmal ein so gleiches Interesse haben werde. Die Geschichte ist reich an Beispielen, wie eine solche Noth des Augenblicks erst zur Gewöhnung, zuletzt zur Quelle der segenvollsten Folgen wird. In der That kann einmal Oestreichs auf so naturgesunde Grundlagen beruhender Einfluß für Deutschlands politische Gestaltung heilsamer wirken, als die Apathie und leidende Kraft, die in allen Entschlüssen der preußischen Regierung bis jetzt sichtbar geworden ist.
Ich gründe meine Ansichten der Zeit nie auf die Auslegung meiner Wünsche, sondern nur auf erklärte Thatsachen. Ich wage keine Behauptung für die Zukunft, selbst für die nächste nicht, aber das scheint unwiderleglich, daß die drei Personen der Allianz sich gegen einander zu rectificiren und ihre Einigkeit aufzulösen suchen.
16Ich weiß, meine Theure, du liebst jene Kühnheit, die in dieser nur auf die materiellsten Dinge gerichteten Zeit noch auf Heiligkeit, auf höhere Weihe ihrer Handlungen zu provociren wagt. Du gestehst die Irrthümer, die einem solchen Muthe gesellt zu sein pflegen, gern ein, willst aber das Erhabene, die Richtung auf das Ewige in jeder Form geehrt wissen. Wenn ich Dir aber die Inquisition in allen ihren Schrecken geschildert habe, fandest Du mich da nicht auch bereitwillig, die Mahnung der Liebe und Freundschaft, die freundliche Zurechtweisung des Irrenden, die Lehre des Erfahrnen und Weisen als die herrlichste Frucht eines frommen Lebens zu erheben? Wenn ich namentlich in Deiner Gegenwart die Thorheit des Cölibats lächerlich machte, bin ich da der Keuschheit, Deinem schönsten Schmucke je zu nahe getreten? Wenn ich die Irrthümer der Hierarchie aufdeckte, und von ihren die Geschichte der Menschheit unauslöschlich befleckenden Folgen sprach, hab’ ich dabei je geläugnet, daß ein gottseliger Sinn auch die äußeren Formen unseres Lebens durchdringen soll? –
Ich ehre die Ansicht eines Jeden, wenn ich weiß, daß sie das Erzeugniß seiner Ueberlegung, oder ein Bedürfniß seines Herzens ist. Sie wird in meinen Augen verlieren, wenn sie auch für 17 Andere eine Vorschrift sein will. Noch mehr! man paart mit der Zumuthung, seinen Beifall nicht versagen zu wollen, die Gefälligkeit, eine meist so lästige Tugend der Menschen. Man macht sich anheischig, für Andere das sein zu wollen, wozu ein Jeder sein eigenes Herz und seinen eigenen Kopf braucht.
Wenn die Monarchen, wie sie da alle Drei in Paris einzogen, das Bedürfniß fühlten, alte Sünden hintennach und neue im Voraus zu büßen, so werden sich ihre Biographen darnach zu richten haben. Für ihre Zeitgenossen aber durften sie nicht annehmen, daß sich die Richtung der religiösen Einsicht bei einem Jeden unter ihnen gerade so gestaltet habe, wie die ihrige. Wie thöricht für Andere fromm sein zu wollen! Und was nennt Ihr Frömmigkeit? bleibt die erste Frage in einer Sache, wo die stille Kammer des Herzens entscheidet, nicht ein Dekret vom Throne.
Ueberhaupt soll ein Fürst von einem Dinge weder annehmen, daß es gut, noch daß es schlecht sei. Er soll weder Kirchen nach seinem Geschmack, noch Pinakotheken und dergleichen bauen lassen, hinterher von seinen Ständen die Deckung der Kosten verlangen, er höre die Wünsche seines Volks, und sei bei der Ausführung die rechte Hand.
18 Seine Meinung durch die That zu verwirklichen, kann das Zeichen eines ungewöhnlichen, eines kräftigen Geistes sein, sie auch dann zu verwirklichen, wenn eine Gegenansicht vorhanden, ist Kühnheit, und mehr als Kraft. Der Gegenansicht die Gelegenheit nehmen, sich gleichfalls geltend zu machen, ist die strafbarste Tyrannei, und in den letzten Fall kommen die Fürsten immer. Darum konnte aus der Consequenz eines Systems, das die Frömmigkeit oder was weiß ich, und die Aussicht auf den ewigen Frieden in die Schicksale der Völker spielen ließ, nur jene Kette von Ungerechtigkeiten sich entwickeln, die den wahren Frieden und das wahre Glück der Nationen noch in die Aussicht einer wild bewegten, wirren Zukunft verwiesen haben.
Schon seit einiger Zeit – Du erinnerst Dich wohl noch der Juliustage – wollte man an die Stelle der antiquirten Allianz das Princip der Nichteinmischung stellen. Wozu dient aber ein Princip, das von seinen Verehrern nicht beobachtet wird, noch mehr, das von denen befolgt wird, die es in thesi niemals anerkennen werden? Ist es Preußens Glücksstern oder die Besonnenheit seiner Diplomaten gewesen, daß es den Franzosen nicht fremd, den Russen nicht neu erschien, und durch dieselben Maßregeln, die jene und diese in 19 die gespanntesten Verhältnisse versetzte, beiden Theilen Genüge that? Die Kunst des Temporisirens ist alt. Die erste Lehre des Diplomaten bleibt die: Werde Meister des Augenblicks! Es gibt nun aber bekanntlich keinen Augenblick, und wenn ich ihn gedacht habe, ist er schon zur Vergangenheit geworden, es gibt aber Politik und Minister. Nichts naturgemäßer, als daß diese aufhören, und ich glaube wirklich, das Bedürfniß, ohne Rücksicht und mit Offenheit zu handeln, Treue und Glauben an die Spitze aller öffentlichen Verhandlungen gestellt zu sehen, wird immer allgemeiner. Es ist leicht, sich selbst zu betrügen, aber immer schwerer wird es, Andere zu hintergehen.
Nun Oestreich Galizien, Preußen, Posen, und Rußland sogar Litthauen an das neue polnische Königreich abgetreten haben, find’ ich Deine Theilnahme, die Du bei diesem Zugeständniß für die Verlegenheit der europäischen Opposition empfindest, allerdings begründet. Man weiß, daß alle drei Mächte zwar nicht den Zustand ihrer Finanzen, aber den Kern ihres Heeres geschwächt haben. Sie haben sogar die Bibel citirt, und von der Sühne alter Frevel gesprochen. Welcher Edelmuth! Welches großartige Beispiel! Bestände die Opposition nur aus deutschen Elementen, vor Rührung und Sentimentalität würde sie sich jetzt 20 auflösen. Wir können nun einmal, wie Kinder und Hunde, Niemanden weinen hören, ohne mit einzufallen. Doch wir Andern, durch Erfahrung gewitzigt, die wir wissen, daß gerade der sentimentalste Schlingel der Satan ist, haben nicht einmal nöthig, an die in Spanien, Italien und Deutschland selbst noch nicht geheilten Wunden, die zuletzt dem europäischen Fechter ans Leben gehen müssen, zu erinnern; die Zukunft wird zeigen, daß die neue Dynastie in Polen nur darum den Thron bestiegen hat, um dem Lande, wie in alten Zeiten unseligen Andenkens durch allerhand Ränke zu zeigen, daß es im Grunde unfähig sey, ein Volk, noch unfähiger, ein constituirtes Reich mit eigener Autonomie zu sein. Wir wissen es, Polen wird noch einmal aufstehen, den trügerischen Tyrannen verjagen, und die Möglichkeit seiner Existenz mit Sense und Schwert demonstriren.
Allein ich vergesse, daß selbst bei der gegenwärtigen Lage der Krieg nicht ausbleiben kann. Die polnischen Damen verlangen von dem Reichstage die Ringe zurück, die sie einst zum Schmelzen der künftigen Krone bestimmt haben. Der Insignienschmuck und die Reichskleinodien, die in den tiefsten Schluchten der litthauischen Wälder von einem hütenden Drachen bewahrt wurden, sind richtig gefunden und dem Drachen abgerun-21gen worden. Die Ringe aber haben sich beim Friedensschlusse zur Aufmunterung für die deutschen Publicisten die drei alliirten Mächte ausbedungen. Die Wiedererlangung dieser Ringe ist nun für die jungen Polen Ehrensache, und der eigentliche Grund, warum unzählige Scharen in Deutschland herumschwärmen. Die Zeitungsschreiber, denen ihr böses Gewissen schlägt, nennen sie Flüchtlinge, als wenn sie nicht wüßten, wo ihre Heimath wäre!
In solch böser Zeit sehnt sich mein krankes Herz nach Deiner heilenden Nähe. Du bist der Blumenkelch, in dem ich meine Thränen ausweine.
Aber, Theuerste! Du hast es vergessen, mir in Deinem letzten Briefe den Ort Deines Aufenthaltes zu bezeichnen. Bist Du in Wien, oder in Frankfurt oder gar in Berlin? Nach dem letzten Orte will auch ich reisen, um mich mit eigenem Aug’ und Ohre zu überzeugen, wie sie die Stumme von Portici, die jetzt laut Cabinetsordre wieder gesungen werden kann, aufnehmen werden.
Man will den Todesgöttern nach überstandener Cholera einen stummen Dank darbringen. Ist doch die Cholera selbst von dem berüchtigten Göthe ein furchtbares Geheimniß genannt worden, worin man einen neuen Beweis für die Tiefe der Ob-22jectivität dieses Mannes sehen kann; mein Nachbar zur Rechten denkt darüber gerade eben so, und der zur Linken auch so.
Sollte meine Speculation den von Hegel verlassenen Lehrstuhl besteigen zu dürfen, gelingen, so blieb ich dann auf immer bei Dir.
Aber diesen Brief wirst Du schon erhalten. Ich lege ihn des Abends ans Fenster, und die Geister der Liebe werden es wissen, wo Dein fühlend Herz jetzt für mich schlägt. Lebe wohl! alle meine Affecten wetteifern in Liebe und Verehrung für Dich!
23 Dritter Brief.#
Deutschen Gruß und Handschlag zuvor, edle Biederfrau!
Ich schätze in Dir mehr, als man an Wesen Deines Geschlechts zu schätzen gewohnt ist. Du bist nicht unbekannt mit den Grazien, und doch ein Frauenzimmer von der ernsthaften Gattung. Du gleichst dem chinesischen Glockentempel, wenn er den Ernst bedeuten soll, eben so sehr wie der Maiblume, wenn ich darunter die Freude verstehe; nur daß die letzte duftende Glocke oben im Wipfel sich den Strahlen der Sonne öffnet, und ich schmeichle mir, diese Sonne immer für Dich gewesen zu sein.
Du sendest mir eine Haarlocke, mit einem rosaseidenen Bande geziert. Sie muß auf der 24 Reise schlecht gelegen haben, das sonst so dunkle Haar war ausgebleicht, und schien sehr grau. Das Gräuliche hat auch mich angesteckt, mein dunkelblonder Haarwuchs ist seither so weiß geworden, wie die schneebedeckten Fluren, die sich dort drüben vor meinen Augen ausbreiten.
Ich weiß nicht, ob Dir auch so ist. Mein Leben ist mir schon so alt, und doch fühl’ ich mich zuweilen jung, als lebt’ ich noch immer, obschon ich gewiß weiß, daß ich wenigstens einmal gestorben bin.
Glaubst auch Du nicht daran, daß ich im Grunde nur ein Mährchen bin? Mit dem Greisenhaupte meines Januskopfes seh’ ich in die dunkeln Nebenpforten fernster Vergangenheit, und mit dem Jünglingsblicke auf die Wiege, als wär’ ich erst gestern geboren. Da hab’ ich ein altes Buch voller wundersamer Geschichten, ich spiel’ in ihnen immer die Hauptrolle, die verzauberten Prinzen. Jetzt in einen schwarzen Käfer, dann in eine glühende Kröte, oder auch in ein todtes Marmorbild verwandelt, harr’ ich auf Liebe und Unschuld, die meinen Zauber lösen können.
Deine Liebe und Unschuld hören gewiß meine Klagen, die jetzt einsam durch die Nacht tönen, und von den Vögeln in Musik, von den Blumen in Duft gesetzt werden. Liebste! erinnerst Du Dich 25 wohl noch jener Zeit, als ich die Anatomie Deiner Blicke studierte, als ich bei Deinem Herzen ansprach um einen gefälligen Beitrag zu der Collecte, die ich nach dem großen, von Deinen Augen in mir angerichteten Brande bei allen himmlischen Wesen sammeln ging? Oder wie war das? Man vergißt seine Freuden leichter, als seine Leiden. Ich habe so viel vergessen, waren das Alles Freuden?
Nun aber theil’ ich Dir ein Geheimniß mit, das Du Dir gewiß nicht hast träumen lassen; fürs Erste mußt Du aber noch reinen Mund halten.
Der Sultan hat mich als Redacteur des konstantinopolitanischen Moniteurs berufen. Findest Du das ungereimt? Und auch auf Dich, Du herrliches Weib, hat er sein gnadenreiches Auge geworfen. Du sollst mit mir ziehen, und die Stelle der Frau von Hübsch vertreten.
Du fragst nach den nähern Umständen dieses Rufes? Nun so höre, wem ich den Rang abgelaufen habe! Mein Mitbewerber war der berühmte Bibliothekar Dr. Ernst Münch, ein Lichtfreund, den Ignoranten ein Wetterblitz, der den freimüthigen Hutten, wenn nicht nachgeahmt, so doch herausgegeben hat. Er hatte zwar gegen die Osmanen, oder richtiger die Feldzüge gegen die Osmanen geschrieben, aber 26 die sultanische Majestät war auf diplomatischem Wege unterrichtet worden, daß der Bezeichnete zur Classe der Desultoren, denen jeder Sattel gerecht ist, gehörte, überdies daß er das Haager Doppelkreuz wäre. Es kam zu einem Examen, das ich Dir schildern will.
Der westöstliche Divan hatte sich versammelt. Der Großherr saß in einer Loge, die mit goldgestickten Sammtvorhängen zum Theil bedeckt war. Ihm zur Seite seine Gemahlin: in Reichsangelegenheiten hält er streng auf Monogamie. Die hoffnungsvollen Prinzen übten sich an hölzernen Puppen im Kopfabschlagen.
Wir Candidaten traten ein. Ein blondhaariger, blauäugiger junger Mann – Du kennst mich ja, Liebe, das war ich. Mein Rival nicht minder anziehend, nur etwas stark und wohlgenährt; seine Brille empfahl ihn. Zum Zeichen unserer russischen Gesinnungen schlugen wir mit unsern Armen dreimal ein Andreaskreuz über die Brust. Mein Gegner nahm das Wort, Folgendes sprach er:
„Geist und Talente stehen über den Interessen der Machthaber und Völker. Das ist der Vorzug unseres erleuchteten Zeitalters. In den barbarischen Zeiten des Mittelalters trugen Söldner den am meisten Zahlenden ihre körperlichen Kräfte an, ja die Schweizer, denen ich entsprossen zu sein 27 eingestehe, setzen diese Gewohnheit noch heute fort. Ich glaubte das geistige Pfund, das in mir vergraben liegt, nicht besser anwenden zu können, als es unabhängig zu machen von all meinen Jugendträumen und Idealen, und den Bedürftigen es zuzuwenden. Ich bin stolz auf den Kosmopolitismus meines Volkes, und seien Sie außerdem bei meiner Wahl der Beistimmung des großmüthigen Nikolaus gewiß. Ich habe viel zum Untergange der polnischen Sache beigetragen. Wir Deutsche sind überhaupt weder Polen, noch Philopolen, sondern nur Bibliopolen.“
Der Divan lachte um ein wenig schwächer, als der Bibliopole selbst.
Es kam zu einigen Fragen. Mein Gegner vermied zu antworten. Er kramte und berief sich auf seine Documente, die er nach Zeit und Ort geordnet hatte. Sie fingen von Freiburg an und hörten am Neckar auf. Man sprach von der Legitimität. Er citirte eine Nummer des Morgenblattes, wo er die Legitimität selbst der Liebe in schlichten Versen bewiesen hätte. Ich aber machte mich heimlich an die Großfrau heran, und flüsterte ihr leise zu, ich könnte ihr Alles, selbst die Legitimität ihrer Strumpfbänder beweisen. Das empfahl. Die hohe Frau geruhte ihrem Gemahl zu erklären, daß ich der Mann zu sein schiene, der die Sache 28 des Hofes in gegenwärtiger Verwickelung vertheidigen könne, man möchte den Gegner entlassen. Dieser ging. Ich blieb.
Welch eine Staatszeitung soll die meinige werden, in dem Artikel Inland kann ich zwar nicht gut über die Schranken der Barbarei hinausgehen, da die hiesige Censur für dieses Fach äußerst streng ist, aber im Ausland ist sie nachgiebiger.
Da will ich den deutschen Brüdern im Zeitungsspott eine Regel geben, die sich ihnen als nützlich bewähren wird.
Es drängt die Bekanntmachung einer Thatsache über inländische Angelegenheiten. Die Scheere des Censors wird sie nicht schonen. Was thut man?
„Wenn Sie, verehrter Herr Regierungsrath, in meiner Zeitung den Abdruck dieses Handels unterdrücken, so schick’ ich ihn in ein englisches oder französisches Blatt. Man liest ihn auf unserem Museum. Wie könnte dann noch der Abdruck unter der Rubrik London oder Paris ohne Aergerniß gehindert werden!“
Eine tolle Zeit, wo man, um ehrlich zu sein, ein Spitzbube werden muß! Scheinbar scherzt man freundlich mit einem Kinde, und hat es doch nur auf die artige Magd abgesehen, die es trägt. Dieselben Handlungen, die bei dem Einen als 29 Muster von Kühnheit und Muth gelten, müssen uns bei dem Andern in den Ruf der Bescheidenheit bringen. Es gibt eine hoffähige Demokratie, wie in Milet eine Quelle, die süßes und salziges Wasser zugleich enthielt.
Unter der Rubrik Ausland hab’ ich in meinem Moniteur noch ein stehendes Capitel über Maßregeln. Du verstehst mich. Ich meine die Protokolle des Bundestages.
Eine eigene Spalte ist die Poetenspalte, wo ich das Phantastische und Alles, was in der Politik auf der Einbildungskraft beruht, in zierlicher Darstellung berichte. Ich sorge hier fleißig für das Tragische, Schrecken- und Schauererregende, und rechne dahin alle Hessen-Kassel’sche Angelegenheiten, die schon Stoff genug darbieten zu einem Trauerspiel. Atreus und Thyestes oder das Haus der Pelopiden ist ein Gemälde von Familienhaß, Maitressenwirthschaft, Volksaufläufen und Gardeducorpssäbeln geworden.
Eine solche Wuth losgelassener Leidenschaften ist unerhört; und in der That, es fehlte noch, in diese Iffland’schen Familienscenen die Interessen des ohnehin schon genug geplagten Volkes zu verwickeln. Wenn Ruhe die erste Bürgerpflicht ist, so haben wir noch weit mehr das Recht, sie auf dem Throne zu erwarten. Sollten wir wirklich 30 noch solche Scenen erleben, wie sie in den kalten, öden Todesmauern des byzantinischen Kaiserhauses vorkamen? Wenn du gut thust, hieß es schon in dem Königsspiel bei Horaz, so wirst du König sein, wo nicht, nicht.
Wie ich höre, geht es in Hanau schon wieder hoch her. Die Zollhäuser auf der Frankfurter Straße sind kaum zerstört. Wovon ich mich selbst überzeugt habe, ist die ganze Angelegenheit so sehr in das moralische Bewußtsein der Leute dort eingegangen, daß selbst der Schenkwirth im Zollhause nie mehr sein Gebäude zu einem solchen ruchlosen Zwecke hingeben wollte. Man weiß es, daß sich Unzählige für einen zugesteckten Thaler eher todtschlagen lassen, als daß sie den Wiederanfang des kaum beendeten Unwesens duldeten. Aber das Alles wird nicht gefürchtet, man vergibt sich Nichts, und wird nicht nur den Zoll für neue Waaren verlangen, sondern selbst für die, die seither ohne Beleg durchgiengen. Den Kaffee und Zucker, den man längst verdaut hat, können die Kaufleute und wir noch hintennach veraccisen. Man wundre sich nicht, wenn die Bürgergarden bei solchen Cravallen zusammengetrommelt werden, und nicht erscheinen. Ohne Uniform sind sie selbst der Feind, gegen den sie agiren sollen.
31 Siehst Du, Vertraute meines Herzens, so geht es im Türkischen Reiche her. Mit solchen Anekdoten füll’ ich die Spalten meines Moniteurs. Sonst lebt man hier besser, als bei Euch. Der Brand von Pera ist eine verdammte Lüge, die der östreichische Beobachter ausgeheckt hat, um die Aufmerksamkeit von Westen nach Osten zu lenken, und den Leidenschaften des Hasses und der Erbitterung eine unschädlichere Richtung zu geben.
Ich habe gerade von Pera aus die herrlichste Aussicht auf die stolzen Wellen des Marmormeers. Rings um mich her liegen die anmuthigsten Landhäuser, versteckt in bergendes Waldgrün. Dunkle Fichten erheben ihre Riesenhäupter in die wolkenlose Himmelsbläue. Die Trümmer einer verfallenen Burg ragen hinter Bergen, die mit den edelsten Weinen bepflanzt sind, wie Abenddämmerungen der Erinnerung beim Entzücken der Liebe und Freundschaft, hervor.
Ach, daß Du in diesem Augenblicke die Rührung meines Herzens theilen könntest!
Die friedlichen Klänge der Abendglocke des Klosters hallen aus der Tiefe des Thals zu mir herüber. Sie läutet den schlummernden Sonnengott in die Wiegenruhe seiner Purpurgluthen dort über jene Hügel hinunter.
32 Geliebte, Du hast mir schon so oft versprochen, Du wollest auf den Fluthen des Mondscheinlichtes zu mir segeln. Daß Du in diesem Augenblicke der Wonne an meine bewegte Brust sänkest! Siehe! diese Rose würf’ ich in die Wogenfluth Deines Busens, und ließe mich in ihrem Kelche nach dem Sonnenaufgang Deines Augenstrahles tragen!
Uebrigens kennst Du über Thränen meine Ansicht. Ich hasse sie. Die unnatürlichsten Bäume, die je gepflanzt sind, nennt man Trauerweiden. Aus den geringfügigen Dingen, die den Menschen die Augen naß machen, lernt man ihre Schwäche kennen – ein Christbaum, ein Ostermorgen, die untergehende Sonne – und sie sind weg! Ich empfehle Dir Kant’s Kritik der praktischen Vernunft. Das Glück des Menschen hat ganz andere Grundlagen. Mein Ideal der Glückseligkeit hab’ ich mir jetzt festgestellt und mir zugleich vorgenommen, zur Beglückung der Menschheit mich einem deutschen Fürsten als Janitscharenmusik zu vermiethen.
Bist Du also heute zur Rührung aufgelegt, so werd’ ich das Vergnügen haben, Dich nicht zu sehen.
Sonst ergreif’ ich diese Gelegenheit, Dich zu versichern, daß, wenn Du mein Alpha bist, ich Dein Omega bin und bleibe!
33 Vierter Brief.#
Ein Räthsel hast Du mir vorgelegt, einen Vorschlag mitgetheilt, ich komme auf Beides, meine Beste.
Du fragst mich, ob ich einen Begriff von krystallisirter Wehmuth habe? Ich gebe Dir eine Gegenfrage, ohne eine Antwort zu verlangen.
Warum muß sich doch schon an die wonnigen Tage der Jugend, wo die Phantasie noch mit solchen Blumengewinden die Welt umzieht, wie mich die meinige mit ihren riesigen Himmelsblüthen, jener eisige Schauer des Winters legen, der die brennenden Lippen erstarren, und die bebenden Küsse erfrieren macht? Nicht wahr, ich komm’ ans Ziel?
Legionen solcher erstarrter Thränen und erfrornen Küsse schweben wie Engel und unsichtbare 34 Eiszapfen durch die lange Nacht des Winters, bis sie erst der milde Strahl der Frühlingssonne zu glänzenden Perlen auflöst. In einigen Monaten kannst Du das an mir selbst erleben.
So wie sich erst die Morgensonne in dem frischen Grün wieder spiegeln wird, so nehm’ ich meinen Thränenkrug, und sammle auf den Auen. Durch Vermittelung des Salzes macht der chemische Proceß alles Flüssige fest, und so krönt endlich meine Mühe das beneidenswerthe Gefühl, Dein Problem aufgelöst zu haben.
Daß eigentlich die ganze Welt nur aus dieser Materie besteht, erräthst Du wohl nun leicht, daß die Erde – im Vertrauen gesagt – nur ein ganz winziges Ding, eine Thräne im großen Weltenauge.
Nun aber Dein Vorschlag. Ja wohl! sehr empfehlend. Der Enthusiasmus reißt mich hin, Holdseligste, ich fange an zu schwärmen.
Das leichteste Mittel, der Macht des Despotismus und Königthums zu steuern, liegt in der Erweckung des schlummernden, religiösen Parteigeistes. Man stürze die Sitze der weltlichen Fürstenthümer, und errichte an ihrer Statt Christenthümer.
Z. B. das Christenthum Hengstenberg, mit so und so viel Tausend Einwohnern, auch Seelen genannt, die sich meist von sitzenden, webenden 35 Geschäften, spinnender Lebensart und geistlichem Fischfang ernähren. Man arrondirt es aus dem Wupperthale, dem mildthätigen Elberfeld, Kielern, Glauchensern, Baslern und ist dabei die Wilhelmsstraße oder die Wallachei in Berlin nicht zu vergessen.
Wir werden der Erfüllung dieses Planes die größten Opfer angestrengter Kräfte bringen müssen. Ein Truggewebe von Irrthümern ist aufzulösen. Die Fürsten stehen in dem Rufe, die Religionsübung zu schützen, und die Wenigsten sehen ein, daß sie sich jenen nur als ein sanftes Bindemittel ihrer Herrschaft bewährt. Der Scepter nimmt so gern die Gestalt des Krummstabes an. Wir können sogar Staaten aufweisen, deren System eine weltliche Hierarchie ist. Preußen, dessen historische Existenz nur durch Vertrag und Uebereinkunft gesichert werden kann, wies die schriftliche Abfassung einer solchen nur darum bis jetzt zurück, weil es sich auf die Herzen seiner Bürger als auf die sicherste Garantie der Zukunft beruft. In so fern in diesen Herzen das Vertrauen die köstliche Perle sein soll, überläßt man die Entscheidung der Frage der Zukunft, man weiß, daß sich die Regierung verpflichtet hat, den Mangel jenes Vertrauens durch einen künftigen Act der Gesetzgebung anzuerkennen. Aber das Religiöse an diesem Verhält-36nisse bleibt einer allgemeinen, von dermaligem Staatsverbande unabhängigen Welt- und Geschichtsansicht unterworfen. Je mehr die religiöse Stimmung unserer Zeit über das bloße Bedürfniß des Glaubens hinausgeht, und eine bestimmte Ansicht über Christenthum als eine Thatsache anerkannt wissen will, je stärker sich früher in Preußen die Meinung befestigt hatte, der Thron könne in Religionsangelegenheiten mehr sein, als eine schützende Macht, er könne auch entscheiden, desto einseitiger mußte sich nach der Erklärung, die Regierung lasse Jeden schaffen, wie er wolle, das Interesse der Partei auf sich selbst zurückziehen, und gegen den Schutz, der ihr von oben gleichgültig gewährt wird, selbst immer gleichgültiger werden. Der preußische Staat ist durch die Chancer dieser Zeit gezwungen, dem Zuge des alltäglichen Treibens zu folgen. Er ist verurtheilt, mit eigner Hand das poetische Gewand, in das er sich durch sonderbare Zufälle hüllen konnte, zu zerreißen.
Du befürchtest, ich würde mich noch einst zum Schirmvogt der Pietisten aufwerfen; aber Folgendes belehre Dich, daß ich meinen Kopf denken, nicht hängen lasse!
Die Liebe darf einen Rechtgläubigen noch nicht bewegen, sich mit zwei oder drei oder meh-37rern Brüdern zur gemeinschaftlichen Uebung im christlichen Leben zu vereinigen. Nur durch den Satz von der Priesterschaft eines jeden Christen sind Conventikel möglich geworden, dadurch aber auch gegen jede Staatsreligion feindselig gestellt. Man versichert, und hängt mit voller Hingebung an dieser Lehre, daß die Berufung eine allgemeine sei, Jeder dürfe sich zu jeder Stunde als ein Gefäß des göttlichen Geistes ansehen. So lange dieser Glaube noch nicht untergraben ist, und damit kann es anstehen, weil er dem natürlichen Selbstgefühle die verklärteste Weihe gibt, so lange sind noch Elemente zu einer republicanischen Ordnung der Gesellschaft vorhanden. Man wird die Uebertragung des Lehramtes an gewisse durch menschliche Wahl Bestimmte, die ganze Form der Kirchenconstitution ewig nur als einen Uebergangspunkt ansehen, und gegen die weltliche Seite des Lebens, die jene Gestaltung der kirchlichen zur Garantie ihrer eignen Dauer bedarf, unablässig reagiren. Liebe und Vertrauen soll das schönste Band des Lebens bleiben, aber die Verbundenen müssen Alle Priester und Könige sein.
Ich schreibe jetzt an einer Geschichte der Zukunft. Jede Gewalt wird in ihr an den zwei höchsten Mächten politischem und religiösem Fanatismus scheitern. Das Bedürfniß, glücklich zu leben 38 ist eben so mächtig, als das andere, seinem Glücke die Unterlage eines höhern Lebens zu geben. Beides sind die Factoren der entscheidendsten Schläge in der Geschichte gewesen, die Explosionen der Zukunft werden wiederum durch ihr Zusammentreffen herbeigeführt werden. Die Zukunft wird uns unzählige Charaktere zeigen, in denen die Flammen der Begeisterung für das hohe Ziel aller politischen Freiheit, Republicanismus, mit dem heiligen Feuer religiöser Andacht und Hingebung zusammengeschlagen werden. Hier wird mehr sein, als die furchtbare, imponirende Sittlichkeit eines Robespierre. Vor der Tugend allein erschrickt der Despotismus nicht. Sie bedarf des Lasters als hebender Folie, und pflegt mit ihrer Selbstbeschauung zu enden. Die Macht des Christenthums reicht höher hinaus, in ihrer richtigen Stellung zum Staate ist sie unüberwindlich.
An der Lehre der St. Simonisten ist dies das Wahre, daß sie das Bedürfniß einer Coalition unseres geistigen und materiellen Lebens aussprechen. Sie ist ein Symptom des Zeitgeistes und hat daher nur ein vorübergehendes Interesse. Ihre Lehren selbst befriedigen jenes Bedürfniß nicht, sie müßten dazu weniger die Resultate eines speculirenden Kopfes sein, aber sie haben im Schematismus der mannigfachen unsere Zeit durchkreuzen-39den Tendenzen eine so mathematisch richtige Stellung, wie keine andere neuere Erscheinung im Gebiete der geistigen Cultur. Herr Carové, Licencié en droit, findet zwar in dieser Bedeutung der Simonisten Jakobinisches, Sitten- und Staatsgefährliches, – spricht der Mann nicht, als hätt’ er einst zu Mainz als Centralinquisitor gesessen? – aber das zeichnet eben ihre Lehre mehr aus, als ein selbstverstandener Satz von la Mennais, Cousin oder wohl gar Hegel.
In Deutschland kann man nie auf den Bürger wirken. Das hat Rußland vortrefflich verstanden und daher Sorge getragen, diesen deutschen Michel in Polen einheimisch zu machen. Aber die Bewohner des platten Landes, das starke Geschlecht der Gebirge, die Grenzbauern sind jene geheimnißvollen Gestalten und Zaubergrößen, aus denen ich jetzt ein System der Demagogie schaffe. Du erschrickst und vergissest, daß ich ja nur als Schriftsteller in diesem Fache auftreten will. Das Publicum will Charakteristiken der Zeit, Bilder aus der Gegenwart. Es ist zu wenig Walter Scottisch mehr, als daß man mit Karlistischem Romanticismus, mit Prätendentenscenen und Aristokratischer Hingebung aufwarten dürfte. Es will an seine nächsten Interessen erinnert sein, aber nur andeutend, nicht so, daß es sich heute ein 40 Buch kauft, und morgen das befolgen muß, was es darin gelesen hat. Es will Anklänge an den Augenblick, doch es scheut sich, sich wieder mitten in den leidenschaftlichen Kampf der Parteien versetzt zu sehen. Es will Ernst als Scherz vorgetragen wissen. Wer nun in der That die Kunst besitzt, durch irgend eine untergelegte Diction, etwa daß er einen Narren an eine Närrin Briefe schreiben ließe, seine Stellung zu den Parteien nur versteckt durch den Schleier des Indifferentismus anzudeuten, der mag sich schmeicheln, hier und da seinen freundlichen Leser zu finden. Aber unnatürlich bleibt darum doch dieses Verhältniß, und beweist, wie weit wir die Franzosen im Leichtsinn übertroffen haben. Der Leser hebt sich lachend von seinem Morgensitze, verläßt sein Negligé, wirft den Amtsrock über die Schulter und officielle Falten ins Gesicht, und kaum auf seinem Beamtensessel, gewöhnlich einem Schraubstuhle, angelangt, decretirt er dem vorher so liebenswürdigen Autor ein Halseisen – des Princips wegen.
Unsere Zeit ist zum Märtyrerthum nicht mehr gemacht. Wenn es zwar an treuen Seelen nicht fehlen möchte, die sich gern für die erkannte Wahrheit hingäben, so fehlt den Gegnern doch der Muth, durch offene Gewaltthat die Partei zu reizen und ihren Willen mit Leidenschaft durchzu-41setzen. Und ich gestehe Dir gern, daß ich kein Märtyrer der Wahrheit sein möchte, wenn nicht Jedermann dieselbe Wahrheit an allen Wegweisern auf der Landstraße lesen könnte. Wie Göthe und sonstige Unsterbliche unter den Sterblichen wird man nie mehr sein, als wozu man gemacht wird. Man pflücke Nichts vom Baume des Lebens, es fallen genug Blätter von ihm ab, die auf der ruhigen Spiegelhelle des Daseins umhertreiben und immer so ansehnlich sind, daß sich ein Lorbeerkranz daraus winden läßt. Wohl dem, dessen Ueberzeugung nicht weiter reicht, als die Augen seiner Zeitgenossen! Er wird ihnen nun erscheinen – denn wer würde meinen, nur Alltägliches zu sehen! – und doch der alte, liebe Freund, der dem Herzen so nahe steht, sein. Wem diese marmorne Ruhe nicht zusagt, der mag sich die Gegenstände seines Kampfes fingiren. Er kann dabei so viel Anstand und Würde entwickeln, daß er nie für den spanischen Abenteurer, immer nur für einen Heros gehalten wird. Neben der Coketterie der Liebe gibt es auch eine des Hasses. Wenn man sich flieht, um sich zu haschen, so gibt dies den angenehmen Eindruck eines Anakreontischen Ballets. Wenn man sich aber in die Haare fällt, nur um auseinander zu kommen, so ist dies neben der Feigheit eine Lächerlichkeit, die leider nur von den 42 Wenigsten erkannt wird. Vom Lächerlichen zum Erhabenen gibt es bekanntlich nur einen Schritt, wer bemerkt diesen einfachen Sprung? Falstaff wird von seinen Gesellen wirklich für tapfer gehalten. Die vermeinten Herren der Freisinnigkeit sind bei uns in dieser Weise oft die Unterthänigsten. Sachsen steckt voll solcher Leute, die in jedem ernsten Triumvirate nur den Lepidus abgeben müßten, die aber als Erzketzer im deutschen Reiche verschrieen sind. Sie schießen Jahr aus Jahr ein die giftigsten Pfeile in die Weite, noch kann ich mich aber keines entsinnen, den sie getödtet hätten. Sie könnten aber Satyren auf die Religion des sechsten Welttheils schreiben, sie würden noch immer als Heroen der Freiheit gelten.
Man kommt aber so am besten durch die Welt. Also, wohlan, du alte Stimmgabel, du hast mit den beiden Klammern deiner Fangarme schon so manches hoch schlagende Herz in den Kammerton zu stimmen gewußt, leg’ einen guten Ton für mich ein, ich will fromm und geduldig werden, wie ein Lamm, und reden, als redete ich nicht. Verschaff’ mir mit deiner silbernen und darum immer noch Goldes werthen Stimme irgend einen Lehrstuhl, etwa der politischen Natürlichkeiten, dem ich in frommer Ergebenheit Ehre machen werde. Echt biblisch will ich lehren, daß es natürlich 43 war, als Petrus seinen Herrn und König verleugnete, daß er hinausging und weinete sehr; daß es natürlich ist, den biblischen Satz zum höchsten Princip der Finanzwissenschaft zu machen, daß, wer hat, dem gegeben, wer aber Nichts hat, dem genommen werde; daß es natürlich ist, nicht nur die Irländer und Juden, sondern auch die Fürsten zu emancipiren, wenn man nicht erwarten will, daß sie, begeistert für die Sache ihrer Freiheit, mit den Waffen in der Hand den Völkern, ihren Unterdrückern, gegenübertreten. Sag’s ihnen nur, daß ich nicht müde werden wolle zu rufen, sie sollten von den Schranken der Caste entfesselt, von ihrem Pariastand erlöst werden, an öffentlichen Orten beim Gottes- und Musendienst nicht mehr allein, wie auf Armensünderbänken sitzen, es solle ihnen der Zugang zu ehrlichem Erwerb und Nahrungszweig nicht versperrt werden. Sprich, du alter Chimborasso, warum sollen ihre liebesiechen Herzen an den Lippen der Bürgertöchter sich nicht erwärmen dürfen? Und wenn du geantwortet hast, so hebe dich weg von mir!
44 Fünfter Brief.#
Jetzt möcht’ ich freilich lieber in Schwaben, als in den märkischen Sandsteppen geboren sein! Dein trauriges Schicksal, Geliebte, ist so recht dazu geeignet, in Verse und Reime gesetzt zu werden.
Du hörst von der treulosen Gefangennehmung Deines Gemahls. Der edle Lafayette eilt zu der bestürzten Gattin, Du fliegst in Sturmeseile den Pyrenäen zu, forschest in dem Blicke des Wanderers, fragst den Gemsenjäger auf den steilsten Klippen, und erfährst die unselige Botschaft, des Edeln Tod. O, daß mich die mordende Kugel getroffen, daß ich den Schmerz eines solchen Verlustes von Dir abgewandt hätte!
45 Du weißt ihn zu ertragen. Das ganze Leben Deines Mannes ist wie eine Sage an Dir vorübergegangen. Wie im Traume hast Du ihn ewig auf schwankendem Fahrzeuge mit dem empörten Elemente kämpfen sehen; wie er mit den lieben, treuen Gefährten im Mondenschein am Ufer des Heimathlandes anlegt. Er küßt die feindselige und doch so geliebte Scholle, mit den blitzenden Schwertern deuten sie nach den Sternen, und schwören sich ewige Treue auf Leben und Tod. Ha! ich sehe die perlende Thräne, die über die dunkle Narbensaat seines Antlitzes rinnt! Wie ihm die Blumen der Hoffnung unter dem buschigen Moose der Augenbraunen aufkeimen! Ein hehres Weib, in flatterndem Reitermantel, auf ihrem stolzen Haupte die winkende Reiherfeder ruft ihm. Er folgt auf die schneeigen Wipfel der Sierra Nevada. Von einem Abhange sieht er das wunderbare Farbenspiel des lachendsten Frühlingsgrüns, die Streiflichter der fernen Thalebenen, und Alles in die blaue Dämmerung des Mondscheins gehüllt. Hinten am äußersten Ende des Horizontes liegen in dunkler Ferne die tausendzackigen Höhen der Sierrra Morena. Hesperia deutet wehmüthig nach den Ufern des Manzanares, Dein Gatte verbirgt sein Angesicht und stirbt.
46 Unglückliches Weib, Deinetwegen werd’ ich katholisch, und begleite Dich auf der Pilgerfahrt zu des Heiligen Grabe.
In Andalusiens Thälern, an den Ufern des Genil erhebt sich ein einsamer Felsen, losgerissen von dem nahen Gebirge, der Stein der Liebenden, ein Denkmal treuer und unglücklicher Liebe. Hier sei Deines Ermordeten Ruhestätte, und die Hütte, die uns müde Lebenswaller berge! Du pflanzest auf den Hügel seines Grabes erst einen süßen Mandelbaum, auf den unsere Trauer dann die bittere Frucht, wie den Dorn auf der Rose impft. Ich benutze die Muße zu einer Abhandlung über das Poetische im Liberalismus.
Bei all dem Jammer bin ich gestern noch ins hiesige freie Reichsstadttheater gegangen; das verzeihst Du mir, oder darf die Liebe zürnen? Man gab den kannegießernden Zinngießer. An einer Stelle wollt ich sehen, ob man wohl mit einiger Hoffnung in Deutschland bleiben könne, sie ist aber richtig so ausgefallen, daß ich die Fluren der Heimath um so lieber verlasse.
Vor einigen Tagen war hier nämlich eine so entsetzliche Revolution, daß Herr v. Bellinghausen schon mit der Mainzer Besatzung gedroht hatte. Du weißt, daß in Deutschland die meisten Thorflügel in stetigem Parallelismus mit dem Auf- und 47 Untergang der Sonne stehen. Um die Kosten der Beleuchtung zu verringern, glaubt man so ein gutes Stück Finsterniß von der Stadt abzusperren.
Ich hätte nur gern gewußt, ob ein deutscher Schauspieler so vielen Muth besitzt, wenn man ihn als einen Lehrjungen fragt, worüber denn der bei seinem Meister versammelte Klubb politisire, zu den nach der Rolle vorgeschriebenen Gegenständen noch einen hinzuzusetzen aus dem Stegreif, der allen den Hörern als das Vertrauteste sogleich zugegen war, hier die Thorsperre. Aber der Mann hatte ihn nicht.
Ueberhaupt hab’ ich mir den Staub, was man im Winter Staub nennen kann, von meinen Füßen geschüttelt, als Frankfurt hinter mir lag. Ich fragte dort Jemand nach dem Hause, wo Göthe geboren. Ich wollte, wie Uhland in seinem Straßburgermünstergedichte, der Thorheit der Welt und meinem Tage- und Wanderliederbuche eine Huldigung bringen, aber dumm sah er mich an: „Göthe? das Haus Göthe? muß längst fallirt haben?“
Auf der Mainbrücke postirte ich mich gerade dahin, wo früher ein metallener Hahn seinen Krummschweif stolz in die Höhe schlug. Mich jammerte Frankfurts. Aus eigenem Entschluß hat es das Symbol der Freiheit gewiß nicht aus den 48 Augen der Gewalthaber weggeschafft. Nun aber ergriff mich jene große Frage, die ich mich erinnere, in einem Briefe an Dich einmal früher angedeutet zu haben, über das Poetische im Liberalismus, ob der Hahn die Lilien aufwiege.
Die Lehre, daß die Poesie nur im Sonnenglanze des Königthums blühe, ist alt, aber welcher Irrthum ist nicht alt! Gellert und Gleim sind freilich auch Leute. Dieser wäre nichts gewesen, ohne die siebenjährigen Thaten eines königlichen Helden, Jener wurde Alles durch den bekannten Gaul, in dem nur ein später gebornes Geschlecht, das da lacht, wo die Alten gerührt weinten, Ironie sehen konnte. Homer scheint uns Nichts ohne die edlen Geschlechter des Landes, Ossian Nichts ohne Fingal, Tasso’s Leiden sehr wenig ohne den Florentinischen Hof; was ist die ganze deutsche Literatur ohne das Großherzogthum Sachsen-Weimar-Eisenach! Das Ringen dieser Zeit nach Freiheit scheint uns eine nackte, todte Abstraction und eine zu weite Entfernung vom Ziele unserer Illusionen, obschon wir damit nicht sagen wollen, daß wir mitten in der Poesie des Lebens sitzen. Wir freuen uns nur dann des Lebens, wenn wir seine Erscheinungen zu Gegenständen unserer Reflexion machen können. Wir sprechen weniger von Wundern, Thaten, Begebenheiten, als von den Versen 49 darüber, und theilen das Epos unseres Daseins nicht so sehr nach seinen Strömungen und Wallungen, Klippen und Häfen ein, als nach Strophen und numerischer Reihefolge der Gesänge. Weil wir in der That die Künste nur im Schutze des Throns blühen sehen, so lieben wir diese aus denselben Gründen, die uns zur Kunst begeistern. Aus angeborner Leibeigenschaft knieen wir nicht vor den Königen und demüthigen uns, nur aus Gemüthlichkeit. Wir haben einmal Alle eine Geschichte gehört, wie vom treuen Eckart, und wenn uns der Zufall dabei nicht die erste Rolle gab, so nehmen wir mit Freuden die zweite.
Wie liebenswürdig ich meinen Feind schildere! Warum reißt Du mir nur die noch leeren Seiten dieses Briefbogens nicht ab, daß ich mit der unaufgelös’ten Dissonanz, in die mein Herz und der mich beschäftigende Gegenstand gerathen sind, allen ästhetischen Regeln Hohn sprechend von Dir scheide. Ich wollte beweisen, so war meine Absicht, daß wenigstens drei Messen mit erzromantisch historischen Geniestücken aus dem Leben und Treiben der constitutionellen Prätendenten auf dem Doppelthron der iberischen Halbinsel versorgt werden könnten; aber meine deutsche Natur sträubt sich dagegen; ich bin überhaupt ein viel zu gemüthlicher Narr. Die Regierung will ja nur das Beste des Landes, 50 man wird unsere Beschwerden hören, und ihnen bereitwillig abhelfen.
Du vergißt doch nicht, daß ich dies Alles von der Höhe des Brandenburger Thors aus schreibe, und ich nicht mehr berichte, als was die Rosse der Victoria neben mir mit dem Pegasus drüben auf dem Schauspielhaus disputiren?
Die Freiheit ist nicht poetisch. Wenn ich mit meinen Landsleuten erst nur die Anfänge eines bessern Zustandes heraufdämmern sehe, so geb’ ich mich schon zufrieden, setze mich hin, und schreibe eine Satyre auf die Freiheit, das historisch-poetische Elend eines Nordamerikaners schildernd.
So ein Nordamerikaner ist, gegen einen simpeln Europäer genommen, doch äußerst unvollkommen daran. Jeder Professor auf dem Katheder, jeder Gassenjunge unter uns kann mit Recht zu ihm sagen: schäme dich, du Neuvolklicher! du bist nur ein halber Mensch, und hast ganz und gar keine historische Anfänglichkeit an dir. Du weißt weder von wannen du kommst, noch wohin du fährst. Du bist eine Waise und ein Bastard zugleich. Du ermangelst jener historischen Grundlage, die das breite Fundament unseres Daseins bildet. Dein Staatsleben ist nicht mehr werth, als der todte Mechanismus einer Uhr. Du kannst nichts von dem geheimnißvollen Rauschen jener tiefange-51legten Quellen des Geistes vernehmen, die mit ihren goldhaltigen Wogen durch Jahrhunderte strömten. Du weißt nicht, wie von den Bergen der Heimath die Geister der Vergangenheit winken. Die Leier – nicht einmal zerbrochen ist sie dir, du hattest nie eine – und dein Schwert kannst du nicht an den Stamm einer tausendjährigen Eiche als Weihopfer hängen! Was fühlt so ein Kerl wie du von dem Zauber einer Elegie in den Ruinen eines alten Burggemäuers! Ich kann nicht gleich sagen, ob sich naturhistorisch das Vorhandensein von Grillen in Nordamerika erweisen läßt, so viel aber ist erwiesen, daß sie nicht solche Stimmungen in dir aufregen können, wie in unsern Gemüthern. Wo habt ihr dazu die Klosterruinen, wenn sie in den Milchwellen des Mondes sich baden? Kann je einer deiner Landsleute das Lied singen: Sohn, da hast du meinen Speer! Und, wollen wir das Neueste nehmen, für dich hat Graf Moltke die Nothwendigkeit des Adels gerad’ umsonst bewiesen; zu geschweigen, daß die ganze deutsche Philosophie an dir rein verloren ist. In der That wirst du dein ganzes Leben hindurch eine Närrin bleiben. Zur Ritterin vom goldenen Sporn, den du aber am Kopfe trägst, möcht’ ich dich deshalb ernennen, weil ich weiß, daß nur Eitelkeit und Aerger über nicht anerkannte vermeinte Ver-52dienste dich bestimmt, die Fahne der Lilien, der deine Unschuld doch immer treu bleiben sollte, zu verlassen. Du trittst über deine Sphäre hinaus. Ein Frauenzimmer muß gar keine Ideen haben, am allerwenigsten liberale. Die Politik der Frauen soll nicht einmal die ihrer Männer sein. Wenn es eine Zeit gab, wo die Mädchen Lorbeerkränze von Eichenlaub für die aus dem Felde zurückkehrenden Sieger wanden, und dabei recht martialische Kriegslieder anstimmten, so verzeiht man solche Tollheiten, weil man weiß, daß sie nur so zu Männern kommen wollten. Jetzt aber wären viele deiner Schwestern im Stande, und ließen Flugschriften drucken über Vertretung am Bundestage, da sie höchstens solche Begriffe nur mit Gold auf Fahnen sticken sollten, um heimkehrende Deputirte damit zu ehren. Also wenn dich der politische Kitzel doch gar zu sehr sticht, so folge dem letzten Beispiele. Nun hab’ ich aber keine Heimath, in die ich zurückkehren könnte, noch weniger bin ich ein Deputirter, du mußt dich also auf Halskragen, Hemden u. dergl. beschränken.
Sticke mir z. B. auf mein Sacktuch die Worte: der deutsche Bundestag – – – – – –
Dies aber nur zu gelegentlicher Berücksichtigung. Sonst benutz’ ich diesen passenden Ort, 53 meine Gratulation zu Deiner Ernennung zur Geheimen Legationsräthin pflichtschuldigst abzustatten. Bitte mir aber, um mich gegen ungegründeten Verdacht künftig ausweisen zu können, eine Bescheinigung über den richtigen Empfang dieses Glückwunsches aus. Lebe wohl!
54 Sechster Brief.#
Dein Labsal vom 8. hujus habe richtig empfangen.
Du treue, nie gewesene Seele, wie Du mich wieder mit solchen Gefühlen erfüllt hast, daß ich vor Verehrung gar nicht zum Beifall kommen kann. Solltest Du einst Alles, selbst mein Herz, verlieren, meine Liebe bleibt Dir ewig.
Du hast mir eine würdige Ansicht über das unsterbliche Alphabet und Dictionär der Sprache Gottes mitgetheilt. Die Buchstaben sind wie Geister und menschliche Seelen, die Weltordnung ist die Syntax, und dies Buch des Lebens ein origineller Band von Gottes sämmtlichen Werken, die bei Cotta erscheinen und in Preußen werden verboten werden des Princips wegen.
55 Aber Du merkst, daß in diesem an sich möglichen Dinge eine Reihefolge der gewaltsamsten Widersprüche liegt. An einem will ich Deine ganze Ansicht umstoßen.
Den Pleonasmus hat nur die Schwäche unserer Sprachmeister erfunden. Die pneumatische Grammatik der höhern Rangordnung sollte seiner füglich entbehren, und doch ist er in ihr zu finden.
Das Ich – denk’ an das meinige! ist gegen das Du – ich denk’ an das Deinige – eine arge Tautologie. Theuerste, wir stehen ja Beide für Einen.
So also würde mich Deine Ansicht zwingen, Dir meine Bewunderung zu zollen, wenn sie mich nicht zugleich hinderte, Dir meine Liebe zu sichern. Und diese sollte Dir nicht mehr sein, als Alles, was ich Dir sonst zu weihen vermöchte! Wärest Du eine historische Person, eine Heldin des Jahrhunderts, eine Königin des Tages, oder auch nur eine Tänzerin, so würd’ ich die Empfindungen meines Herzens zu den Gesinnungen meines Kopfes machen.
Ich nehme es mit solchen Unterscheidungen sehr genau. Die Grenzen, bis zu welchen ich Dinge in die innersten Falten meiner Empfindung aufnehme, sind meist sehr scharf. Der Geist eines Schiller bringt mich nicht dazu, ihn zu verehren, aber ich liebe ihn. Göthe weiß ich zu achten, 56 ohne ihn zu lieben. Jener ist für mich mehr Person, dieser mehr Begebenheit
Wenn die Zeit, in welche die Blüthe dieser beiden Männer fiel, nicht noch so reiche Beziehung auf die Interessen der Gegenwart hätte, so würde sich das Maß ihrer Schätzung in dem billigsten Urtheile auflösen. Aber noch mehr! sie verschmähen diesen Ausweg einer Versöhnung. Obschon sie Kinder ihrer Zeit waren, wollten sie doch höher stehen als sie, und brachen hochmüthig genug den Stab über ihre Zeitgenossen. Sie glaubten, in Jahrhunderten zu leben, die erst kommen würden, das war eine Thorheit. Wenn sie ihre Zeit verdammten, weil sie nicht jede Begegnung zu einer Begrüßung, jede Begrüßung zur Weihe eines Ehrenkranzes machte, so war dies lächerliche Eitelkeit. Nicht wahr, Du kluges Weib, Du wirst den Irrthum einer versalzenen Suppe gegen Deine Mägde mit Nachdruck berichtigen, Dich aber nie deshalb aus Deinem Hause heraus wünschen? Hat in der That ein Luther für unser Jahrhundert gelebt, ein Cäsar Schlachten gewonnen, um in der Zeit der Völkerwanderung seine Triumphzüge zu feiern?
In Berlin gibt es einen berühmten Mann, Namens F. Förster, der die Kunst versteht, das Todte lebendig zu machen. In Erwartung des 57 kommenden preußischen Neumittelalters ist er deshalb auch beim Antiquitäten- und Raritäten-Cabinet angestellt worden. Dieser bringt nun so einen Helden eines abgeschiedenen Jahrhunderts mitten in die Tage der Gegenwart. Er läßt jährlich in der Neujahrsnacht den großen Kurfürsten auf der langen Brücke in Berlin – die darum die lange heißt, weil sie nicht kürzer als die andern der Stadt ist – von den Todten auferstehen, und über die Dinge, die im verflossenen Jahr in der Spener-Spiekerischen Zeitung gestanden haben, recht altklug politisiren. Ich bewundere das Talent der Vivificirung, das sogar einen Berliner Witz Lügen straft, nämlich der eiserne Kurfürst drehe sich auf seinem Pferde um, wenn er des Nachts den Dom zwölf schlagen hört; aber was sprechen Sr. Kurfürstlichen Gnaden für sonderbares Zeug! Und wie schlägt sich das Organ selbst ins Gesicht.
Das weißt Du gewiß so gut, als ich, daß die Könige in Preußen wenigstens bis auf diesen Augenblick keine persönliche Ahnen haben, sondern ihnen immer nur die dynamische Idee des Königthums voranging. Wo sollte sonst die Lehre von der garantirenden Persönlichkeit hin! Bei jedem Thronwechsel müßte für die Principien des Staatsrechts eine neue Stunde schlagen. Bis jetzt hat das Hohenzollern- das Wittelsbacherthum 58 noch nicht nachgeahmt, nicht aus Mangel leerer Wände und wegen übermäßig beschäftigter Malerpinsel, sondern man vermeidet die Ursprünge, weil sich nicht läugnen läßt, daß sie menschlich sind. Friedrich der Große, der unstreitig allein die Natur eines preußischen Staates erkannt hat, findet die meisten Bewunderer außerhalb des Landes, wenige im Lande selbst, und keine am Hofe oder auf dem Throne. Die Zukunft meiner Heimath – o wär’ ich doch ein Glasmaler geworden, und könnte, wie sie sagen, beitragen zur Belebung alles Großen und Herrlichen, das untergegangen! oder auch ein Wappenschneider. Denn es wird eine Zeit kommen, wo ich, falls ich noch im Besitz meiner Kehle bin, singen werde nach dem alten Liede:
Viel Wappen sah’ ich rund her hangen,
Mit Trauren ward mein Herz befangen!
Was meinst Du, soll ich ein Buch schreiben, das Schloß Marienburg oder Ideen zu einer Vergangenheit des preußischen Staates? Ich dedicire es sämmtlichen Gesellschaften zur Erforschung vaterländischer Alterthümer, deren Oberhäupter, wenn nicht lustige, doch mächtige Patrone sind. Wie Jean Paul die Capitel seiner Schriften in Jobeljahre oder Posttage oder ähnlich eintheilte, so würden in diesem Versuche die Unterabtheilungen nach Glasfenstern ausfallen. Die drei Hauptklammern 59 wären drei Domcapitel; eines an der Nogat, das andere an der Havel, das dritte an der Elbe.
Soll ich Dir einige Ideen zu dieser Vergangenheit mittheilen?
Albrecht der Bär hat nicht Cöln an der Spree, sondern jenes am Rhein gegründet; folglich sind die Westphalen und Rheinländer gehalten, ihre vaterländische Geschichte mit Wenden und Slaven anzufangen.
Wer sich untersteht, den sogenannten falschen Waldemar ferner für den Müllerburschen Jäckel zu halten, sei es durch Wort oder Geberde, ist zu Geld- oder angemessener Leibesstrafe zu verurtheilen.
Der Nürnbergische Burggraf war nahe daran, R. Kaiser zu werden. Folglich hat die Krone Preußen bei vorkommender Gelegenheit ein Haus- und Hofrecht auf jene Würde. Sind desfalls auch die Bestrebungen der Deutschthümler nach Kräften zu unterstützen.
Wer an der Regierung der Kurfürsten in Brandenburg Tugenden aufzufinden im Stande sein sollte, erhält die Erlaubniß, für jede entdeckte Tugend ein Dutzend Fehler in der Regierung Friedrichs des Einzigen mit vollkommener Preßfreiheit zu rügen.
60 Preußen war von jeher ein organischer Staat. Wer dagegen zu sprechen wagt, soll zur Strafe die geringe Zuhörerzahl des Herrn von Lancizolle vermehren.
Der Ritterschaft ist nie durch ordentliche Urkunde die Steuerimmunität genommen worden. Auch verdienen ihre Ansprüche auf die secularisirten Domstifte aus historischen und archivarischen Gründen die ernsteste Berücksichtigung.
Meinen lieben Ancillon ernenn’ ich u. s. w.
Nach der Herausgabe dieser Ideen reisest Du, geliebte Freundin, mit mir nach Berlin. In den höhern Regionen werden wir willkommen sein. Wir lassen uns von den Rochow’s, Quitzow’s, Arnim’s, von den Jagow’s, den Barde-Witz- und Wartenslebenern, den Puttlitzischen Gänsen, sämmtlichen Märkern und Bismärkern fetiren. Zum Scherz wird man Dich die faule Grete – die erste ultima ratio regum im Preußischen – nennen. – Deinen alten Freund und Verehrer, ich verstehe mich darunter, magst Du nicht vergessen, und mir besonders zum nächsten Wettrennen am Kreuzberge einen Sitz unter der Elite des weiblichen Märkischen Adels verschaffen. Ich werde vor langer Weile und Staub mit diesen Damen sterben, hoffentlich aber am dritten Tage des Rennens wieder auferstehen.
61 Wer doch in dieser Zeit auch ein Pferd hätte! Auf Ehre, Herr Lieutenant, beim Rennen auf der Bahn mit Hindernissen gewänn’ ich den Preis. Ich bin diese Art von Bahn gewohnt. Hier ist eine Laufbahn eröffnet, wo noch Lorbeeren, silberne Becher und Ducaten zu holen sind.
Unstreitig ist diese Institution, wie die Städteordnung, eine von den Grundlagen, auf die sich das Fragezeichen einer preußischen Verfassung erbauen soll. Dies Dermaleinst muß eintreten, wenn die Zeit erfüllet ist. Klagt also nicht, daß bei Euch die Pferde besser dran sind, als die Menschen. Auch Euren Talenten wird eine Bahn geöffnet werden, nur müßt Ihr eilen, Euch Schild, Lanze und Roß anzulegen, an und für sich schon vorausgesetzt, daß Ihr im Besitz von Stammbäumen seid! Weder Grundeigenthum noch gar die Intelligenz werden Eure Delegirte vertreten, sondern einzig historische Interessen. Wenn diese vorhanden sind, so werden sie mit höchster Sorgfalt wahrgenommen werden. Sind sie nicht da, so müßte ja der selige Herr v. Stein am Rhein und ein Anderer an der Nogat vor süßem Wein nicht gewußt haben, was es sagen will, wenn sie tranken „auf Wiederbelebung alles Hohen und Edlen.“
Ueberhaupt, Herr Buchholz, nehmen Sie sich vor den Urideen in Acht, die aus Deutschlands 62 alten Wäldern stammen. Werfen Sie bei Zeiten Ihre angebeteten Reliquien, des alten Fritzen Zopf und Krückstock, ins Feuer! Beeilen Sie sich mit Ihrem neuesten Leviathan, dem gegen die Restauration der Staatswissenschaften kein herbes Wort entfahren darf! Sie sind übler dran, als man zu denken pflegt. Unstreitig besitzen Sie den Muth, als ein Märtyrer Ihrer Ueberzeugung unterzugehen. Aber wozu das? Ueberlassen Sie den Codicem Fridericianum seinem Schicksale! Sie haben die Alten studirt; citiren Sie den Horaz weniger und befolgen ihn mehr! Als Alles verloren, warf auch er seinen Schild weg, und huldigte dem Helden der beiden zusammenstoßenden Jahrhunderte, in denen er lebte. Bei Ihrer in Deutschland nur dämmernden Bekanntschaft wird man das Quiproquo dieser Metamorphose nicht merken. Fragen Sie nur meine Freundin, meine liebste Brief- und Herzempfängerin, ob man so nicht besser sein Fortkommen hat.
Nicht wahr, Du Gute, man muß, wie Polonius sagt, in seine Tollheit eine Art Methode bringen? Man lobe oder tadle mich, ich werde immer rufen, daß es hier alle Könige, dort alle Journalisten hören, ich sei verkannt, und im Grunde ein Anderer, als ich scheine. Ich verzichte auf 63 die Ehre der Consequenz, wenn mich nur keine Partei in Beschlag nimmt.
Du aber, Holde, nimm mich in den Beschlag Deines liebewarmen Herzens. Neben ähnlichen Gefühlen hatten wir immer gleiche Ansichten. Wann hätt’ ich Dich je mißverstanden? O, es ist wahr, ich verkenne wohl bald einmal einen Engel, der Hosen, aber nie einen, der eine Schürze trägt.
In steter Seelenumarmung bin ich ewig der Deinige!
64 Siebenter Brief.#
Verzeih’, Unsterbliche, daß ich heute mit mir beginne, nachher verweil’ ich desto länger bei Dir. Ich schildere meine Leiden ausführlicher, um den Werth Deines Trostes in ein desto helleres Licht zu setzen.
Es war schon spät, – doch weißt Du, mir ist Nacht, wie der Tag – die Flammen in meinem Ofen waren erloschen, die in meiner Brust loderten hell auf. Meine Zähne klapperten vor Winterfrost, in meinen Adern rollte es wie Gluthenstrom.
Ich trat hinaus in die heilige Stille meines Gartenparadieses. An seiner Himmelspforte hielt der Mond mit brennender Fackel schon Wache. Die Sterne waren seine Trabanten, was ich selbst astronomisch beweisen will.
65 Wie badete sich mein krankes Herz in dem Dufte der Violen! Unter einer Blumenhecke legt’ ich mich nieder, und schwamm in den duftigen Seufzern der Rose. Der schlummernden Unschuld der Lilie ward ich zum süßen Traum. Aus ihrem Kelche tauchte ein holder Engel auf, und neigte sein Blumenantlitz auf mich träumenden, traumerregenden Endymion nieder. Der Mond war es aber, der sich in gnadenreicher Herablassung auf mein liebestrahlend Auge senkte. Ich lächelte ihm freundlich; denn ich wußte wohl, daß zur selben Stunde an der mir abgekehrten Seite der Scheibe Deine Blicke hingen. Denke Dir, wenn wir einmal die Scheibe mit unsern Augenpfeilen durch und durch sähen! Wenn wir uns durch das so entstandene Loch küssen könnten! Welch ein Adoniskuß!
Ist es Dir bekannt, daß der Mond nicht das Symbol der Liebe, sondern nur der Ehe ist? und zwar der ewig schmollenden? Der Mann im Monde, nicht der Pseudo-Claurensche, der auf keine Nerve mehr wirkt, sondern jener, den ich täglich sehen kann, wenn ich an meiner Rosenhecke die Nacht abwarte, lebt in zwistigen Verhältnissen mit der Frau im Monde, die Du von Deiner Wohnung aus sehen kannst. Der Streit soll daher kommen, daß der Mann nur sein Gesicht in 66 Thätigkeit setzt, und übers Küssen nicht hinausgeht. Die Hunde bellen den Mond auch wirklich nur dann an, wenn sie läufisch sind; sie machen ihm damit ordentlich Vorwürfe. Bewundere aber das große Naturgesetz daran. So lange die Eheleute im Monde sich den Rücken zukehren, herrscht die himmlische Liebe hienieden im irdischen Jammerthal. Versöhnen sich die aber da oben, und wenden sich die Vordertheile ihres ganzen Körpers zu, so geht die Welt unter, also eigentlich vor Liebe. Wie ich immer gesagt habe, wird der Untergang der Welt eine wahre Lust sein.
Wie natürlich. Die Freuden des Himmels werden nur dann genossen, wenn die der Erde vorüber sind. Man würde nie glücklich sein, wenn Andere nicht unglücklich wären. Vier Arme, die sich umfangen, setzen vier voraus, die sich abstoßen.
Durch Deinen edlen Entschluß, den ich bald gebührend loben werde, bist Du einem schönen Ziele merklich näher getreten. Du willst durch den Gegenstand Deiner Freude den leidenden Theil der Menschheit ebenfalls glückselig machen. Daß ich die Erfüllung Deines großartigen Wunsches voraussähe!
Der Patriotismus ist den Pariser Damen, wenn nicht in, doch an den Leib gefahren. Sie lassen sich auf dem Wege der Subscription seidene 67 Kleider anmessen, um so den unglücklichen Lyonesen zu helfen. Du willst nicht zurückbleiben, und ich werde nicht ermangeln, Dir das verlangte Dutzend Seidenhüte, das Du zugleich tragen magst, zu besorgen. Ich werde mich mit eben so vielen Schnupftüchern ausrüsten. Glaube mir aber, die Absicht unseres Willens ist besser, als sein schwacher Erfolg.
Ein Capitel aus einer neulich von mir gemachten Reise führe mich an die Stelle, wo ich Dir für diese traurige Aussicht die Beweise liefern werde.
Hast Du je von Contumazleiden gehört? Die hessische Quarantaineanstalt in Raßdorf drohte mit mir auf den Flügeln des Sturmwindes, der aus dem Thüringer Wald und dem Rhöngebirge in fürchterlichem Duett tobte, davon zu gehen. Nur die Erinnerung an die ferne Freundin fachte neue Lebensflammen in mir an, warum auch Amor mit Pfeil und Bogen in erhabener Arbeit am Ofen meiner Clause angebracht war. In Sturm und Regen verließ ich den unseligen Aufenthalt mitten in der Nacht.
In Hünefeld priesen mir der Posthalter und seine Frau die Thaten des heil. Bonifacius an, des Patrons dieser Gegenden. Sie hielten mich für katholisch, weil ich den Schwärmer lobte. 68 Aber es war mir nur um einige Seitenblicke auf die Rationalisten zu thun, die dem Manne es heut noch nicht vergeben können, daß er im neunten Jahrhunderte lebte, und ihm über den Stuhl Petri weder Luther noch sonst etwas ging.
Mit dem inzwischen angekommenen Eilwagen fuhr ich gen Fuld, schnitt dem Könige in Baiern ein Duodezstück von seinem Lande ab, weshalb mir auch die Frankfurter weder den Eingang in ihr Gebiet noch in ihre Stadt – warum sie nur Beides so sondern! – schlechthin verweigerten.
Noch vor Fuld zog der Morgen den Schleier der Nacht von einer Gestalt, die mir gegenüber saß. Aus einem dunkelgrauen, verschossenen Mantel flogen blitzende Pfeile. Die Augen, die sie entsandten, lagen tief wie grauer Nebel in den Thälern zwischen den Stirn-, Nasen- und Wangenknochengebirgen.
Du weißt, ich liebe die Todtenköpfe. Die schwarzbeschlagene Capelle mit dem Altar, Crucifix und versilberten Schädel führ’ ich noch immer bei mir. Wenn ich den küsse, so denk ich immer an Dich. Solltest Du denn schon todt sein? Welche Frage! wie könnt’ ich dies sonst an Dich schreiben!
Die Reden jenes Unheimlichen waren entsetzlich. Seine Lippen schienen aufzuthauen, und doch war es kaltes, furchtbares Eis, das an ihnen hing. 69 Ein Pole saß an meiner Seite, klagend bald über die verlornen Hoffnungen, bald mit lustigen Liedern sich tröstend, ein echtes Sarmatenkind. Unser Gegenüber empfand zwar Theilnahme für das Schicksal des unglücklichen Landes, aber in jener dumpfen, kalten Weise, die uns Norddeutschen, die wir von keiner Kunst, über Politik zu reden, sondern von einer, über sie zu schweigen, wissen, eigen ist. Gegen einen solchen Jubel, wie bei den Triumphzügen der Ramorino, Langermann, Ledochowski im südlichen Deutschland, würd’ er kalt und unempfindlich geblieben sein. Wir sympathisiren hier aber nie mit Leidenschaft.
Vom Finanzjammer der Zeit ging die Rede. Der Fremde sprach darüber in Tönen, die mich entsetzen machten. Kalt und bitter verwarf er das Geschrei des Tages. Die Parteien schienen ihm über einem fürchterlichen Abgrunde, dessen Existenz sie nicht ahneten, ein frevelhaftes Spiel zu treiben. Die Gefahr werde von einer Seite kommen, da man sie am wenigsten erwarte. Der gemeine Mann sorge zwar nicht für den morgenden Tag; dazu besäß’ er zu viel Christenthum. Aber auch für den heutigen habe er nichts als die geistliche Speise, die keinen Magen satt mache. Dieser Magen, nicht die Vernunft, werde um Befriedigung schreien. Die Vernunft müsse ja immer einen Widerstand 70 haben, da sie anders sich nicht bewähren könne, aber den Magen habe Gott ohne Widerrede auf Sättigung angewiesen.
Was ich froh war, als uns dieser böse Dämon in dem freundlichen Gelnhausen verließ! Sein Weg führte ihn nach der Wetterau hinauf. Man bezeichnete ihn mir als einen Samenhändler. Vielleicht eine boshafte Anspielung auf den Samen der Unruhe und Empörung, den er auszustreuen suchen mochte.
Diese Bekanntschaft hat mir das Verständniß der Zeit erleichtert. Ich weiß jetzt, daß sie sich in Frankreich mit Karlistischen Umtrieben, den republicanischen Institutionen und monarchischen Scheinformen, mit Quasilegitimität, erblicher Pairie und der Wahrheit der Charte dem Brenn- und Zielpunkt der Zukunft nur entfernt nähern. Die Fabrikarbeiter werden das Königthum anschreien: gib uns unser täglich Brod! Wer kann diese Bitte erhören, so lange das Königthum die andere Bitte an Leute wie Rothschild: vergib uns unsere Schuld! nicht erfüllt erhält. Wie lange dauert es noch, so werden die droits réunis und dergleichen wie niedergebundene Weiden mit furchtbarer Gewalt aufschnellen. Noch von Alters her verstehen sich die Lyonesen aufs Säcken und Ersäufen in der Rhone, und so ein Kronprinz, wie sie ihn da drüben haben, der 71 noch voll ist von Curtius und Cäsars Commentarien, wird mit dieser Classikerweisheit nichts ausrichten, mit jener Gnade aber, die sein Papa auf den Spitzen der Bayonette überschickt, die Gemüther nur noch heftiger erbittern.
Die infima plebs in Frankreich, die Kleinbürger und Bauern in Deutschland verstehen nichts von Formeln und Meinungsfarben. Jenen sind die Reichen, diesen die Herren ein Anstoß. Dort begnügt man sich für heute mit einem hingeworfenen Franken, und verspricht, den Tumult erst morgen anzufangen, hier will man mehr. Man will nicht satt, sondern wieder wohlhabend, wie ehemals, werden. Man will nicht geduldet, selbst nicht gefürchtet, man will geachtet sein. Mützen und Rundhüte, Beides wird verworfen. In Norddeutschland sollen die rundkrämpigen Barbierbecken, in Süddeutschland die dreieckigen Nebelstecher das allgemeinste Ansehen wieder gewinnen.
Die Fürsten kommen dabei vollends aus ihrer Stellung. Sie vergessen ihre alten Wege, und die neuen führen nur zu ihrem Untergange. Da läßt sie ein Drittel ihrer Unterthanen dreimal hoch leben, wenn sie drei Propositionen der Stände im Laufe eines vollen Jahres bewilligt haben. So ein Vivat ist nicht nur ein schreiender, sondern selbst ein rührender Beweis treuer Anhänglichkeit; we-72nigstens macht es ihre Umgebung lebendig. Es ist meist so unheimlich, so still und einsam jetzt in der Nähe der Fürsten. Wer größeren Muth besitzt, nimmt beim Zusammentreten der Stände zwei oder drei servile Publicisten in Sold. Die Staatszeitung, die die Sache der Regierung vertheidigen soll, will unterstützt sein. Man erkennt den Fehdehandschuh der Opposition an, indem man ihn aufnimmt. Der Todtentanz beginnt, man spielt sich selbst auf zum Grabe. Denn endlich wird das Residuum der gährenden Hefe, die diesen Spectakel- und Balllärm bezahlen muß, aufbrausen, und man kann versichert sein, daß es weder nach dem Einen, noch nach dem Andern fragt. Wir Freisinnigen werden die ersten Opfer sein, dann die Könige, und so fort. Noch kann die Geschichte jeder Revolution dafür zeugen.
Aber es ist doch herrlich. Die Fürsten können ohne den Kampf mit der Opposition nicht mehr existiren. Darüber verlieren sie aber den Zutritt zu jener noch ziemlich ungetrübten Quelle der Liebe und Anhänglichkeit, die die Unterthanen an ihre alten Regentenstämme bindet.
Ha! ich grüße Euch, Brutus und Cassius, Robespierre und St. Just! des heiligen Dreikönigstages Abend dämmert heran. Die Throne wanken, und der Boden, auf dem sie stehen, zittert 73 zusammen. Schon neulich bebte im Preußischen die Erde bei Aachen zusammen.
Aber dessen kannst Du gewiß sein, mögen auch Berge sich thürmen, und drohen uns zu vergraben, mögen Wolken und schwarze Wetter heraufziehen, und alle Stürme des Lebens es auf uns anlegen, dennoch werden wir –
Ach! ich kann nicht ausreden, weil ich mir vor Wuth die Zähne verbissen habe. Wenn mich nun dieser böse Umstand verhindert, von meiner Liebe laut zu reden, so begnüge Dich diesmal mit diesem leisen Gemurmel, womit ich andeuten will, daß Du von meiner Umarmung nicht hören, sondern sie empfinden magst.
Der Gott der Liebe heilige Dich ganz und gar, daß Du sammt Leib und Seel unsträflich behalten werdest, bis auf die Zukunft meiner baldigen Gegenwart!
74 Achter Brief.#
Es geht mir auch so, verehrte Freundin. Kein Vogel in der Luft kann sich mehr nach dem Frühlinge sehnen, als ich. Warum man nur die schöne alte Sitte des Winteraustreibens abgeschafft hat!
In meinen Thälern hier bin ich so ungern. Rings um mich her stehen nur todte Skelette, die sich gar nicht anschicken wollen, durch ihre gähnenden Knochengebilde endlich einmal frisches Laub durchgrünen zu lassen. Zwischen den Hügeln fluthen nur Nebelströme, an denen das Licht der Sonne, die so ängstlich, wie ich, das dunkle Blättergrün, das mit Reben und Trauben hier einst gestanden, sucht, rein verschwendet ist.
75 So wie Heine’s Frühlingslieder im Morgenblatte stehen, so schicke sie mir. Dafür sollst Du das erste Veilchen haben, das ich finde.
Warum mußt’ es doch ein Heine sein, der den Philistern die triviale Wahrheit, daß die Extreme sich berühren, wieder scheint bewiesen zu haben. Ich war so vergnügt, als Byron in seinem schönsten Alter starb; denn wenn er wirklich noch katholisch geworden wäre, so hätt’ es mich nicht seinet-, sondern Scott’s wegen, der die Prophezeiung gab, geärgert. Nur das versöhnt mich mit dem abtrünnigen Heine, daß er den Umfang seiner Jakobinermütze nicht nach und nach kleiner gemacht hat, sondern plötzlich wie ein Gott mit seinem neuen Glauben, dem consequentesten Royalismus, dastand. Und es ist wahr, auch die Art seines Uebertritts ist consequent, ist schön, und die poetische Wahrheit darin ergreifend. Er hat seine Maria, die todte Marmorbraut, wie ein neuer Pygmalion – aber nicht der Immermann’sche – durch warmen Liederkuß wieder zurückgerufen in das dunkle Leben, in dem sie ihm einst als leuchtender Stern aufgegangen war. Nun ist aber auch der Schleier ihrer Geburt gefallen, sie ist eine Fürstin, und weist den Vermessenen, der sie doch vom Zauber dieses langen Traumes erlöst hat, zurück. Sie nennt seinen Liederkuß einen Judaskuß, ver-76lacht die Thorheit, wenn er sie nach dieser Auferstehungswonne recht eigentlich sein lieblichstes Poema nennt. Kann eine Fürstentochter mit einem Jakobiner Freundschaft halten? Darf sie je zugeben, daß ihr, wie einer Vagabondin, der freie Zutritt in civilisirte Staaten, wie Preußen, untersagt ist. Nun klagt der Arme, singt Palinodien auf Gott, Sklaverey und Unsterblichkeit, will nie an Götter, Freiheit und ewigen Tod geglaubt haben. Ich gönne ihm die Vortheile dieses Widerrufs recht gern, aber das ärgert mich, wenn nun so ein Wilibald Alexis in den Leipziger Unterhaltungsblättern drucken läßt, von dem jungen, talentvollen Heine ließe sich noch nichts festsetzen, da er den eigentlichen Fittig seines Schwunges noch nicht entfaltet habe.
Ach! Geliebte, ich sattle am Ende auch noch einmal um. Es ist einem doch nicht um die Strecke, sondern nur ums Reiten zu thun. Wer nur die Jugend wieder findet, hat der nicht Alles gefunden? Ich wandere und wandere, und wenn ich auch im Cirkel gehe, so sehe ich doch die liebe Heimath wieder, und höre den Alpenreigen und das wohlbekannte Glockengeläute, jenes wonnesüße Weh empfindend, an dem ich einst sterben möchte.
Wenn ein Fürst die Art seiner Anschauungsweise auf 1777 zurückdatirt, so hat er gewiß ver-77standen, was Börne darunter meinte, wenn er sagt: der hat das Ziel erreicht, der da ankommt, von wo er ausgegangen ist. Wenn wir einmal 1900 schreiben werden, so müßten wir die Uhr der Zeiten um hundert Jahre zurückstellen, aber die Uebereinkunft darüber muß allgemein sein. Jetzt stehen die Versuche der Fürsten und Regierungen in dieser Art noch zu isolirt, und finden beim Volke nicht die bereitwilligste Theilnahme.
Nicht ohne poetische Kraft und mit höchst blendendem Farbenschmuck schilderst Du mir Deinen Aufenthalt auf dem St. Bernhard, auf dessen Wipfeln Du in dem Hospiz der menschenfreundlichen Klosterbrüder so liebevolle Aufnahme fandest. Die Zelle, wo Du schliefst, ging nach den Gräbern des verschneiten Kirchhofes hinaus, der auf Erden seines Gleichen sucht. Auch mich wolltest Du dort unter den müden Schläfern treffen, und nur, weil ich Dir so lange nicht geschrieben, hast Du die ungeheure Reise gemacht. So viel habe ich daraus gelernt – so führt der erkannte Irrthum immer zur verfehlten und noch zu einer neuen Wahrheit – daß ich dort auf jenem kosmopolitischen Höhepunkte einst am liebsten ruhen möchte. Die Gebeine welcher Menschen lägen dort neben mir! Pilger, müde Wanderer, die vielleicht nicht mehr besaßen, als den Stab, auf den sie sich stützten, 78 die wie ich auf Erden zwar noch Glauben an Liebe und Edelmuth, aber diese selbst nicht angetroffen haben!
Du weißt, ich hasse jede Täuschung, und fliehe mit Freuden eine Welt, die Versprechungen und Hoffnungen an die Stelle der ersehnten Güter selbst setzt. Wäre die Welt in einem steten Untergange begriffen, so vermöcht’ ich vielleicht noch aus ihren Trümmern verkannte Tugend, beleidigte Unschuld zu retten, so aber soll sie ja erst gebaut werden, höchstens das Modell und Gerüst ist vorhanden, man appellirt an das goldene Zeitalter der Zukunft, und hab’ ich für Alles Glauben, zu dieser Hoffnung fehlt er mir.
Man will, daß wir ringen und streben sollen, das Errungene aber und Erstrebte nicht außer uns suchen, sondern in dem hoffenden, noch glaubensfähigen Gemüthe. Da soll an der Liebe nicht der Besitz das Wahre sein, sondern die Liebe selbst. Nicht auf die erkannte Wahrheit käm’ es an, sondern auf den erkennenden Geist. In sich selbst müsse man Ersatz für nicht gewürdigtes Verdienst finden.
Meine Theure, war’s nicht Sokrates, der die Philosophie vom Himmel holen und in die Wohnungen der Sterblichen einführen wollte? War aber dies die Befriedigung und Ruhepunkt 79 seiner Absicht, daß er den Giftbecher trinken mußte? Cato träumte den schönen Traum von einer ewigen römischen Republik. War dies die große That, die ihn seinem Ziele näher führte, daß er mit eigener Hand mordendes Eisen in seine Brust senkte und seine große Seele aushauchte. Cäsar und Napoleon – was hätten Beide in sich selbst gefunden, wenn ihre Unternehmungen nicht ein glücklicher Erfolg gekrönt hätte? Oder war wirklich für Cäsar das das Höchste, daß er an der Säule des Pompejus starb? Für Napoleon, daß er auf die Felsen von Helena geschmiedet wurde?
Da stand ich auf den Höhen des Simplon, mitten unter zersprengten Felsblöcken. Ich sah die Tiefe der Landstraße hinab, die eine von den Chiffren ist, in denen menschliche Kühnheit und Ausdauer spricht. Die Gluthen der untergehenden Sonne leuchteten schon in weiter Ferne über die Wellen des Genfer See’s. Da sprang der letzte Strahl von dem nackten Felsen, an den ich mich lehnte, ab, und es wurde lebendig um mich, leises Murmeln, wie aus den Gräbern der Abgeschiedenen, umflüsterte mich immer dringlicher. Deutlich konnt’ ich unterscheiden, wie aus der Tiefe der Straße über Klippen und jähe Felsen mannigfache Gestalten zu mir hinaufstiegen. Braune, gluthverbrannte Leiber, mit Bogen und Pfeil umgür-80tet, wie aus Afrika’s und Numidiens Steppen. Fußgänger und Lanzenträger mit Helm und Schild, in ihrer Mitte ein flatterndes Fahnenwimpel, oben drauf ein goldener Adler. Lange Grenadiere und Flügelmänner mit buschigen Bärten und riesenhohen Bärenmützen, Bajonette blitzten wie Stahlfunken durch die Nacht.
Ich aber that meinen Mund auf und begann mit einer Anrede, die sie, auf einem Bergabsprunge in mannigfache Gruppen gelagert, anhörten. Denn sie blieben dort.
Wenn vielleicht einer unter Euch – begann ich – mit mir Philosophie der Geschichte bei Hegel gehört und verstanden hat, so wird der seinen Cameraden die Erklärung geben können, warum ich Jedem unter Euch gleiche Gerechtigkeit widerfahren lasse. Dir da unten, Numidier, der Du Dir das Tabackrauchen angewöhnt hast – wo könntest Du sonst Deinen Nebenmann um Schwamm bitten? – Bist eben so gut ein Moment der welthistorischen Idee, als dieser schwammreichende Nebenmann, den ich nach meinen antiquarischen Kenntnissen für einen halte, der in Cäsars Commentarien mitgefochten hat. Und selbst Du da, bärtiger Schelm, irr’ ich nicht, ein Krämerssohn aus Toulouse, hast die Objectivität Deiner historischen Stellung schon gewonnen. Erwartet also nicht, 81 daß ich die Bivouakgemeinschaft, die Euch so brüderlich zu vereinen scheint, durch vorwitzige Bemerkungen über Eure etwaige Classification stören werde. Solche kurzsichtige Ansichten der Geschichte überlassen wir denen, welche die historischen Personen so gern zu Vehikeln ihres leeren Raisonnements machen. Beklagen würd’ ich Euch also müssen, wenn Ihr etwa in der Absicht auf die Höhe dieses Standpunktes gestiegen seid, um in diesen wilden Natur- und Geschichtsschauern aus meinem Munde Declamationen und großartige Parallelen zu vernehmen. Hannibal, Cäsar und Napoleon sind für mich jetzt nicht mehr, als was mir ein Jeder von ihnen zu seiner Zeit gewesen wäre. Ich bewundere oder tadle gern in den Thaten historischer Helden auch zugleich die Reihe der durch sie veranlaßten Folgen, nie aber sollen wir von diesen letzteren aus, jene zu messen suchen. Es gibt nun einmal in der Geschichte außer der göttlichen keine andere Gerechtigkeit; politische ohnehin nicht, die poetische steckt nur in der Einbildungskraft schwacher Gemüther. Nichts thörichter, als den zweiten Band der Weltgeschichte wie einen Roman mit Augen zu lesen, die sich schon nicht enthalten können, nach dem sechsten zu schielen. Was in Beziehung auf Kommendes Vorurtheil ist, davon ist die extreme Umkehr eine gleichsam retro-82grade Charakteristik der Vergangenheit. Die Wiege der Thaten eines Hannibal muß der Schwur ewiger Feindschaft am Altare der Hausgötter bleiben. Hat es denn Cäsar verschuldet, daß ihn der Anekdotenkrämer Plutarch mit Alexander in eine Parallele brachte, und umgekehrt? Haben Napoleons fingirte Zwiegespräche mit den an St. Helena brandenden Wellen des Oceans, mit den Sternen, die sich in ihnen spiegeln, je für die Geschichte einen solchen Werth, wie die Poesie ihnen leihen möchte?
Unstreitig findet man jetzt darum so wenig glückliche Erfolge großartiger Versprechungen, weil man sich gerühmt hat, die Geschichte nur als stupenden Marmorblock zu betrachten, dessen ungefüge Masse schon jedes kleine Wort, jede noch kleinere That zu bilden beitrage. Es verhält sich freilich wirklich so. Doch wird man im Handeln immer besser thun, die Wahrheit, die verwirklicht werden soll, so zu wissen, als wisse man sie nicht. Man soll die höchsten Zwecke der Menschheit befördern helfen, sich aber nicht zugleich auf eine Ehrensäule stellen. Diese Ansicht hatte auch in der Schreckenszeit die französische Republik, als sie in einem naiven Decrete bei den größten Anstrengungen für die Wohlfahrt der Republik noch zum Schluß von Jedem die Bescheidenheit verlangte.
83 Die deutschen Fürsten sollten unsere Historiker aus der Johannes Müller’schen Schule, die weltepochirenden und weltzeitalternden, vor Allem den Hegel’schen Geschichtsstupor in ihr Interesse ziehen. Große Geister kann zwar Nichts mehr entflammen, aber die kleinen auch Nichts mehr entmuthigen. Doch wird von jenen die eine Hälfte meist immer unpraktisch sein, die andere ist nun einmal da, als nothwendiges Uebel, wenn schon in der geringsten Anzahl. Aber die Legion der Halben, die die Masse bilden, wird durch eine schwere Arbeit am leichtesten niedergehalten, und so nie gefährlich werden.
Aber auch wir Beide, Theure, werden uns nie gefährlich werden. Darum weiß ich auch nicht, warum wir bei unserer Liebe und den Schwüren für ihre Ewigkeit noch immer mit zwei Seelen und zwei Körpern leben! Ich opferte Dir gern meinen Leib, so daß uns ein Körper Beide enthielte, aber der Zwiespalt der Seelen dürfte in dem Einen nicht genug Spielraum haben. Darum empfehl’ ich Dir den Vorschlag, unsere Körper gegen einander zu behalten, beide aber nur mit einer Seele zu beleben. Was dann Du denkst, waren meine Gedanken, und was ich fühle, hast Du schon längst empfunden. Deine Seele will ihren Körper an meine Brust werfen, und ich 84 falle schon an die Deinige. Es umdämmert mich die Nacht der Wehmuth, und aus Deinen Augen gehen die Thränen als Sterne auf. Unsere Communalseele wird – nach bekannten physiognomischen Gesetzen – die Züge unseres Gesichtes ausgleichen und ähnlich machen, und dann werd’ ich nicht mehr wissen, ob ich Du bin, und Du nicht, ob Du ich bist. Du willst Dir Rosen zum Kranze winden, und mich schmückt der Blumenkranz. Die schönste entfällt ihm, mir will ich sie anstecken, und schon ziert sie den Doppelthron Deines Busens. Entzückt wollen wir uns in die Arme fallen, wollen die Treue unserer Liebe mit heißen Küssen besiegeln, und ich umarme mich selbst, Du küssest Dich selbst.
Ueberschicke mir also zur Mischung Deinen Geist und fürchte während des Experiments nicht, Du möchtest um Deinen Verstand kommen. Wir wollen für Deutschland die erste Probe des Gemeingeistes aufstellen.
Warum mußt Du doch so weit von mir wohnen? Geliebte, warum theilst Du meine Hütte nicht mit mir? Wir Beide erleichterten uns so den schweren Miethzins, könnten Beide ein Licht brennen, so daß es Jedem nur auf die Hälfte käme.
Lebt denn Papchen noch in seinem messingenen Ringe? Das Thier muß schon sehr alt sein. 85 Schon zu meiner Zeit hatte es alle Federn verloren. Ich glaube an Deinem Einsegnungstage wurd’ es geboren. Dein Einsegnungstag! die paar Jahre, seit das her ist, kommen mir wie ein halbes Jahrhundert vor.
Wenn doch erst der Winter aufhörte! Noch ist Alles weiß und voller Schnee um mich her, auch mein Haupthaar und Bart. Ich sehne mich nach dem Frühlinge und nach Dir!
86 Neunter Brief.#
Eine Symbolik der Thiere! Die Idee ist nicht uneben. Sie beruht nicht nur auf der Anerkennung des thierischen Organismus, daß er mehr sei, als die todte Bildung des Instincts, sie öffnet auch den Thieren die Ein- und Ansicht in die Licht- und Nachtseite des menschlichen Lebens.
Sie geben dem Thierreiche das bis jetzt den Menschen nur zugestandene Vorrecht der Wappenzeichen, bei uns meist bestialischer Symbole.
Der Ursprung der Heraldik reicht bis ins tiefste Alterthum hinauf. Schon in dem ochsenäugigen Blick der Juno, in dem Attributenwesen der alten Mythologie liegen die Anfänge jener Kunst und Sitte. Man wollte mit jenen Symbolen nicht so sehr die Tugenden der Wappenträger 87 bezeichnen, sondern sie drückten, als sie erblich wurden, nur die Möglichkeit solcher Tugenden und ihrer Bewährung in guten oder bösen Thaten aus. Anders wäre die Vererbung eines Wappenbildes auf die fernsten Sprossen einer urahnlichen Lende eine Lächerlichkeit gewesen. In so fern sich Wappenwesen – durch Wesen bezeichnen wir Deutsche immer das Gegentheil, Unwesen, ein im Hegelschen System glänzende Behauptungen beweisender Satz – an Ritterthum anschloß, so möcht’ ich den Adel und seine Verdienste auch nur eine Möglichkeit nennen.
Nun aber fragen Sie nach Ihrem System der Repressalien gleichsam den Adler, den Fuchs, den Esel, wen er sich unter den Menschen als Ersatz für den Gebrauch seines Bildes wählen würde? und Sie geben nicht undeutlich zu verstehen, daß die Wahl sich nicht immer decken dürfte. Nero, Perier, Caligula, W. Alexis, Marat, Krug, Epikur, Hr. v. Schlegel – da steht die Wahl offen. Ich entziehe mich jeder Versuchung zu einer genauern Ausführung des Angedeuteten, um dem Einen nicht fabelhaft, dem Andern nicht grob zu erscheinen.
Aber sagen Sie mir, Beste, haben denn die Griechen noch immer keinen König? Sollt’ ich also wirklich noch in meinen alten Tagen aus dem Dunkel meiner Abgeschiedenheit auf einen Thron 88 und sein flüchtiges Glück berufen werden! Mit dem alten Capodistrias, an dem doch über kurz oder lang einmal ein Edler das beschleunigen wird, was ihm die Besten des unglücklichen Landes Alle wünschen, müßt’ ich dort einen förmlichen Sicherungstractat abschließen, ordentlich wie Louis Philippe und Casimir Perier eine Salutarassecuranz mit einander abgeschlossen haben. Der junge Prinz von Baiern hat den Vorzug, ein Thierschit zu sein, und vielleicht bietet man mir daher die Krone nicht an. Ich würd’ auch dadurch der großen Verlegenheit, diese selbst anzuschaffen und mitzubringen, so wie auch vieler im Lauf meiner Amtserfüllung auf mich eindringender Schwierigkeiten überhoben sein. Erhalt’ ich das Anerbieten und schlag’ es aus, so werden mich zwar die englischen Minister wie einst den Leopold einen Stockjobber nennen, der die Ungewißheit der Entscheidung benutze, um die griechischen Coupons fallen oder steigen zu machen. Darüber wär’ ich freilich bald gerechtfertigt, weil ich deren nicht besitze. Capodistrias hat sich übrigens in seiner Art Verdienste um Griechenland erworben. Er hat seine vollständige Local- und Sachkenntniß dort ebenso bewiesen, wie die gründlichste Einsicht in die Art, ein Volk überhaupt und einen Staat ins Besondere zu regieren. Ein Gesangbuch ist gedruckt worden, ein 89 Priesterseminarium angelegt, Bäder zu etwaigen Congressen theils restaurirt, theils neu aufgefunden. Der Geist der Unruhe und Gährung wird vor dieser friedlichen Begegnung, wie vor wehrlosen Jungfrauen, freiwillig seine Waffen von sich legen. Durch sein eigenes Verschwinden wird er das hohe Ziel humaner Sittigung befördern helfen.
Nur begreif’ ich nicht, warum der Präsident Plato’s Werke im Lande verbieten konnte. Diesen Widerspruch eines in Griechenland verbotenen Plato’s mag jene Weisheit lösen, die das Schicksal der Völker auf die tiefsten Grundlagen der Liebe und der Billigkeit, wie sie ja vorgibt, anlegt. Nur bitte ich, welcher deutsche Fürst würde sich einfallen lassen, Göthes Werke in seinem Bezirke zu verbieten! Und Plato sollte fähig sein, politische Träume in den Köpfen der Jugend aufzuregen! Plato, dessen Republik nur von einer Republik den Namen hat, der nichts als das hellenische Vorbild eines Machiavell heißen kann!
Plato ist der Flügelmann der preußischen Aristokratie der Geistreichen, die jetzt die Stelle der ehemaligen Potsdamer Riesen einnehmen. Den Zeitgenossen Plato’s war seine Republik eine Restauration der Staatswissenschaften. Für uns soll sie aber die höchste Wichtigkeit haben. Man hat sehr oft die Frage aufgeworfen, ob Plato sich die Mög-90lichkeit einer Einführung seiner Verfassungsformen gedacht habe. Sollt’ er von jenem Worte Ahnung gehabt haben, das ich aus eines berlinischen Universitätsprofessoren eignem Munde vernahm: überhaupt gäb’ es nur zwei Staatsformen; die eine sei durch Preußen und Plato’s Republik, die andere durch das andere Zeug erklärt?
In dieser Republik ist vom Volke gerade so viel gesagt, als von Solchen besagt werden kann, die auf einen ruhigen Genuß des Daseins, auf die kleinen Freuden der Familie, auf die nothwendigen Prüfungen, die Gott über seine duldigen und schuldigen Geschöpfe verhängen muß, angewiesen sind. Wie auf einem Bühnenzettel stehen oben die Civil- und Militair-personen ersten und zweiten Ranges, und dann unten erst die unbestimmte Allgemeinheit des dritten Standes, Volk, Arbeitende genannt. Die ersten Classen sind solche, denen wie dem Steffens’schen Adel das Genießen ihre Arbeit ist, den Letzteren ist ihre Arbeit zugleich Genuß. Die Bureaukratie und der Militairdespotismus ist da nicht nur kein nothwendiges Uebel, sondern wird sogar durch Unterricht und Erziehung, und durch alle Prüfungs- und Läuterungsgrade hiedurch zum eigentlichsten Narren des Staatslebens gemacht. Das höhere Band des Organismus soll in der festen Bestimmung und 91 Abgränzung der einzelnen Thätigkeiten schon enthalten sein, und den Schlußstein des Ganzen bildet die Lehre vom Vertrauen auf landesväterliche Huld. Schon die Ahnung eines Uebels käme dem Vorhandensein desselben gleich. Jeder Vertrag setze schon die feindseligste Gesinnung voraus.
Newton hat der Physik zugerufen, sie möchte sich vor der Philosophie in Acht nehmen. Dieselbe Warnung thut der Politik Noth. Ein Politiker, der seine Verfahrungsweise nach philosophischen Bestimmungen des Rechts und der Sittlichkeit abwägt, ist wohl eine ehrenwerthe Erscheinung. Aber ein Philosoph, der nach seinem Schema in die Wirren der Welt- und Zeitlagen mit constructivem Hiatus hineinfährt, macht sich lächerlich. In seinen Verhältnissen zum Syracusanischen Hofe hat Plato dies Schicksal getroffen. Die Ideale der Tugend und Glückseligkeit, für die er den jungen Dionys entflammen wollte, sollten die Philosophie auf den Thron bringen, ähnlich wie am Ende des vorigen Jahrhunderts die Kronprinzen vieler Staaten von den Kantianern bestürmt wurden, die Kritik wenn nicht der reinen, so doch der praktischen Vernunft mit großartiger Anwendung in ihre künftige Regierung einführen zu wollen. In vielen hinterlassenen Briefwechseln liest man die Aeußerungen dieser Sorge mit Vergnügen: „Wie ist’s, 92 theurer Bruder, hat Dein Prinz schon meine Abhandlung über das radicale Böse gelesen? o trag’ sie ihm doch ja vor! sie ist so ganz auf das Eine abgesehen, was jetzt der Menschheit Noth thut!“ Welch’ unschuldige Täuschung! Wenn deutsche Fürsten ihre Regierung zur praktischen Anwendung des Unterrichts, den irgend ein aus den bestäubten Winkeln seines Museums hervorgeholter Schulphilosoph oder Moraltheolog ihnen beigebracht hatte, machen wollten, glaubten sie nicht da das Edelste zu thun? Tugend und allgemeine Wohlfahrt, Herrschaft der Vernunft, Aufklärung, die edle Gönnerhuld als Beförderung der Künste und Wissenschaften, Friede, Edelmuth, Moral in Beispielen – o warum hat es doch eine französische Revolution, einen Napoleon geben müssen! Weinen möchte ich, wenn ich die Folge von Friede und Zufriedenheit bedenke, die bei solchen Gesinnungen, bei so wohl angewandtem Fleiße der auf die Regentschaft präparirten Prinzen über unser glückliches Vaterland hätten einziehen können! Jetzt will man den Herrschern gern das Schulgeld wieder erstatten, will ihnen die saure Mühe, die sie sich in ihren Studien über Volksbeglückung gegeben haben, gern bezahlen. Der Thron, den sie verlassen sollen, enthält wohl noch so viel Gold, 93 Sammet und Seide, als zum Ersatz nöthig ist. Das ist der Glaube der argen Zeit.
An Plato’s Republik lobe ich mir nur zwei Dinge. Ein entdeckter guter Stoff zu einem humoristischen Romane, und die Annäherung an den St. Simonismus.
Die Frauen wollen keine Engel mehr sein, sie wollen Menschen werden. Ihr Mund soll nicht zum Küssen, zu leisem Liebesgeflüster, sondern zur politischen Beredtsamkeit geformt sein. Da sie ihn nun aber nie öffnen können, ohne den Mann mit süßem Zauber zu bestricken, so steht davon mehr zu erwarten, als selbst die Londoner Conferenz als europäisches Amphiktyonengericht zu leisten vermag. Kommt es zum Kriege, so gehen die französischen Damen den Russen bis an den Rhein entgegen. Liebreiz und Anmuth, kriegerischer Adel und männlicher Stolz werden die schönsten Ingredienzien zu Romanen sein, die die deutsche Gränze entlang sich anlegen, entwickeln und mit allgemeiner Entsagung und Entwaffnung schließen werden. So die Simonisten. So auch Plato, nur weniger zärtlich, mehr preußisch. Die Frauen sollen bei ihm nicht nur ihren Landwehrmännern das Essen auf die Wache bringen, sondern während der Mahlzeit selbst das Gewehr ergreifen, und in Reihe und Glied treten.
94 Das andere Anziehende liegt in der trefflichen Vorsorge, daß die Weiber sich nicht versehen und Mißgeburten gebähren. Alle Krüppel nämlich, Blinde, Lahme, Krumme, Bucklige kommen nach eigenen Oertern als Gränzbannat. Der Feind nimmt schon an der Gränze vor ihnen die Flucht. Welch’ schöner Gegenstand ist nicht an sich die Liebe zweier Krüppel, etwa eines Krummen zu einer Lahmen, und nun gar die Annalen einer Stadt, die allein mit solchen körperlichen Gefährlichkeiten bevölkert ist! Wenn die Leute dort nicht infibulirt werden, was doch unerträglich wäre, welche Uebergänge der Naturbildung! Jedes Kind hätte die Hälfte der mütterlichen Gebrechlichkeit, dafür aber auch einen Fehler seines Vaters weniger. Der Vater schielt mit beiden Augen, die Mutter ist krumm an beiden Füßen, wie nun die Tochter? Nur am rechten Auge wird sie in die Quere sehen, am linken Bein in die Quere gehen. Ich glaube fast, die Menschen werden über diese Formation weniger, als die Natur in Verlegenheit kommen. An einen Zufall wollen wir auch hier nicht einmal glauben.
Nicht wahr? meine Verehrte, wollen auch wir uns nicht so begegnen, nicht wie der Augenblick, sondern wie die Ewigkeit es will.
95 Ueber Berge und Thäler werd’ ich wandern und Ihre Spuren suchen.
Jede Blume am Bache, jeder Vogel in der Luft wird mir Ihre wonnige Nähe verkünden. Gleichviel, ob Sie zu Haus bleiben oder mir entgegenkommen, nur suchen Sie mich nicht. Denn dann könnten wir uns Beide wieder nicht finden. Wo Sie eine helle Quelle sprudeln sehen, oder eine Blume duftet, wo in der blauen Luft die Lerche jubelt oder eine Glocke schallt, das soll immer das Zeichen Ihrer Nähe sein. Ich weiß gewiß, Ihr mildes Engelsantlitz wird mir dann hinter Rosen bald einen freundlichen Gruß zuwinken.
Sehen Sie, es ist mir so, als stände ich auf einem kahlen Hügel, und zu meinen Füßen säh’ ich ein liebliches Thal ausgebreitet. Grüne Wiesen und blaue Bäche, Weiden und weiße Birken und in der Ferne des Horizontes unten am Rande des Thals ein grüner Eichenkranz. Und da gehen Sie, und suchen Blumen im Klee und blaue Vergißmeinnicht. Und ich kann nicht zu Ihnen; denn der Hügel hat kein Ende, und an diesem Ende, das ich nicht finden kann, ist doch immer erst der Anfang des Thales. Sie klagen, es ginge Ihnen auch so, Sie könnten nicht zu mir hinauf, das Thal sei unermeßlich, und der Hügel fange doch erst da an, wo jenes aufhöre! Haben wir 96 denn irgend einen Gott beleidigt? Ich weiß nur, daß die Götter der Erde uns nicht gewogen sind. Die haben aber doch nur Macht über die Hölle, nicht über den Himmel auf Erden, dessen Thore wir suchen und nicht finden können.
Aber wie gnädig hat sich doch die Cholera bei Ihnen bewiesen, und nicht so mit der Sterblichkeit der Menschen gewüthet! Es ist wahr, Berlin hat sich immer durch Unsterblichkeit ausgezeichnet.
Ich grüße Sie mit treuester Freundesliebe.
97 Zehnter Brief.#
Dir gehen die Augen vor Weinen, mir vor Lachen über. Du bist Heraklit, ich Demokrit. Du hassest die Welt, und fliehest sie. Ich liebe sie nicht, und bleibe in ihr. Dich ärgert der Lauf der Welt, Du willst, sie soll auf zwei Füßen stehen. Ich lasse sie gehen und bin zufrieden, wenn sie nur den rechten Fuß voransetzt. Du verfolgst die Handlungen der Menschen von ihren Anfängen bis dahin, wo Du Dich endlich getäuscht findest. Ich setze schon das Ende in den Anfang, und habe nie Ursache zur Klage, weil ich mich nie täusche. Du erwartest und hoffest Neues da, wo den Leuten nur immer das Alte neu erscheint. Ich erwarte immer nur Altes, und weiß, daß selbst das scheinbar Neue im Grunde nur alt ist.
98 Die Wünsche der Menschen reichen nie weiter als die Theilnahme, die sie erregen. Es gibt nur Hoffnungen, in sofern man ihre Erfüllung mit Andern theilen kann. Deine Theilnahme aber ist immer der Wunsch selbst, und darum hast Du einen doppelten Verlust. Dein Mitgefühl ist verschwendet und Deine Aussicht getäuscht. Hoffe doch auf nichts, als auf die Hoffenden selbst! Mich interessirt weniger das Gefundene als das Gesuchte. Beste, was kann lächerlicher sein, als eine Menschheit, die nach Kamtschatka wallfahrtet, um die Aepfel der Hesperiden zu holen!
Wenn ich nicht bei Trauerspielen lachen müßte, so würde ich Dich fragen, warum Du bei Lustspielen weinst.
Als Korinth zerstört und Griechenlands letzte Kraft gebrochen wurde, da stelltest Du Dich hoch auf den Olympus und sahest über Thessaliens Höhen in die blutigen Thäler von Hellas. Ich stand hinter Dir und trocknete lachend die Thränen, die Du weintest, als müßte jeder Tag nicht seinen Abend haben.
An Deiner Stelle hätt’ ich mich auf dem Schlachtfelde bei Philippi geschämt, als Cassius Schatten auf Dich zukam, und Deine Beileidsbezeugungen mit den Worten abwies: Weib, heule die schlafenden Krieger nicht aus ihrer Ruhe! Gehe 99 hin, setze Dich auf den Gebärstuhl und gebäre Männer! Wirklich, ich hätte mich geschämt, und meine Scham mit Feigenblättern bedeckt.
Ich glaube fast, Du gehörst zu jenen deutschen Historikern, die die Geschichte für einen Todten, sich selbst für angestellte Klageweiber halten. Das Geheimniß des Lebens scheint fast nur durch Offenbarung an die Leute zu kommen. Die Alten hatten für Schlaf, Traum, Tod, Geburt eine oder mehre Gottheiten, für das Leben keine, weil sie wußten, daß dies der Menschen einziges Vorrecht, daß hier Niemand Etwas ist, als durch sich selbst. Diese Ansicht, daß das Leben nur ein ewiges Sterben und der Tod die Geburt zum wahren Leben sei, ist für Viele die einzige Idee geworden, auf die sie ihr Dasein gründen. Aber sie ist verwerflich, nicht nur als Meinung, sondern auch als That. Als That lebt sie in einem ewigen Todtschlage. Die tiefste Quelle dieses Uebels liegt nicht im Christenthume, wie man zu behaupten gewohnt ist, sondern noch weiter hinauf in den ersten Ursprüngen des germanischen Lebens. Die germanischen Völker würden nie zu solchen Consequenzen christlicher Ideen, die sich im Mönchthum und Klosterwesen aufs Höchste steigerten, gekommen sein, wenn sie an ihrer eignen historischen Quelle, den alten heidnischen Naturanschauungen 100 nicht aus diesem Becher des Todes getrunken hätten. Die Sagen des alten Nordens weben, wie die Nebel auf seinen düstern Heiden, beständig zwischen Leben und Tod. Schon bei der Geburt seiner gefeierten Helden hört man den Grabgesang, die Götter selbst haben zeitliche Gränzen ihrer Macht, und dämmern dem Untergange entgegen. Solche Empfindungen ließen sich der Lehre des Christenthums leicht anpassen, sie fixirten sich in einem bestimmten, religiösen Bewußtsein, und so ist denn die thörichtste Erscheinung des Dualismus entstanden, die, daß man sich nicht ohne Stolz Bürger zweier Welten nennt.
Unser Prediger-, Superintendenten- und Consistorialwesen wird uns noch zu Grunde richten. Das sonntägliche salvos fac die acht und dreißig Bundestagsconstituenten läßt sich freilich nicht umgehen. Vielleicht ist auch die Andeutung gut, daß die Könige vieler Huld von Gott bedürfen, um regieren zu können, und daß sie derselbe mit treuen und redlichen Dienern umgeben möge. Friedrich der Große ließ sich sogar in den Kirchen Gottes unterthänigen Knecht nennen, welcher Gebrauch in Preußen mit der Leibeigenschaft wieder aufgehört hat. Doch das gefährlichste Uebel ist die deutsche Predigtmanier, sie ist geist- und lebentödtend. In den katholischen Ländern erhalten die 101 gläubigen oder ungläubigen Zuhörer wenigstens artige Legenden von gebratenen, geschundenen, in der Luft schwebenden Heiligen, oder auch von aufgeklärteren Lehrern ganz nützliche Beiträge für den moralischen Hausbedarf, Alles leichte und verdauliche Speise; wie es kommt, so geht es, und was zurückbleibt, ist unschädlich. Aber bei uns wollen sie tiefer gehen. Die Kirche soll eine Lehranstalt für das ganze Leben werden, ewiges Singen und Beten, Loben und Preisen der göttlichen Gnade und Barmherzigkeit. Wenn Du des Morgens aufstehst, so reinige und segne Dich, und gehe mit freudigem Muth an Dein Tagewerk. Vor und nach Tische danke Gott für seine Gaben, die wir von ihm empfangen haben, gehe dann wieder an Deine Arbeit, lege Dich unter Gebet zur Ruhe nieder, dann schläfst Du sicher vor dem Teufel, der wie ein brüllender Löwe Dich umgeht, und droht Dich zu verschlingen. Nun wird aber diese verhimmelte Ruhe durch viele irdische Einflüsse gestört. Weib und Kind wollen Brod, der Staat will seine Abgaben haben. Hochmuth und Hoffahrt sind die anstoßenden Kräfte des alltäglichen Lebens, wie soll man ihnen begegnen? wie aus dem Wege gehen? wie ihre unterdrückenden Aeußerungen ertragen? Man hält seine Zeitung. Erdbeben, Pestilenz, Zeichen am Himmel, ein neuer Komet. 102 Aufruhr, Empörung, keine Knechte mehr, keine Unterthanen. Der jüngere Bruder, der älteste Sohn muß das Gewehr ergreifen, allgemeine Rüstung zum Kriege und die Aussicht auf alle seine Schrecken.
Hier trennen sich nun die Seelsorger, und drei Bearbeitungen des gemeinen Mannes lassen sich deutlich unterscheiden.
Das kleine Häuflein der Gläubigen rückt immer dichter und näher zusammen. Sie tauchen in ihre Empfindungen und Selbstbeschauungen unter, und hören vom Lärm des Tages nur ein fernes, unverständliches Rauschen und Murmeln. Sie wissen aus der Apokalypse, daß das letzte Thier bald losgelassen wird. Die Erscheinung des Antichrists kann nur noch wenige Jahre dauern. Wenn nun die Entscheidung wie ein Fallstrick oder ein Dieb in der Nacht eintritt, so sollst Du sorgen, daß Du wachend und betend erfunden werdest! Wenn der Bräutigam an Dein Kämmerlein klopft, so gehöre zu den fünf klugen Jungfrauen, denen Docht und Oel noch nicht ausgegangen ist! In die Kirchen und Bethäuser dieser Entsagenden dringt kein Laut von den vielen Worten, die jetzt in der irdischen Welt gesprochen werden. Sie wissen, auf welchen Fels Christus seine Kirche gegründet hat, und werfen auch diese Sorge auf den An-103fänger und Vollender ihres Heils. Vom Christen gibt es hier nur ein Schema, das unabhängig ist von allen Verhältnissen der äußeren Welt, dies ist der ewig wiederkehrende Text, die Geschichte des innern Menschen. Es gibt ein Büchlein, worin die Perioden und Epochen dieser Geschichte in Bildern dargestellt sind. Die Unterlage der allmählichen Entwickelung ist ein menschliches Herz, wohinein alle Symbole der Dinge, die dem Menschen in seinem natürlichen und geistlichen Zustande heilig sind, gezeichnet worden. Ein Geldsack, eine Sau, ein Bock, eine Schlange und dergleichen stehen da, wo endlich späterhin die Bibel, das Kreuz Christi, der Kelch des Abendmahls prangen. Beim Untergang der Welt findet man dies Häuflein vielleicht noch in stiller Andacht versammelt, und redend vom Mysterium der Wiedergeburt, und die Stichwörter seiner Bluttheologie sich zurufend.
Andere Kanzelredner wollen in der That zeitgemäß werden. Aber sie sind zu ästhetisch gebildet, um an den Wirren dieser Zeit Wohlgefallen zu finden. Sie stehen den Fürsten, besonders den weiblichen Gliedern der Höfe so nahe, daß sie zu Seitenblicken auf die arge, böse Welt beständig versucht werden. Sie predigen über Unruhe und Verwirrung, über Völker, die frevelnd am Heiligsten gegen ihre Fürsten aufstehen, über die Ver-104läugnung aller Liebe und alles Vertrauens. In Preußen sind die Prediger nach Vorschriften der Consistorien gehalten, solche Themata ihren Vorträgen an bestimmten Sonntagen unterzulegen. Aber es freut mich, daß diese Fürstendiener ihre Zwecke durch ihr eignes Verfahren zerstören. Der größte Theil ihrer Zuhörer besteht aus genießenden Residenzbewohnern, die die ganze Woche Sorge tragen, die unangenehmen Eindrücke der Zeitgeschichte von sich fern zu halten. Des Sonntags holen sich diese aus den Kirchen nichts weniger als Trost und Beruhigung; es werden das erst recht die Oerter, wo die Wunden aufbrechen und das Blut wieder zu fließen anfängt.
Die letzte Classe unterscheidet sich zwar von der vorigen durch die Art der Auffassung nicht, doch steht sie tief unter jener, weil sie unredlicher ist. Die sächsischen Hof- und Leibpastoren brüsten sich mit ihrer Freisinnigkeit, ihrem Lutherthum, und was in bestimmten, vorliegenden Fällen, wo sie zeigen konnten, an welchem Fleck ihnen das Herz sitzt, aus ihrem kühnen Munde gegangen ist, beweisen die kurz nach den sächsischen Unruhen in Leipzig, Altenburg, Dresden und sonst gehaltenen Predigten.
Da stehen wir wieder bei unsern Jesuitenhelden, den Vorkämpfern für Licht und Wahrheit, 105 bei der großen Opposition gegen Montrouge und das Freiburger Seminar, bei den kühnen Cölibatsgegnern, kurz bei dieser ewigen Schande der Unredlichkeit auf der einen und der Leichtgläubigkeit auf der andern Seite. Mit der rechten Hand schreibt in Leipzig Einer gegen die Polen, mit der linken für die Juden, und er bleibt derselbe Hort der Freiheit. Gegen den edlen G. Rießer glaubt sich ein Anderer in Heidelberg bestimmt erklären zu müssen, so lange man den aber noch gegen Römlinge reden hört, bleibt er seines liberalen Rufes gewiß. Neulich hat Jemand, den ich nicht gern nenne, angekündigt, er wolle kein Bedenken tragen, er wolle das große Wagniß unternehmen, das constitutionelle monarchische Princip gegen die Republicaner zu vertheidigen. Wo sind diese Gegner? wo sind diese Republicaner, an denen er sich messen will? wo steckt ihr denn, ihr deutschen Republicaner! Heraus, daß wir euch sehen! Redet, daß wir euch hören! Niemand da? Keiner? gar Niemand?
Theuerste, wir sind die Einzigen, die an die Republik glauben. Wir wissen es, daß die Aussicht auf den ewigen Frieden in der Aussicht auf die Republik liegt. So lange man nun freilich jene zu den Thorheiten rechnet, wird man diese auch so nennen, aber auch ebenso entschuldigen. 106 Ueberhaupt wollen wir uns in der Ferne mit unsern Ansichten halten, und zur Sicherung mit den Geschäftsmännern ausrufen: Vieles gilt in der Theorie, aber wenig in der Praxis!
Die Republik hat historische Gegner, die die Existenz einer Sache von ihrem Werden nicht trennen können, moralische, die vergessen, daß eine jede Wahrheit vorher gemißbraucht, und dann erst zum rechten Gebrauch verwandt zu werden pflegt, philosophische endlich, die das Königthum für nothwendig halten, ich weiß nicht, zu welchen allgemeinen Zwecken der Menschheit.
Die historischen Beweise stehen der Wahrheit meist immer am Nächsten. Aber der geringe Zwischenraum ist doch so groß, wie der Unterschied der Menschen in unterschiedenen Zeitaltern. Diesen wird man nie aufheben, jenen nie ausfüllen können. In die Lehre vom Menschen rechnet man sein Leben, wohl auch seinen Tod; aber die Schmerzen der Geburt werden unbemerkt hinter einer Wand ausgestanden. Nicht so die Geschichte. Sie gibt selbst die Conception der Ideen und die Organe dazu öffentlich, und können denn wir Beide dafür, daß es da ohne Blut und Jammer nicht abgeht? Weil Rom und Athen und die Republik Bopfingen untergegangen ist, so ist alle Republik ein Hirngespinnst. Ist diese Beweisführung aber 107 nicht ebenso thöricht, als wenn ich für die Möglichkeit der Republik Frankfurt oder Bremen citiren wollte! Nicht einmal Nordamerika beweist für Europa, die verlangten Gründe liegen weit anderswo.
In der Republik soll kein Antrieb zur Sittlichkeit liegen. Ohne Rücksicht auf seine Civilpolizei denkt man sich das Königthum noch als eine Art höherer, sittlicher Gewalt, als eine moralische Allgegenwart, als ein lohnendes oder strafendes Gewissen. Aber du lieber Gott, warum lässest du dann deine Wetter nicht in die Glockenstühle der Kirche schlagen? wozu existiren sie, wenn man das Alles kürzer, wohlfeiler haben kann? dann aber frag’ ich auch, sind die Fürsten mehr als ihre Handlungen? Können sie ihrem Volke irgend eine Weihe geben, die sie in ihrem Leben selbst nicht besitzen? Du weißt, ich mache ihnen nicht einmal Vorwürfe, wenn sie den Gelüsten ihres Herzens folgen, und solche Wege gehen, wohin sie ihr Bedürfniß treibt. Ich verlange weder Tugenden von ihnen, noch gute Beispiele. Wenn solche nicht da sind, so hasse ich die falschen Vorspiegelungen derselben. Worauf ich aber hoffe, das ist die innere Macht der Sittlichkeit, die nie eines äußern, imponirenden Stachels bedarf; auf das stille Geheimniß des Herzens, das nur durch edle 108 Handlungen seinen Nebenmenschen Rechnung ablegen soll, auf die liebevolle Beichte zwischen verwandten Seelen.
Die Philosophie gibt dem Königthum eine Stellung, die jede andere Institution eben so gut, am besten sie selbst einnehmen könnte. Es soll nämlich für die Sehnsucht des Menschen nach Schönem und Erhabenem, für die Bestrebungen seines Geistes im Gebiete der Kunst und Wissenschaft die äußere Garantie einer bestimmten Form der Gesellschaft nothwendig sein. Ist dies aber die Republik nicht auch? Würde die Zahl der Mäcenaten nicht vermehrt werden, wenn die Concurrenz weniger schwierig wäre?
Wem die Bibel heilig ist, und sie soll das Allen ewig bleiben, der wird dort die Fürsten und Könige nur als Erste und Häupter der Obrigkeit finden. Sie sind zwar mehr als die ersten Bürger des Staats, aber auch weit weniger als eine Totalrepräsentation desselben. Gott war sehr ungehalten, als die Juden dem Samuel anlagen, er möchte ihnen einen König salben. Die Leute sprachen damals schon wie jetzt bei den Debatten über die Civilliste. Ein König mache den Glanz und die Würde des Reiches, der Luxus würde mit seinen wohlthätigen Folgen befördert, und vor allen Dingen müsse man es den Ausländern gleich thun.
109 Wann sich die Könige von ihren Thronen trennen werden, weiß ich nicht. Viele erwarten, daß die Fürsten einst in den Wissenschaften so weit vorrücken, daß sie von ihrer eignen Entbehrlichkeit überzeugt, jene verlassen werden. Gott möge diese Studien segnen.
Einstweilen aber, Du geliebtes Bild, constituiren wir uns Beide zu der Republik der Liebe. Wir wollen das Beispiel aufstellen, daß es auch in dieser Staatsform Treue, Hingebung, Aufopferung geben könne. Sei auch der erste Sprößling dieser Ehe ein Napoleon, der zweite die Restauration und der letzte ein Thron, umgeben mit republicanischen Institutionen; unsere Enkel werden dennoch die Früchte unserer Anstrengungen zu schätzen und zu veredeln wissen. Das sind Hoffnungen, aber keine Träume. Gewiß, wir werden die goldnen Früchte brechen; denn unser Arm kann sie erreichen.
Wir sollten für die Freiheit noch nicht reif sein? Seit wann geschähe die Zeitigung ohne die Zeit? Haben wir nicht Jahrhunderte durchlebt, ich, die Liebe, Du, die Wahrheit? Sind nicht die Völker so an uns vorübergegangen, daß wir Zeuge sein konnten, wie die Fürsten wohl manche alte Fesseln lösten, dafür aber neue schmiedeten, und wie die Völker sie wieder zerbrachen? Es ist wahr, 110 wir sind ehrwürdige Ueberreste grauer Vergangenheit, Ruinen dahingeschwundener Herrlichkeit, Du, ein altes Fossil, ich, ein Mammuthsschädel. Wenn man unsere Versteinerung einst bemerken wird! Wenn man hoch auf dem Kaukasus eine Republik und die Blüthe der Civilisation entdecken wird! Wir werden dann doch mehr sein, als ein Beitrag zum Naturaliencabinet, mehr als eine Seltenheit für das anatomische Theater. Die Menschheit hält uns für den Beginn eines neuen Zeit- und Weltalters. Uns sind die Menschen zwar nie viel gewesen, aber wir werden ihnen Alles sein!
Schon steigt die Morgensonne aus den Gewässern um Amerika’s Ufer: ihre ersten Strahlen vergolden die schneeigen Gipfel unseres Himmelberges. Sieh’ hin, dort stehen wir im glänzenden Frühroth, mit Entzücken sinken wir uns in die Arme! Sind wir nicht glücklich?
111 Eilfter Brief.#
Welche Thaten, welche Begebenheiten! Tausende von Kriegern verlassen ihre heimathlichen Fluren, die, mit dem Blute ihrer Brüder getränkt, ihnen keine Früchte brachten; eine neue Völkerwanderung. Der rechte Flügel der Pforte versagt länger den Dienst, und die wilden Scharen von den Ufern des Nil’s und den brennenden Sandsteppen des innern Afrika’s ziehen kampfgerüstet in die Thäler Syriens. In Frankreich und England wird den Standesprärogativen, die Jahrhunderten getrotzt haben, jubelnd heimgeleuchtet. Roms weltlicher Thron hat keine andere Stütze mehr, als fremde Bayonette, die schwächste, die es für Staaten jetzt noch geben kann. Deine treue Philine, das liebe Thier ist gestorben. Welch’ eine Zeit!
112 Tröste Dich, Geliebte, gib dem Schmerz nicht allzusehr Raum! Lies einstweilen Fichte’s Schriften, bis ich Dir einen Trost a priori geben werde.
Es ist ein Jammer, schon wieder von Deinem Unglück zu reden. Aber es ist so, Du bist die ewige Jüdin. Welch schmerzlicher Gedanke!
Da irrst Du nun über Berge und Meere, suchst die tiefste Nacht, und Deine Augen wollen sich nicht schließen. Ich sehe Dich mit scheuem Blick durch die Erde wandern; Dein zitternder Fuß ist das Piedestal einer todten Statue. Du klagst, man fliehe vor Dir, man fürchte Deine unheimliche Nähe, man verstehe Dich nicht, weil Du in fremder, nie gehörter Zunge sprichst. O, Du Liebe, laß sie mit ihrem kalten Sinne Alle! Eile zu mir unter mein friedliches Dach. Genieße die Freuden, die ich mit liebendem Herzen Dir schaffen will. Unsere Leiden werden wir so leichter ertragen.
Wie will ich an Deinem Munde lauschen, wenn Du von den Bildern der Zeit beginnst, die schon alle an Dir vorübergegangen! Jeder Kuß soll eine Ewigkeit sein, die ich von Deinen Lippen sauge, jeder Händedruck ein Pulsschlag, der durch Jahrhunderte, die Adern der Zeit, mich berührt. Du lehrst mich die Freuden des Todes und den 113 Schmerz der Unsterblichkeit. Dafür wirst Du an meinem Grabe, wie Dein Gemahl an dem des Erlösers die Ruhe Deines Herzens finden!
Nach Deinem Manne sehnst Du Dich wohl nicht mehr? Hast ihn wohl vergessen über die ungeheuere Last, die in Deinem Gedächtnisse liegen muß? Treulose, hat er Dich nicht gesucht vom Aufgang bis zum Niedergang? Schrickt er nicht noch, wie ein schüchternes Reh, vor jedem rauschenden Blatt zusammen? Immer erwartet hast Du ihn immer getäuscht. Sein linkes Auge war der Welt und ihrem Treiben bestimmt. Tausende sah’ er unter Flammen oder Schwert untergehen, und es blieb trocken, kalt, er wäre ja so gern mit ihnen hinabgestiegen. Sein rechtes aber suchte Dich, und das schwamm ewig in Thränen, und dämmerte wie ein flackernd Licht.
Sieh’ um Dich, und forsche nach der Gegend, da Du jetzt weilst! Wachsen in der Mark etwa Palmen, und die riesige Frucht der Ananas? Siehst Du dort, wie hier, Dattel- und Feigenbäume, und den zweitausendjährigen, verdorrten, da unten im Thale? Blick hin, dort drüben vor den Thoren Jerusalem’s, siehst Du Golgatha, den rechten Kreuzberg? Schon läutet es zur Messe. Komm, Du blindes Weib, tritt herein in die dunkle Pforte dieses heiligen Hauses! Dort unten in der nächtlich 114 finstern Höhle, wo Du die Kerzen, wie Irrlichter, leuchten siehst, wessen Grab ist dies? Erkennst Du mich noch nicht? Ich bin Dir fremd? wie? Wahnsinnige? Du hast mich vergessen?
Freundin, einzige Geliebte, willst Du mich denn so allein auf diesen eisigen Schollen treiben sehen? Zerküsse mit warmem, liebewarmem Munde die winterliche Schneedecke, unter der ich begraben liege. Laß Du einen neuen Frühling um mich aufblühen! Feire mit mir die Wonne der Auferstehung! Du hast immer meine Wünsche erfüllt, noch ehe Du sie vernahmst, jetzt wirst Du diesen lesen, wenn ich schon der Erhörung mich zu erfreuen habe.
Es muß doch wahr bleiben, wir Beide bilden ordentlich eine Aristokratie der Einverstandenen, die noch stärker ist, als die der Ueberzeugten. Ich erkläre mich bestimmter.
Im Einverständniß können auch Nichtüberzeugte handeln. Ueberzeugte sind oft muthig auf eigne Hand, darum aber auch meist unglücklich. Die Kunst des Lebens fängt nicht mit dem Sprechen, sondern mit dem Hören an. Kommen wir aber endlich doch einmal zur Oeffnung des Mundes, so will man von uns weniger Gehorsam, als Beifall. Die Macht, die Tyrannei liebt nicht so sehr den Diener, der aus Eifer handelt, als den, 115 der sich überredet stellt. Der Egoismus setzt zwar nie einen fremden Willen, aber immer eine fremde Meinung voraus. Bis er die Hände seines Opfers braucht, wird er sie gefesselt lassen, den Mund kann er sich schon nicht enthalten zuweilen von seinem Zaume zu lösen, wie sollt’ er anders sein Lob und die Beistimmung des Andern vernehmen!
Wie glücklich die Unterthanen doch sind! Auf beiden Wegen wird immer noch ein wenig Luft und Sonnenschein in den Kerker unseres Lebens kommen. Wir billigen, und aus Dankbarkeit macht man das Gehorchen weniger schwer. Wir gehorchen, wollen aber nicht billigen, wird man uns dann jenes nicht auch erleichtern, um uns nur zu diesem zu bewegen! Als Galiläi die Daumenschrauben und die Schmerzen der Tortur fühlte, ließ er die Bewegung der Sonne um die Erde gelten: so oft er wieder frei war, trat er heftig mit dem Fuß auf, und rief: es ist doch nicht wahr! Warum sollen es wir nicht ebenso machen?
Die Herrscher wollen ihre Forderungen gern für eine Wahrheit, am liebsten für eine Wohlthat anerkannt wissen. Darum liegt auch nichts so sehr in ihrem Interesse, als jedem ihrer Vorrechte und Gewaltschritte die Form eines Vertrags und einer den Unterthanen selbst schuldigen Verantwortlichkeit zu geben. Man wird nie einen Krieg 116 beginnen, ohne sich vorher durch ein Manifest der europäischen Meinung, oder auch nur der im eignen Lande versichert zu haben. Die Verfassungen, wie gern sie aus eigner Gnadenfülle und Machtvollkommenheit hergeleitet werden, sollen nach ihrer Abschließung meist dazu dienen, die gleichmäßige Abwägung der Rechte und Pflichten nach den höchsten Gesetzen des Rechtes und der Billigkeit zu bezeichnen, und wie Keiner etwas sein nennen dürfe, ohne das Eigenthum des Andern anzuerkennen. Wie aber Lug und Trug über den ehrlichen Willen immer den Sieg davonträgt, beweisen bis jetzt noch die meisten deutschen Formen dieser Art. Man wird bei ihnen fast an jene Mutter erinnert, die ihren Kindern Pflaumen kaufte, um ihnen die Kerne zum Spielen zu geben, das Fleisch aber für sich zu behalten.
Darum, meine Gute, wo es Dir nur irgend möglich ist, verleite die Herrscher zu Gewaltschritten, befördere die Ordonnanzen, damit wir zu neuen Juliustagen kommen. Stift’ an den Höfen, wo du Zutritt hast, Factionen, Camarillen; spiegle den Schwächern das Uebergewicht an Gewalt vor, das die Mächtigeren besitzen, und diesen selbst noch die Kleinigkeit, die Jenen gelassen ist! Ich wette, es muß zu Fortschritten kommen, zu neuen Verträgen, zu Revisionen der alten. Oder kannst Du 117 glauben, daß in dem Rechte einiger Unterthanen, ihre Abgeordneten zu Landtagen nach der Residenz zu schicken, die Beruhigung für die Zukunft liegt? Begnügst Du Dich für das tägliche, außerlandtägliche Leben mit jenem Schimmer der Habeascorpusacte, die Dir die Sicherheit Deines Eigenthums zusagt? gibst Du Dich mit diesen schwächlichen Formen wirklich zufrieden?
Ha, Du Falsche, jetzt erkenn’ ich Dich! Also bis zu diesem Punkte, bis zu solchen Fragen, wo ich meine sämmtlichen süddeutschen Freunde schon gegen mich empört sehe, hast Du mich reden lassen, und nun ich eben den Stab über alle Parteien des Tages brechen will, verlässest Du mich? Treulose, womit hab’ ich das an Dir verdient! Nun hast Du mehr als meine Liebe verscherzt, mein persönliches Vertrauen, das Dir sonst in die geheimsten Falten meines Herzens den Zugang nicht verwehrte! Wie werden sie in den Museen von München, Stuttgart, Carlsruhe mich verdammen, mich Deinen ehr- und pflichtvergessenen Freund nennen! wie wird man in den berliner Schachklubbs, auf dem Casino über mich frohlocken!
Wenn man an diesen letzten Oertern noch nicht weiß, daß ich ein Erzschelm von Republicaner bin, so wär’ ich ja zu Gnaden wieder aufgenommen. Nenne mich ihnen als einen Radical-118reformer, einen Hunt, so haben sie mich doch noch lieber, als wenn ich irgend einen Anklang an französisches Leben verrathe.
Um Dir ein Beispiel zu geben, wie in Frankreich zu manchen Zeiten auch kein einziges Moment vorhanden ist, an das sich das Interesse eines preußischen Herzens anschlösse, wähl’ ich die Lage Frankreichs zu Anfang des verflossenen Jahres. Die Deputirtenkammer war damals den französischen Patrioten ein Gräuel, sie lobte Lafayette, um ihn zu tadeln, sie hatte sowohl jene Partei gegen sich, die sie als Unruhstifter bezeichnete, als auch die Regierung, die sie im Einverständniß mit dieser handeln sehen wollte. Welcher Gesichtspunkt bleibt nun da für ein preußisches Auge übrig? Die Kammer wird gehaßt, weil constitutionelle Formen in Preußen a priori ein Gräuel sind. Lafayette gilt in Berlin als der lächerlichste alte Geck, der sich auf seinem revolutionairen Steckenpferde fast kindisch gebärdet. Vor Blättern, wie die Tribune, die Revolution, der National schlägt man ein Kreuz. Eine Regierung, die einen Odillon Barrot zu ihren Gliedern zählte, die die Affichen der Studierenden billigen konnte, scheint das gefährlichste Beispiel. Die Karlisten tadelt man, weil Louis Philipp von den europäischen Monarchen als Bruder anerkannt worden ist. 119 Nach Jesuiten hat man, wie billig, keine Sehnsucht, Simonisten sind die Preußen längst gewesen, wie die Allgemeine Zeitung jüngst berichtet – was bleibt da übrig? vielleicht das schöne, erhabene Beispiel eines Staates, der frei, unabhängig von den Wirren dieser Zeit sein Glück in sich und seinem Könige findet?
O Theure, laß auch uns aus dem Lärm heraustreten, und hinaufsteigen auf einen poetischen Hügel. Sollten uns selbst da die Gegenstände der Politik begegnen, so werden wir doch so viel Phantasie besitzen, uns durch das Rauschen einer Wassermühle nicht an die Jammerrufe Brot, Brot! erinnern zu lassen, sondern nur die schäumenden Diamanten des Wogenfalls im Auge behalten.
Wie uns dort aus der Tiefe des Thals das frische Grün entgegenlacht! Die Sonne beleuchtet die tausend Thauperlen, als wären sie Rubinen auf weichem Sammet. Sollte denn der blaue Bach nicht mehr als Kiesel enthalten, und zu einer Edelsteinwäsche sich eignen, so funkelt’s um ihn herum! Fließt derselbe Bach nicht aus dem Schatten des Waldes heraus, als hätt’ er da an seiner Quelle Gespräche oder Liebesklagen abgelauscht, so geheimnißvoll thut er, der sonst so geschwätzig helle Gesell! Freundin, richt’ einmal Dein Auge scharf über jenen ersten Hügelvorsprung hinaus, der dunkle 120 Punkt da in weiter, blauer Ferne, ist das vielleicht eine Burg? Geliebte, eine Burg? Ohne Burgen kann ich nicht leben, ohne Burgen keine Poesie und ohne Poesie kein Leben. Darum erklär’ ich mich auch unbedingt mit Walter Scott gegen die Reform, ich halte den Mann für die letzte Stütze der Romantik, er und sie fallen aber mit den Burgen.
Wenn die Reformbill siegt, so ist es mit der Poesie vorbei. Diese braucht die verfallenen Flecken, jene hat ihnen den Untergang geschworen. Sinkt die Aristokratie, so gelten auch die Sitze ihrer Väter nichts mehr. Sie selbst wird dann eilen, Meiereien und Fabriken auf ihren Trümmern anzulegen. Die Erinnerung der Vergangenheit – und das ist alle Romantik – beweist für die Gegenwart nichts mehr, für die Gedanken der Zukunft wird diese selbst sorgen. Die Lumpen der Fabrikarbeiter in Manchester und Birmingham sollen künftig die Rolle spielen, die bis jetzt nur der Seide und dem Hermelin zugetheilt war. Der Irrthum, daß der Mensch immer so groß ist, als die Scholle Landes, die er besitzt, ist jetzt erwiesen. Darum wird mit dem Ansehen des Adels auch seine ungeheuere Ländermasse zerfallen. Das Bedürfniß ist jener tribunus plebis, der die neue lex agraria vorschlägt, da es keinen Senat mehr geben wird, da man weiß, wem es gegolten hat, 121 wenn gerufen ist: à bas les hauteurs immesurées! so wird sie siegreich durchgehen. Die Art, wenn die freien Güterbesitzer aufkommen müssen, wird die seyn. Erst freie Schußgerechtigkeit, man wird in den unermeßlichen Forsten der Aristokratie jagen dürfen. Ist man erst in ihnen, so werden sie abgetragen, theils zur Feuerung, theils zur Erlangung eines urbaren Bodens, theils endlich zu Scheiterhaufen für all den Tand und Flitterstaat, den die erstürmten Burgen enthalten. Mich schmerzen die herrlichen Gemälde- und Büchersammlungen, diese prächtigen Kupferstichgallerien, diese mit so beispiellosem Aufwande zusammengebrachten Schätze; aber in Irland wird der Lärm seinen Anfang, in England noch nicht sein Ende nehmen. Wo soll da noch der Sinn für das Schöne, Edle gedeihen! Mordbrenner sind zwar die besten Staffagen der Schönheit, wie der Teufel, aber eine Welt voll solcher Bösewichter!
Doch ich beschwöre Dich, Freundin, hör’ endlich mit solchen Schreckbildern auf! Du kennst die schwache Verfassung meiner Nerven, und wenn ich über solche Aussichten, wie Du mir sie da eben gegeben hast, nicht einmal weinen kann, so steigert sich mein Schmerz zu einer Höhe, auf der ich vergehen muß. Du bist auch so schonungslos, und deckst die grellen Seiten Deiner Gemälde so 122 ganz ohne Rücksicht auf! Ich fürchte und zittere für Dich, Du möchtest Dich beim Verweilen in solchen Anschauungen zu einer Kälte der Empfindung und Grausamkeit des Gedankens steigern, die entsetzlich ist. Du gehörst zu jenen gräßlichen Schriftstellern, die auch Nichts, gar Nichts zeigen, woran man sie noch als Menschen, als empfindungsfähige Herzen erkennen möchte! Ich liebe es, und freue mich darüber, wenn der Heuchelei die Larve abgerissen wird, wenn sich die entdeckte Schuld vor ihrem Richter im Staube windet, aber ich wende mich dann ab, und fliehe das grausame Entzücken dieses Anblicks. Zeige immerhin den Stachel Deines gerechten Spottes, Du brauchst ihn nicht einmal zu verhüllen, nur entferne ihn zuweilen, tritt dann mit menschlich fühlendem Herzen zu dem wehmüthig klagenden Bruder, zu mir, der ich ja an Nichts glaube, als an Liebe und Treue, weine dann in meinen Armen. Selbst einen Galgen haben die Mädchen in Posen mit Blumen bekränzt, und Du willst nicht einmal von Deinen blutigen Dornen gestehen, daß sie an dem Stengel sitzen, auf dem oben sich eine Rose wiegt!
Ja, Geliebte! ich hoffe es bei Dem, was Dir nur am heiligsten sein kann, bei diesem Gefühle für Recht und Wahrheit, bei dem, was Dich zu solchen Ansichten und Urtheilen treibt, 123 öffne Dein erstarrtes Herz dem milden Sonnenstrahle des Friedens. Küsse mich, Du holder Engel, und ein Frühling von Himmels- und Sternenblumen wird Dir an Deinen Locken grünen. Aus einer Tochter des Hasses wirst Du eine Tochter der Liebe werden. Die Hölle dieser Welt wirst Du Dir zu einem Himmel machen.
Seligste, hab’ ich Dich jetzt wieder? Mich nenne ewig Dein!
124 Zwölfter Brief.#
Verehrungswürdige Freundin! Außer vielen erhabenen und seltenen Eigenschaften besitzest Du auch ein kleines Holz, ordentlich ein Kerbholz, worauf Du Dir anmerkst, welche Posttage für Dich ohne Sonnenschein, ohne Briefe von meiner Hand, vergangen sind. Vergib mir, Du Gute, wenn jetzt die Zahl der Striche so sehr gewachsen ist. Mir ist die Zeit des letzten und ersten Mondviertels nie recht günstig, da laß’ ich auch jede großartige Unternehmung.
Nun aber will ich wieder mit erneuter Kraft die alte Seefahrt beginnen, meine Liebe verläßt mich nicht, und mit Macht rudr’ ich schon hinunter weithin nach dem Ende des Stromes, wo 125 ich die goldenen Kuppeln und die Fenster hoher Paläste in dem Wiederschein sinkender Sonnenstrahlen funkeln sehe.
Daß doch nur das Land der Erinnerung in solchen Sonnenfernen strahlt! Daß Nichts hell und glänzend ist, als was durchlebt schon hinter uns liegt! Daß auf der Gegenwart nur die trüben Nebel des Morgengrauens ruhen, und die Zukunft nur eine sternenlose Nacht ist!
Ich gäbe die noch übrige Spanne meines Lebens gern hin, wenn ich jenen Augenblick noch einmal leben könnte, da ich an der Hand einer freundlichen Mutter – ich weiß nicht, was da zu lachen ist! – an einem heiligen Tage zur Kirche gieng, und die blendend weißen Mauern eines neu erbauten Domes unter Glockenklang im Sonnenlichte schimmern sah. Du bist in der That zu heidnisch gesinnt, als daß Du bei der Nachmittagsruhe eines stillen Freitags an die ferne Heimath Deiner Jugend denken solltest! Für so Etwas hast Du wohl gar keinen Sinn – in die dunkeln Gänge einer Kirche mit Gebet eingehen, dann mit leisem Fußtritt und pochendem Herzen durch die hallenden, noch leeren Räume treten, vor dem ersten Ton der Orgel zusammenschrecken – das ist Dir Alles unbekannt?
126 Reisen willst Du machen, berühmte Männer von Angesicht zu Angesicht sehen, Dein Stammbuch präsentiren, nach Italien ziehen, Briefe vom Capitol schreiben. Ich spreche nichts von der weltlichen Klugheit, mit der Du Deine Pläne anlegst, nur in so tiefen Irrthümern Dich noch befangen zu sehen, schmerzt mich. Diesmal bist Du auch wirklich schon auf meinen Widerspruch gefaßt, forderst mich auch nicht zur Theilnahme an Deinen Reisen auf, sondern verlangst nur eine Art Programm, das Deine Erscheinung bei unsern noch lebenden, großen Geistern gleichsam einführen soll. Fahre denn also hin in Deinem trüben Sinne, und streue den Weihrauch, den Du in dem Heiligthume unserer Liebe hättest anzünden sollen, auf die Altäre jener Götzen! Siehe zu, was Du mit folgenden Bemerkungen ausrichtest.
Soviel mir bekannt ist, bist Du nie verheirathet gewesen. Doch zwingt mich die große Verehrung, die ich für Dich empfinde, Dir abzustreiten, daß Du noch Jungfrau bist. Ich muß Dich nämlich für die Wahrheit halten. Wozu bedarf es neuer Gründe für diese Behauptung, da mir die alten noch Keiner widerlegt hat! Die Wahrheit erröthet nicht, sie ist im edelsten Sinne schamlos. Warum findet man nun in all den tausend 127 Schriften, die man mit dem Ehrennamen deutscher Literatur belegt, Dich nicht?
Aber wo willst Du denn hin? So bleibe doch! So wie Du nur vom Stande kindlicher Unschuld hörst, wogst und sprudelst Du in solchen Entzückungen auf, daß mich der süße Wahn des Mädchens rührt, der sich so gern in eine Welt hineinzaubert, deren Aequator eine Rosenkette, deren Meridiane Seidenbänder sind. Wohlan! die Hälfte unserer Autoren geb’ ich Dir auch immerhin unter dem Bilde eines schuldlosen Lammes. Ein rothes Bändchen ziert den wolligen Hals, worunter ein silbernes Glöcklein im lieblichsten Tone. Gehe hin, und führe es auf die Weide unter Blumen und Klee.
Aber mit der andern Hälfte muß ich männlicher reden. Ich meine die, die über gewisse Dinge nur erröthet, weil sie fürchtet, über sie wirklich ihre Farbe nicht zu verändern. Sie muß die Tugend lieben, weil ihr sonst das Laster aus tausend Löchern hervorsehen würde.
Die meisten Menschen sind im Besitz so weniger Empfindungen, die ihnen das Zeugniß ihrer edleren Natur sichern könnten, daß sie es auch nicht um einen Schritt wagen, sich von dem großen Ruhekissen zu entfernen. Warum haben unsere Schriftsteller nie einen bleibenden, schlagenden Eindruck auf ihre Zeitgenossen gemacht? warum sind 128 unsere Zustände bis jetzt noch immer nicht das Werk unserer eigenen Entwickelung? weil unsere Wortführer früher nichts Edleres, Höheres empfanden, und als ihre Meinung auszusprechen wagten, als was unter der Menge der Geringsten Einer nur denken und fühlen mochte. Wenn ein Roß den Sieg in der Rennbahn davongetragen hat, wie kann es auch dann gekränzt werden, wenn es sich auf die Hinterfüße stellt! Manche haben sich zwar als Verächter ihrer Zeitgenossen angestellt; ist es aber nicht die Weise der Cokette und Buhlerin durch scheinbare Ungunst den begünstigten Liebhaber nur noch mehr an sich zu fesseln? Wo ist die Macht – vergiß nicht, Du Gute, ich meine nicht den blinden Wahn irgend einer schwachen Leidenschaft, eines in sich schon erstorbenen Irrthums, – wo ist die sanctionirte Macht, die zu ihren Füßen je einen Fehdehandschuh gefunden, von jenen ihr hingeworfen? So sind z. B. die geheimsten, innersten Schwächen unseres kirchlichen Zustandes von Tausenden, die sich zum heiligen Schlüsselamt der Feder berufen dachten, erkannt worden. Die Einen ließen einmal zwei Worte davon fallen, und beim dritten gingen ihnen schon vor Thränen die Augen über. Die Andern wußten es noch viel besser, sie hüteten sich aber wohl, es auch nur bis zum ersten Worte kommen zu 129 lassen. Darum werden wir noch lange in dem Truggewebe eines gegenseitigen Vertrages, nichts verrathen zu wollen, fortleben müssen. Ich kann nicht zwei Schritt auf der Straße gehen, so seh’ ich auf allen Gesichtern ein Siegel, das uns jedes Wort des Lehrers, jede Prüfung eines Obern, jede Einführung in ein neues Amt zur Erinnerung an das Gelübde ewiger Verschwiegenheit aufgedrückt hat. Recht und Unrecht, Leben und Tod sind auf diesen Grundvertrag aufgeführt. Alles ist verabredet, bis auf den Wink, den der Fürst dem nachrichtenden Henker gibt.
O ja, man hat sich mit dem Suchen der Wahrheit beschäftigt, dabei aber egoistisch genug nur an die Uebung seiner Geisteskräfte gedacht; wie Lessing, wenn ihm die Wahl frei stände zwischen der Wahrheit und dem Streben nach ihr, lieber das letzte wollte. Noch mehr, man hat wirklich eine Formel, einen Zauberspruch gefunden. Wer besaß nun aber jenen Lebenshauch, daß sich die Buchstaben solcher Formeln zu dehnen und zu bewegen anfingen, lebendig wurden, immer größer und natürlicher, bis sie zuletzt als Thaten selbst das schwächste Gemüth fassen konnten? Und dies lebendige Eingreifen in die bewegten Räume der Wirklichkeit ist so sehr immer das Wahrere, daß ich, wenn ich in den Himmel Deiner Augen 130 blickte, aus dem klaren Grunde der Wellenlinien Deines unübertrefflichen Angesichts köstlichere Perlen über Schönheit und Anmuth hole, als aus den Systemen der Weltweisen.
Die Wahrheit ist immer so indiscret, mit den Fingern zu zeigen. Man muß sie mitten auf den Weg legen, damit Jedermann darüber fällt. Meine Beste, so sehr ich die Forderungen achte, die Deine Schwestern an die Welt machen, so sollen doch die Scribenten nicht nur Menschen, sondern auch Männer sein. Das Gaukeln und Schmetterlingswesen, das sie bis jetzt immer verhindert hat, den gehaltenen Ton des Ernstes anzustimmen, sollen sie mit Würde und Adel vertauschen. Nicht mit den Ansichten der Partei kämpfen wir allein – Du natürlich immer mit – sondern mit dem unredlichen Willen, mit der Untreue auf die Dauer eines Kampfes, mit der Dummheit, die sie bei aller Klugheit nicht verbergen können.
Wenn man Männer zum Kampfe ruft, so stellen sich nur Dichter, Schriftgelehrte, Erzieher, Philosophen. Unter ihnen vergißt ein Jeder über eine Welt die des Andern. Mit Recht; denn Alle stehen sie an Oertern, wo sie nicht hin gehören. Der Dichter verehrt den Katholicismus, weil er ohne ihn nicht Dichter sein kann. Der Philosoph verwirft ihn, weil ihm sonst die Nothwendig-131keit der Reformation unerwiesen bleibt. Der Erzieher opfert gern die Idee des Volkes, wenn er nur noch die der Menschheit behält, ein Anderer hat das entgegengesetzte Interesse. So bildet sich auf der Oberfläche unseres Lebens eine Menge kleiner, nicht einmal mit ihrem Umkreis zusammenstoßender Cirkel.
Da ich mich heute fast zum Declamatorischen aufgelegt fühle, so will ich Dir an den Parteiungen und dem bisherigen Streite unserer Theologen beweisen, wie sich jede Einseitigkeit an der andern aufreibt.
In einer Legende streiten sich zwei Klosterjungfrauen über den Vorzug ihrer Heiligen. Die Eine verehrt Johannes, den Täufer, die Andere den Jünger dieses Namens. Ueber Nacht erscheinen die Heiligen ihren Anwälten, und belehren Jede, daß nicht ihr Liebling, der jetzt zu ihnen rede, sondern der Andere der größere sei. Am folgenden Morgen hatten sich nun Beide von ihrem Irrthum bekehrt, nur daß unsere Kleriker das sich nicht so offen gestehen, und reumüthig um den Hals fallen. Kann es aber etwas Thörichteres geben, als einen Zank über den Anfang oder das Ende eines Cirkels? Den Einen erscheint Gott in den ersten Anfängen seiner Erkenntniß unbestimmt, unerklärbar; die Andern erhalten diese Unbegreif-132lichkeit zum Resultat. Die funfzehn Jahre der Restaurationsperiode hat man mit solchen Mißverständnissen hingebracht, und die geringe geistige Kraft, die sich in jener Zeit entfalten wollte, auf diesen Streit verwendet.
Ich spreche noch immer von den Theologen. Zwischen jene Ungereimtheiten sind schon früh Vermittler, Versöhner getreten. Mit eigenem Ohr hab’ ich einen solchen Besänftiger mit dem tönenden Glockenspiel seiner Rede aussagen hören, daß Christus am Kreuze subjectiv gestorben, objectiv aber nicht gestorben sei. Von diesen Concordienformeln mußt’ ich mich also bald abwenden, und in Gemeinschaft mit Deinem zarten Sinne hofften wir auf die Aesthetischen, auf jene Liebhaber des Christenthums, die uns Fragmente aus ihren Jugendjahren geben, wie sie die Mutter zur Kirche und zum Wiedererzählen der Predigt angehalten, wie sie vor Wehmuth an heiligen Oertern sich nicht hätten lassen können, wie dies Heimathland das Ziel alles wahren Lebens sei. Wie wir da entzückt waren! welche poetische Seligkeit empfanden wir! Nun mußten wir aber doch nach und nach von diesen rechten Dilettanten auf Christus auch verlangen, daß sie uns über Wunder, die uns in diesem Gebiete bei jedem Schritt aufstoßen, ihre Erklärung abgeben. Gleich waren sie da mit der Meinung zur Hand, so wär’ es 133 eigentlich nicht gemeint gewesen, die Bibel gäb’ ein religiöses Epos ab, das nach richtiger Kunsttheorie ohne Wunder nicht sein könne, und vor Allem sei das das Wunder, daß eine solche Lehre, wie die christliche, sich nach Jahrhunderten noch habe erhalten können. Diese letzte Ausflucht erinnert mich an einen Historiker, – thue doch Etwas in Berlin für den Mann, der an sich selbst unschuldig ist: sie wollen ihm da jetzt arg zu Leibe! – der seine christliche Gesinnung nicht für die kleinste Tugend seiner Geschichtsauffassung hält. Er soll erklären, wie es mit des heiligen Bernhard von Clairvaux auffallenden Wundern stände. Dafür replicirt er, das sei eben das Wunder, wie ein so unscheinbarer Mann auf die Höchsten seiner Zeit mit solchem Einfluß habe wirken können, wie er ihn besaß.
Ich kehre zu den Theologen zurück. Eine andere Classe, ordentlich eine Schule, die sich weit bis in die Schweiz, selbst auf die protestantischen Institute Frankreichs verbreitet hat, umgibt sich gern mit dem köstlichen Dufte evangelischer Salbung. Sie hat die Entdeckung gemacht, daß man das Christliche unter jeder Gestalt verehren müsse. Ihr ganzes Geschäft ist, fremden Glaubenseifer mit Andacht zu beschreiben, Ersatz für die Forderung, den eignen zu zeigen. Sie sind duldend, 134 nachgiebig, sagen sich von denen los, die mit ihnen einerlei Meinung, aber mehr Muth, sie zu vertheidigen, haben. Es fehlt ihnen sogar nicht an Tadel, wenn sie in der Kirchengeschichte, ihrem Hauptfache, auf Märtyrer der Ueberzeugung stoßen. Man erkennt sie an ihrem Schiboleth: seid fromm wie die Tauben, aber klug wie die Schlangen!
Wir Beide wären nun wohl schon so thöricht, und setzten uns mit Marius auf die Trümmer Karthago’s, und weineten blutige Thränen. Bietet man uns in Glaubenssachen nicht noch einen Trost an, den absoluten, die Bestrebungen der Speculation um die Wahrheit des Christenthums? Hast Du Knigge’s Umgang mit den Menschen gelesen? Chesterfield’s Briefe und Aehnliches? Gewiß, es gibt im Handeln eine Lüge, die den täuschenden Schein der Sittlichkeit annimmt. Dieselbe Verschlagenheit hat bei uns im Wissen fast immer gegolten. Die angedeutete neue, jetzt hirt-, aber nicht herdenlose Secte ist auf Kunststraßen zu Lehren gekommen, die sie um so leichter aufopfern wird, je weniger ihre einzelnen Glieder wissen mögen, wie sie zu den symbolischen Büchern, zum heiligen Augustinus, zur Erbsünde und zum Teufel gekommen sind. Der Schein der Ueberredung ist täuschend, aber der täuschendste der der logischen Wahrheit. Und wenn es wahr ist, daß 135 man sich selbst schon zehnmal belogen hat, ehe man einem Andern nur eine Lüge aufheftet, so schaudert’s mich vor der Tiefe jenes Elends, wenn einmal von einer wunderthätigen Hand den Blinden die Augen sollten geöffnet werden.
Willst Du nun dennoch eine Reise zu unsern großen Geistern machen? Thu’ es nicht! Ich beschwöre Dich, Geliebte, bei Deiner Unsterblichkeit, bleibe diesen Augenblick an Deinem gegenwärtigen Aufenthaltsorte! Der Kaiser und die Kaiserin wollen Euch ja besuchen.
Schreibe mir dann doch ein kleines Fascikel Schloßplatzbeobachtungen, von dem Standpunkte jenes niedlichen Galanterieleuchters aus, den die Handlung Quittel und Comp. als Waarenschild mitten auf jenen Platz gestellt hat.
Wird man vielleicht das rührende Schauspiel: Familienliebe auf dem Throne wieder dort auf dem Balcone aufführen? wird sich der zweiköpfige Adler dem einköpfigen an die Brust werfen? Wird der Pöbel Hurrah schreien? wird man den Polen ein Pereat bringen?
Als die Kaiserin von Rußland vor drei Jahren mit ihrer stolzen Wagenburg durch die Königsstraße sprengte, und schon einige Flämmchen der kommenden Generalillumination aufflackerten, sagte eine Hökerfrau im stolzen Selbstgefühle: Ja, das 136 ist auch unser Kind! Du lieber Gott, sie meinte damit, daß die Fürstin innerhalb der Mauern Berlins geboren. So äußert sich in Preußen die Liebe zum Herrscherhause bei Hohen und Niedrigen. Es ist rührend!
Aber ich wag’ es dreist, meine Liebe zu Dir jener an die Seite zu stellen! Bis über die Sterne dauert sie fort! Sollte man uns das letzte Brett der rettenden Hoffnung entreißen, so verlassen wir dies Gewühl und Treiben, und gehen auf meine Schlösser, deren ich in Spanien sehr viele besitze. Nur ein kleiner Hügel Erde ist meine Sehnsucht. Auf oder unter ihm, wenn ich Dich nur in meinen Armen habe.
Du bist mir ewig lieb, und mit Gesinnungen, für die ich vergebens den Ausdruck suche, verbleib’ ich unaufhörlich der, der ich sein werde.
137 Dreizehnter Brief.#
Geliebteste, sollte sich noch der wolkichte Dämon des Unfriedens auf die Gipfel unseres Lebens legen? Sollte ich noch erleben, daß der Parallelismus unserer Wünsche und Liebes-hoffnungen gestört werde? Wehe mir, schon der abgezogene Gedanke dieses möglichen Factums drückt mich zu Boden. O und ich möcht’ auch dann nicht mehr mein Haupt aufheben, und des Himmels lichte Bläue sehen, Thränen müßten mir die Friedensstätte eines Grabes in der kühlen Erde höhlen!
Freundin, fordere nicht Unmögliches! mit Muth und Entschlossenheit soll ich eingreifen in das Wellen- und Räderwerk unserer Zeit; soll mit der unbestreitbaren Größe meines Geistes die Welt aus ihren Fugen und Angeln heben, und ein 138 zweiter Atlas sie auf meinen granitenen Schultern tragen? Meine Arme soll ich ausstrecken, wie zwei Herculessäulen, und den Himmel auf die Erde ziehen? Du willst, ich soll ein Held meines Jahrhunderts werden, Du würdest helfend, schützend, rathend mir zur Seite stehen.
Nicht als setzt’ ich irgend ein Mißtrauen in die Kräfte, über die mich eine weise Vorsehung zum Gebieter geordnet hat. Du weißt ja, ich könnte Tausende zu Abgöttern ihrer Zeitgenossen machen, wenn ich ihnen nur ein kleines Theil der Schnell- und Spannkraft meiner geistigen Musculatur durch einen Händedruck eindrücken wollte. Nur sehe ich daran nichts so Unsägliches, wenn ich den Pendel an der Uhr der Zeit in Schwingungen nach meiner Art versetzte! Theure, Du mußt höher stehen, als selbst die Höchsten nach der Menschenmeinung! Hast Du nie mit dem Schädel eines Gottes Kegel gespielt? Aus dem Becher nie Würfel geworfen, die aus den Knochen eines Heiligen der Weltgeschichte gedreht waren? Ich hasse die sogenannten historischen Größen eben so sehr, als den Enthusiasmus, der sich von ihnen entzücken läßt. Nur die friedliche Welt stiller Gemüther kann den schönen Beweis ihrer Unsterblichk eit führen. Bei jedem historischen Factum 139 sucht’ ich Dir die Pforten dieser Welt zu öffnen, Du hast mich aber nie verstehen wollen.
Warst Du mir nicht zur Seite, als Cäsar sein Haupt mit dem blutigen Mantel verhüllte? Drückt ich da nicht die Erinnerung an jene obigen Sätze Deiner Hand mit solcher Todeskälte ein, daß Du mich mit einem Marmorblick, in dem eben eine Perle erfrieren wollte, anstiertest? Ich riß Dich ja mit Sturmeswehen an die Säule des Pompejus hin, schüttete auf das Piedestal Tausende von Münzen, wie einen Berg, auf, und bewies Dir an den ausgeglätteten, verwischten Kaiser- und Königsbildern, was die Menschen Ruhm, was ihre Eitelkeit Verdienste nenne. Auf die noch blutbefleckten Steinstufen zog ich Dich nieder, schlang meinen Arm um die Mondhelle Deines Halses, drückte die Hand auf Deinen schwellenden Busen, weinte Thränen in Deinen Schooß, wie Wasser über Meeresgrund; dabei bliebst Du stumm, hobst mich nicht auf, strichst mir nicht die feuchten Locken von der trüben Stirn, neigtest Dich nicht zum Kusse herab. Dafür umschlangst Du jede Statue, küßtest jedes Schwert, wenn es vom Blut erschlagener Krieger rauchte, warfst mir sogar mit einer eigenen Klugheit meine Sentimentalität vor. Ich verzweifelte über Deine Verblendung.
140 Inzwischen war das sechzehnte Jahrhundert eingetreten. Unser irrender Fuß trug uns auf die Höhen der Alpen. Dort zeigte sich die Dissonanz unserer Gemüther aufs Neue. In weiter Ferne hörten wir Glockenklang und leisen murmelnden Gesang.
„Die Herden sind’s, die der Hirt von den Triften zur Senne führt!“ bedeutete ich Dein unruhig forschendes Aufhorchen.
„Eine Quelle ist’s, oder ein Gießbach, der sich in’s Thal stürzt,“ sagt’ ich im bittenden Tone voller Hoffnung, Du würdest eine Schleife um Deinen Schäferhut binden, und mit mir in den Frieden der Ebene ziehen. Dir aber summt es ewig in den Ohren. Du liefest die schneeverhüllten Rücken des Gebirges auf und ab, holtest von tieferen Absprüngen Reiser und grünes Holz, und zündetest ein Feuer an, eine säulenhohe Flamme. Dann riefst Du, es gäbe schon wieder eine historische Erscheinung; über Sachsen sähest Du helle Streiflichter, heute siege die Vernunft und der Denkglaube, alle Glocken Europa’s feierten ihren Reformationstag. Als Du nun gar von Epochen und Perioden, von neuen Kirchen und priesterlichen Institutionen anfingst, da unterbrach ich Dich, Dir in Dein liebes, lichtes Auge sehend. Der Apfel dieses Auges war weit von seinem 141 Stamme gefallen. Du sahst mich auch gar nicht. Deine irren Blicke schweiften in der Ferne, und kaum magst Du die Worte vernommen haben, die ich im liebevollsten Tone zu Dir sprach.
„Unvergeßliche,“ sprach ich, „merken Sie denn nicht, es ist heute Sonntag. Die Liebe tönt so durch die Weite. Sehen Sie, Fräulein, das sind die Blumen, die ihre Häupter schütteln, Schneeglocken, Tulpen, Hyacinthen. Ist nicht in jedem Augenblicke auf der weiten Erde ein Simultangottesdienst? Ich frage Sie, bedarf es der ehernen Zungen, die hoch von verwitterten Holzthürmen, der Wohnung des Habichts und dem Sitze des Geiers reden? Ach, Verehrteste, wenn hier ein Aug’ in Thränen schwimmt, dort ein glücklicher Blick in das blaue Meer des Himmels taucht, wenn ein verirrter Wanderer wieder die geliebte Scholle der Heimath küßt, wenn durch Rosenhecken die Nachtigall ruft und das leise Geflüster zweier Liebenden lispelt, ja, meine Theure, wenn die Treue am Grabe ihrer Hoffnung Blumen pflanzt, das ist ein Gottesdienst, da die Erde die Kirche und Engel die Priester sind. Wissen Sie nun, warum es läutet und wie Stimmen der Seligen schallt?“
„Ach, Herr Hofrath,“ – sagtest Du damals zu mir – „wie gut Sie die Rolle eines Mädchens 142 spielen! Ich glaube fast, Sie setzten sich unter dieser großartigen Bergpredigt Gottes hin, und strickten Strümpfe! Kommen Sie, Verehrtester, bieten Sie mir Ihren Arm!“
Nun rissest Du mich fort über die Höhen des Jura, über die Ströme des Rhone, durch die Thäler der Provence, hinauf auf die Pyrenäen. Mit der Taube in gleichem Fluge, kühn wie die Gems stiegen wir in Iberiens Thäler hinab, Du wolltest jetzt den Sitz der noch immer tönenden Glocken ehren, und wieder einen Helden seines Jahrhunderts mitten unter den stolzen Trabanten und Monden seiner Herrschaft aufsuchen.
Aber die Scene veränderte sich. Wir sahen einen Bettler auf der Landstraße. Nackt und wahnsinnig warf er sich uns in den Weg. Was er meinem Ohr vertraute, wolltest Du Neugierige gern wissen. Du bebtest, als ich es nun war, der Deine Schritte beflügelte, die Ermattete anspornte. Auf meinen Schultern trug ich Dich in den Klostergarten beim Escorial.
Nun wußten wir, wo die Glocken hingen, die wir in Welschland schon hatten läuten hören. Nun sahen wir die schwarzverhüllten Priester, die in feierlichem Leichenzuge in das weite Thor der Kirche wallten. Du wußtest nun, wer in dem Sarge lag, wem die tausend Kerzen, die köstlichen 143 Weihrauchdüfte galten. Die Größe des Jahrhunderts wollte sehen, wie sie sich wohl im Tode ausnähme, und hielt darum ihre Pseudoexsequien.
Es war Nacht geworden. Die Sterne blieben hinter dem Himmel, der heut’ auch zur vorläufigen Probe seinen Trauerflor angelegt hatte, verborgen. Ich ließ Dich an den Stufen des Hochaltars neben dem offnen, leeren Sarge, ging auf den Kirchhof hinaus, und suchte in den Beinhäusern Surrogate zur Ironie der Weltgeschichte. Wie ein von wilden Afrikanern aufgepflanztes Schädelhaus kehrt’ ich zurück, warf mein anatomisches Museum neben Dich hin, daß die klappernden Gebeine Dich aus den Träumen über Jahrhundertshelden aufweckten. Mit fließendem Silber füllt’ ich die hohlen Schädel. Wie schön, wie ausstudirt verstanden sie den provisorischen Leichenzug nachzuäffen?
Jetzt glaubt’ ich meinen Zweck erreicht. Statt Stolz hattest Du Reue, für Großes Gräßliches gefunden. Du sahest, daß die glänzendsten Thaten dem, der sie vollbracht, nur ein drückendes Joch waren, daß selbst die höchstgestellten Geister das Bedürfniß fühlten, gegen die Masse sich zu vernichten, und in dieser Trost und Ruhe zu suchen. Ich war schon nahe daran zu erklären, daß unsere Reise nur eine Satyre, und ihre Beschreibung 144 ein Pasquill auf die Zukunft sei, wollte die furchtbare Antithese aufstellen, daß der Geist mit den Waffen Gottes für den Teufel, das Gemüth mit den Waffen des Teufels für Gott arbeite, da griff es Dich wieder mit tollem Entzücken an, und Du deutetest mit ernster Miene auf die dunkelrothe Gluth der über Corsika’s klippenreiches Gestade aufgehenden Sonne.
Schweigend bin ich den Weg gegangen, den Du mich führtest. Dieselben Pfade mußten es sein, die wir vor dreihundert Jahren betreten hatten. Das Mittelmeer schien weit über seine Ufer ausgetreten, und die Fläche, die wir durchwateten und durchschwammen, leuchtete purpurroth wie von unzählichen Glühwürmern. Man hätte glauben mögen, es wäre Blut. Auch sahen wir überall Freudenfeuer, Raketen in die Luft steigen. Siegeshymnen sang man auf allen Wegen. Deine Blicke schwangen sich auf wie Adlerfittiche. Du hörst von einem neuen Salz, das in Alessandria’s Thälern bei Marengo gesäet, Du willst nach dem ewigen Montmartre, dem einen Hügel statt der sieben. Die Kirche Notre Dame ist die neue Peterskirche, der Papst will einen Kaiser salben. Durch Bayonette und Grenadiere drängen wir uns durch. Zu einem Throne hinauf erheben sich in allmählicher Aufdachung dichtbesetzte Stufen. All 145 die stolzen Würdenträger der neuen Herrschaft, Männer, die nach Deinem damaligen Ausdrucke, nach Jahrhunderten suchten, deren Helden sie hätten sein können, standen um den kleinen Mann, der sich nun erhob und mit eigner Hand die Krone seinem lorbeergekränzten Haupte aufsetzte. Damals hab’ ich ihn in jener Stellung gezeichnet.
Ich hab’ es mir zum Gesetz gemacht, über diesen Mann nie die Wahrheit zu verschweigen, und das, was man seine Größe nennt, zu erheben, aber immer nur im einfachsten Gewande. So wie an ihm selbst der graue Oberrock sehr viel zu bedeuten hatte, so schildert ihn der am originellsten, der sich dabei des schlichtesten Ausdrucks bedient. Die gewöhnliche Exaltation seiner Bewunderer hat nicht mehr Werth, als die Tressen seiner Generale. Ich liebe meine Jugend mehr, als all die Ideen, die ich in ihr einst hassen konnte, und jetzt schätze. Ich bin so sehr Egoist, daß ich selbst meine Irrthümer höher achte, als die Wahrheit im Munde oder in der That eines Andern. Ich habe mich einst mit einem Dolche gegen jenen Mann ausgerüstet, und fand es damals nicht lächerlich; jetzt könnt’ ich darüber lachen, mag aber nicht, weil meine Handlungen der Heiligkeit meiner Person entsprechen müssen, diese mir aber über Alles geht. Schon darum möcht’ ich kein Napo-146leon sein, weil ich um keinen Preis einen Souslieutenant hätte abgeben mögen. Ich bewundere an den Titanen der Geschichte, wenn sie den Himmel stürmen; hasse sie aber, wenn sie größer sein wollen, als die Menschen, und so verliert auch ihr Unternehmen seinen Werth. Wär’ ich ein Schriftsteller, so würd’ ich mit meinem Napoleonshaß ordentlich kokettiren, so aber erinner’ ich Dich nur an jene wahren, aber glanzlosen Worte, die ich bei jener Krönung sprach: „der Mann da sucht ein Pferd, und reitet drauf.“
Du schienst darüber entrüstet, und gern ließ ich Dich unter den Generälen und Marschällen stehen, bei denen Du mit dem Wechselspiel Deiner Schönheit und Bewunderung für sie nur Glück machen konntest.
Seitdem sind wir lange getrennt gewesen. Jetzt, nun Du Alles durchgemacht, und der Zufall uns wieder zusammengeführt hat, willst Du eine andere Saite berühren, dieselbe, die ich bei unseren Wanderungen durch die Weltgeschichte vergebens klingen ließ. Jetzt beschwörst Du meinen damals verschmähten Glauben an die stille Heimlichkeit des Daseins, sprichst von Spaziergängen im Scheine der Abendsonne, willst mir zu Gefallen Blumen und Steine beleben, um mit ihnen Dich zu verständigen. Diese Täuschung ist um so 147 schmerzlicher, je näher Du jetzt dem Ziele zu stehen glaubtest. Unsere Ansichten divergiren noch immer.
Gemüth und Verstand theilen sich in Regimente der Welt. Beide Elemente ironisiren sich wechselseitig. Dasselbe Feuer, an dem sich die Unschuld ihre Suppe kocht, verzehrt als gierigleckende Flamme Städte und Wälder. Die andächtige Spannung der Gemüther, die Glaubensinnigkeit kindlicher Seelen stellt sich neben Dragonaden und Auto da fés im unzertrennlichsten Vereine. Die Menschen bilden sich ein, wenn es ihnen einmal warm und heiß in dem blauen Ringe unterm Auge wird, so müßte auch die große Schlange den Schwanz ihres weltgürtenden Ringes loslassen, und sich Alles auflösen und gestalten nach der flüchtigen Empfindung ihres Herzens. Dies germanische Princip der Geschichte haß’ ich, seit ich einen deutschen Kaufmannsdiener, der zehn Jahre in London gelebt hatte, und sechs neuere Sprachen verstand, auf dem Dampfboote zwischen Mainz und Cöln ein hundert und eilf Mal versichern hörte, nein, er besäße zu Diesem oder Jenem doch viel zu viel Gefühl! Ueber Thaten kennst Du längst meine Ansicht, aber sie können doch noch für meinen redlichen Willen sprechen, wenn eine böswillige Anklage diesen in Frage stellt. Wie aber meine Empfindungen? sie, die meist immer ver-148kannt werden, können sich nicht vertheidigen. Und doch will meine menschliche Natur auch in diesem Falle befriedigt sein. So muß ich entweder unsäglich unglücklich sein, oder unsäglich hassen, und Beides kann mir nicht erwünscht kommen. Darum halt’ ich mich unabhängig von meinem Herzen und fern von den Köpfen Anderer. Die beste Lebensregel gibt schon Horaz: Pflücke den Tag!
Wenn sich die Menschen für ein auserwähltes Geschlecht halten, so kann man den Gedanken erhebend nennen. Aber er ist nur ein Wahn, wenn man die Wege ansieht, auf denen sie zu jenem Stolze kommen. Auch mich entzückt es, wenn sie vorgeben, Hohes und Himmlisches begreifen, das Zarteste und Lieblichste empfinden zu können. Was kann schöner sein als Ehre, Vaterland, Tugend! Aber mische Dich des Sonntags unter die Spaziergänger vor dem Thore. Betrachte die Angst, mit der sie ihre Hörner am Kopfe, den langen Schweif hinten verrathen glauben. Zuweilen denken sie selbst nicht mehr daran, und fühlen sich dann durch die langgestreckten Formen ihres Schattens an die schmeichelhafte Gestalt ihres Körpers erinnert. Auf die Fähigkeit, zwei Schritte gehen zu können, thun sie sich etwas zu Gute. Ein Bettler mit eiternden Wunden streckt die dürre Hand aus, und verspricht für einen empfangenen 149 Heller ordentlich die Seligkeit des Himmels. Der Geber glaubt es auch, und recht im Gefühle seiner guten That ist er fast stolz darauf, das zukünftige Heil nicht ohne gerechte Ansprüche zu erlangen. Man hat einen Menschen aus dem Wasser gezogen, man hat einem Hängenslustigen den Strick abgeschnitten, man hat sich der Bürgermedaille verdient gemacht, in seinem Amt ergraut, wird man ein Jubelsenior, also muß der liebe Gott unbedingt sein Himmelreich öffnen, gerad’ als wenn Petrus nicht einmal seinen Schlüssel verdrehen oder verlieren, als wenn Gott nicht das Institut des Himmels gänzlich abschaffen könnte! Ich habe mir vorgenommen, ein Silhouetteur zu werden, und Reisen durch die Welt zu machen. Welche Wollust, wenn mir die Menschen sitzen, und ein Jeder für seine sechs Kreuzer auf drei Minuten sich einbildet, ein Mäcenas, ein Beförderer der Künste und Wissenschaften zu sein!
Zum Schluß noch die Frage, ob nicht der gräßlich-schönste Gedanke die Idee eines Kindes von etwa sechs Jahren ist, eines Kindes, das in diesem Alter schon toll ist?
150 Zuletzt grüße Dich noch der Engel Friedensgruß, Geliebte! Was ich hoffte, ist bald vollendet. Eine Brücke, fest wie Erz und Marmor, bau’ ich zwischen unsere Herzen. Die Geister der Liebe werden das Werk meiner Hände fördern. Aus Blumenduft und zarten Irisfarben sollen die Bogen gezogen sein.
Sonst bleib’ ich, wenn Du meine Heloise bist, immer Dein Abälard.
151 Vierzehnter Brief.#
Erinnerst Du Dich wohl noch einer Uebung, Theure, die ich einst eifrig mit Dir anstellte? Unbewußt kommst Du jetzt wieder darauf zurück, Du wirst Dich freuen, wenn ich Deine Gedanken bis auf jenen Quellpunkt der Freundschaft hinführe.
Eben so schön als wahr hast Du die dissonirenden Verhältnisse der Weltharmonie nach Deiner großartigen Kenntniß des Contrapunctes auseinandergesetzt. Selbst Beruhigung für die wechselnden Erscheinungen des Lebens muß eine Ansicht gewähren, die die Wahrheit alles Schönen und Edeln erst in dem Streite anmuthiger und mißfälliger Formen, der Liebe mit dem Hasse findet, die an einem Gott nichts Ehrfurcht- und Andachterweckendes findet, wenn er nicht ebenso einen Teufel zu 152 einem seiner Person freilich ausgeschiedenen, seiner Idee aber integrirenden Bestandtheile anerkennt.
Nun aber die Erinnerung. In jener Zeit, als die Liebe noch wie mit süßem Kindeslallen an der Wiege unserer Jugend stand, bracht’ ich Dir wohl öfter dichtbeschriebene Blätter, scheinbar in ungebundener Rede, die ich Dir zum Binden in gereimte Sträuße aufgab. Wie freuten wir uns, wenn Du bis auf Reim und Maßbewegung das in Prosa aufgelöste Original wiederherstelltest! Auf der lateinischen Schule hatt’ ich diese Kunst von einem Lehrer gelernt, der einem Schüler Apollo’s freilich wenig ähnlich sah.
Solche Turbatverse sind alle Dinge unserer irdischen Anschauung. Gott sitzt auf seinem Throne, und spielt auf der Harfe, deren Saiten Himmelssphären sind, die Harmonie der Welt. Jede Blume, der Krystall, ein leuchtender Edelstein sind die zerworfenen Glieder eines großen Gedichts. An sich nur einzelne Worte, ohne Zusammenhang, auch ohne Sinn und tonlos; wem es aber gelingt, ihre erste Fügung, wie sie der Dichter oben einst geordnet hat, wiederzufinden, an dessen Ohr mag es wohl wie himmlische Sphären klingen.
Du wirst mich fragen, ob der Dichter den Dichter, oder der Philosoph ihn besser verstünde? ob ein kindlich Gemüth in Einfalt mehr sähe, als 153 der Verstand der Verständigen? ob ein Mädchen, das sich eine Rose bricht, die Lieder, die in der göttlichen Blumensprache gedichtet sind, besser vernähme, als der Sänger eines westöstlichen Divans?
Die Stellung mancher Fragen deutet schon oft auf die kommende Antwort. Laß Dich aber dadurch nicht bestimmen, mein Urtheil schon für entschieden zu halten.
Den Begriff des Menschen hat man ausgekleidet bis auf die nackte, natürliche Unschuld. Die Menschen selbst bleiben dabei so verhüllt, wie sie es bisher waren. Wenn ich Gelüst in mir fühlte, auch meinerseits der Menschheit den Rock aufzuheben, so würd’ ich mich über mich selbst ärgern. In der That, schon aus Grundsätzen der Kunst, geht mir Nichts über den Reiz des Verhüllten, wenn sich zumal nasse Gazegewänder so recht schimmernd an die rosenfarbenen Glieder anschmiegen. In das Reich der Gedanken haben die Empfindungen unserer Dichter und besonders der dichtenden Philosophen eine solche aufgestreifte prüde Unschuld eingeführt, daß mir seitdem die ganze Welt nervenschwach und somnambül vorkommt. Ist es nicht lächerlich, zu modischen Cravatten, Frack und Manschetten vorn einen mächtigen Blumenstrauß zu stecken? Welche Inconsequenz, Niemand glaubt an den Teufel, und Alles ist Allen 154 voller Engel! Die alten Herren, die unsere deutsche Philosophie und Poesie gemacht haben, kann ich mir nie ohne Perrücken und Puder denken. Welch ein Anblick, wenn sie immer die Hand ans Herz legen, wenn sie bei jeder Blume auf ihre dicken, rothen Wangen Thränen rinnen lassen! Jakobi hat diesen Entzückungen durch seine Lehre von der Unmittelbarkeit eine höhere Weihe gegeben. Ich beiße mir an den hölzernen Definitionen einer Wolff’schen Metaphysik noch lieber die Zähne aus, als daß ich an jenes endlose Küssen gar meine Lippen verliere.
Du siehst nun wohl, daß ich den Stein der Weisen höher achte, als jeden Ritt ins romantische Land. Ich habe Hegels Tod am schmerzlichsten empfunden, und hoffe, wenn nicht sein Nachfolger, doch sein größter Verehrer zu sein.
Man will bei Euch die Statue der Minerva wieder in die öden Hallen Eurer Akademie einführen. Zu dieser Feierlichkeit hast Du mich eingeladen, ich werde nicht ausbleiben; denn die Formeln, mit der die verstoßene Tochter in ihr Erbe wird eingeführt werden, müssen ergötzlich sein. Wenn im Saale bei den Worten: und somit ist die philosophische Classe der Akademie wieder eröffnet! Jemand niest, so bin ich es.
155 Eure Akademiker glichen vor einiger Zeit jenem Manne, der, um den Feind nicht durch die Thür des Hauses eindringen zu lassen, lieber das ganze Haus abriß. Ein Narr zündete einen Wald an, um sich zwei Eier zu kochen; Jene gaben dazu das extreme Gegenbild. Man weiß, daß die beste Art, sich der Könige zu entledigen, die Abschaffung des Königthums ist, darum wollte man lieber die Philosophie aufheben, als einem Philosophen dieses oder jenes Namens seine Verehrung zuwenden. Zu Fichte sagte man einst: Theurer Fichte, nur noch zwei Stimmen, und Sie wären Einer der Unsrigen gewesen! Zu Hegel sagte man: Verehrter Herr Hegel, wir hätten’s uns für eine Ehre geschätzt – mais la philosophie n’existe plus. Jetzt ist nun dieser gestorben, oder wie F. Förster sich ausdrücken würde, er sitzet zur Rechten Gottes, was steht da noch zu fürchten? Der Convent decretirt das Dasein Gottes, die Philosophie ist wieder Facultät der Berliner Akademie, und das Zweigespann des preußischen Pascal und des preußisch-christlichen Sokrates ihre Heroen.
Du hegst die Besorgniß, alle Dinge im Himmel und in Preußen seien nun ausgedacht. Aber Hegels Einfluß war doch nur unwesentlich im Preußischen, der Organismus des Landes und der Regierung ist noch immer Fichtisch. Fichte hat eine 156 tiefere, mehr auf Grundlagen gebaute Stellung zum preußischen Staate gehabt. Hegel hat dem Gerüst zwar erst die Krone aufgesetzt, doch nach abgehaltener Baurede muß man sie wieder abnehmen und mit Schornsteinen ersetzen. In friedlichen Zeiten mag der Staat die Eitelkeit besitzen, sich sogar in einem philosophischen Systeme wissenschaftlich construirt zu sehen. Im Augenblick der Noth ruft man aber jene kräftigeren Naturen wieder auf, die mit Rath vorangehen, dann selbst Hand ans Werk legen, wenn der Feind vor den Thoren ist, Schanzen aufwerfen, und sich als Landsturm auf die Pike legen.
Fichte kann die Folgen nicht geahnt haben, die seine Bestrebungen für das Wohl des Staates, der ihm einst Schutz und Sicherheit gewährte, dort nach sich gezogen haben. Die schroffe, nüchterne Manier des Borussianismus ist die den allgemeinen deutschen Zwecken meist so feindselige Consequenz eines Systems, das sich an seinen Namen am passendsten anschließen läßt. Unter seinem leitenden Compasse hat man dort eine Welt entdeckt, die tiefer begründet sein will, als die gemeine Wirklichkeit, aber auch höher liegen soll, als die Gesetze der Vernunft. Ich will Dir die Beweise nicht schuldig bleiben.
157 Die Traumbilder schönerer, glücklicherer Zeiten, die Hoffnungen für Menschenwohl und Völkerglück spiegeln sich nie reiner, als in den klaren, unverdorbenen Gemüthern der Jugend. Welcher für das hohe Ideal der Menschheit Begeisterte hätte seine Lehren und Ermahnungen den schwachen, gefangennehmenden Vorurtheilen des Alters gepredigt? Von Lykurg bis Pestalozzi ließen sie Alle die Kinder zu sich kommen, denen die Verheißung des Himmelreiches schon auf Erden gewiß schien. Als Erzieher lernt auch der ärgste Pedant schwärmen. Man hat oft solche Bildner wie Kirchenräuber betrachtet, die aus den jugendlichen Heiligthümern durch ihr methodisches Einprägen und Eindrücken die schönsten Gefäße, Natürlichkeit, ungekünstelte Empfindung stehlen, und oft mit Recht. Aber Fichte suchte der jugendlichen Seele auch das Treiben der äußern Welt verständlich zu machen, und diese Absicht rechtfertigt ihn, wenn aus den kleinen Stämmen der großen preußischen Baumschule freilich nur die Enthusiasten des preußischen Cocardennationalismus geworden sind. Konnten die Anhänger seines Systems ahnen, daß die Zeiten und Interessen der Befreiungskriege von den Forderungen des Zeitgeistes funfzehn Jahre später so sehr verschieden sein würden? Der Grundsatz der öffentlichen Erziehung bleibt richtig, nur kann 158 die Thatsache jenes preußischen Radicalübels dadurch leider nicht ungeschehen gemacht werden.
Du kennst den Schaden, aber es ist gut, sich ihn recht deutlich zu machen. Der öffentliche Geist in Preußen bricht sich in drei Fulgurationen: Die Beamten oder die Altpreußen, die Geistreichen oder die Cavaliere und Liebhaber des preußischen Staates und endlich die sogenannten preußischen Liberalen. Der Schlüssel dieses harmonischen Dreiklangs ist die Erziehung, wie sie war und noch ist. Die erste Classe bildet sich durch die vaterländischen Erinnerungen, sie ist die solideste Grundlage des preußischen Systems; fast anziehend, wenn man sie in ihrer Seligkeit gewähren läßt; unerträglich, wenn sie in einen Kampf mit fremden Ansichten geräth. Das Herz dieser Patrioten schlägt für Friedrich Wilhelm so rein, wie es nur eine Braut verlangen könnte. Wenn einem Gliede der königlichen Familie die Nase blutet oder ein Ohr saust, so sind sie traurig, und sehen sich einander bedenklich an. Ließe sich ein Prinz eine Gemahlin aus dem Reiche der Irokesen kommen, die Patrioten kämen zu keinem Gastmahle zusammen, wo nicht der indianischen, schwiegerväterlichen Majestät ein entzücktes Hoch gebracht würde. Es ist liebenswürdig, man möchte Thränen vergießen. Die Schulen erhalten diesen Sinn, vaterländische Er-159innerungsfeste beleben ihn, die Frauen machen ihn poetisch. Wir haben hier ein Gedicht, ein Epos der Ueberzeugung. Welche Stellung dazu Fichte einnimmt, könnt’ ich aus meinem eignen Leben beweisen. Meine erste Jugend fällt in jene Zeit, wo die preußische Regierung so sehr Kind wurde, sich vor Kindern zu fürchten. Wenn wir einst auf dem Exercierplatze bei Berlin vor Hoheiten und Majestäten Uhren und dergleichen Habseligkeiten von weit über hundert Fuß hohen geschälten Fichten herunterbrachten, wie konnten wir da gefährlich werden? Es ist wahr, wir glaubten an ein freies, unabhängiges Leben, aber die Jugend ist nie folgsamer, als wenn sie unter dem Schein vollkommener Willensfreiheit erzogen wird. Ich kenn’ einen jungen Seiltänzer, der sein Gewerbe längst verflucht hat und vergebens den Schutz der Obrigkeit gegen die Tyrannei seines zwingenden Vaters nachsucht, aber er ist der beste Freund seines Despoten und seines halsgefährlichen Gewerbes, wenn ihm der rauschende Beifall einer versammelten Menge gezollt wird. Es ist noch mehr wahr, wir traten in die Burschenschaft, substituirten in unsern Liedern statt Landesvater Vaterland, wir declamirten viel vom Nibelungenhorde, der im Rhein läge, von der deutschen Kaiserkrone, aber wer unter uns hätte sie nicht Friedrich Wilhelm dem Ge-160rechten zukommen lassen? Es ist wahr, wir ließen uns einen längern Bart stehen, als der militärisch gut gethan wurde, war das aber ein Grund, die angeblich hölzernen Urquellen dieser Begeisterung abzubrechen, die sandigen Laufgräben in der Hasenhaide zu verschütten, jenen herrlichen Irrgarten ebenda zu zertreten? Die Freiwilligen, die Lützow’schen, die Turnenthusiasten sind Preußens festeste Grundlage; konnte irgend ein anderes deutsches Territorium ihrer Begeisterung größeren Spielraum geben? Wenn so ein purificirter preußischer Demagog es bis zu einem Oberlehrer etwa in Märkisch Friedland gebracht hat, so schreibt er als Ritter des eisernen Kreuzes noch nach den Julitagen ein kleines Gemälde der großen Völkerschlacht bei Leipzig, als Zeitgemäßestes. Ein Arndt, der den Franzosen vorwerfen kann, daß sie nicht wie wir germanischen Blutes sind, ist in den Burschenschaftstrümmern der preußischen Universitäten noch immer der Prophet und Gesalbte. So sehr ich Dich, meine Theure, als Ritterin des Louisenordens verehre, und die Nadelstiche segne, mit denen Du den erblindeten preußischen Kriegern das himmlische Auge der Wehmuth und des gerührten Dankes öffnest, so hat es doch immer Händel gegeben, wenn meine Collegen nicht nur mit 13 und 14, sondern sogar mit Anno 6 anfingen, und von 161 Louisa, Thusnelda’s Kinde und der einsam blühenden Rose sangen. Also das Preußenthum kann gar nicht untergehen, denn die Sentimentalität geht nie aus. Nein, auch das ist nicht Grund; die Regierung dürfte nur die Empfindungen des Herzens verbieten, sie würden dennoch ein Organ finden, mittelst dessen sie ihre Gesinnungen an den Tag legten. Es geht in Preußen, wie in einem alten Mährchen, wo die Feinde des tugendhaften Sultans, selbst wenn sie ihn schmähten, verdammt waren, nur sein Lob auszusprechen. Und wenn ich nun, edler Fichte, deinen verklärten Geist anrufe, und meinen Zeigefinger freundlich drohend gegen deinen Schatten erhebe, so hörst du von mir lieber, daß du der Vater dieser Dinge bist, als von der Mainzer Centralcommission, daß du es nicht bist!
Die zweite Classe sind die königlich preußischen Staatsnarren, die in Preußen, Gott weiß, was, verwirklicht sehen. Den Kennern der deutschen Literatur kann es nicht fremd sein, daß der Fichteschen Lebensansicht die Steffens’sche sich gegenüberstellt. Sollte Steffens wirklich den Hegelschen Lehrstuhl erhalten, so ist diese zweite Classe nach einer gewissen historischen Typik sogar mathematisch richtig bewiesen. Die tieferen in der Burschenschaft genährten Ideen über Volksthümlichkeit, 162 Einfluß der Religion auf die Individualität der Völker, über die Nothwendigkeit gewisser theokratischer Lebensformen, gehören hierher. Du weißt, ich war einmal ein leidenschaftlicher Verehrer dieser Ansichten. Du tolles, unruhiges Weib, nanntest mich damals einen Quietisten, und wolltest mich stricken lehren. Auf einer Reise wollt’ ich Dir die Beweise vorbringen. Wir durchstrichen die deutschen Gauen, gingen immer nur Flußgebieten und Bergrücken nach, suchten und forschten nach den natürlichen Gränzen der einzelnen deutschen Staaten. In den tiefsten Gegenden lauschten wir, ob wir nicht wo die Quellen der sogenannten alten Naturempfindung sprudeln hörten. Springruthen legten wir des Tages wohl zu hundert Malen an, ob uns nicht wo die sogenannten historischen Bedingungen wie Erz und Silber entgegenblinkten, aber die Brüste der Mutter Natur waren schlaff und ausgeleert. Mitten unter duftigen Rebenhügeln, unter winkenden, dunkelblauen Trauben lagen ihre Söhne. Es ist wahr, die Glocken läuteten zur Kirche, es war ein schöner Sonntagsnachmittag, sie hielten alte und neue, Paul Gerhard’sche und Witschel’sche Gesangbücher unterm Arm, aber, wie in der norwegischen Heimath unseres Ideenmentors, waren sie berauscht von einem Tranke, dessen Namen ich in Deiner 163 Gegenwart vergebens suche. Himmel, damals sprang mir Etwas im Kopfe über, und seither waren wir geschworne Republicaner.
Die Mathematiker mühen sich mit der Quadratur des Cirkels ab, jene sublimen Theoretiker mit der Centralisation eines Vierecks. Sie suchen den Mittelpunkt des preußischen Staates, sie glauben ihn in Diesem oder Jenem gefunden zu haben. Der Kampf des Mechanismus und Organismus in der Politik ist ihnen für Preußen durch den Sieg des letztern entschieden. Wir wollen abwarten, wie sich ihre Illusionen aufdecken, wie die nackte Wahrheit einst sprechen wird.
Der preußische Liberalismus wird von Raumer repräsentirt und Hegel ist ihm sehr verwandt. Man liest mit Theilnahme die fremden Zeitungen, und wagt Einiges für Preußen zu hoffen. Man hört nicht ungern die Vorlesungen des Professors Gans und liest mit Vergnügen Börne’s und Heine’s Schriften. Die Fashionables von Berlin lassen sich heimlich Maltitzens Pfefferkörner zusenden, auch spricht man hier und da noch ohne entschiedenes Urtheil, von den neuerdings erschienenen Briefen eines Narren an eine Närrin, die ich Dir beiläufig empfehle. Nur wird an allen diesen Richtungen eines freiern Geistes nicht der Inhalt, sondern nur die Form beachtenswerth gefunden; 164 mißfällt die letztere, so ist jener völlig verloren, statt daß umgekehrt die Wahrheit die Schwäche ihres Organs entschuldigen sollte. Zu den preußischen Liberalen rechnet man Juden, als äußerste Linke, den Handelsstand als Centrum, die gemäßigtsten sind junge Beamte, Juristen und einige vom Militair. Hegel gehört in diese Kategorie; nicht so sehr durch sich selbst, als durch seine Schüler. Obschon Raumer von ihm ziemlich entfernt stand, so kann man doch sagen, daß Hegel die Doctrin des preußischen Liberalismus mit Ueberzeugung in seiner Art a priori construirte, Raumer übersetzt sie ins Altpreußische, Gans ins Französische. Dem Letztern magst Du vorläufig ankündigen, das ausländische Deutschland würd’ an ihn eine Adresse richten, und sich über seine Stellung zu den politischen Ansichten seines Meisters eine Erklärung ausbitten. Nicht nur das Vaterland, sondern auch das Publicum hat ein Recht dazu.
Wie ich aber heut nur zu den Philosophen komme! Die Philosophie wird nicht aufkommen, wenn nicht die Restauration wieder eintritt; die Restauration tritt aber nicht ein, und sollten wir leeres Papier statt Journale verkaufen. Käm’ es aber doch noch zu einem Flor der deutschen Philosophie, so wollt’ ich den Hegelianern in die Flanken fallen, aber nur zum Spaß. Die Hegelschen 165 Schüler hast Du sehr gut mit Instrumenten verglichen, die nur auf eine bestimmte Anzahl Musikstücke gesetzt sind. Von der Geschichte der Philosophie wissen sie nicht mehr, als ihres Meisters drei Stellungen zur Objectivität, die Philosopheme, die wir Beide schon vor Jahrtausenden lehrten, kennen sie gar nicht.
Die harte Nuß des Nachfolgers ist noch immer nicht geknackt. Sollten denn die ständischen Zuhörer aus Nro. 8, Herrn Wilhelm Beer an der Spitze, noch nicht reif sein? Wie ist’s mit Herrn von Henning, Hegels von Staatswegen berufenem und verordnetem Hermeneuten und Dolmetscher, zugleich auch seiner militärischen Sauvegarde erstem Flügelmann? Hat Herr Michelet mit seiner demonstrirenden linken Faust sich noch nicht Nachdruck genug gegeben? O, bitte, verschweig’ mir Nichts!
Um aber von Etwas Anderem zu sprechen, Du willst Lieder herausgeben, Wanderlieder, unter dem Titel einer fahrenden Jungfer. Nur eile damit, ehe so etwas aus der Mode kommt, und recht persönlich, rath’ ich Dir!
Und nun seh’ ich, ist auf diesem weißen Bogen schon wieder die Nacht mit ihren schwarzdintenen Rabenfedern gezogen. Der Wächter ruft auf der Zinne. Die Stunde des Scheidens hat 166 zum Schlagen schon angerückt. Noch einmal, Geliebte, lüfte Deinen Schleier! Hörst Du, da oben auf dem Balcone! Du schönster Stern der Nacht, wann wirst Du mir wieder aufgehen? Fahre wohl! Der Kalender unserer Herzen wird uns Kunde geben, wann sich unsere Bahnen wieder durchkreuzen. Fahre wohl!
167 Funfzehnter Brief.#
Schon an die Herausgabe des Geistes Deiner sämmtlichen Werke denkst Du, und hast diese selbst noch nicht geschrieben. Wenn es Dir nur um jene Quintessenz zu thun ist, so brauchst Du ja diese nicht zu verfassen, viel weniger sie zu veröffentlichen. Du vergissest, Liebe, daß man den Duft des Samenstaubes ohne die bergende Hülle der Blumenblätter nicht geben kann.
Diese Deine Absicht bietet mir sechs Haken dar, woran ich einige moralische Redensarten, eine Verwunderung, eine Ermahnung, zwei Rührungen, eine Invective und eine Satyre, vielleicht auf die Männer, vielleicht auch auf die Frauen, aufhenke.
Mit Deinem Geiste willst Du ein ruhmvolles Muster literarischer Bescheidenheit geben; weißt 168 Du aber auch, daß wenn Du die Menschen ehren willst, sie Dich für sonderbar halten werden? Die Gewöhnlichen lassen sich nur nach einer Durchschnittsrechnung behandeln, sie können zwar Stolz nicht, aber auch Bescheidenheit nicht ertragen. Die Großmuth ist ihnen jenes sanfte Joch; denn der großmüthige Sieger ist immer so edel, den Besiegten seine Unterwerfung nicht fühlen zu lassen! Lern’ hieraus noch einige praktische Regeln!
Unter allen Blößen, die ich geben könnte, wäre die größte, sie einzugestehen. Du hältst die Aufrichtigkeit für die schönste Tugend, aber die Tugend ist nur da, um von Schelmen benutzt zu werden. Ich habe lieber, daß mich die Menschen mit ihren Vorurtheilen verdammen, als daß sie mich loben und betrügen. Schier Dich um nichts, Beste, tritt handfester auf, nimm kein Blatt vor den Mund, wirf mit Grobheiten um Dich. Sie küssen Dir die Hand, wenn sie von Ohrfeigen ermüdet ist. Darum gib keinen Geist aus Deinen Schriften! Wer dankt Dir die Mühe, die Du auf das Zurückbehaltene verwandt hast? sie werden selbst Deinen redlichen Willen, noch mehr die Mühe des Sichtens und Ausscheidens verkennen.
Mit Deinen noch nicht geschriebenen Werken kommst Du mir vor, wie Adams Lende und in ihr die Präexistenz des allgemeinen Menschenge-169schlechts. Der Gedanke ist nicht lächerlich, sondern grauenhaft. Vor den geheimen Werkstätten noch nicht ausgeschriebener Autorenköpfe fürcht’ ich mich fast wie vor dem sonderbaren Rollen und Schnurren in Katzenleibern. Ich könnte mich zu Tod ängstigen, wenn Dir einmal so ein Buch, wie Werthers Leiden, aus dem Kopfe flöge! Thu’ mir nur den Gefallen, und bestelle mich nicht zu Deiner Hebamme! Als Priester, der dem Kinde die Taufe gibt, d. h. als Kritiker bin ich zu Deinem Dienste bereit.
Nun aber ein Vorwurf, den ich besser unten zu mildern verspreche. Ich theile allerdings mit vielen meiner Zeitgenossen die Abneigung gegen schreibende Damen. Es ist das nicht Neid, nicht Anhänglichkeit an alten Castengeist und ständische Vorurtheile, Du kennst meine Vorliebe für das schöne Geschlecht als die Quelle meines Unglücks; doch kann ich dafür, wenn ich die Jungfrau von Orleans nicht gern sehe? Panzer und Schwert lieb’ ich an Weibern nicht, schon weil ich dabei mich erinnern muß, wie der Mann Beides so oft nicht zu tragen versteht. Auch glaub’ ich es wirklich nicht, daß die Männer ohne die Frauen Alles, diese ohne jene nur sehr wenig sind, darum möcht’ ich aber auch Deine Schwestern nie an Stellen sehen, wo ich immer Männer zu sehen gewohnt 170 bin. Zum Empfangen, nicht zum Schaffen sind die Weiber geboren.
Auf meinen Reisen durch Deutschland hatt’ ich’s mir zum festen Ziele gesetzt, keine Stadt vorbeizulassen, die etwa eine schriftstellernde Damenfeder aufzuweisen hätte. Ich hatt’ es mir vorgenommen, solchen Autricen eclatante Sottisen zu sagen, und ich muß es gestehen, auf höchst feine und malitiöse Art hab’ ich hier und da meinen Zweck erreicht. Aber warum soll ich’s verschweigen? Vielleicht gereicht es Euch Weibern zur Ehre. Bei den Meisten, die ich aufsuchte, hab’ ich heiße Thränen vergießen müssen. Alte, zitternde Mütterchen traf ich an, die in Kummer ihr karg zugemessenes Brod verzehrten. Außerdem hatten Viele noch die Bürde eines natürlichen Buckels, sie waren blind oder sonst gebrechlich. Zwei Thaler gäb’ ihr der Rabenbuchhändler für den Druckbogen, klagte mir eine kleine Person, bei deren sanfthinschmelzenden Namen ich sonst bis an die höheren und höchsten Lichtregionen zu schwärmen pflegte. Dabei müsse sie noch die Demüthigung erfahren, mit anzusehen, wie jener Mann ordentlich im Verborgenen dreimal das Kreuz schlage, wenn sie die steile Treppe hinaufgekrochen sei, und ihren Pompadour voll neuer Druckbescherung auszukramen beginne.
171 Gewiß, mein verehrter Menzel, Du solltest die stockfleck- und thränenfeuchten Strohsäcke nicht vergessen, wenn Du von unsern schriftstellernden Damen so spricht, als säßen sie mit ihrer Begeisterung in Gartenlauben unter seidenen und goldgestickten Vorhängen; als ließen sie sich jeden Morgen von ihren Kammermädchen die schaffende goldene Feder auf Sammetkissen in Prozession überreichen; als ruhete eine Welt von Schooßhunden auf gepolsterten Sesseln zur Erregung der Sinnlichkeit um sie her. Die Wenigsten unter ihnen haben je einen Kronenleuchter im glänzenden Salon brennen sehen. Viele würden auf dem geglätteten Fußgetäfel ausgleiten, schon weil es ihren verschobenen Gestalten an allem Gleichgewicht und Schwerpunkt ermangelt. Ich kenne eine berühmte Schriftstellerin, in deren Nähe Du immer von Thee sprichst, die aber auch dem Kaffee entsagt hat, um Dein Literaturblatt lesen zu können. Weil es ihr oft am Gelde zu Papier fehlt, so beschreibt sie die weißen Ränder ihres planirten Exemplars mit neuen Erfindungen, indem ihr die heißen, schweren Thränentropfen auf die schneidenden Verurtheilungen ihrer frühern poetischen Gestalten fallen. Einst sah ich sie das schmerzenreiche Wort: Entsagung gerade in mitten in die Lorbeervignette 172 einer Nummer mit ihren dürren Knöcheln malen; es ging mir wie schwarzer Staar über die Augen.
Wenn man die Beschäftigung mit der edelsten Kunst als eine Art Verlobung und Ehebündniß ansehen muß, so sollte man billigerweise für eine literarische Wittwenkasse sorgen. Man sollt’ es sich recht Herzenssache sein lassen, die armen Hungerleider, wenn sie alt und schwach sind, zu ihrem und der Literatur Besten zu verpflegen, die Nackten zu kleiden und die Hungrigen zu speisen; nur müßten die Buchhändler dabei Nichts zu schaffen haben. Manche Bettler haben die Gewohnheit, erst das Vaterunser und Luthers ganzen kleinen Katechismus herzubeten, und dann um ein Almosen zu bitten, man gebe den invaliden Autoren das ersehnte Scherflein früher, und sie werden keine schlechten Schriften verfassen. So würd’ ich mich über diese Unterstützungen noch weiter expectoriren, wenn mir nicht noch zur rechten Stunde einfiele, daß mein Raisonnement wirklich so klingt, als hätt’ ich über Millionen zu commandiren, was doch – weiß Gott – nicht der Fall ist.
Du siehst nun, Geliebte, wie ich ungefähr über Deine bisherigen schriftstellerischen Leistungen urtheile. Ich wünschte Dir Deinen verstellten, männlichen Ton, den angeklebten Bart, das ganze masculinische Wesen von Herzen zu verleiden. Wie 173 glücklich könntest Du mich machen, wenn Du Dir wieder Deine alten Kleider anzögest, die niedliche Haube, die zu Deiner geordneten Lockenunordnung so zierlich paßte, aufsetztest, und die verführerische Schürze mit den zwei Taschen und hundert Falten vorbändest! Verstehe mich recht! Ich verlange nicht, daß die Küche Dein Tempel sein soll, Du magst die Feder spitzen und die kritische Geißel schwingen, nur aber vom weiblichen Standpunkte aus. Das ist eben die versprochene Milderung jenes vorstehenden Vorwurfes. Du kannst die Fülle Deiner Gedanken zeigen, nur muß man es ihnen ansehen, daß sie unter einer Haube, nicht unter einem Hute ausgeheckt sind. Schreibe nicht mit Männern für Frauen, sondern mit den Frauen für die Männer. Ich will Dir meine Ansichten der Kritik von ihrer weiblichen Seite nicht verschweigen, und dabei manche noch nie ausgesprochene Gegenstände zur Sprache bringen.
Ich werfe mich zum wärmsten Vertheidiger Deines Geschlechts auf. Ich will die Blößen eines Systems aufdecken, das an der frechen Stirn der Einen so viel Rückhalt gefunden hat, als an der nachgiebigen Schwäche der Andern. Die Bestimmumgen der Vernunft reichen weiter, als die der Sitte. Die Macht der Gewohnheit ist freilich dann stark, wenn man ihr huldigt, aber nie schwä-174cher, als wenn man ihr zu trotzen wagt. Ich sehe die eine Hälfte Deiner Schwestern unter Verhältnissen leben, die keinen Unterschied der Bildung aufkommen lassen, da die Nothwendigkeit dieser selbst geläugnet wird. Die zweite hat den Muth, sich in eine andere Carriere zu werfen, leider ist die aber auf jedem Schritt von dem Blendwerke falscher Grundansicht beleuchtet. Das größte Hinderniß zur Besserung dieses Zustandes ist der Irrthum, daß die Frauen nicht als Corporation, sondern nur als Individuen angesehen werden. Man hat gefragt, ob die Frauen Menschen sind, diese Frage hat man jetzt modificirt, daß sie bei einer Unverheiratheten in der That schwer zu beantworten sei. Niemand verfolgt diese Ansicht mehr, als die Frauen selbst. Sie wüthen gegen einandere, Neid und Eifersucht lassen sie nicht zu dem Gedanken kommen, daß sie nach dem Muster der Männer auch eine Gemeinde, eine Union bilden könnten.
Man verachtet die Weiber, wenn sie ihre Sphären überschreiten, und will in ihnen doch mehr sehen, als willenlose Geschöpfe. Man führt sie zu einer Quelle, und heißt sie dort dasselbe Wasser der geistigen Bildung dieser Zeit trinken, das nachher als stagnant und trüb verschrien wird. Eure Weiber sollen Euch in den Himmel führen, und Ihr lehrtet sie nur die Hölle kennen!
175 Sieh, Geliebte, mit dem Gewichte solcher Redensarten tret’ ich als Dein Anwalt auf. Ich werde die Lage dieses Verhältnisses um so weniger verschleiern, je glücklichere Mittel der Abhülfe ich gefunden habe. Hier kommt es eben darauf an, jene Grundsätze zu vertheidigen, die das System der weiblichen Kritik ausmachen. Suche mit Umsicht und Klarheit die Erscheinungen unserer Literatur nach dem Einflusse zu würdigen, den sie auf das weibliche Herz, dessen tiefste und geheimste Falten ausüben. Beweise mit standhafter Unerschrockenheit, welch ungeheuere Fülle des Unrechts und geistiger Grausamkeit in der Annihilirung des halben Menschengeschlechts enthalten ist. Man denkt sich die Menschheit in der Form einer Halbkugel und als ihre Bestandtheile nur die Glieder des Männerbundes. Behalte dies Bild bei, und stelle nun dreist Deine Rede so: Sollten wir Weiber auch nur jenen schmeichelhaften Spiegel abgeben, in dem Ihr die zweite Hälfte, also Euch wieder, und dann recht das Ideal aller Vollkommenheit, sehen möget, so hütet Euch zu Eurem eignen Besten, die Helle und Klarheit dieses Spiegels mit Eurem Nebelhauche zu trüben! Jede Eurer Handlungen sei nur dadurch vollendet und gerundet, daß sie auch das Stillleben weiblicher Seelen mit angemessener Wärme und Lebenskraft erfülle.
176 Du kannst Dich bei dieser Apostrophe eines Gleichnisses bedienen, das ich gestern aus dem Theater heimgebracht habe.
Heinrich IV. feiert mit seinen Kindern in Fontainebleau das Bohnenfest. (Das Polenfest? verwunderte sich mein Nachbar.) Ein Kuchen wird in fünf Theile zerschnitten. Vier Theilhaber sind zugegen, und das fünfte Stück wird von der kleinsten Königl. Hoheit für die Armen bestimmt. Man sieht die Satyre auf die Gouvernantenmoral prinzlicher Gemüther; was sollen die Armen mit drei Löffeln Reispudding? Aber in derselben Weise – so drück’ Dich nur aus – müßten auch die Männer keinen Napfkuchen zerschneiden, ohne wenigstens einen zwiefachen Zehnten an die weibliche hohe Priesterschaft abzutragen.
Welche Dinge betreibt Ihr jetzt! – fährst Du fort – Wir sehen Euch die Höhen besteigen, Feuerzeichen anzünden, die Schwerter emporhalten, die Schilde aneinander schlagen, in Helmen gräßliche Töne erzeugen. Dann kehrt Ihr heim, berauscht von sonderbaren Entzückungen. Gegen uns seid Ihr roh und ungeschlacht, verlangt Dinge, die wir nicht besitzen, weil Ihr sie uns nicht gegeben habt, oder andere, die wir uns anzueignen keinen Trieb fühlen. Es ist entsetzlich, wohin Euch Euer verwegener Sinn führt. Ihr 177 fordert Könige heraus, brecht und rüttelt heimlich an den Thronen, untergrabt die ehrwürdigsten Säulen ewig denkwürdiger Staatsgebäude. O, Ihr irrt Euch, wenn Ihr glaubt, wir begriffen den Sinn jener Toaste nicht, wenn Ihr Euch unter einander zu Gaste ladet. Jedes Bankett fangt Ihr mit dem constitutionellen Königthum an, und zum Schluß ruft Ihr die Republik aus. Was uns Weibern zuträglicher scheint, darnach fragt Niemand. Vergessen wird die Bedeutung des Weibes, wie sie durch das Christenthum in die Welt eingeführt worden ist. Vergessen wird, daß Maria es gewesen, die zuerst den Auferstandenen mit ihrem friedenvollen Rabbuni begrüßte, daß in den Zeiten, wo in hiesigen Gegenden das Mittelalter herrschte, Ritter die Farben unserer Wahl getragen haben. Man vergißt, daß nur die Monarchie die Sittlichkeit der höhern Gattung, vor Allem die Würde des Weibes aufrecht hält. Verschleierten Angesichts sollten wir geduldig die Hintertreppen der in althellenischer Republikenzeit verlassenen Gynäceen wieder hinaufsteigen? Es ist entsetzlich, welche Beschuldigungen Ihr auf uns wälzt! Wir sollen die Gräuel der französischen Revolution veranlaßt haben. Wir hätten nicht unterlassen können, Häuser und Honneurs zu machen. Aller Warnung früherer Beispiele ungeachtet hätten wir Besitz genommen 178 von den prächtigen Meubles und Pallästen, deren Eigenthümerinnen eben zum Richtplatze geführt wären. Vor weiblicher Eitelkeit, vor ewiger Hinneigung zum Glanze der Monarchie hätte so des Mordens kein Ende werden können. Wie grausam, uns Verbrechen anzurechnen, deren Urheber unsere Männer waren, unsere Absicht zu verkennen, die Nichts sehnlicher wünschte, als den Frieden! Wir wollten die steinernen Stufen und Fußböden von den schauderhaften Blutflecken säubern, wollten durch die zarten Verkettungen des häuslichen Lebens Euren wilden, entmenschten Sinn fesseln und zähmen. So wie Ihr überhaupt gewohnt seid, Alles nur in seiner nächsten Aeußerung zu erfassen, so habt Ihr auch die Tiefe des weiblichen Charakters immer verkannt. Wenn wir auch nicht verlangen, Ihr solltet untertauchen, und Perlen aus uns fischen, so habt Ihr doch jene Tiefe nicht einmal mit einem Senkblei untersucht. Und dennoch wollt Ihr die Zuchtmeister unseres Seelenlebens werden? Nein, mein Entschluß steht fest, dieser Vorsatz ist unerschütterlich. Ich sollte doch meinen, wir hätten gewisse Mittel, Euch zu kirren. Die Frauen müssen für die Frauen wirken. Jene verderbliche Lehre, daß sich das Weib an den Mann als an seinen erst Lebenshaltung gewährenden Stamm anschließen soll, muß zuerst erschüt-179tert werden. Man zeige die Sache von ihrer moralischen Seite! und ich selbst mit der zarten Weiblichkeit meiner Empfindungen werfe mich an die Spitze, den Krieg unter der einstweiligen Form eines Journals eröffnend. Die Männer können es lesen, ja sie sollen es lesen, um die Reife unseres Geistes zu bewundern: aber ihre Ansprüche werden nicht berücksichtigt. Um auch die noch unreifere Classe, die mit schwacher Bildung gewöhnlich das meiste Geld verbindet, für uns zu gewinnen, sollen neben jener speculativen Frauenwissenschaft auch die Gegenstände der Haushaltung, die Fächer der Speisekammer nicht unberührt bleiben. An prägnanter Bezeichnung der Bestimmung möchte der Titel einer allgemeinen Literatur- und Küchenzeitung von und für Frauen seines Gleichen suchen. Wahrlich! ich werde mich meiner Haubenspitzen würdig beweisen. Ich fühle eine Unendlichkeit der glücklichsten Folgen schon mit prophetischer Ahnung. Wir werden stark sein, so lange wir einig bleiben. Wenn man fürchtet, eine jüngere Generation möchte die Triebe ihrer Natur nicht besiegen können, die Lüsternheit dürfte sie zu schmählichem Verrath an unserer heiligen Sache bewegen, so daß sie mit unsern Gegnern wieder in Gemeinschaft träte, so ist diese Furcht ungegründet. Die beste Art Verrath zu hintertreiben ist die, Leute, die Verräther 180 werden könnten, gar nicht aufkommen zu lassen. Schon jetzt werden wir es mit unsern Männern so einzurichten wissen, daß eine junge Generation in funfzehn Jahren gar nicht vorhanden sein wird.
Und nun, Geliebter, muß ich auch von Dir wehmüthigen Abschied nehmen. Zwar weiß ich, Deine weiche Seele steht den zarten Eindrücken der Weiblichkeit mehr offen, als irgend ein männliches Gemüth des In- oder Auslandes. Aber die unvermischte Reine des Princips, die gänzliche Aufopferung jedes Interesses zwingt mich, Dir Lebewohl zu sagen. Wie in einem alten Liede, wo der Schwieger seinem geliebten Eidam gegenübertreten und den Willen seines Herrn ausfechten muß, so reich’ ich auch Dir noch einmal schmerzbewegt die sonst so treue Hand. Daß Du mir treu bleiben wirst, weiß ich aus zwei Gründen: einmal, weil in funfzehn Jahren die Minne nicht mehr à l’ordre du jour sein wird, und zweitens wirst Du es auch so sein. Hätt’ ich es je ahnen können, daß sich eines solchen Streites wegen noch meine Augen in Wehmuth hüllen würden! Welch’ eine Zeit!
Lebe wohl, Du Guter, Unvergessener!
181 Sechzehnter Brief.#
Gestern war doch der erste März, und Du bist nicht zu mir gekommen. Nun hab’ ich den Geburtstag der badischen Preßfreiheit allein gefeiert. Du denkst wohl mit Kuchen und einem Glase Wein? o, das würde sich ja wie Satyre anhören! Nein, auf eine ungeheure Oblate hab’ ich mir die erste Nummer des Freisinnigen abdrucken lassen. Einen von seinen vielen Ehrenpokalen hat mir Herr v. Rotteck abgetreten, und nun wollt’ ich mit Dir in stiller Feier und Andacht das Abendmahl der Liebe und Treue begehen. Aber Du kamst nicht, und hast mich mit meinen Thränen allein gelassen.
Jetzt muß ich mich schon wieder über Dich entzücken. Wie Du das nur Alles so anfängst! 182 Wären meine Ideen nicht immer fix, sie müßten mir jetzt vor Erstaunen im Kopfe still stehen. Du bist so die beste Acquisition für einen deutschen Zeitungsschreiber. Wie der Koloß von Rhodus stehst Du in partieller Allgegenwart mit dem einen Fuße in London, mit dem andern in Paris. Da Dir dabei die Hände an den alten Oertern Deines Körpers werden sitzen geblieben sein, so müßtest Du zu gleicher Zeit aus beiden Städten correspondiren können. Aber ich mag bei der Bewunderung dieses unerhörten Phänomens nicht stehen bleiben, sondern wie jede kometenartige Erscheinung am Nachthimmel der Gedankenwelt einen langen Schweif von Folgen und Ergebnissen nach sich trägt, so mach’ ich daraus eine Nutzanwendung.
Ich trage mich mit dem Vorhaben, die ganze Weltgeschichte von Adam und Eva bis auf mich und Dich in einer neuen Weise zu bearbeiten. Man erzählt mir zu viel in der Geschichte, man schildert nicht. Man verwechselt das Bequeme in der Methode mit dem Passenden. Ich sage, die Gleichzeitigkeit, das Nebeneinander muß das Hauptziel der Darstellung bleiben. Die Geschichte ist kein Drama, sondern ein Epos. Der Historiker muß seine Personen zu lebenden Bildern ordnen. Darum stehst Du mit dem einen Beine in Lon-183don, mit dem andern in Paris, weil – ich glaub’ an das Typische – weil die Synchronistik eingeführt werden muß. In jedem Wort, in jeder That die Anno 1000 vorkam, muß Alles enthalten sein, was zur selben Zeit geschah. Du lachst, wie ich heute auf einen so argen Docententon komme, aber vor Grimm gegen norddeutsche Ansichten könnt’ ich zum Professor werden. Da unterscheiden sie nämlich einen Weltgeist, der eigentlich Niemand anders ist, als der liebe Herrgott selbst. Der wandert von Asien her, ist eine ewige Metamorphose, schlägt alle hundert Meilen und hundert Jahre seine Bude auf, wo er sich sehen und von seinen Propheten, Moses, Zoroaster, Christus sich ausrufen läßt. Das nenn’ ich Blasphemie, und selbst dann noch so, wenn man den Weltgeist mit dem Geiste im Hamlet vergleicht, der wie ein Maulwurf bald hier bald da unterm Boden wühlt und ruft. Mein Gott, ich muß mich ja dawider erklären; denn Du als die letzte Erscheinung dieses Weltgeistes bist nun eben überall. Aber obschon Du so etwas Unbegreifliches bist, so laß doch um des Himmels willen jene wunderbare Eigenschaft Deiner zwiefachen Existenz nicht in Paris bekannt werden. Perier würde Dich auf ewig Deiner Freiheit berauben, weil Du damit dem Staate seine Söhne entbehr-184lich machen könntest. Du weißt, daß diese das Privilegium der französischen Courierstiefel haben. Dafür höre folgenden Rath.
Der Eigenthümer der Spenerschen Zeitung in Berlin ist Herr Spieker. Mit diesem äußerst feinen und eleganten Gentleman setze Dich in Verbindung, enthülle ihm offen das räthselhafte Geheimniß Deiner Fähigkeit. Nach Telegraphen hat sich schon lange sein Herz gesehnt, in Dir wird er die Grundlage, vielleicht gar Ersatz dieser großartigen Institution, mit der der preußische Thron umgeben werden soll, unstreitig dann gefunden haben.
Es verhält sich so, Herr Spieker verlangt eine Telegraphenlinie vom Rhein bis zum Memel. Der Ironie ist der Mann, obschon ein Eifrer in Sachen Shakespeare’s, nicht fähig, sonst hätt’ ich geglaubt, er wolle damit auf die Bandnatur seines Staatsverbandes anspielen. Ich fürchte, daß er bei seinem Vorschlag Vieles nicht erwogen hat. Durch einen gewandten Einfluß auf die höllischen Setzer in den Himmelshöhen kann wahrlich recht viel Ungewißheit und Verwirrung, mancher Auflauf, manche Revolution aus dem Stegreif herbeigeführt werden. Wie leicht versieht sich nicht selbst ein bewaffnetes Auge, und liest statt: Alles schläft, Alles schlägt! Während da noch die 185 Fensterladen in Königsberg verschlossen sind, und der Bäcker seine Semmeln aus dem Ofen zieht, könnte in Berlin schon die breite Straße barricadirt, in Coblenz das Königreich Westphalen oder etwas Aehnliches proclamirt sein. Und nicht nur aus Versehen könnte das Unternehmen solche Folgen herbeiziehen, sondern auch die Verschlagenheit dürfte sich einmischen. Ich nehme an, der Kronprinz bereist den Rhein, in Düsseldorf ordnet sein Oncle die schönsten Feste und Ehrenbezeugungen, eine Ehrenpforte wird errichtet und weißgekleidete Jungfrauen überreichen Sr. Königl. Hoheit Blumen und Gedichte. Der Abend bringt vor das Hotel des geliebten Prinzen eine Serenade, und die Stimmen des begeisterten Volkes fallen mit „Heil dir im Siegerkranz“ ein. Eilig berichtet nun der Telegraph von Düsseldorf nach Elberfeld: man hat Heil dir im Siegerkranz gesungen. Was geschieht? Hinter dem Städtchen Schwelm hielt’ ich dann schon an einer langen Stange die transparenten Buchstaben: die Barcarole gerad’ in der Richtung empor, daß der Telegraph in den Städten Hagen oder Iserlohe nur lesen kann: Man hat die Barcarole gesungen! Im Braunschweigschen und Hannöverschen würden unsere Freunde bereits die Marseillaise daraus machen, und während so in Magdeburg, Berlin und Frank-186furt schon die Kinder im Mutterleibe nicht mehr verschont blieben, wird hinter Landsberg, wo es schon ins Polnische geht, durch unsern feinen Vorschub die Nachricht daraus: „Man hat: noch ist Polen nicht verloren gesungen“!
Herr Spieker, Sie sind entsetzlich! in einer Nacht können Sie dem preußischen Staate das Garaus machen. Ist es Ihnen wirklich nur um die schnelle Beförderung der Nachrichten zu thun, so adressir’ ich Sie an meine liebenswürdige Freundin. Zwar ist sie weit entfernt, in ihr Glaubensbekenntniß die politischen Gesinnungen Ew. Herrlichkeit aufgenommen zu haben, doch besitzt sie so viel redlichen und rechtlichen Sinn, daß sie nur das wiedergeben würde, was ihr Ohr vernommen, ihr Auge gesehen hat. Ich bin da nicht so; aus Liebe zur Wahrheit gehör’ ich zur Opposition, und weil ich zur Opposition gehöre, halt’ ich seinen absichtlichen Irrthum für zulässig. Man braucht kein Jesuit zu sein, und kann doch von dem Satze ausgehen, daß der Zweck die Mittel heilige. Sie erlauben mir, diesen Gegenstand etwas zu verfolgen.
In Wien gibt es ein Bild, wo der Wolf den Gänsen predigt; das ist lächerlich: ebenso kenn’ ich einen Kupferstich von dem genialen Disteli, wo ein Has zum Fuchs zur Beichte kommt. Aber 187 wenn eine Gans eine Wolfsherde bekehren wollte, oder ein Has einen Fuchs, so sieht man nur die Dummheit, und über die lach’ ich nie. Ich hab’ es schon oft gesagt, daß die Klugheit nichts mit der Tugend gemein hat. Das ist die Homöopathie in der Politik, List mit List zu widerlegen. Wenn eine linke Seite erst Acten und Testimonien durchstudiren wollte, um endlich nach einigen Wochen eine Frage an die Ministerbank zu richten, so wollt’ ich ihr diese mühevolle Ehrlichkeit sehr verdenken. Wie’s der Augenblick bringt, jedes leise Wehen der geschäftigen Sage, jede noch schwache Vermuthung ist immer schon stark genug, den Zwecken der Opposition zu dienen. Will sie denn die Regierung besiegen? nein, sie will sie nur beschäftigen. Napoleon hat auch darin ohne sein Wollen dem Liberalismus gedient, daß er ihn kämpfen lehrte. Die heutige Taktik wird nicht mehr die Armeen vor den Festungen zerstreuen, sondern sie kühn und ohne Verzug mitten ins feindliche Land hineinmarschiren lassen; die Festungen ergeben sich zuletzt doch. Sonst ist die Gewalt der Regierung mächtig genug, selbst Felsen aus der Richtung ihres Weges fortzuschaffen, aber das parlamentarische Leben zwingt sie, an jedem Steinchen anzustoßen. Ich bleibe der festen Meinung, daß Alles den Zwecken der Wahrheit dienen kann, 188 am meisten ihr eigenes Gegentheil. Welch kindliche Thorheit der Deutschen, die in dicken Bänden noch immer die Zulässigkeit der Nothlüge bezweifeln! Wenn die polnischen Unterofficiere im Beginn der Revolution nicht dadurch ihren Muth bewiesen hätten, daß sie auszusprengen wagten, all’ ihre Cameraden würden von den russischen Regimentern niedergemetzelt, würde dann noch die Geschichte unserer Zeit Wunder haben aufweisen können? Und Du, Geliebte, wolltest ohne Falsch die Wünsche einer Partei erfüllen, die Dich höhnen wird, wenn sie Dich benutzt hat? Du wolltest so ganz Himmel und Tugend sein, um Andere ihr höllisches Spiel mit Dir treiben zu lassen? Darum sollte die Wahrheit Anstand nehmen, in die irdischen Wohnungen und Herzen herabzusteigen, und ihrer Gegner Gestalt und Farbe anzunehmen, damit ihr hier unten nichts bliebe, als gestoßen und geschunden zu werden, und darauf ihre Hoffnung zu richten, daß einst das Gute belohnt und das Böse bestraft werde? Nein, Freundin, bei jenem tödtlichen Hasse, den Du mir einst bei den Altären der Hausgötter gegen die Römer hast schwören müssen, an meiner Seite wirst Du streiten, keinen Fuß weiter treten, den ich mit meinem rauchenden Stahle nicht erobert hätte, mit ihm nicht behaupten könnte! Siehe, um meine 189 nervichte Linke hab’ ich Deine wallenden Locken gewunden. Eher wollt’ ich Dir, wie Virginia’s Vater, das schöne, jugendliche Haupt vom Rumpfe trennen; eh’ ich die Schmach erführe, Du hättest Dich ihnen hingeben müssen.
O, meine Gute, ich kenn’ eine Telegraphenlinie, die geht durch alle Länder, in denen menschlicher Odem wehet! Keiner hat es dem Andern gesagt, und doch wissen sie es Alle. Jeder Seufzer, jede Klage, jeder Schrei der Verzweiflung steigt wie Feuersäulen in die Luft, von Bergen zu Bergen sieht man Tausende solcher Flammenzeichen rauchen. Das sind die Geister der Abendwinde und die Mondscheinwellen, auf denen sie schiffen. Das sind die unsichtbaren Landstraßen, die die Engel in duftigen Frühlingsnächten gewoben und gedämmt haben. Das sind all die heimlichen Gedanken, die hinüber und herüber ziehen, tröstend und mahnend. Wie Irrlichter sieht man die großen, glühenden Buchstaben, hinter schwarzem, ölgetränktem Papiere auf dunkeln Moorgründen auf- und niedergaukeln. Wie Feuerkugeln fallen aus nächtlichem Himmelsblau die Abbreviaturen der großen Commandowörter, die zum Schrecken der Tyrannen die Bewegungen unzähliger Heerscharen ordnen und lenken. Der helle Nordschein mit seinen gelblichrothen Lichtströmen ist eine glanz-190volle Uebersetzung der Parole, die durch die kampfgerüsteten Reihen wie ein Bach murmelt. Die Natur hat es doch weise eingerichtet. Wo ein Thal aufhört, da fängt ein Berg an, und hinter ihm liegt wieder ein Thal. Wo Ströme und Meere fließen, da gibt es nicht nur diesseits ein Ufer, sondern auch eines jenseits. Wo endlich ein Gränzstein liegt, da ist eines Landes Ende, aber auch eines andern Anfang. Freilich mögen über Meilen sich die Zungen fremd sein, und nicht verstehen, was sie sich zuflüstern wollen. Aber wie bei einem Baue oder bei einem Brande reicht Einer dem Andern den Stein oder Eimer, dieser wieder einem Dritten, und so hinauf bis zum Letzten. Das Geheimniß schreitet in Siebenmeilenstiefeln. Eine schöne Sommernacht, wo ein Nachbar mit dem andern aus dem Fenster redet, kann durch ganz Europa eine expresse Nachricht spediren. Ein edler Dichter hat die Bundschmecker auf den großen, ewigen Bund der Sterne verwiesen. Wahrlich, so lange denen noch ihre Bahn gezeichnet ist, kann es der guten Sache nicht an Fortgang fehlen. Die Ewigkeit der Sterne bedeutet mehr als die bloße Ausdehnung in der Zeit, sie ist auch der Sieg der Zeit, ihr ruhmvoller Sieg. Der Ideenschmuggel wird die Poesie des Lebens werden. So lange noch der Pflüger auf dieser Gränze sei-191nen Pflug eine Weile stehen läßt, und mit dem Pflüger auf der andern im Schatten der Gränzeiche ein vertrauliches Gespräch halten kann, so lange noch keine Mauer verhindert, daß sie sich einander die Hand reichen, wollen wir nicht fürchten, die Wahrheit möchte abhanden kommen. Zwang und Gewaltthätigkeit kann wohl verhindern, daß man in Lausau weiß, was der Amtsschreiber in Kauzen den Bauern für Grobheiten sagt; aber daß man in China ein erbärmliches Leben führt, hat selbst durch die hohe und lange Mauer nicht können verschwiegen werden. Durch Endliches läßt sich die Erkenntniß des Unendlichen weder befördern noch hindern. Wenn die Baumeister des babylonischen Thurms das Wesen Gottes mit Kalk und Steinen begreifen wollten, so ist das dieselbe Thorheit, die in den Versuchen der Gewalthaber liegt, wenn sie einen mächtigen Strom dämmen wollen. Der Strom glaubt ja nicht mehr an die Nothwendigkeit seines alten Bettes, wird er hier aufgehalten, so bahnt er sich dort einen neuen Weg, und das mit reißender, zerstörender Gewalt. So verfehlen sie nicht nur an der einen Seite ihre Absicht, sondern machen an einer andern Seite den Schaden größer, als er je zuvor war. Mit Congressen, Protokollen und verschärften Maßregeln droht man die Völker zu beglücken. Das 192 Ungeheuere traut man sich zu, nicht nur die tief, ach! so tief geschlagenen Wurzeln des Hasses auszuheben, sondern sogar an ihre Stelle junge, frische Reiser, Liebe und Vertrauen, zu pflanzen. Neulich hieß es irgendwo, daß die republicanische Richtung, die das Leben in Süddeutschlands constitutionellen Staaten zu nehmen drohe, gefürchtet wird. In der That, dieser Brand ist noch klein, und doch hat er schon so weit um sich gegriffen, daß ich nur noch ein einziges Mittel kenne. Wie man am besten einen Brand erstickt; die Hoheiten müßten sich den Hermelinmantel ihrer Fürstengerechtsame vom Leibe reißen, und die Flamme mit dem Verlust der alten Schönheit ihres Kleides, mit der Entsagung ihrer meisten Vorrechte dämpfen. Aber dazu gehört Entschlossenheit, dazu gehört Demuth, Bescheidenheit. O welche sonderbare Pietät der Fürsten und des Adels! Sie schätzen die Ahnen nicht so hoch, als die Nachkommen, die ihnen noch in der Lende sitzen. Sie wollen ihren Kindeskindern nichts entziehen. Aber es wird eine Zeit kommen, wo die gierige Flamme, die die Väter jetzt noch unschädlich machen könnten, an die Kronen der gesalbten Enkel hinauflecken, und sie auf ihren Häuptern jämmerlich schmelzen wird.
Nicht wahr? Du hast mich doch nicht falsch verstanden? Wir sprachen doch von den Telegra-193phen der Liebe, die durch die Räume der unendlichen Welt aufgestellt wären? Von unserer Liebe, von den wunderbaren Chiffern, mit denen sich unsere Herzen verständigen? Wie es die Nachtigall Dir wieder sagen müßte, wenn ich so in stiller Nacht unter den dunkeln Zweigen ihrem Liede lausche? Wie die funkelnden Glühkäfer und die pfauenäugigen Nachtschmetterlinge es sehen und Dir erzählen müßten, wenn ich sie bei ihrem Kosen und Schwelgen in den Blüthenkelchen so selig betrachte? Wie? Du schüttelst den Kopf? Sprechen wir nicht von den Thälern und Bergen, den blauen Himmelsfernen, den goldenen Gestirnen der Nacht, wie diese alle nur eine großartige Runenschrift für Liebende wären? wie das leise Waldesflüstern und Blätterrauschen Dir immer die Boten meiner Treue sein sollten? wie der geschwätzige Quell nur das wieder erzähle, was er von einer Blume gehört habe, die aus dem Schnabel einer Taube, die ich zu Dir sandte, gefallen? Also wirklich, das hast Du Alles vergessen? o wir reichten uns ja die Hände über Berge und Meere, und drückten sie uns meilenweit! Sprachen ja dabei von Morgenroth und goldener Hoffnung, von schöneren Tagen und herrlicher Zukunft! Im himmelblauen Gewande lagst Du in meinen Armen. Ein zweiter heiliger Christoph mußt’ ich das Jesuskind meiner Liebe durch die 194 salzige Fluth meines Thränenmeeres tragen. Ja, es ist wahr, wir sprachen nicht von der Jugend, nicht von dem Alter, von Haß nicht, und auch von Liebe nicht, vom Geräusch der Welt nicht, nicht von der Einsamkeit, nicht von Dämonen und auch von Göttern nicht. Wir küßten uns ohne Mund, wir drückten uns ohne Hand, wir sahen uns ohne Auge. Du standest weit, weit von mir, und doch ruht’ ich in Deinem Schooße. Weit übers Meer stehst Du mit Deinem Engelskopfe, und ich flechte Deine goldenen Haare, und diesen Zopf mach’ ich so lang, daß er über alle Welt reicht, und nenne Dich die größte Närrin, die auf Gottes Erdboden je gewandelt hat! –
195 Siebzehnter Brief.#
Also ist der Krieg unvermeidlich! Theure, schon kanonendonnern hast Du es gehört? Das Reich der Farben droht dem Reiche der Töne schrecklichen Untergang. Zwei Gebiete, die seit undenklichen Zeiten in dem friedlichsten Verhältnisse neben einander bestanden haben, die die Ursprünge ihrer Bewohner auf dieselbe Quelle zurückführen, wollen sich nicht mehr gegeneinander dulden. Die allgemeine Verwirrung, der Haß und die Leidenschaft dieser Zeit hat auch sie ergriffen, und die entsetzlichsten Folgen stehen zu erwarten. Es ließ sich voraussehen. Schon nach physikalischen Gesetzen ist jede Erschütterung diesen Gebieten gefährlich. Die Farben wechseln nicht nur unter sich die Farbe, sondern sie sind dann auch zu schwach, 196 sich noch länger zu halten, und sie klingen allmählich in die Region der Töne über. Umgekehrt verstummen die Töne bei fortgesetzten Schwingungen, sie werden farbig, vor Scham roth, vor Aerger blau. Diesmal aber soll nur eines von Beiden übrig bleiben. Zwar wissen wir noch nicht mehr, als Crösus, da ihm die Wahrsager sagten: ein großes Reich wird untergehen! Aber das ist klar, einem gilt es gänzliche Vernichtung. Werden die Maler oder die Tonkünstler aufhören? Wird man Gemälde aus Dur oder Moll schaffen, oder werden die Sonaten mit dem Pinsel componirt werden? Wird statt Abendröthe und Azurblau der Himmel voller Geigen hängen, oder wird man die Winde nicht mehr blasen und wehen, sondern leuchten und dämmern hören? Werden die Blumen auf dem Felde, die Blätter im Walde nicht mehr in Farben spielen, sondern klingen wie Stimmen der Seligen, oder wird man den Jubel der Lerche, die Klage der Nachtigall in Bildern malen, die von Farben sprühen wie funkelnde Krystalle? Geliebteste, der Regenbogen sollte der Himmelsbrief sein, den ich mit jedem meiner Blicke, jedem meiner Worte, jedem Seufzer an Dich schreibe? Theuerste, die Aeolsharfen, die in meinem Garten hängen, sollten nur dunkle Gluth Deiner Augen, Dein leuchtend Haar, Dein rosenrother Mund 197 sein? Und, wie artig! statt daß ich Dir früher etwas gepfiffen habe, werd’ ich Dir künftig immer etwas weiß machen! wenn Du mich besuchst, wirst Du auf der Gasse Dich schon melden, wie ein Saitenspiel! Wenn wir glauben, im Concerte zu sitzen, werden wir eigentlich in einer Gemäldegallerie sein.
Wenn ich nun, Geliebte, Dir offenherzig gestehe, daß wir längst die Vortheile dieses Kampfes ohne ihn errungen haben, so will ich damit nicht Deinen Stolz aufregen, und auch den meinen nicht verrathen. Wenn ich Dich, Du herrliche Titanide, mit den geflügelten Rossen auf goldenem Wagen im fernen Osten aufsteigen sehe, wenn der Rosenschein Deiner Purpurfinger auf die Spitzen der Berge leuchtet, dann läßt mich die Sage, weil ich Memnon bin, leise klingen: mein steinenes Gewand klingen: den Granitblock Deines Herzens klingen: o Gott, Freundin, hast Du je einen Stein klingen gehört, so hast Du mich gehört!
Sollten nun die Farben besiegt werden, sollten wir uns unsere dreifarbigen Sacktücher und Halsbinden umsonst angeschafft haben, so werden die Töne aufjubeln, und Alles, was Odem hat, wird sich auf den Gesang legen.
Ich begreif’ aber nicht, daß Du heut meine Bilder gar nicht verstehen willst. Bis jetzt waren 198 das Alles nur Redensarten, und ich sprach eigentlich nur von der kommenden Reaction. Hast Du die Reaction schon gesehen? Bist Du es, die da kommen soll, oder sollen wir einer andern warten?
Gestern sollt’ ich für die Tasse Kaffee zwei Kreuzer mehr zahlen. Warum das? Das macht die Reaction und der neue Zollverein!
Im Theater werd’ ich heut’ Abend zwei Officiere statt des gewöhnlichen einen in den Zwischenacten zu uns Parterristen kommen sehen. Der neue ist von wegen der Reaction. Denn der Bundestag hat beschlossen, daß von nun an wieder in allen deutschen Bundesstaaten die Reaction herrschen soll.
Peter der Große fing seine Civilisation damit an, die ungeheuern Bärte seiner Russen zu stutzen. In Hessen reagirt daher die Reaction die Stutzbärte ad nihilum.
Die österreichischen Buchhändler verbitten sich die Zusendung deutscher Verlagsartikel u. s. w.
Das sind die kleinen Thaten der großen Reaction! O, man wird sie noch größer machen! Man wird seines Einverständnisses mit allen gegenwärtigen Ministerien Europa’s gewiß werden. Man 199 wird eine größere Planmäßigkeit in seine Verfahrungsart bringen. Man wird den Samen des Unfriedens zu vertilgen glauben, wenn man die Blüthen abschlägt. Gleich als fielen dabei nicht Tausende von reifen Körnern auf den Boden, um in Kurzem mit üppiger Kraft neu aufzuschießen.
Ein thörichtes Weib (die Legitimität) hatte ein Kästchen voll schönster Pretiosen, Ringe, Kronen, Diademe. Um es vor jedem Einbruch aufs Sicherste zu verwahren, verriegelte sie es dreifach und vierfach. Ein Dieb mühte sich aber über Nacht nicht damit ab, es zu öffnen, sondern trug nicht nur die Kostbarkeiten, sondern auch das fest verschlossene Kästchen mit sich fort. Daheim mag er wohl Mittel gefunden haben, den Inhalt heraus zu bekommen.
Es ist wahr, wir haben Buchstaben beschworen, haben Verträge durch Handgelöbniß geheiligt: Aber Du bist ein einfaches Weib, und ein ironisches Lächeln setzt sich doch schon in Deine Mundwinkel. Wenn wir bei dem Schwur eine reservatio mentalis haben, so folgen wir nur dem Beispiel derer, denen wir geschworen haben. Der König und Kronprinz von Frankreich sprechen unaufhörlich von den couleurs chéries, sie nennen das Wort la Charte oder la Révolution de Juillet nie anders, als mit einer Art Andacht und religiö-200ser Pietät, und doch gehen sie mit ihren Rathgebern den Weg, der ihnen beliebt. In Baiern hat die Camarilla des Hofes bis zum Ekel die Verfassung im Munde, und doch ist sie entzückt über Wasserburger und Gautinger Adressen, über die Erklärung eines Münchner militärischen Diogenes, er wolle jedem Gegner des Königs den Degen durch den Leib rennen.
Wir Deutsche sind doch sonderbar gestellt! In Baiern, Sachsen, Baden kann man ein Ausbund von Loyauté sein, und dabei den übrigen Residenten am Bundestage als böswilligster Demagog erscheinen. Als Landstand irgend eines kleineren deutschen Staates könnt’ ich ordentlich aus Ironie meinem Fürsten und Herrn eine Macht zugestehen, seiner Würde eine so ungeheuere Ausdehnung geben, daß er in die ärgste Verlegenheit kommen müßte. Sogar einen dramatischen Effect müßte so eine Scene geben, wenn er auf der einen Seite complimentirend und lächelnd ruft: Bitte recht sehr! und zum Publicum bei Seite grimmig flüstert: Die verdammten Verbindlichkeiten! Vor Souveränität kann ich zur höchsten Macht gar nicht kommen! Wenn man ihn dann allein läßt, wird er schweißtriefend mit Lafayette nach der berüchtigten Dankadresse der Kammer ausrufen: Es gibt Höflichkeiten, die man nicht ertragen kann! In der That, die 201 deutschen Fürsten können uns doch auf keinem Wege, selbst auf dem langweiligsten, dem Wege Rechtens nicht entgehen! Man wird sie zu vernichten drohen, und sie zittern. Man wird sie verehren wollen, und sie entsetzen sich. Ueberall sind ihnen die Hände gebunden. Einer hat dem Andern ein Versprechen gegeben; sie möchten Alle davon befreit sein, und wagen doch ohne dasselbe nicht, auf der Parade zu erscheinen. Selbst das verschlagene Preußen hat sich eine Grube gegraben. Warum gilt der Spruch scriptum manet? Warum mußten wir vor zehen Jahren Concessionen geben, nach deren Erfüllung sich jetzt Niemand mehr sehnt? Jetzt fühlt sich bei uns Alles glücklich und befriedigt; hätten wir je das Wort: allgemeine ständische Versammlungen brauchen dürfen? O hätten wir doch in dem unseligen Edict über Feststellung der Reichsschuld nie von „künftigen Reichsständen“ gesprochen! Geliebte, was hilft Dir nun Dein sammtnes Kleid, Dein goldener Schmuck, Dein Glanzgeschmeid? Wohlangestellte Leute können es beweisen, daß wir Preußen ohne Vertretung glücklich sind; und nun dürfen wir die Kinder unseres eigenen Geistes, die schönen Früchte der Gesinnungen, die die Regierung bei uns nur hat aufkommen lassen, nicht anerkennen und genießen! Wir müssen einmal mit 202 dem Papiere hervorrücken; denn Fürstenwort ist heilig.
Ob denn aber wirklich an die Restauration zu denken ist? Du siehst die weißen Stellen unserer Zeitungen und die Menge der Gedankenstriche. Soll das Restauration sein? O, Du weißt nicht, wie es in Deutschland während der Restaurationsperiode aussah! Erst wenn Du von zerknickten Fittichen eines sonst mächtig rauschenden Adlers hörst, dann fürchte! Wenn Du den Wurm am Marke des deutschen Geistes nagen hörst, wenn man auf Sandhügel wieder schwache Hütten baut, wenn sich die Blätter des großen Geisterwaldes färben, falb und verdorrt zur Erde fallen, dann fürchte! Nur dann fürchte, wenn man Großes und Herrliches wieder zu sich herabzieht, weil man zu klein ist, es zu erreichen, wenn alle jugendlichen Herzen und Kräfte des Vaterlandes an die platte Gemeinheit der Mode, an die leere Alltäglichkeit sich wieder hingeben, wenn die Klänge einer sinkenden Kirche immer weiter, immer ferner hallen, und Nichts mehr übrig bleibt, als die ausgebrannten Opferschalen. Dann werd’ ich mein Angesicht abwenden, wenn ich sie die alten Werkzeuge ihrer kindischen Spiele wieder hervorsuchen sehe, wenn sie unersättlich sein werden im Verachten, und schamlos im Preisen, wenn sie die ge-203stürzten Götzen wieder aufrichten, und im Staube die Stirn baden. Dann flieh’ ich mit Dir die Heimath, wenn die höllischen Geister der Tiefe, das schmutzige Froschgeschlecht wieder lärmen und jagen, und die müssige Menge sich an den gemeinen Possen der Zotenreißer ergötzen wird.
Aber jene Tage sind vergangen. Können auch nie wiederkehren, so lange noch die Lehre gilt, daß man ein wenig ist, wenn man die Kraft hat, viel zu sein. Nur zu einer unreinen Mischung können sich die Elemente gesellen, die ein edles Getränk gährend von sich stößt. Ist je die Ruhe eines friedlichen, flachen Zustandes mehr gewesen, als die verträgliche Wechselseitigkeit dessen, was man bot, und dessen, was man bieten konnte? Wie unrecht, wenn man die lange Nacht von den Befreiungskriegen bis auf die beiden letzt verflossenen Jahre nur denen zuschreiben wollte, die in die Nacht ein Licht hätten hineinstellen können, und nicht auch denen, die an der Finsterniß sich freuten, wie am Tage! Welche Beleidigung für die heutige Bildung unserer Zeitgenossen, sie unter dem Bilde einer tabula rasa zu fassen, auf die sich eben malen lasse, was die Pinsel dieser Welt nur wollen.
O, mein Kind, es ist ein Herrliches um jene Geister, die mit den schnaubenden Ungethümen 204 jener argen Zeit gerungen haben. Gehe hin zu ihnen, wisch’ ihnen den Schweiß von der leuchtenden Stirn, küß’ ihnen die aufgelaufenen Adern ihrer Hände weg, und bedanke Dich schön! Wenn die Deutschen jene Jacken ansehen, in denen sie funfzehn Jahre gesteckt haben, jenen Riesenpopanz, den sie so lange Zeit hindurch in Procession durchs ganze Land geschleppt haben, so sind sie darüber jetzt so verschämt, daß sie ihren damaligen Zuchtmeistern gern aus dem Wege gehen. Man denke an Menzel, Heine, Börne! Und immerhin – das beste Geständniß alter Thorheit liegt in guten, braven Handlungen. Facta loquuntur.
An Restaurationen glaube nicht, Du Gute! Wir haben gelernt, auch Ketten mit Anstand und Würde zu tragen. Man wird den tödtenden, edeln Blick unserer Augen nicht ertragen können, man wird vor der Hoheit unserer Tugend in den Staub sinken, und reuevoll die Bande lösen, die wir in alten Tagen für Rosengewinde hielten. Die Fürsten werden uns Feste und Gastmäler geben wollen, und Niemand wird sie besuchen. Die Schauspiele werden unsern Händen wieder anvertraut, in der Hoffnung, sie müßten uns zu solchen Narren machen, die wir in den Tagen von Versailles waren. Aber eine veredelte Kunst wird auf die Höhe des Kothurns jene würdevollen Gestalten 205 bringen, die durch ihre Tugend und Hoheit die Züge des Guten in die Gluth der Begeisterung, die hohlen Furchen der Bösen in die bleiche Kälte der Scham und der Furcht versetzen müssen. Auf dem Sokkus gaukelt dann jener heitere Scherz, der nicht mehr von den Flicken seines Gewandes und den Wundern seiner Pritsche spricht, sondern von den milden Sonnenblicken der Hoffnung, die aus dem bald lachenden, bald weinenden Auge leuchten. Ihre Bibliotheken werden sie eröffnen und die lernbegierige Jugend in die bücherreichen Säle führen. Aber die Pedanten, die hier früher lehrten, haben sich neben ihren Perrücken in die Ruhe des Grabes gelegt, und die muntern Knaben werden nur die Zahl, nicht den Inhalt der Folianten bewundern.
O, Du Herrliche, daß ich doch morgen erst lesen lernte! Daß ich so Vieles nicht wüßte, was mich verhindert, Besseres zu wissen! Daß ich jene Fülle von geistiger Spannkraft und Energie zurückbekäme, die ich einst an den todten Buchstaben verwitterter Pergamentblätter nach der Sitte jener Zeit vergeudet habe! Warum muß ich so alt sein, und in dieser Frühlingsgegenwart nur Eis und Schnee unter meinen Augen haben, daß ich nun an ewigem Thauwetter leide! O, ihr Glücklichen, die ihr heute zum ersten Male in die Welt blickt! 206 Und Ihr dort auf dem grünen Wiesengrund, nehmt mich doch auf in euren fröhlichen Reigen! Fürchtet euch nicht vor dem alten Manne, der ja so gern mit euch tanzte und Blumen pflückte! Ich will euch Sagen erzählen und Geschichten, die ich selbst erlebt habe, und wie ich gewandert bin aus weitem, fernem Lande, um von euren Händen begraben zu sein! Dort unter jene Linde legt mich hin!
Aber meine Stimme zittert. Ich sinke todesbleich zurück. Die Augen willst Du mir zudrücken, liebes Kind? O ich schlafe nur, und bringe Dir Köstliches aus dem Himmel mit! Einen Gruß magst Du noch bestellen, an meinen treuesten Freund, den ich hier auf Erden hatte! Denselben, der Dir immer so zärtliche, liebevolle Briefe schreibt. Sag’ ihm doch, er sollte mir bald nachkommen, ich würd’ ihm da oben seine Wohnung bestellen! Leb’ ewig wohl!
207 Achtzehnter Brief.#
Nur nicht in die Rosengärten Saadi’s führe mich! Die poetische Weise Deiner Empfindungen, die Lust an jenen zarten Freuden, die jeden Schritt auf den Gedankenwegen des Gemüths mit Blumen bestreuen, setzt mich in Verlegenheit. Ich habe dann Noth, die aufjauchzenden Flügel meiner Begeisterung niederzuhalten, und da ernst und kalt zu erscheinen, wo ich nur Lied und Feuerstrom sein möchte.
Wenn ich wo von Poesie höre, von frommer, ungetrübter Naturanschauung, von Liebe und Treue, deren die Menschen noch fähig seien, von großen Gedanken, die wie elektrische Funken Tausende zugleich durchbeben können, so seh’ ich mich ängstlich um, weil ich den Mephisto nahe glaube. Ob es 208 ein Himmelreich auf Erden gibt, ob es keines gibt, ich weiß es nicht, nur das weiß ich, daß ich es nicht finden darf. Denn eine tiefe Philosophie lehrt, wer einen Engel begreift, ihn erkennt, macht ihn zum Teufel.
Es gibt Stunden, wo ich vor der Größe des Weltgeistes andächtig bete, wo ich nach heiligen Gräbern, Lorettohütten, ehrwürdigen Domen pilgere, wo ich heiliges Weihwasser schöpfe und meine brennende Stirn netze. Wenn ich mich aber vergeblich bemüht habe, jene Menschen nicht zu sehen, die die Nimbusstrahlen jedes Heiligenbildes auf ihr hirnleeres Haupt zu sammeln suchen, wenn ich vergebens mich gemüht habe, aus jenem Satze, daß die Menge nur das Nächste, das Sinnliche zu erfassen vermöge, den Wahnwitz wegzuschaffen, so kommt der Spott wie Windeswehen über mich, und ich bin aus meiner seligen Illusion heraus.
Welche Verehrung zollt’ ich früher der Monarchie! Wenn es sich um Ideen handelte, die die Grundlage der menschlichen Gesellschaft bilden müßten, so schien sie mir für solche die einzige Sicherstellung zu sein. Ein Monarch war mir dabei mehr als der erste Bürger, was Friedrich II. nur sein wollte, selbst noch mehr als die Personification der Gerechtigkeit. Mit der tiefsten Demuth beugt’ ich mein Haupt, und fand in 209 ihm jenes göttliche Moment, woran Kirche, Kunst, Wissenschaft, alle Gebiete unserer höchsten Geistesfähigkeiten ihre Wahrheit hätten. Als ich aber unter diesen lieblichen Blumen wandeln wollte, da sah’ ich ein, daß es nur hölzerne Blöcke sein müßten, weil ich mir an ihnen den Kopf blutig stieß. Das Interesse des Augenblicks, die gehinderte Befriedigung eines Wunsches meines arglosen Herzens öffnete mir die Augen. Wenn ich die Verfasser der positiven Wirklichkeit einst beklagte, daß sie das von der Phantasie der Völker ihnen dargebotene Ruder, einen zarten Lilienstengel, nicht ergriffen, so dank’ ich ihnen jetzt dafür, seitdem ich jede Mondscheinbeleuchtung in Sachen der Vernunft und Erfahrung verabscheue.
Ich hatte mich einmal auf die Teufelscanzel des Brockens gesetzt, und ließ die Weltgeschichte in ihren erhabensten Repräsentanten an mir vorübergehen. Ich erstaunte über jene Ordnung, jene unverkennbare Weisheit, mit der selbst das kleinste Beiwerk angelegt schien. Von den Hochgebirgen Asiens bis zu den Höhen Scandinaviens lag das weite Feld wie in systematischer Symmetrie. Einer sprach zu dem Andern, und die im Leben mit tödtlichem Hasse gegen sich gewüthet, reichten sich freundlich die Hand. Da lag Cato in Cäsars Armen, Gregor weinte an Heinrichs Brust, Ro-210bespierre und Danton küßten sich mit ihren wieder aufgefügten Köpfen. Damals bildet’ ich mir ein, in dieser Vision ein Gesetz gefunden zu haben. Ich lobte alle die, die sich haßten, und weinte schon im Voraus die Thränen, die sie einmal später auch vergießen würden. Später hab’ ich den Grundsatz umgekehrt. Ich sah’ ein, daß mein Haß eben so gut in der allgemeinen Welthistorie placirt werden muß, als meine Liebe. Und weil ich ferner einsah, daß jener auf Ueberzeugung, diese auf Täuschung beruht, so hab’ ich mir nun vorgenommen, in Timons Fußstapfen zu treten.
Also, Du Süße, erinnere mich nicht so oft an jene Bilder der Vergangenheit! Sie wecken so schmerzliche Gedanken. Es thut mir weh, an Dinge geglaubt zu haben, die ich bei Andern so bitter tadle. Da sprichst Du von der Liebe zum Vaterland, und vergissest, daß überall die Welt Gottes ist. Bist stolz, daß Dich Berge von einem fremden Volke scheiden; und das Maulthier und das Saumroß des Kaufmanns bringen dem Nachbar Deine Waaren, und er Dir seine Sitten. Wenn das ganze linke Rheinufer verloren geht, hoffst Du auf den Rhein selbst noch. Aber nimm zwei Platten, verbinde sie durch einige flüssige Tropfen, und die Einheit ist so stark, daß einfache Menschenkraft sie schwer zerreißen kann. Du dringst 211 auf das, was der Natur gemäß ist, willst den Geist in ihre Krystallisationen bannen, und diese hat eine entgegengesetzte Aufgabe. Ihre Fesseln sucht sie zu sprengen, um zum Geiste sich zu verklären. Du nennst den Krieg ewig, er steht Dir höher als der Frieden, weil Dir Sehnsucht mehr ist als Befriedigung, und der Krieg scheint Dir eine Sehnsucht nach dem Frieden. Aber der Krieg ist ein Irdisches, im Irdischen will die Menschheit immer befriedigt sein, nur nach himmlischen Dingen begnügt sie sich mit der Sehnsucht. Dich reizen noch die Trümmer alter Herrlichkeit auf Deinen heimathlichen Bergen, und aus Oekonomiegebäuden, Schenken und Judensitzen steigen Dir noch immer die Geister der Vergangenheit auf. Zünfte mit klingendem Spiel und den feierlich getragenen Insignien des Gewerks, voran der Fahnenschwenker mit seinen tollen Possen – o es ist das Deine größte Lust. Wenn Du einen wandernden Handwerksburschen die Straße heraufkommen siehst, schlägt Dir Dein Herz vor Freude, und Studenten scheinen Dir über und über in poetische Farben getaucht zu sein. Hast Du je gefochten, bist Du je relegirt worden? Es ist aus mit der stillen Heimlichkeit der Gemüther. Seitdem das Volk täglich einen Festtag hält (Thränen ohne Brod), kann Herr Percival mit seinem jetzt endlich durch-212gegangenen Vorschlage nicht mehr in den Geruch der Heiligkeit kommen. Die Empfindungen des Volkes verflachen sich. Sie werden durch andere Eindrücke anders gestimmt. Man frage nur unsere Romanzendichter, ob noch all die alten Sagen gewußt werden, die von diesem Teiche, diesem Walde, diesem Berge erzählen. O sie wollen aufgeklärt sein, und schämen sich, sie mitzutheilen, man könnte ja denken, sie glaubten dran!
Du erwartest, der unschuldige, gemüthliche Sinn der Deutschen werde sich einmal mit furchtbarer Kraft an jenen Frevlern rächen, die sie in die gegenwärtige Verwirrung, in dieses gottlose Treiben des Tages gestürzt hätten. Ich versichere Dich, eine solche Reaction gäbe die schönsten Aussichten für den Flor unserer komischen Bühne.
Denke Dir, ich wäre so schadenfroh, ladete Dich zu mir, und brächt’ es durch die muthwilligsten Mittel dahin, daß Du voll süßen Weines würdest, und so zu sagen Deine eigene Scham aufdecktest. Es müßt’ eine Lust sein, Dich mit Deinen sanften Empfindungen, mit jener himmlischen Weichheit Deiner Seele wie eine Rasende und Närrische gebärden zu sehen, wie aus Deinem ätherblauen Auge eine Hölle von jauchzenden Dämonen jubelte, wie Du unter den Ergüssen Deines fühlenden Herzens über Tisch und 213 Bänke sprängest und mit lallender Zunge von Deiner Universalentzückung redetest. Die Engelfurie wird aber nüchtern werden, und zornig, daß sie einer zahlreichen Gesellschaft zum Ergötzen gedient hat. Du schwörst ihr blutige Rache, und nun frag’ ich Dich, ob das nicht den vortrefflichsten komischen Effect gäbe, wenn aus allen Deinen Machinationen der Jubel jenes lustigen Abends hervorlachte, wenn jede Verlegenheit, in die Deine geschäftige Intrigue die ungefügen Lacher versetzte, sich in die Lust der Erinnerung, in die Du zuletzt einstimmen müßtest, wieder auflöste?
Eine solche Reaction muß einen neuen Don Quixote geben. Deutschland käme mir dann wie ein Mädchen vor, die gern Nonne sein möchte, von der aber das ganze Kloster weiß, daß sie ein Kind an der Brust säugt. Vorwärts!
Schon Viele sind der Sache des Liberalismus untreu geworden. Nicht darum lassen sie die Arme sinken, weil sie schwach und ermattet sind, sondern sie wollen bemerkt haben, daß sie da Streiche in die Luft geführt, wo sie nach den Befehlen der Ordner den dichtesten Scharen hätten begegnen müssen. Sie haben sich selbst auf einem gewissen Indifferentismus ertappt; sie sehen zwar ein, daß die Gegner hier und da im Irrthum befangen sind, erschrecken aber vor dem Gedanken, daß es doch 214 etwas Bestimmtes, ein gewisser Inhalt, ein Interesse ist, was Jene vertheidigen. Auch sie wollen nun mehr sein, als ein Medium, woran sich die im Hintergrunde gähnenden Massen zersetzen. Sie wollen nicht nur zerstören, sondern auch aufbauen, neben dem Schwert auch den Scepter führen.
Von jeher hat es Männer gegeben, die über dem Kampfe der Parteien erst den wahren Mittelpunkt ihres Lebens finden wollten. Sie suchten das Außerordentliche, weil entweder ihre Bildung eigenthümlicher gestaltet war, oder der Drang ihrer Ueberzeugung sie trieb. Sie bedurften der Masse, aber nur des Gegensatzes und der Folie wegen. Der Eine suchte einen tieferen Frieden des Gemüths, den er im Lärm des Marktes nicht finden konnte, der Andere war Egoist aus Eitelkeit oder aus Reflexion. Diese Leute verlangen von der Wahrheit, daß sie auch immer neu, von ihrer Darstellung, daß sie Jedem überraschend scheine. Daher verschmähen sie eine Gemeinde, wo der Schüler vom Meister nur durch den Unterschied des Alters getrennt wird. Wir Deutsche würden mehr Vertheidiger der politischen Freiheit aufweisen können, wenn sie mit unserer Kunst, Wissenschaft und Literatur inniger zusammen hinge. Weil sich die politische Wirksamkeit selbst in den Weg treten 215 würde, wenn sie tiefer eindränge, als in die Durchschnittsintelligenz des Volkes, so sind ihre Begriffe und Terminologien einfach.
Es gibt in Preußen Leute, die sich schämen, das Wort Constitution in den Mund zu nehmen, und es sind sonst die schlechtesten noch nicht! In Frankreich hält die Politik und der Kampf der Parteien alle Richtungen des dichtenden und denkenden Geistes zusammen. Dort sind die Helden des Tages auch Helden des Jahrhunderts. Wir Deutsche, bisher allem öffentlichen Leben entfremdet, haben von den Goldminen der Wissenschaft nie geahnt, daß sie unter dem Boden des Staatslebens sich fortziehen. Unser politisches Streiten ist demokratisch, wir sind aber gewohnt, nie die Feder zu greifen, als im Geiste unserer literarischen Aristokratie. All diese kleinen Momente unseres früheren Lebens, auf die uns eignes und fremdes Urtheil stolz gemacht hat, sollten von großartigeren Triebfedern nun ersetzt werden müssen? Die Nothwendigkeit der Politisirung unserer Literatur ist unläugbar. Man gehorcht ihr zwar, aber mit welcher Zögerung! mit welchen fremdartigen Erscheinungen! Sie wird noch die häßlichsten Leidenschaften aufrufen. Die Eitelkeit der Originalität, die schmutzige Begeiferung, die fast anerkannter Ton unserer Kritik ist, Neid auf literarische Berühmt-216heit, das Alles steht dem Siege der guten Sache entgegen. Noch werden sich Viele von ihr darum abwenden, weil die wenigen Erkennungs- und Stichwörter des Liberalismus ihrer Phantasie nicht zusagen. An Vieles gewöhnt, finden sie da nur wenig. Sie lesen oft so schwache, unreife Behandlungen liberaler Doctrinen, die sich durch Nichts auszeichnen, als durch ihren guten Willen, aber wenn man auch die Tiefe der Begründung, die Form des Geistreichen selbst im Ausdruck schätzen muß, so dürfen sie doch in einer Zeit, wo nur die Massen siegen, sich von ihnen nicht lossagen, ohne eigenen Schaden.
Es gibt noch Andere, die aus andern Gründen dem Liberalismus untreu geworden sind. Sie konnten den Nachwuchs eines neuen Geschlechts nicht ertragen, sie wollten nicht, daß man munterer, dreister dem gemeinschaftlichen Feinde die Spitze bieten könne. Es ist in Frankreich ebenso gegangen. Die in der alten französischen Kammer einst die äußerste Linke bildeten, die ausgezeichnetsten Glieder der ehemaligen Opposition sind nur darum in die rechte Mitte des Centrums hinaufgerückt, weil sie nicht ertragen mochten, daß eine Weisheit, die ihnen geborgt war, sich in jugendlichen Gemüthern lebendiger bethätigte. Die Menschen erschrecken nicht so sehr vor dem Was? als 217 vor dem Wie? So sind in Deutschland die ehemaligen Heerführer des Liberalismus die legalsten Organe der Regierung geworden. Früher sprachen sie allein über gewisse Wahrheiten, jetzt thun es ihnen hundert Andere nach. Daher sind es nur Wenige, die sich den rüstigen Ersatzvölkern haben assimiliren können, und zu ihnen gehörst Du nicht, Geliebte, denn ich glaube wirklich, Du zürnst mir, seither ich so, wie Du, empfinde? Aber das hindert mich nicht, Dir wieder in einem sehr wichtigen Punkte beizustimmen. Ich gebe ja nicht nur der Wahrheit, sondern auch Dir gern die Ehre.
Du hast Recht. Wir kämpfen nur um die Wege zum Ziele, kennen aber das Ziel selbst nicht. Der letzte Grund unserer Wünsche ist noch kein bestimmter Zustand, sondern nur die Möglichkeit, sich frei zu bewegen, das Mittel, einst irgend einen Zustand herbeizuführen. Wir wollen die Freiheit haben, künftig das zu sein, was wir sein werden. Dies ist aber auch das Gesetz unserer Zeit. Die Willenskraft muß bis zu dem Letzten im Volke wieder geboren werden. Erst muß ein Jeder das unbeschränkte Gefühl seiner Person gewonnen haben, und dann mag er hintreten, und anfangen, was seines Geistes Gebot, seines Herzens Gelüst sein wird. Das Zeitalter der Revolution deutet 218 auf eine neue Schöpfung. Ihr erstes Werk, innerhalb der Menschengeschichte muß der dritte Adam sein, der in der Welt erschienen ist. Wie in Christo die Menschheit in die Einheit gesetzt wurde, so muß sie einst in die Besonderheit gesetzt werden. Wer da weiß, was er sagt, wenn er Ich sagt, ist ein neuer Heiland der Welt. Ob dieser Ausbruch des allgemeinsten Fichtianismus auch jener Augenblick ist, wo Alles, was sonst der Mensch aus der Vergangenheit als geschichtliches Erbe auf seinen Lebenspfad miterhält, rein verschwunden ist, wo alte gesellschaftliche Ordnung, Christenthum, wissenschaftliche Bildung nur wie ferne Erinnerung an die menschliche Seele klingen wird, wo man Nichts mehr findet, als die Sehnsucht nach einer neuen Erfüllung des ausgeleerten Bewußtseins? – vielleicht weiß Dein Scharfsinn mir darüber Auskunft zu geben. Wird man wieder eine Idee brauchen, um damit die Welt zu regieren? werden die Gesetze in todten Buchstaben, oder in den Herzen der Menschen beschrieben sein? Wird es wieder Personen geben, die man für die sichtbaren Träger des Gesetzes hält? Werden überhaupt die kleineren Geister wieder größere zu Vormündern, zu Gesetzvollstreckern wählen, oder wird man alles Redens und Strafens überhoben sein? Gib mir Antwort, Beste!
219 Um die Zukunft zu erkennen, sieht man in die Vergangenheit. Ich thue das, find’ aber nirgends eine passende Analogie. Die Verhältnisse werden verschieden, daher auch die Bedürfnisse andere sein. Natürlich ist die Zukunft das Werk einer allgemeinen Revolution, sollten also die revolutionairen Zustände unserer oder früherer Zeit nicht einiges Analoge zur Hand geben? Sie lehren freilich das ewige Bedürfniß des Menschen, ein Gesetz, eine Idee, die Alle zusammenhalte, an die Spitze jeder Gemeinschaft zu stellen. So viel Blut ist nur geflossen, weil man wollte, daß es nicht flösse. Nur darum war die Anarchie an der Tagesordnung, weil Alle die Einigkeit wünschten. Aber wie? man wollte ein Gesetz, und doch keinen, der es gäbe. Man liebte die Menschheit, und haßte die Menschen. Darum glaub’ ich es nicht, Geliebte, daß einst in Buchstaben wieder geredet wird. Die Liebe wird herrschen. Aber die Liebe steht nicht unter dem Gesetz, sie ist Feindin des Gesetzes, wie Du schon in der Bibel lesen kannst. Viele Dinge werden dann aufhören, besonders die, die jetzt schon keinen Sinn mehr haben. Auch wird es keine Helden und Hofräthe mehr geben, weil man die Dummen von den Klugen nicht mehr unterscheidet. Du verstehst mich doch? Diese haben sich bisher so unterschieden, 220 daß die Klugen an den Dummen zu Rittern, die Dummen an den Klugen immer zu Hofräthen geworden sind. Das nimmt Alles ein Ende. Nur die Liebe nicht, und die Treue nicht.
O liebe mich, und bleibe treu, dem Treuen! –
221 Neunzehnter Brief.#
Wenn der Schwätzer Plutarch noch lebte, Theure, so müßt’ er die Parallelen unserer Lebensgeschichte ziehen. Aber wenn Du glaubst, wir Beide zusammen machten erst ein vollkommenes Ganze, so irrst Du Dich. Ich fühle mich wohl gern in Deiner warmen Lebenshelle, Du milde Sonne, aber ich will doch lieber durch Dich erklärt, als von Dir ergänzt sein. Wenn Du in die Dunkelheit meines Lebens wie Sonnenlicht fällst, so denk’ ich, Finsterniß kann nicht ohne Helle hell werden, aber wer schon wie Du, hell ist, bedarf der Nacht nicht. Ich könnte meinen Werth durch Deine Mischung erhöhen, aber Du verlierst durch die Zuthat meiner Schwäche. Gerade will ich klein sein, um Deine Größe bewundern zu können.
222 Dies Ansinnen hab’ ich aus Bescheidenheit zurückgewiesen. Aber da Du es auch mit vieler Consequenz auf das Ganze und Große der Geschichte bezogen hast, so gesteh’ ich offen, daß Du zwar die Kunst, aber nicht die Wahrheit gefördert hast. Du denkst nun, die absolute Vollendung der Weltgeschichte construirt zu haben. Du beschreibst mir Deine allerdings erstaunenswerthe Sammlung von Supplementen zu den vorhandenen theils unvollendeten, theils verfallenen Ueberresten alter Kunst. Alle die Nasen, Hände, Zehen, Füße, die an diesen Statuen fehlen, hast Du nachformen lassen und sie in einem Museum gesammelt als Symbole unserer historischen Zukunft. In so fern Du die Kunst mit der Geschichte in Verbindung gebracht hast, stimm’ ich Dir bei; denn allerdings ist die bildende Kunst in früherer Zeit der unmittelbarste Ausdruck des nach Formen ringenden Weltgeistes gewesen. Aber mit der ganzen Fülle nachsichtiger Freundesliebe frag’ ich Dich, ob wir nichts Anderes suchen sollen, als was die Vorfahren verloren haben, nichts Anderes verfolgen sollen, als was ihnen entgangen ist? Ist nicht die schwächste Art, in das großartige Spiel der gelösten lebenden und lebenschaffenden Kräfte einzugreifen, jene Reflexion auf die Vergangenheit, wo wir uns ihr gefangen geben, und nur das wollen, 223 was ihr nicht gelungen oder verborgen geblieben ist? Im dreizehnten Jahrhundert wollte man das Revolutionswerk, wie es bei Brutus und Cassius einst stehen geblieben, in Rom unmittelbar fortsetzen. Das war eben so thöricht, als wenn man im neunzehnten die Reformation im Sinne Luthers vollendet. Im funfzehnten Jahrhundert gaben die pedantischen Narren, die man die Wiederhersteller der Wissenschaften zu nennen pflegt, beständig vor, sie kämen eben von den Brüsten des classischen Alterthums und hätten vor einer Viertelstunde mit Cicero gesprochen. Nicht besser haben vor einigen zwanzig Jahren poetische Phantasten solche Töne auf ihren Lauten angeschlagen, als könnten sie stündlich an den Hof des Landgrafen von Thüringen, oder gar an Artus Tafelrunde gerufen werden.
Du ahnst gewiß nicht, daß Du dergleichen durch Dein Beispiel geheiligt hast. Du vergissest außerdem, daß eine einzige Frage den Schlüssel zu Deinem so kostbaren Cabinette verbirgt. Wer hat von irgend einer Zeit ein Schema, das anzeigen könnte, was sie an sich selbst vergessen, was im Gedächtniß der Nachwelt sich von ihr verloren hat? Wenn wir ein altes Bild restauriren, welches ist die Probe, daß wir die erste Fassung vollständig wieder gegeben haben? Wer bürgt Dir dafür, daß Du mit Deinen Armen und Beinen die Welt 224 der Antike, wie sie ursprünglich war, erreicht und ergänzt hast?
Laß uns nie die Bände der Weltgeschichte überspringen, sondern nur so handeln, wie es der gestrige Tag dem heutigen befohlen! Ein Ganzes weist Dir die Geschichte der Menschheit so lange nicht nach, bis sie selbst ihren Lauf vollendet hat. Der Gedanke mag seinen Mittelpunkt und vollkommenen Umkreis in dem ihn denkenden Geiste finden, aber die That wird ewig Torso bleiben. Kann denn eine Blume ewig blühen? Hat nicht die Natur dafür gesorgt, daß jeder Tag eine neue, nur an ihm blühende aufzuweisen hat, gleichsam seinen Blumenheiligen? Wenn wir nun wirklich unser beiderseitiges Dasein zu einem Ganzen zusammenfügen wollten, wie sollen wir wissen, daß wir so dem Ideale der Humanität näher stehen, als wenn von uns Beiden Jeder sich für sich behielte? Ich habe mich in meinem Leben unendlich oft verwandelt, und bin nicht nur dabei stets derselbe geblieben, sondern habe mich auch dem Wesen des göttlichen Geistes näher gefühlt, als wenn ich mir einen unveränderlichen Normalzustand angeschafft hätte. Ich habe oft heute da Ja gesagt, wo ich morgen Nein sagte, und das hat mich unendlich mehr erquickt, als eine entschiedene Meinung. Ich glaube an die Palme als das allein 225 der Menschheit würdige Symbol. Nichts destoweniger steck’ ich gern ein Schwert vor mir in die Erde, und bet’ es an als meinen König, wie wilde Völker thun. Man spricht da unaufhörlich von der Consequenz. Woher weiß man, daß die Consequenz die Wahrheit ist? sie ist nicht einmal die Ueberzeugung von der Wahrheit. Ueberzeugt kann auch ein Spitzbube sein. Der Teufel kann sich auf die Consequenz seiner Ueberzeugung berufen. Ich habe mich unaufhörlich gehütet, in der Metamorphose meines Lebens ein Gesetz aufkommen zu lassen. Schon darum nicht, weil man in meine Fußstapfen hätte treten können. Ich will die Wahrheit meines Lebens für Niemanden verbindlich machen. Wer sich zuerst meinen Anhänger nennt, wird in mir selbst seinen ersten Gegner finden.
Ich will Dir die drei Hauptverwandlungen meines Lebens vorführen. Urtheile selbst, ob ich meine Hand abhauen muß, weil sie erst eine Oriflamme, dann eine Pritsche und zuletzt ein Schwert führte!
In der Zeit der Reifröcke und Perrücken geboren, trug ich mich doch immer à l’enfant, und ging offen in meiner nackten Schönheit. Ein tausendfach gefaltetes Gewand war die Welt in meiner Jugend. Schon früh hatt’ ich den Muth, es an seinen Enden zu ergreifen und es faltenlos zu 226 ziehen. Ich glich einer Blume, aber gedörrte, gelbe Blätter machten meine Blüthenkapsel. Ich konnte nicht einmal meine eigne noch verschlossene Herrlichkeit betrachten, nur ahnen. Da brach endlich die lästige, morsche Hülle, und die verschämte Gluth meiner entfalteten Pracht durfte sich frei in den flimmernden Wellen des Lichtes baden. Die Vorurtheile meiner Zeitgenossen, die ihnen anerzogene Bildung erfüllten mein Herz, das nur für das Wohl der Menschheit schlug, mit tiefster Wehmuth. Vergebens rief ich in die Salons meine ernsten Warnungen; noch waren sie aber zu schwach, das Geräusch dreist ausgesprochener Lügen zu übertäuben. Darum trat ich an die Wiege des Unmündigen. Aber auch hier mußt’ ich erst die geschwätzigen Ammen mit ihren Mährchen und albernen Erfindungen vertreiben, eh’ ich die bedrohte Unschuld in die Einsamkeit der abgelegenen Natur retten konnte. Das süße Lallen der Kleinen flößte in die Empfindungen meines Herzens die innigste Wärme. Ich glaubte, in einem Paradiese zu leben, in dem die Schlange der Verführung nicht wäre, aber ich stand nur wie eine Cyane unter reifen, überreifen Aehren. Ich glaubte, wie der göttliche Gesandte von der Höhe Nebo in ein gelobtes Land zu sehen, wo nur Milch und Honig flösse, und es war Blut, das die Schar meines 227 Volkes erwartete. Hab’ ich es aber ahnen können, daß ich es war, der die Völker in die Thäler des Schreckens führen half! Daß ich meine Blumen zusammenbrachte, nur um ein Schaffot zu errichten! So wahr man mich damals Rousseau nannte, mein Herz wollte nur das Beste!
Ich stieg die Ufer des Genfersees entlang, auf die höchsten Gipfel der Alpen, und machte sie zu meiner Sternwarte. Millionen Sterne tauchten aus der blauen Himmelsdecke, die wie ein Baldachin über die schlummernden Erdbewohner ausgebreitet war. Mein lauschendes Ohr vernahm die Seufzer, die der beängstigten Brust so vieler Dulder entfuhren. Sie rannen zu einer großen Blume zusammen, die ihre Blüthenblätter sehnsüchtig in die Seite des Himmels streckten. Sie flehten nach Linderung der Leiden, nach kühlendem Thau, und fanden Beides in ihren eigenen Thränen. Engel stiegen eine wie Harfentöne klingende Himmelsleiter herab, und flochten einen großen Blumenkranz, den sie rings um die Eiszinken der Alpen wanden. „Heil – sangen sie, und es tönte lieblich wie Flöte und Glockenklang – Heil allen müden Lebenspilgern! wir führen sie an die Quelle der ewigen Genesung! Sie haben ihr Leid verloren, denn über unsere Sänge haben sie es vergessen!“ Ich stieg hinab in die Thäler, und die 228 Menschen verehrten mich wie einen Propheten. Wenn sich mein Geist in blitzende, leuchtende Strahlen spaltete, so war ich Regenbogen und Sonne zugleich, Wärme so gut, wie Licht. Gern sah’ ich in die Kreise des menschlichen Lebens, auf die sonst der Stempel des Gewöhnlichen gedrückt ist. Aus den tiefsten Schachten einer reinen Gemüthswelt sah’ ich reines Gold blinken. Mit dem Zauberstabe meiner sanften Rede führt’ ich die Engel, die der irdische Glaube der Menschen an den Hütten der Unschuld und ungezwungenen Sitte unsichtbar gemacht hatte, wieder heim in diese Wohnungen des Friedens. Wie grünende Inseln schwammen meine Gedanken lange unentdeckt auf den Gewässern meiner Zeit. Nur verirrte Schiffer oder ein Unglücklicher, dessen letzte Rettung ein erhaschtes Boot gewesen, fand sie. Dann labt’ er sich an dem süßen Quellwasser, das aus meinen dunkeln, heimlichen Grotten floß, an den fröhlichen, muntern Tönen geschwätziger Waldbewohner. Aber oft hat sich in einer Welt voller Flachheit und Entartung die Unschuld mit scharfem Stahl gewaffnet, so hab’ auch ich die dunkeln Schatten meiner Zeit mit Feuerlilien vertrieben. Meine Frühlinge keimten meist nur aus Asche, wie aus den Lavaströmen des Vesuvs die Thränen Christi keimen. Die Biene war mein Sym-229bol. Schwärmend voller Lust im weiten Raume, den süßesten Staub aus allen Blumenkelchen saugend, aber auch stechend den, der den Heiligthümern, deren Dienst mein Leben geweiht war, nicht mit frommer Scheu nahete. Damals hieß ich Jean Paul.
Ist die Welt eine Schöpfung Deines Gedankens, oder hat sie nur Deinem Gedanken Licht, Deinem Gefühle Wärme gegeben? Wenn Du eine Blume an der Quelle eines Stromes in die Fluth warfest, hast Du sie noch da, wo sie ins Weltmeer trieb, duftend und schön gefunden? Wenn die Welt verlangt, daß wir die Herren unserer Einbildung seien, fühlen wir, daß wir ihre Sclaven sind. Wenn einst himmlischer Seelenfriede mein Traum war, jetzt welch ein Erwachen! Die Liebe soll die Zauberformel sein, die uns die Hölle in den Himmel verwandelt. Liebe! Liebe ist die Frucht der Eitelkeit. Hört sie nicht auf, Liebe zu sein, wenn sie Treue wird? Ehe! Sie ist ein Institut des Staates, das Gefühl der Hinfälligkeit, künftigen Schwäche und Verlassenheit ihre Grundlage. Religion! Es gibt einen Gränzstein, wo sie Lüge wird, wo ist der? Auf welcher Station bin ich noch im Gebiete Gottes, auf welcher schon im Gebiet des Teufels? Solche Fragen nannte meine Zeit Zweifel, Doctor Faustthum. 230 Sie beklagte mich, daß ich nur an der Vorhalle zum Tempel des Verständnisses der Welt stehen geblieben sei. Welch thörichter Glaube! Theilweis Haltbares fassen die Menschen zusammen, und lassen sich dadurch in ihren Handlungen bestimmen. Viele halbe Wahrheiten zusammen genommen, geben ihnen zuletzt die vollkommene Wahrheit. Wenn ich an der Vorhalle des Heiligthums, wo meine Zeitgenossen anbeten, schon meine Hand in ein Becken tauchen muß, um mich mit magischem Wasser zu segnen, so wag’ ich auch keinen Schritt weiter, bleibe draußen und bete lieber die todten Steinbilder an, die vor dem Eingange Wind und Wetter getrotzt haben. Einst ließ ich mir einen Schädel als Pocal zurichten, und hab’ aus ihm die reine ewige Lust des Lebens getrunken. Das nannte man bizarr, und rechnete mich unter jene kleinen Geister, die sich die Welt als Widerstand ihres Willens dichten, um nur unter den Titanen aller Zeiten mitgenannt zu werden. Dann floh’ ich meine Heimath. Die schwachen Nerven meiner Zeitgenossen wollten gesehen haben, daß ich von den brennenden Fackeln meiner Reue unstät getrieben würde. Ich hab’s wohl tiefer, als man es geahnt hat, selbst gefühlt, daß ich in mir keinen Frieden fand; aber ich sah, daß der Geist dieser Zeit in eben solchem Drange sich selbst verfolgte, 231 was konnte mir größern Trost gewähren? Ich weiß, daß das Buch des Lebens nie mehr enthält, als was wir hineinschreiben, daß der die Zeit verstand, der seinen Geist zu dem ihren machte. Wer jede Stunde benutzt, hat einen Tag genossen, auch Jahrhunderte bestehen nur aus Tagen. Mein junges Leben hab’ ich mir in Augenblicke getheilt, und wenn mir jeder dieser Augenblicke einen Freudenbecher an den Mund setzte, so hab’ ich ihn getrunken. Verstand ich also nicht mich, nicht meine Zeit? Weil ich aber nie rechte Entzückung empfunden, so starb ich an der ersten, die ich empfand. Ich starb im Morgenroth eines schönen Tages, sah noch die aufgehende Sonne der Freiheit, und ganz Europa erfüllte die traurige Kunde, Lord Byron sei zu den Todten gegangen.
Aber noch leb’ ich, Geliebte! Ich gleiche dem Gedanken und der Natur, die sich ewig zerstört, um sich ewig wieder zu erzeugen. Die Leidenschaften der Menschen läutern sich immer mehr. Jetzt hoff’ ich auf sie, weil sie selbst hoffen.
Diesen Morgen, Unvergeßliche, als noch Finsterniß im Thale lag, die Sterne aber schon immer matter und ferner glommen, ergriff ich den Wanderstab, um meine Lebensreise fortzusetzen. Einen Strom ging ich entlang. Von den morschen Weidenstämmen, die in der dunkeln Fluth ihre 232 zitternden Blätter suchten, hielt sich grünes Wiesengras in bescheidener Ferne. Im Vorübergehen übersah ich keine Blume, schon schmückte der schönste Strauß meinen Hut. Während ich so unter Gesang und Selbstgespräch rüstig weiter schritt, fiel endlich mein Blick auf das jenseitige Ufer des Baches. Es schlich mir etwas Dunkles nach, das ich in der noch tiefen Morgendämmerung nicht zu unterscheiden vermochte. Erst glaubt’ ich meinen Schatten zu sehen. Der war mir von jeher der fatalste Gesell. Schon in meiner Jugend machte mich mein Schatten oft schwermüthig; ich wollte gern über ihn wegspringen, und versuchte dies mit den possirlichsten Biegungen und Wendungen. Oft ging ich aufs Feld hinaus, lief eine Weile im Sonnenschein, mich zwingend, an den Schatten nicht zu denken; dann aber sprang ich plötzlich auf, weil ich nämlich so hoffte, den Schatten überrascht zu haben. Heute ging aber der vermeinte Schatten auch dann weiter, wenn ich still stand. Bald erkannt’ ich einen Mann, der mich freundlich über den Bach grüßte. Von unsern beiderseitigen Ufern sprachen wir viel von den noch schlummernden Menschen, ihren Träumen, ihrem Alpdrücken, von frischer Morgenluft, von Hahnenschrei. Jetzt ward aber die Gegend immer heller, und endlich verwandelte sie meinen Begleiter in 233 ein Weib. Nun zogen wir auf unser Gespräch andere Saiten. Wir sprachen von Freundschaft und Liebe. Dich, Freundin, gebraucht’ ich für alle meine Behauptungen zum Beispiel. Ich schilderte Deine Schönheit, ohne Dir zu schmeicheln, pries die Milde und Zartheit Deines Gefühls, und sprach von der Sehnsucht, die mein Herz nach Dir empfände. Da verhüllte die weibliche Gestalt am jenseitigen Ufer ihr Haupt und weinte. So gingen wir den Strom hinauf und dem Sonnenaufgang entgegen, schweigend und zur Erde blickend. Siehe! da standen wir endlich an der Quelle des Baches, schlugen unsere Augen auf, und lagen uns in den Armen. Aus der Tiefe des Thals leuchteten schon die Strahlen der aufgehenden Sonne herauf, sie küßten uns den Morgenthau von den Wangen. Jetzt hatten wir uns wiedergefunden, und werden uns nie, nie mehr verlieren. Wache und träume Dein Leben in meinen Armen, ich trage den Himmel in Dir! Du Getreue!
234 Zwanzigster Brief.#
Es summt mir noch immer im Kopfe. Wie viel Fledermäuse waren wohl gestern Nacht auf dem Schlosse? Die Sterne schienen so hell wie flackernde Kerzen, der Mond glänzte so milchweiß, daß ich’s um mich herum noch immer leuchten und blitzen sehe. Auch klang’s aus den Schläuchen des Aeolus so träumerisch süß, die Käfer strichen so ta ctfest mit dem Fidelbogen ihrer haarigen Schuppenfüße auf den summenden Flügeln, und Eule, Primadonna, erntete bei ihrem Debüt als erste Kammersängerin so rauschenden Beifall, daß ich’s noch immer musiciren und klatschen höre. Die bunten, bemalten Scheiben wurden lebendig und Türken, Polen, Griechen, Lindwürmer und heilige George schritten abgemessen durch den weiten Saal, 235 der vom Jubel der Fledermäuse, von Denen Du eine, meine Ewige, warst, wiederhallte. Auch Alpenkinder, Tyroler, Barfüßer, Ritter von Blech und Damen, die französisch sprachen, gingen im bunten Gewirr durch einander, und lachten einen zusammengeflickten Lumpenkerl aus, einen Lappenhanswurst, der ich selbst war. Du weißt, ich kann nie fröhlich sein, wenn man es von mir erwartet, und mache meinem Kleide immer selbst die größte Schande. Ein Polizeiofficiant hatte sich an der Thür des Redoutensaales davon überzeugt, daß in meiner Pritsche kein Dolch, kein Stoßdegen, noch sonst eine tödtliche Waffe verborgen sei, aber ich brach mir und meinem Schneider das Wort. Statt wacker unter die tanzenden Paare zu stürmen, hierhin, dorthin lustige Schläge auszutheilen, zweimal, dreimal über mich selbst wegzuspringen, lehnt’ ich mich wie ein blinder, enthaarter Simson an einen Säulenpilaster, und sah nach Dir und schwamm in Thränen. Ein weinender Hanswurst!
Ich bin ein Kind meiner Zeit, und trage mein braunes, haariges Muttermal drittehalb Zoll vom Herzen. Statt die Freude zu genießen, zergliedr’ ich sie. Ich will sehen, was man nur hören darf, und wie die Kinder Alles zum Munde führen, zieh’ ich mir Alles zu Gemüthe. Die 236 Maskerade war im Schlosse des Fürsten. Seine jüngste Tochter, die aber schon sehr alt sein muß, weil ich Dich schon so lange kenne, hatte die Hand eines werbenden Prinzen angenommen, und weil Heirathen gleich Demaskiren ist, so pflegt in diesem Falle Freiredoute zu sein. Es war Lärm entstanden. Pierrot hatte Columbinen küssen wollen, und traf sie mit Harlekin in einem dunkeln Winkel. Beide beriefen sich auf das Versprechen der Kleinen, und alle Drei auf die Maskenfreiheit. Einem Sensenmann wollte die einzige Person, die auf Redouten ohne Maske erscheint, die Polizei, das Recht des Bartes und der Ueberladung mit Emblemen der polnischen Nationalität streitig machen, aber auch dieser berief sich auf die Maskenfreiheit. Ja, selbst der muthwillige Spaß eines kleinen Essenkehrers, der Bäuerinnen und Königinnen die Schleppen nicht nur schwärzte, sondern selbst arge Figuren, Eselsköpfe, Brillen, Hexenkreuze anmalte, mußte durch diese Maskenfreiheit entschuldigt werden. Und ich sah’s, wie selig die Uebermüthigen auf ihre Freiheit trotzten, wie neckend sie die Artikel jener uralten Charte des Herkommens citirten, und unter den Masken Gesichter schnitten, daß ihnen vor Lachen die Augen ausgingen. Zum ersten Male in meinem Leben ward’ ich an der Republik irr. Ich kenne den Zauber, den die 237 Neuheit auf die Menschen ausübt, kenne den Reiz des Versteckten, und war für jenen Augenblick davon überzeugt, daß man eine Freiheit, die zuweilen harte Opfer verlangt, verkaufen würde gegen eine Sclaverei, die jährlich zur Carnevalszeit den Leuten viermal erlaubt, sich mit Vergnügen frei zu nennen.
Auch auf die Masken hat sich die Politik der Könige ausgedehnt. Sie sind ursprünglich demokratischer Natur, und verbargen oft den Schmerz, den Unwillen und den Spott, den ein Hof wie der römische und das Treiben der norditaliänischen Aristokraten veranlassen mußte. Der alte Kunstgriff der Schlauheit, den Gegner in ihr Interesse zu ziehen, ließ sich in diesem Falle vortrefflich anwenden. Seitdem haben die Fürsten nicht aufgehört, die geflissentlichste Sorgfalt auf die Maskeraden zu wenden, damit es nicht heiße, der Grundsatz der Gleichheit gelte in den Monarchien nirgends. Und es ist wahr, jede andere Art Belustigung wurde in den Zeiten der französischen Republik zugelassen, die Bälle ermangelten des alten Glanzes nicht, die Theater waren nicht verschlossen, aber die Maskeraden hörten auf. Natürlich; denn für jeden Tag im Kalender war ja damals die Freiheit als Heiliger angesetzt. Aber was kümmert das die Natur der Menschen, die 238 so gern das Außerordentliche dem Gewöhnlichen vorziehen, selbst wenn sie Schlechteres statt Besseres eintauschen!
Ich weiß nicht, bist Du es, die mich heute so monarchisch stimmt? Die Republik versagt jedem Bunde die Existenz, der nicht so groß ist, als sie selbst. Nun ist es aber wieder ein altes Gesetz, daß die Gesellschaft sich gern in Gruppen sondert, abgelegene Oerter sucht, um im Stillen mit den Liebhabereien seines Herzens zu buhlen. Man flüstert sich zu, und auf dem mondscheinglänzenden Rüttli hebt man so gern die drei vermessenen Finger zum Schwure auf. Die Monarchie macht keinem Geheimbunde sein Recht streitig, wenn sie sich von seiner Unschädlichkeit überzeugt hat. Dagegen wurde z. B. die Freimaurei von der Republik untersagt, ein Verbot, das der Menschheit grausam scheinen muß, weil sie weiß, daß in einem Lande vielleicht in der That kein Raum für den salomonischen Tempel, aber doch immer Platz genug für eine Tafel von hundert Gedecken vorhanden sein wird.
Die Brücke, die zur Wahrheit führt, ist oft nur eine Eselsbrücke. Auf diesem Wege kommen vielleicht noch einmal die Freimaurer zu ihr. Ich hätte mich schon längst Dir gegenüber zum wärmsten Vertheidiger dieser modernen Tempelherren aufgeworfen, wenn ich die Menschheit und ihr 239 großes Ideal mit dem rothen Adlerorden, dessen Band fast Jeder in der preußischen Staatsgesellschaft nach oben hin angestellte Maurer im linken Knopfloche trägt, in rechten Einklang bringen könnte. Ich muß lachen, wenn ich in den Tabernen der Antiquare nach alten Büchern stöbere, und auf die als Manuscript gedruckten Lieder der Maurer stoße. Da umschlingen sich Millionen und reichen sich den warmen Bruderkuß, Freude, der schöne Götterfunken, Tochter aus Elysium, senkt sich auf die seligen Zunftgenossen herab, sie jubeln und jauchzen den Brüdern auf fernen Zonen entgegen, und, wenn ihr Tritt schwankend wird, so gilt’s den geliebten Antipoden. Die Absicht bleibt schön und wahr. Seitdem keine Peterskirchen und Straßburger Münster mehr gebaut werden, baute man Casinos, Börsen, Admiralitäten. Man begegnet sich im gesellschaftlichen Verkehr, den fremden Zungen ist ihr Fremdartiges genommen, von den Vögeln und Früchten Indiens ist der mythische Farbenstaub gewischt, die Menschen werden stückweise wie die Pferde auf die Maschinen gerechnet, die Arbeit der Hände ist in Dampf aufgegangen, der mathematische Calcül ist der Mittelpunkt, um den sich die Tellerscheibe der Welt mit ihren Bewohnern equilibrirend herumdreht – ach! wir werden vor Steinkohlen und Prosa nichts, gar 240 nichts mehr sein, als Freimaurer. Du erlaubst, Gute, daß ich an dieser Stelle einige Thränen rinnen lasse, denn ich habe sämmtliche Schriften von Henrik Steffens gelesen, habe in alle Bäume, die im Thiergarten der Rousseausinsel nahe stehen, die verschlungenen Buchstaben K und R eingeritzt, und dabei Gedichte gemacht an Sie! Aber dennoch, würd’ es nicht thöricht sein, einen Zustand, den uns die flache, kahle Zukunft schon zurecht fegt, dadurch noch betrübter zu machen, daß man das Schöne in ihm nur durch die Vergleichung der Vergangenheit nicht bemerkt, das Wahre und Nothwendige gar nicht anerkennt? Gewiß, die Maurer sind in ihrer Art auch poetisch; sie haben so schöne, dunkle Laubengänge, so nette Partien hinter ihren heimlichen Clausen, und ich kenne viele geheime und wirkliche Räthe, die ordentlich schwermüthig sind, wenn sie einmal am Besuch der Loge verhindert werden. Wenn ich nur erst das gesetzliche Alter, einen ehrlichen Nahrungszweig und soviel damit erübrigt habe, daß ich die Rechnungen des Bruder Speisewirths und Armenpflegers honoriren kann, so laß’ ich mich in Royal York oder in die große Landesmutterloge zu den drei Weltkugeln einschreiben, und magst Du mir tagelang zu Füssen liegen und nach Deiner Anhänglichkeit an den alten Volksglauben mich vom Bunde mit 241 dem Satan abhalten wollen. Es fehlt den Maurern nichts mehr, als was der Christenheit vor drei Jahrhunderten, ein Reformator. Die Maurer sollen geschworne Feinde der Standesunterschiede sein, aber sie bilden sich ein, damit sei nur der Brudername gemeint und die Freiheit, in vertraulichen Mittheilungen den Titel Wohlgeboren wegzulassen. Sie müssen nach ihren Evangelien die Freiheit lieben, müssen in jedem Staate die Opposition bilden, und die Rechte des Bürgers wahren, weil sie die allgemeinen Menschenrechte verehren. Sie müssen sich für die Cortes todtschlagen lassen, und keine Theorie des Staates höher schätzen, als die eines Jeremias Bentham. Ich habe eine Festrede gelesen, in der dem Könige gedankt wird, daß er es nicht unter seiner Majestät gehalten, das Schurzfell vorzubinden, und an dem Tempel der Humanität bauen zu helfen. Wahrlich, wenn die gesellschaftliche Stellung der Bundesglieder bei ihnen so viel gilt, daß sie ihrer selbst nicht in den stillen Hütten ihres Wirkens vergessen können, so sieht man leicht, bis zu welcher Ferne sie die Gesetze ihrer Einigung verlassen haben, und es wird nicht mehr auffallend scheinen, wenn sie selbst von einem schon längst eingetretenen Untergang ihrer ursprünglichen Heimlichkeiten reden. Aber ich vergeß’ es ja! Verstehen wir nicht schon 242 längst die Kunst, Diener zweier Herren zu sein? Die Freiheit zu lieben, wenn wir dem Aristokratismus Vorschub leisten? Hat die Thorheit nicht schon oft den Demokraten den Rath gegeben, sich zur Erreichung ihrer Zwecke bei den Aristokraten einzuschmeicheln? Und sind wir nicht stark und unermüdlich in seiner Befolgung?
Du drohst schon wieder mit dem Zeigefinger, Geliebte! Erschrickst vor den sengenden Blitzen, die jetzt durch mein grollendes Redegeroll zucken wollen, und ahnst, daß meine Worte immer mehr sagen wollen, als sie zu bedeuten scheinen. Ja, Wolken können über die klare Bläue des Himmels ziehen, selbst Fliegen in der Milch sind mir nicht so zuwider, wie Coalitionen fremdartiger Elemente. Jeder freie Geist ist ein geborner Scheidekünstler. Die reine Hand darf sich nicht in die schmutzige legen, sonst geht’s wie in dem schlechten Sprichworte, daß eine die andere wäscht. Der Republicaner haucht im Arme eines Royalisten seine Seele aus. Man redet soviel von gesetzlicher Freiheit, aber dies Ding hat nur dann Sinn, wenn sich die Freiheit diese Gesetzlichkeit selbst gegeben hat. In den constitutionellen Staaten Süddeutschlands trifft man aller Orten auf Leute, die von der Regierung ein Privilegium erkauft haben, Demokraten sein zu dürfen, Demagogen, die der 243 Staat schon im Mutterleibe purificirt hat. Die Absicht dieser Männer kann edel und rein sein, aber sie thun selbst Nichts, daß man sie mit jenen Hochgestellten, die ohne zu wissen wie? in den Ruf der Freiheitsliebe gekommen sind, nicht verwechsele. Wir haben nämlich genug besternte und bebänderte Herren, die man für Freunde des Volks ausgibt. Ich pflege bei der Namennennung dieser Personen an jene Ludwig den Vierzehnten vorstellenden Reiterstatuen zu denken, an deren Schwerte diesem hochverrätherischen, liberticiden Schwerte das entzückte französische Volk in den ersten Jahren der Revolution mächtige Nationalcocarden von Eisenblech anheftete, ein Scherz, der als Scherz zu viel Wahrheit enthält, als Ernst aber mindestens geschmacklos ist. Die Freihheit trägt nie den Kammerherrnschlüssel.
Warum nur die Frauen nicht frei mauren dürfen? Wie geschickt würden Deine Schwestern Kalk und Mörtel herantragen! Wie angenehm würden sie die Freuden des Mahles würzen! Leider hast Du mich einmal vor Jahren versichert, Du Himmlische wollest Dich in keinen andern Bund einlassen, als in einen mit meinem Herzen; zu welchem Zwecke? hab’ ich vergessen: wollten wir nicht Beide einen königl. sächsischen Mäßigkeitsverein ausmachen? oder wie war das? Eines aber 244 darf mir Deine seelenvolle Güte nicht wehren, nach Vollendung des großen Tempels der Weisheit Dich zu vergolden und als die Kuppel oben aufzusetzen. Ach! dann werd’ ich gläubig in dem Heiligthume beten, denn ich weiß ja, daß Du den himmlischen Friedensbogen über mich ausbreitest! Lebe wohl! –
245 Ein und zwanzigster Brief.#
Dieser Eindruck war unbeschreiblich. Ich hab’ ihn wohl gefunden, den Brief, den Deine Liebe und meine Aufwärterin heut Morgen an das Fußende meines Bettes gebunden hatten, ich löste die rothseidenen Bänder, die ihn verschlossen hielten, und las die Ausbrüche Deiner Zuneigung und den unverstellten Ausdruck Deiner Theilnahme für mein Schicksal. Wie mich dieser sanfte Ton der Liebe rührte! Wie ich vor der Tiefe der Empfindungen bewundernd stand, und in den ruhigen Spiegel Deines sanftfluthenden Herzens hinuntersah! Nein, ich bin so hingerissen von diesen unvergleichlichen Zeilen, daß ich nichts Eiligeres thun kann, als Dich mit ihnen bekannt machen. Keine Freude ist wahr, als die wir gemeinsam theilen. Lies, 246 und ich werde jauchzen, wenn es Dir wärmer ums Herz wird. Auf den wallenden Fluthen Deines Busens werd’ ich in den Hafen meines Glückes segeln, und Dir, dem freundlichen Elemente, eine dampfende Hekatombe opfern.
* * *
* *
„Nun mag es schon eine halbe Stunde sein, daß meine sehnsuchtsvollen Beine auf Ew. Wohlgeboren endliches Erscheinen warten. Die meisten Paare sind schon ermüdet, es schwärmen die Tänzer mit ihren bis auf den Siedepunkt gekommenen Tänzerinnen schon durch das Dunkel der Seitenzimmer und Laubengänge, und neckend ziehen sie Alle an mir vorüber, die ich ihnen den Arm, ja den vielverlangten Arm abschlug, der zur ersten Ecossaise Ew. Wohlgeboren versprochen war. Was haben wir Weiber von den Versprechungen, die wir den Männern, und sie uns geben! Wer glaubt, Dem Treue halten zu müssen, der keine Mittel besitzt, für Treulosigkeit sich zu rächen!
Die Mazurka beginnt, und noch weiß ich immer nicht, an welchen Mann ich meine Grazie bringen soll. Theseus, so holen Sie doch Ihre verlassene Ariadne!
Wie die glücklichen Wirbler im Fluge vorüberrauschen! In einem einzigen Pas liegt ein Kampf 247 aller Charitinnen ausgesprochen, der sich immer zu Gunsten der Schönheit und Anmuth endet. Die ewige Unruhe des Beines, die leichte Hebung des Armes, die gesenkte Lage des Kopfes, aus solchen Exponenten ließe sich nicht die erhabenste Größe bilden? Mit Recht hat man den Tanz eine Musik fürs Auge genannt; warum wir Beide nur zögern, sie vollstimmig zu machen!
Der endlose Mechanismus unseres Lebens hat die neuern Völker verführt, bei der Vollendung der Künste da inne zu halten, wo man den Uebergang vom Schönen zum Nützlichen nicht entdecken konnte. Man hat sich gewöhnt, den Nutzen nur immer gleich im ersten Resultate einer Bemühung zu finden, für entferntere Beziehungen war unser Auge nie scharfsichtig genug. Die Gewöhnung an eingewurzelte Irrthümer hat aus vielen Dingen ihr Gegentheil gemacht. Die Philosophie ist unter unsern Händen und Büchern eine Wissenschaft geworden, die nur Sätze aufstellt über ihre eigne Nichtigkeit. Die Religion ist in Dinge gesetzt, deren Zusammenhang mit Gott man selten, den Zusammenhang mit dem menschlichen Herzen man nie einsehen wird. Die Wände unserer Kirchen sind mit weißem Kalk übertüncht, und kein Bild in ihnen, als das ein zärtlicher Liebhaber von seiner Schönen vielleicht auf der Brust tragen mag, da-248hingegen die Tempel der Alten selbst zeugen konnten, wie hoch sie die Kunst als das Opfer schätzten, mit dem man den Göttern dienen müsse.
Die Musik ist freilich längst in ein Recht getreten, auf das sie seit dem ersten Tone, der durch die zitternde Luft flog, so begründete Ansprüche hat. Niemand wagt mehr in die Oper zu gehen, um sich ein Vergnügen zu verschaffen, ja die Welt weiß längst, daß die Bühne der Kanzel gleich kommt, einem Orte, von dem nur Belehrung ausgeht: einen Prediger zu hören, macht ja so selten Vergnügen.
Auch die bildenden Künste haben eine willkommene Stellung gewonnen. Wir haben nicht nur Maler, die in den schattigen Friedenspalmen, die zu den Thronen führen, ihre Staffelei aufrichten, sondern auch Könige, die ihre Throne nicht auf die Herzen der Unterthanen bauen, sondern auf die Ateliers derer, die unter ihnen mit Pinsel und Meißel umzugehen wissen. Die Orchestik aber ist in diesen Begünstigungen sehr zurückgeblieben, wie eine Tänzerin, die auf ihren Tänzer wartet. Nein, es scheint, als hätten Sie mich doch wahrlich vergessen!
Ich weiß wohl, daß die erste Sorge eines Finanzministers ein Plus für den Staat und die erste Tänzerin sein muß. Aber wie interessant sich 249 auch die Beine einer Tänzerin mögen anatomiren lassen, so wissen wir doch mit den Fürsten zu gut, daß die Künstlerin außer jenem Gliede noch andere und ein fühlendes Herz hat, und daß sie nur den in ihre Arme schließen wird, der dieses gewonnen. Ich muß gestehen, gegen diese Theilnahme an der Kunst, in der man nur die liebt, die sie betreiben, sträubt sich meine Einsicht und in anderer Rücksicht mein weibliches Zartgefühl.
Wenn wir dem Tanze eine höhere Stufe in unserer Cultur einräumen, so denk’ ich nicht an die wilden Völker, von denen wir freilich selten mehr hören, als daß sie schwarz oder braun oder gelb sind, Muscheln in der Nase tragen, sich das Gesicht zu einer blutigen Fleischmosaik schneiden, Menschenfleisch über Alles lieben, und endlich leidenschaftliche Tänzer sind. Das ist es eben: ich will die Begeisterung von der Leidenschaft reinigen und sie zur Besonnenheit zurückführen.
Die Griechen sind in allen Dingen meine Muster; auch über die Würde und Kunst des Tanzes können sie allein Aufschluß geben. Unter sanfter Begleitung einer lydischen Flöte tanzten sie auf dem Theater ihren tragischen Menuettreigen. Sie sprangen nicht; denn wie Jener, der aufgefordert wurde, einen Mann zu hören, der die Töne einer Nachtigall treffend nachahmen könne, 250 erwiederte, er könne ja die Sängerin des Haines selbst hören, so hätt’ auch jeder Athener gesagt, Böcke könn’ er am Ilissus viele springen sehen. Menschliches wollten die Griechen überall; denn sie wußten, daß wir beständig zum Thiere tendiren und der vollkommene Mensch der göttliche ist. So sahen sie in den abgemessenen Bewegungen nur die Ausdrücke der Liebe und des Hasses, der Verwunderung und des Entsetzens; sie wußten, ob der Tänzer weine, wenn er den Fuß dorthin, ob er lache, wenn er ihn hierher setzte. Selbst die Römer waren, wie in Allem, so auch hierin ernst. Ohne daß Roscius sprach, entlockte er ihnen Thränen, und Roscius war nicht einmal Tänzer. Genug, wir können dem Tanze keine höhere Ausbildung geben, als wenn wir ihn einmal mit der Pantomime verbinden, und um die höchste Gelenkigkeit zu erzielen, außer den Beinen auch den Armen die Knochen, dem Nacken das Genick brechen, sodann aber ihn mit der großen Sache Gottes und der Priester, mit der Religion, verbinden.
Eine Annäherung an diese Vollendung, bei der die Kunst und die Religion nur gewinnen können, findet sich bei den Bekennern des römischen Glaubens. Ich seh’ oft in ihren Tempeln eine Feierlichkeit, die der Pantomime vollkommen gleich 251 käme, wenn man nur von einem neuen Concile noch einige Veränderungen in der hergebrachten Form der Procession festsetzen ließe. Statt der hölzernen Christuspuppe sollte sich besser ein lebendiger Gott, dem die scheinbar eingerammten Nägel am Blocke nichts schaden müßten, schicken, ja die Würde der Handlung höbe sich dann auch mehr, wenn die Größe des Schauplatzes sich der natürlichen näherte. Die Chorknaben, Priester und Leviten, die die römischen Kriegsknechte, jüdischen Priester und Leviten vorstellen sollen, würden bei einer größeren Entfernung des geistlichen Publicums mehr bedacht sein, auf ihre Bewegungen zu achten und ihnen jenen Reiz zu geben, den die Verbindung der Kunst und Natur immer nach sich zieht.
Bei uns Protestantischen – ob da nicht der Redner, statt mit den Händen zu declamiren, lieber tanzen könnte? ob sich nicht die Wiedergeburt, das Ausziehen des alten Adams und das Ankleiden des neuen, das Wälzen im Blute Christi, die Ewigkeit der Höllenstrafen durch untrügliche Gesten ebenso darstellen ließen, als würde die fürchterlich fechtende, auf den Rand der Kanzel schlagende Hand von Worten begleitet? Ließe sich nicht das Schlußgebet für das Wohl und die Fülle der königlichen Gesundheit und der blechernen Becken an den Kirchthüren ebenso charakteristisch ausdrücken? Das sind 252 leise Andeutungen, deren Ausführung ich Andern überlasse.
Die südlichen Völker tanzen häufiger als die nördlichen. Unter einer Pinie ist im Campanerthale des Abends bald eine Partie arrangirt, während unsere Bauern immer bis auf den Sonntag und die Ankunft des Stadtpfeifers warten müssen. In Italien findet man die Blüthe des Ballets, die hier so gereift ist, daß der Ausländer gern von Extravaganzen spricht. Eine Reisende sah in Neapel ein Ballet aufführen, das die Geschichte Heinrichs des Vierten vorstellte. Dieser große König hielt es verträglich mit seiner Würde, seine Schritte nach den Touren des Balletmeisters einzurichten, und mit Sülly ein Pas de deux zu tanzen. Dieselbe Dame, von der ich diese Notiz entlehne, wie sehr sie den Widerwillen gegen diese Art des historischen Ballets nicht zu unterdrücken vermochte, mußte doch eingestehen, daß ein junger Italiener ihr zur Seite ausrief: „Bei Gott, Heinrich war ein großer Fürst! Wie glücklich mußten die Franzosen sein, einen König zu haben, der ein so großer Tänzer war!“
Ein italienischer Balletmeister war in dem Grade von seiner Kunst ergriffen, daß er jeden Kampf mit der Musik wagen wollte. Lange genug schien ihm das Vorurtheil, daß man Worte und 253 Thaten nur in Musik setzen könne, gegolten zu haben, er wollte beweisen, daß sich Beides mit ebenso gutem, vielleicht noch besserem Erfolge in Tanz setzen lasse. Und es ist wahr, er hat den Livius von seiner Truppe tanzen lassen, und gezeigt, daß man erst dann über den Tod des Cäsar weinen könne, wenn er mit einem Entrechat vor der Säule des Pompejus niedersinkt.
Du weißt, Freundin, daß ich jedes Ding in seiner Stellung zum Staate betrachte. Es ist das auch ein Despotismus, den wir Freunde der Freiheit ewig üben werden, weil wir nie aufhören dürfen, Menschen zu sein. Die Freiheit ist ein Talent, und als Anlage uns ebenso nur angeboren, wie die Sclaverei. Um den Menschen als vollkommen zu erziehen, dient für beide Eigenschaften die Zuchtruthe. Die Sclaverei muß ebenso erlernt werden, wie die Freiheit.
Kann der Tanz im Staate geduldet sein? Ich erinnere mich, Dir gezeigt zu haben, daß der Staat im Tanze sich vortrefflich ausnimmt, daß die Sitten und Gebräuche der Völker von ihrer niedersten Stufe bis zur höchsten staatsrechtlichen Uebereinkunft wegen Rechte und Pflichten durch Nichts anschaulicher gemacht werden, als durch die fünf ersten Stellungen der Füße, gleichsam die Kategorien und Elemente des Tanzes, und die 254 höchste Stufe, die nur ein Fuß im behenden Sprunge erreichen kann. Darf sich also auch der Tanz schmeicheln, zu dankbarer Anerkennung im Staate gern gesehen zu werden? Ich sage mit vollkommner Ueberzeugung: Ja! aus positiven und negativen Gründen.
Wir sind zum Leben im Staate nicht geboren. Es kann Gottes Wille nicht gewesen sein, daß wir Einem oder Mehreren gehorchen, die nicht er selbst sind, daß Männer für die Ordnung sorgen sollen, da die Unordnung an ihm keinen Theil hat. Wir sollen friedfertig und einträchtig nebeneinander wohnen, und Rechte uns zugestehen, als seien wir Alle Brüder. Staat ist nur Uebergangspunct in einen andern Zustand, und daß dieser glücklich ist, muß aus der Monarchie sich noch die Republik, dann aber erst aus der Republik sich das große Philadelphia bilden. Der wahren Bestimmung des Staats dient also Nichts, als seine Zerstörung: sein zärtlichster Freund wird immer sein geschworner Feind sein müssen. Macht aus dem Erdenrunde einen Staat, und wir werden ihn selbst zerstören, weil wir das Bedürfniß des Bauens haben, und auf das Gebäude des Staates alles Material verthaten. Freilich ist das Firmament ein Staat, und Gott ein Monarch, der sich die Gesetze und die Bahnen unterordnete, aber die 255 Sterne des Himmels werden einst auf die Erde fallen, und Gott wird sein strahlendes Scepter und die Sonnenkrone von sich werfen, und den Menschen weinend in die Arme fallen, und die zitternden Seelen um Vergebung bitten, daß er sie so lange in seinen allmächtigen Banden gefangen gehalten. Siehe da! warum ich der Taglioni die Tausende gönne, mit denen sie in Hamburg aufs Dampfboot stieg, warum ich mich freue, wenn die Fürsten die Tänzerinnen zu Ehren erheben und sie und ihre Kinder ernähren. Die Pirouetten der Coupé, die Solopartien der Vestris waren die Präludien der Revolution, für die man ihnen Bildsäulen setzen sollte. Hätten die Damen Allart und Guiman nicht Gelegenheit gehabt, für sich einen Hof zu unterhalten, dessen Tafel allein über 100,000 Franken aus dem Einkommen der Prinzen, die zu ihren luftigen, wundervollen Füßen lagen, wegzehrte, so würden jetzt noch alle Höfe, solche Nebenhöfe, so würde die Revolution nicht bewirkt haben, daß auf den meisten Höfen schon nichts mehr zu ernten ist, als zweimal im Jahre Gras.
Ist dieser negative Nutzen der Tanzkunst mit der Monarchie erst untergegangen, hat man sich in der Republik daran gewöhnt, dem Ballet nur eine kalte und gleichgültige Theilnahme zu schenken, 256 so wird in der Zeit, da die Heiligen, da Alle herrschen und Alle gehorchen, doch noch immer der Fuß sich heben, aber nur wenn auf dem Felde eine Schalmei, oder aus dem Walde ein Horn tönt. Ach! für eine solche Partie, Geliebte, bat ich mir das Recht des ersten Tanzes aus. Schon liegt mein leichter Hut bereit, und die seidenen Bänder flattern im Winde. Schon Viele sammeln sich zum Reigen, fröhliche Bursche und Mädchen, sie schenken sich Blumen und wieder Kränze. Hier um diese grüne Linde, auf diesem blumenreichen Rasen wollen die Paare zum Tanze gehen. Daß Du aber nur hier bist, wenn die Flöte beginnt, und ehe die Sonne sinkt! –
257 Zwei und zwanzigster Brief.#
Solche Melodien haben die Karthaunen noch nie gespielt. Heut’ ist der erste Tag angebrochen, da sich die Deutschen frei nennen dürfen, Ursache genug zur Freude, da dieser ersehnte Tag nicht der jüngste ist. Vor Jahren glaubten wir noch, nur die Todten dürften ohne Ketten durch das Schattenreich wandeln.
Palmen und grüne Zweige auf allen Wegen, bunte Fahnenwimpel flatternd in der Luft, schwellende Segel auf den blauen Strömen und Gesang aus allen Kehlen. Das entzückte Volk strömt durch die Gassen, hier und da vor den gebrochenen Zwing-Uris den Fuß inne haltend und die Steine bewundernd, in denen einst ihre Hoffnungen bei Wasser und Brod siechen mußten. Freunde, die 258 sich nur des Nachts beim Mondenschein auf den stillen Plätzen begegnet waren, weil sie ihren Schmerz nur den plätschernden Brunnen und dem leisen Nocturnus anvertrauen durften, sinken sich in die Arme, von jubelnden Scharen umringt. Väter heben ihre Kinder hoch über die Menge, und lehren sie, welchen Tag sie heut erlebt hätten.
Warum schleichst Du mir so leise nach? Was birgst Du dort in den Falten Deines Gewandes? Diese Bürgerkrone willst Du mir geben? Zerr’ mich nicht auf die Rostra, Du ungestümes Weib! Diesen Ort hab’ ich nie betreten wollen.
Wär’ es nur dies, daß ich in der Versammlung ein kühnes Wort spräche, und zum Troste und Rathe redete, warum nicht? meine Zunge ist ein zweischneidig Schwert, und ich opfre der Freiheit gern. Aber Du willst mehr, willst mich auf einen Schild und die Schultern des Volkes, die mich tragen sollen, heben, willst mich mit einer Krone zieren und zu einem Manne des Volks machen. Dazu fehlt mir Alles.
Die Geschichte ist reich an Beispielen, da Männer Könige waren, ohne das Scepter zu führen, Archonten, ohne daß das Jahr nach ihnen benannt wurde, Consuln ohne Lictoren, die ihnen vorangingen. Ebenso saßen Fürsten auf den Thronen, die die Menge noch öfter in ihren Hütten sah, 259 und jeder glückliche Vater als Pathe seines Erstgebornen einlud. Um ein Mann des Volks zu werden, durfte man nur zu ihm herabsteigen, befehlen, indem man zu gehorchen schien, und einen Rock tragen, den man sich leicht von dem Geringsten unter der Menge auch hätte borgen können. Aber so schön es ist, an den Fingern einen Ring zu tragen, den uns das Volk am Tage der Verlobung schenkte, so schnell verlischt sein Glanz, oder er wird täglich größer und weiter, daß er uns zuletzt von den Fingern gleitet. Nimm eine simple Weltgeschichte, und wenn es die simpelste von allen, die von Pölitz ist, zur Hand, und lies über die Helden, die einst Männer des Volks genannt und überall von einem Triumphwagen gezogen wurden, dem sich das Volk selbst vorspannte. In einer Nacht war der Triumphbogen aufgerichtet, in der nächsten stand er schon nicht mehr.
Wie Perikles ein Mann des Volkes war, so möcht’ ich keiner sein. Die Menge liebt’ ihn nicht einmal aufrichtig. Diejenigen, die unter dem Volke ein Schiff im Hafen hatten, oder ihre Sclaven in der Fabrik brauchten, oder mit Gewürz und Colonialwaaren handelten, die Aristokratie der Ruhe- und Friedliebenden haßte ihn, weil sich die Beiträge zum Kriege gegen Sparta täglich mehrten, und die Wege ihres Verkehrs verschlossen 260 wurden. Wenn es auch Augenblicke der Noth gab, wie in der Pest, wo Aller Augen auf ihn sahen, so mußt’ er sich doch oft selbst auf dem Markte vertheidigen, und es gelang nur dem Zauber seiner Rede, nicht immer seinen Beweisen, daß er sich die verlornen Herzen wieder gewann.
Alexander wurde nur von Soldaten geliebt, und Cäsar möcht’ ich nie sein, weil ich gern bei Philippi gegen ihn gefochten hätte, und die Liebe des Volkes verschmähe, wenn ich sie mir mit vertheilter Beute und hundert Sestertien auf jeden Bettler erkaufen kann.
Auch an Karls des Großen Ruhm beim Volke glaub’ ich nicht, weil das Volk weder wiederum jene Bettler sind, die an der Thür des Aachner Doms auf seine spendende Hand warteten, noch jene Ritter, die ihn in ihre Tafelrunde einführten. Man verfolge die ganze Reihe der römischen Kaiser, von Augustus bis Franzerl, man wird Keinen finden, dem jedes Herz im tiers état offen gestanden hätte, und wenn es hier und da, bei dem es sich der Mühe verlohnte, ihn zu beneiden. Die schwäbischen Bauern zerstörten den Stammsitz der Hohenstauffen, die für sie gekämpft hatten; und wie viele Wegelagerer aufgehängt wurden, die Habsburger sind mir immer zuwider gewesen.
261 Friedrich der Große wird zwar selbst in Spanien vom Volke auf die Bühne gebracht, und jeder Bauer in Deutschland klebt sein wasserfarbnes Conterfei an die braune Stubenthür, aber wie sehr ich ihn als Doctrinär verehre, und für die demagogischen Gesinnungen, die sich bei ihm überall finden, empfänglich bin, so hör’ ich doch immer mit Unwillen, daß man ihn einen Mann des Volkes nennt. Er hat es verkannt. Ich weiß wohl, daß das große Niveau zügellos in seinen Leidenschaften, in Liebe und Haß ist, ja daß es selbst patriotische Absichten falsch auslegt. Karl III. von Spanien, ein Fürst, von dem die Geschichte meldet, daß er ein sehr geschickter Drechsler gewesen ist, wollte sich um Madrid verdient machen, und er konnte nichts Besseres thun, als von den Straßen den berühmten Madrider Koth kehren lassen. Was thaten aber die Einwohner? Sie schrien und beklagten sich, man wolle sie in ihrer Nationalität verletzen. Solche Eigenthümlichkeiten, wie die Liebe zum Schmutz, hat allerdings das Volk, aber ein Feind der Gerechtigkeit ist es nie gewesen. Das läugnete Friedrich; denn er sagte: „Das Volk ist ein aus Widersprüchen zusammengesetztes Ungeheuer, das stürmisch von einem Verbrechen zum andern übergeht, und nach seiner Laune beliebig bald die Tugend, bald das Laster in Schutz 262 nimmt.“ Und dennoch soll der große König ein Mann des Volkes bleiben? Für diesen Ausspruch verdient er, daß man ihn an seinem Zopfe herauszieht aus dem Gedächtniß des Landmanns und Bürgers, und die Invaliden, die auf dem platten Lande mit Mäusefallen und Anekdoten vom siebenjährigen Kriege hausiren gehen, aus dem Lande jagt.
In neuerer Zeit sind drei Männer zu der Ehre gekommen, Männer des Volks zu sein, der alte Nettelbeck in Colberg, Napoleon und Lafayette. Den ersten haben die undankbaren Patrioten bald wieder vergessen, und Napoleon, wie sehr er die staunende Bewunderung der Fremden und die entzückte Liebe der Franzosen sich zugewandt hatte, konnte auf die Zukunft doch nur in ein Pantheon großer Männer gestellt werden, die Herzen der Völker mußt’ er schon früh räumen. Ich glaube nicht, daß er in Frankreich noch so populär ist, wie es manche alte Militairs wohl wünschen möchten. Auf Lafayette’s Ruhm wird Niemand eifersüchtig sein, der Robespierre verehrt und weiß, daß er von ihm sagte, des Herrn Marquis de La Fayette ganzes Talent bestände in der Fähigkeit, ein gewisses sanftes Lächeln zu erkünsteln, und daß ihn die Jacobiner den Helden vom weißen Pferde nannten.
263 So weit wir gegenwärtig in Deutschland gekommen sind, kann man behaupten, daß von Seiten des Volks es eben sowohl an der Begeisterung fehle, die einem Einzelnen allein könnte zugewandt werden, als auch daß Keiner unserer Köpfe die Fähigkeit zu haben scheint, jene für sich zu erregen. Die politische Regsamkeit ist noch nicht bis auf jene Classen gedrungen, die sich durch Nichts, als durch ihre Kleider und selbst durch diese nicht einmal unterscheiden, wo der Vater wie der Sohn, dieser wie sein Schwager, und Jeder wie sein Nachbar denkt. Noch steht die Liebe zur Freiheit auf einer Stufe, wo die Verschiedenartigkeit der Bildung das Recht, auf die kleinlichsten Dinge trotzige Ansprüche machen zu dürfen, behauptet. Die Wege, auf denen wir zur Einsicht in den Lauf der Zeiten gekommen sind, sind bei Wenigen dieselben gewesen. Der Eine las zufällig eine Ode von Klopstock, aber er schlug den Tacitus auf, dem Andern mißfiel es, daß er nicht rauchen dürfe, wo er wolle, einem Dritten bekommt die Königin zu viel Kinder, nur Wenige sind, die die Tyrannen hassen und die Steuern nicht lieben.
Es ist wünschenswerth, daß es vor dem Anbruch der Revolution zu großen Versammlungen komme, in denen sich die Bedürfnisse auch in der Art, wie sie sich am Verständlichsten gegen Jeden 264 aussprechen lassen, zu erkennen geben müßten, worüber in einem Weinhause oder in den Spalten eines Zeitblatts immer nur sehr unvollkommen geurtheilt werden kann. Das Talent der populären Rede, das in einer Ständeversammlung oder selbst in einem patriotischen Vereine nie rechte Nahrung finden kann, bildet sich unter dem freien Himmel, in einem Thale, dessen Terrassen rings von Tausenden besetzt sind, allein sicher und fest aus. Man lernt dadurch eben so sehr die allgemeine Stimmung des Augenblicks zu der seinen machen, als sie benutzen, um die nöthigen Zwecke zu erreichen.
Ich höre, daß in Deutschland hier und da ähnliche Versammlungen zusammengetreten sind, daß sich aber selbst hier die den Deutschen angeborne Aristokratie, und wenn es zuletzt nur die des Magens sein sollte, nicht verläugnen konnte. Es soll Volksredner geben, die mit Weib und Kind im Lande herumziehen, und in den Orten, wo sie nach solchen Festen zurückkehren, die Stimmung des Volks und die gute Zubereitung der Speisen, die sie angetroffen, nicht genug loben können. Außerdem klagen die Gemäßigten über die ungewöhnlich kühne Sprache, deren manche Redner dem Volke und den Fürsten gegenüber sich bei solchen Gelegenheiten bedienen, als wenn man eine Aus-265flucht von 15 Stunden machen würde, um sich sagen zu lassen, die Mäßigung sei in allen Dingen gut! Die Adressen, die Pocale, die Versammlungen sind offenbar vortreffliche Mittel, seine Wünsche und Neigungen an den hellsten Tag zu legen, nur seh’ ich es schon kommen, daß selbst in diesen Aeußerungen die Deutschen anfangen werden, sich gegenseitig an Gesetzmäßigkeit übertreffen zu wollen, daß sie in der Mäßigung sich unter einander den Rang ablaufen werden. Den Volksversammlungen stürmischer Art gegenüber wird man gemäßigte veranstalten, ich weiß nicht, um den Patrioten der gesetzmäßigen Freiheit eine Komödie zu geben oder die Fürsten zu trösten, daß man nicht mehr von ihnen wolle, als was sie zu geben versprochen hätten. Mit dergleichen muß man aber aufhören, selbst wenn man behauptet, diese scheinbare Enthaltsamkeit gehöre zur Taktik der Opposition. Die Phantome von Oppositionen, die sich in Deutschlands Duodezstaaten bilden, als gält’ es dem Englischen Ministerium, führen zu Ergötzlichkeiten, deren Ende nur das Klagelied der wahren Freunde des Vaterlandes sein kann. Es gibt eine Fabel von Fliegen, die sich in die Wunden eines Fuchses festsaugen. Die Fliegen können sich allerdings rühmen, daß sie dem Fuchse in einer wun-266den Stelle sitzen, aber der Schlaue hält geduldig still, weil ihm diese alten Fliegen nichts schaden, wenn er sie aber abschüttelte, neue kommen würden, die ihm ärger zusetzen dürften. Das könnte in Deutschland die Opposition und die Regierung werden, so daß jene ihren Ruhm, diese ihre Macht behielte, wenn nicht anders gesorgt wäre.
Die Gemäßigten und die Stürmischen unterscheiden sich vielleicht blos durch ihr Temperament: ihre Gesinnungen bleiben dieselben. Das wäre herrlich; denn sie werden sich vereinigen, wenn man ihre Gesinnungen in die Acht erklärt. Für diese Aussicht läßt sich das Schönste vom Bundestag erwarten. Wir bedürfen einiger Gewaltstreiche, die den Unterschied der Parteien aufhöbe und die gute Sache wieder allgemein machte, und in Deutschland ist es Niemanden so unter die Hand gegeben, – – – – – – – – – – Hoffen wir also auf Frankfurt!
Du ziehst mich noch immer am Rocke, Freundin? Willst Du in der That, ich soll hinaufsteigen auf die Rednerbühne und die versammelte Menge haranguiren? Wohlan, ich gehorche Dir! Drücke mir noch einmal die Hand! Sorge für meine Frau und Kinder, wenn man mich in Preußen für diese Rede hängt!
267 Vergiß nicht, im Falle des Steckenbleibens mir diese aufgeschlagene Seite des Moniteur von 1793 hinaufzureichen!
Lebe wohl, dort auf dem Balcone sehen wir uns wieder.
268 Drei und zwanzigster Brief.#
Es war um die siebente Stunde, als ich Dein leises Klagen vernahm.
Ich war hinausgetreten in den blauen, duftigen Raum; die Hollunderhecken trennten sich in weite Gänge, um mich in ihre kühlen Schatten aufzunehmen; die frisch entknospeten Rosen nickten mir einen freundlichen guten Morgen; Bienen und Käfer summten heran, und küßten mir die Hand. Die ganze Natur schien in der Weinlaube mit mir Kaffee trinken zu wollen.
Aber, ich weiß nicht, die Lüfte wehten doch nicht, und die Käfer schwärmten nicht mehr, auch lag der silberfluthende See zu fern, als daß seine schäumende Brandung sich an meinem Ohre hätte brechen können, aber es hörte nicht auf, um mich 269 zu flüstern, dann stärker zu rufen, bald wieder leiser, wie eine Harmonica, dann war’s wie Sturmwind; und doch rauschte kein Blatt, keine Blume fiel.
Ach! daß ich Deiner Rede wohlbekannten Ton vergessen, daß ich die Freundin nicht erkannte, wie sie oft schon so aus der Ferne zu mir sprach!
Diese leisen Accorde waren die Vocale Deiner Aeolssprache, dieser schwellende Orgelton die bindenden Consonanten, die Du immer so weich und sanft, so lispelnd und westphälisch auszusprechen wußtest.
Und ich verstand Deiner süßen Klage bangen Sinn.
Vor vielen tausend Jahren solltest Du die Feuerprobe der Zeit überstehen, so war es des Schicksals und des Vesuves Wille. Glühende Lava, feurige Steine und lodernde Schwefelkränze begruben Dich einst in Herculanums Mauern. Die Feuermassen flossen damals in einander, und tauchten Alles, was nicht höher stand als die Bogenspitze Apolls auf der Kuppel seines Tempels, in ihren brennenden Pfuhl unter. So eben saßest Du noch an der Brüstung Deines Fensters, in Gedanken und Briefe an mich versunken; kaum röthete sich der ferne Spiegel des Meeres von den Zornesflammen Vulcans, da warst Du schon weg-270gerissen von dem allgemeinen Strom, und standest eingegossen wie in einer ehernen Form.
Aber Du hast Alles, selbst das Feuer und die Zeit überwunden. Ich hatte Dich längst aufgegeben; nun aber weiß ich, daß Du noch lebst und auf den Augenblick harrst, da Dein treuester Gefährte Dich aus dem calcinirten Gestein herausmeißeln wird.
Da steh’ ich nun mit Hammer und Brecheisen. Weit vor mir liegt das öde Feld einer Zerstörung, um die Jahrhunderte sich mit grauenvollem Schweigen gelagert haben. Der Vogel flieht über dieses weite Lavagebirg hinweg zu jenem grünen Kranze von Olivenbäumen und dem hohen Weingeländer, das sich wie ein krauser Haarwall um den nackten Scheitel der Tonsur gelegt hat. Die Kuppeln der Tempel blicken zur Hälfte aus den Schachten hervor, die die Wißbegierde der Dilettanten in diesen Felsengesteinen gebrochen hat. Hier und da der Kopf einer Statue, der Spieß eines Kriegers oder die Spitze seines Helmbusches.
Du warst immer eine Freundin der Kunst, und wohntest daher gewiß dem Theater in der Nähe. Ich kenne Deine Vorliebe für die schaukelnde Bewegung eines Kahns, also wird die Richtung Deines Zimmers dem Meere zugewandt gewesen sein. Du warst ein Muster der Sittsamkeit, 271 und wirst, um die begehrlichen Blicke der herculanischen Elegants zu vermeiden, weit in den hintern Gemächern Deines Sitzes Dich befunden haben. Auch mußte die Landstraße fern von Dir gelegen sein, damit Dich das römische nach Bajä reisende Badepublicum nicht gleich am Thore, wo noch heute in unsern gegenwärtigen Städten die Unschuld nicht zu Hause ist, zu Augen bekam.
Medius fidius! (Ein römischer Schwur, der wohl schwer zu übersetzen, aber nicht unerklärlich ist.) Da bewegte sich der Erdboden! Ich höre die vertraute Stimme meiner Freundin! –
Nur einen Augenblick noch, du steinenes Räthsel, ich will dich mit Pulver lösen!
Ach! ich sehe Dein liebes Haupt, Deine blonden Locken sind noch so geringelt, wie zuvor. Du schlägst das Auge auf, mein tausendjähriger Engel?
Daß nur mein Meißel die Spitze Deiner griechischen Nase nicht verletzt!
Du athmest mit lebendigem Hauche. Von Deinen Lippen löst sich das steinene Siegel. Der Busen wallt unter dem warmen Schlage Deines Herzens.
O seliges Entzücken! Du breitest Deine Arme aus, entwindest Deinen schlanken Götterleib diesem marmornen Kleide. O weine nur, Du mehr als 272 Sechswöchnerin, Du hast Dich ja selbst aus Deinem Schooße geboren.
Hörst Du, wie Vulcan drüben grollt und donnert, daß ich seine Venus aus einer Masche dieses großen Steinnetzes herausgelassen habe? daß das Göttergesindel dort unten, das kleine Gezwerg nicht mehr Stoff zum Lachen hat, wenn es vom Mahle berauscht aufsteht und hinausgeht, um sich an dem Anblick, wie Du in den Armen des kalten, gepanzerten Kriegsgottes erfrierst, zu weiden? Jene doppelte Flammensäule soll Dir und mir gelten. Wie er die Kugeln aus seinem krachenden Mörser auf uns zu zielen weiß! In seinem grauen Aschenblute will er uns ersticken; aber wir fürchten nichts; denn wir haben ein gut Gewissen, geben den Armen, was wir erübrigen, lieben Gott und den König – was kann uns die Hölle?
An der Thür jenes Theaters, das Dein staunender Blick wiedererkennt, standen wir oft vor Sonnenuntergang, und überließen unsere Körper aus Liebe zur Kunst den Stößen des harrenden Publicums, bis es mir gelang, zwei Parquetbillets zu erdrängen. Noch siehst Du jene steinenen Stufen, von denen wir auf die Spiele der Histrionen und Mimen lauschten, noch ist es als rauschten die Geigen durch die melodienreiche Luft, als ginge der Sorbettier mit Gefrornem durch die Logen-273reihen. Ach! die Herzen fühlen sich noch wehmüthig ergriffen von dem rhythmischen Fall der Declamation und den Empfindungen der Liebe, der Leidenschaft, des Hasses, der Begeisterung, des Schmerzes, den sie ausdrücken. Noch seh’ ich Elektren in der Urne die Asche des Bruders tragen, noch den blinden Greis von Theben an dem stützenden Arme der Tochter wanken. Der Vorhang rollt auf, und Prometheus schmerzenvolle Klage stöhnt durch die hilflose Luft, die Danaiden tauchen aus den Gewässern mit fluthendem Haare, und der greise Meergott weissagt dem Unglücklichen seines Schicksals glücklichere Wendung und den Untergang der alten Götter des Neides. Klage nicht, Menschheit, daß dir die Götter mit ihrem Ebenbilde auch die Fesseln der Sclaverei gaben; in deines himmlischen Feuers allgewaltiger Flamme wird sich der goldne Thron dieser alten Despotie verzehren!
Wir wandern querfeldein nach Pompeji, dem Filiale Deiner Heimathstadt, dem die Auferstehung leichter geworden ist, weil es nur in Asche und nicht in Stein begraben war.
O, siehe dort das dunkle Gestrüpp von Myrtensträuchen, die sich zum wohlbekannten Landhause des Aorius Diomedes hinaufziehen! Ob man diese auch jetzt erst ausgegraben hat? Du weißt, wir 274 sprachen einst so oft von ihnen, als von unserer Liebe.
Aorius war ein Freund der Wissenschaften, und darum aus seinem Sclavenstande frei gelassen, von uns geliebt und oft besucht. Aus diesem Brunnen im Vorhofe zogst Du oft den Eimer herauf, und erquicktest den Freund, der Dich hier am Sichersten traf. Dann traten wir in die Büchersäle unseres Gastfreundes, die er Jedem mit ausgezeichneter Liberalität zugänglich machte. Er zeigt uns die neuesten Erscheinungen in der Literatur, die Werke von Schiller, Göthe, die gesammelten Novellen von Wilibald Alexis, aber alle nur im Manuscript, weil damals die Buchdruckerkunst noch nicht erfunden war. Dann begleitete er uns auf einen terrassenförmigen Hügel in seinem Viridarium, wo wir Männer in einer Muschelgrotte Tabak rauchten, während Du uns den Kaffee einschenktest, aber dazumal noch ohne Zucker, weil dieser gleichfalls in neuerer Zeit erst erfunden worden ist. Wir sahen dann hinüber nach der fernen Fläche des Meeres, oder dem rauchenden Vesuv, von dem wir es nie erwartet hatten, daß er das bekannte königlich oder vielmehr prinzmitregentlich sächsische Sprichwort: Vertrauen erweckt wieder Vertrauen! so wenig beachten, und die Hoffnung, die die ruhigen Ansiedler auf seinen Fuß setzen, 275 von Seiten des Kraters so sehr täuschen würde, oder endlich schweiften unsere Blicke nach der Stadt hinüber, die wir einst oft und immer mit so vielem Vergnügen betraten.
Die Kirchhöfe sind auch noch jetzt die Vorstädte unserer modernen Niederlassungen; Du weißt, daß wir unsern Eingang in Pompeji durch die Gräberstraße nehmen müssen.
Welche Todtenstille und wie lebendig scheint doch Alles! Ich denke, aus jener Taberne muß ein Mann treten, der sich so eben den Bart hat scheeren lassen. Ich höre, wie der geschwätzige Bartkratzer die neuesten Zeitungsnachrichten seinen Kunden nicht ohne Urtheil mittheilte.
In diesem Hause hier hab’ ich mich oft gebadet und mit köstlichen Salben meinem Körper jenen eigenthümlichen Glanz gegeben, der immer so sehr Deinen Beifall fand. Der Bademeister war jener Rufus, den der Gott in Pästum einst einmal den Engel der Unschuld genannt hat, weil er nicht wie andere seines Gewerbes außer den Röhren, die in die Badewanne kaltes und warmes Wasser leiteten, noch eine dritte unterhielt, durch die junge Nymphen der Donau oder der Spree herzuströmten oder wohl gar Knaben von der Art, wie sie Graf Platen in seinen Gedichten besungen hat und Johannes von Müller sie liebte.
276 Ich höre noch immer in den Säulengängen, wo sich die Pompejaner in den langen Badehemden ergingen und transpirirten, den kleinen Lullus, dieses Poetengenie, das von hinten dem Aesop, von vorn dem Thersites glich, seine Priapea vorlesen, oder den liederlichen Milvius, der ohne Hut und Hosen bei Tage auf dem Markte lag oder in den Straßen umherrannte, und des Nachts draußen auf den Gräbern schlief, seine Spottgedichte auf den Kaiser und Senat krächzen, die ihn zuletzt in die Lautumien von Syrakus brachten, wo er unter dem Ruf: es lebe die Freiheit! sich von einem Felsen gestürzt haben soll, oder den wohlriechenden und wohlredenden Philosophen Capito, der auf die Toilette seines mächtigen Bartes täglich eine Stunde zubrachte, wie er pathetisch von der Unerschütterlichkeit der philosophischen Ruhe und der Göttlichkeit des Bestehenden declamirte und den Satz erklärte, daß alles Wirkliche auch vernünftig ist.
Ich habe dies Philosophenvolk nie leiden mögen, weil sie mehr Schuld an dem damaligen politischen Elende, das mit der Philosophie immer noch fortdauert, trugen, als die Schlechtigkeit der Kaiser selbst. Die Keime der edelsten Anlagen wurden durch den Pesthauch früher Schmeichelei erstickt. Die Auszeichnung des Mannes, die Würde 277 des Regenten wurden in die thörichtsten Dinge gesetzt, so daß es kein Wunder nahm, wenn gerade die wohlerzogensten Kaiser eine tyrannische Herrschaft führten. Man kann nicht begreifen, wie Nero ein solches Ungeheuer werden konnte, da er doch die herrlichste Erziehung unter der Leitung eines Seneca genoß? Aber man vergißt, daß Seneca nächst seinem Schüler der eitelste Geck seiner Zeit war, der seinen Zögling glauben machte, durch wohlgestellte Redeformen, durch die Affectation moralischer Grundsätze lasse sich das Ruder des Staates am Weisesten lenken. Man lese Tacitus, und achte auf dies bittre Lächeln der Ironie, wenn er von dem gepriesenen Declamator und Stoiker Seneca spricht! Die Staatsphilosophen haben sich nie verläugnet.
Statuen, Münzen, Gemälde haben die Conservatoren nach Neapel und von dort die archäologischen Agenten nach allen Gegenden der Welt von hier weggeführt, die Todtenschädel will Niemand.
Diese hohe Gestalt da mit der zerbrochenen Rippe ist vielleicht mein Bruder, den die wüthenden Rabbiner bei der Zerstörung Jerusalems so gezeichnet haben. Er eilte in seine Heimath und kam durch Pompeji, um uns drüben in Herculanum zu begrüßen: da hat ihn der Vesuv vielleicht hier überrascht. Dort liegt das Skelett eines Kin-278des, das sich vor dem geharnischten Manne fürchtete und dem Eilenden aus dem Wege floh. Ein weibliches Geripp wendet den Kopf nach ihm um; denn er war schön und männlich, und hatte blaue Augen, wie sein gegenwärtig noch lebender Bruder.
O komm, Du geliebtes Bild, laß diesen Ort der Zerstörung und wehmüthiger Erinnerung! Eilen wir hinauf auf die flammende Höhe!
Hier windet sich der Weg durch lachende Weingärten, wir sehen noch einmal den fernen Golf, das grüne Ufer von Sorrent, die weite Ebene der Campagna Felice, und blicken nun hinauf auf den rauchenden Aschenkegel, dem wir durch schwarzes, furchtbares Lavageröll uns nähern.
Schon hör’ ich unter mir das ferne, dumpfe Rollen der empörten Eingeweide des Berges, blaue Flammen zucken unter meinem Fußtritt, in eine Schwefelwolke bin ich eingehüllt, daß mir der Athem vergeht.
Jetzt steh’ ich am Rande des Kraters, blicke noch einmal zurück in die Ferne, und dann hinunter in die grausenvolle Tiefe –
Mein Gott! ich habe in einer Psychologie gelesen, daß man vor Schwindel verrückt werden kann. Beharrst Du aber auf Deinem Vorsatz, daß ich das Gefährlichste unternehme, so schreibe mir mit nächster Post Deinen unwiderruflichen Entschluß.
279 So lange harr’ ich. Sagst Du Nein! so kehr’ ich da zurück, wo ich heraufgekommen bin.
Sagst Du Ja! so setz’ ich über den Krater weg, und geh’ auf der andern Seite ins Thal zurück.
Du Wütherich dachtest wohl, ich sollte mich hineinstürzen?
Ja, daß ich doch ein Narr wäre!
280 Vier und zwanzigster Brief.#
Du hast mich falsch verstanden, Gute.
Nicht die großen Talente werden einst aufhören, sondern nur ihre Pläne. Die Unternehmungen des Genies, die Absichten des großen Geistes, waren immer nur Entwürdigungen der Menschheit, da diese von jener als Maschine gebraucht wurde. Nur Wenige haben die Völker beglückt, ohne dabei ihren Ruhm zu bedenken. Die großen Männer waren selten Freunde des Volkes.
Ich ehre Deine Absicht, denn sie ist so uneigennützig; aber den Lohn Deiner Bemühungen wirst Du verfehlen.
Du wohnst den Uebungen des Militairs bei, forschest in den Gesichtern nach gewissen Ausdrücken, nach einer trotzigen Miene, einer Erhabenheit des 281Auftretens, nach einer gewandten Bewegung, nach der Farbe des Haars, der Form des Kinns, der Sprache der Augen, und so willst Du jene Helden finden, an denen die Gegenwart freilich arm ist, von denen ich aber behaupte, daß wir ihrer nicht bedürfen.
Du mischst Dich unter die Spaziergänger vorm Thor, beobachtest einzelne Gestalten, die aus dem Gewühl heraustreten, und bist schon oft einem Bettler zu Füßen gefallen, weil Du ihn einer Krone, und seine Begleiterin eines Diadems für würdig hieltest.
Ich bin Dir zuweilen nachgeschlichen, wenn Du Dich von dem offenen Lustwege entferntest, in die Seitenalleen tratest, um die einsamen Spielplätze der Jugend aufzusuchen. Ich seh’ es dann, daß Du Gebacknes unter die Fröhlichen austheiltest, aber wohl auf die bedacht warest, die sich mißtrauisch von Dir wandten und die Leckerbissen Deiner spendenden Hand verschmähten. Solchen Knaben liefest Du dann nach, lasest in ihren Augen, suchtest die Falten der Stirn zu zählen, verglichst das Profil der Nase gegen den Vorstand des Mundes und die Rundung des Kinnes, und wie oft hört’ ich Dich entzückt ausrufen, Du habest einen großen Feldherrn, einen geschickten Staats-282mann, ein philosophisches Genie, ein dichterisches Talent, einen scharfsichtigen Mathematiker entdeckt!
Für solche Opfer Deiner Liebe und Begeisterung kannst Du nicht einmal den Dank Deines wärmsten Freundes ernten, Du Arme!
Ich will nicht unbillig sein. Ich weiß, daß in dem stillen Niveau der Masse Tausende sich befinden, die die Plätze der gegenwärtig Berufenen und Verordneten am Ruder des Staates oder im Rathe des Feldherrn oder an der Spitze einer Colonne besser ausfüllen möchten, als diese. Man erschrickt, wenn man dies geistige Capital bedenkt, das in den untersten Classen angelegt ist, diese dynamische Kraft, die durch die Energie eines äußern Umstandes plötzlich zu den herrlichsten Wirkungen könnte geweckt werden. In dem unscheinbarsten Kreise, der sich auf einer Landstraße oder in einem Wirthshause zusammenfindet, werden alle Fähigkeiten des Geistes, Witz, Scharfsinn, Beobachtungsgabe, wie leichte Federbälle einander zugeworfen; man sieht, es fehlte nur eine angemessene Stellung, ein würdiger Gegenstand, und der Geist hätte hier von sich ein erhabenes Zeugniß gegeben. Es ist mir oft, als hört’ ich im Innern der Masse ein heimliches Rollen und Schnurren, als wenn alle Räder und Wellen eines Uhrwerks losgelassen wären, und ich erstaune vor meiner 283 Umgebung, daß sie mir Gesetze vorschreiben könnte, wenn sie nur wüßte, daß ich ihr gehorchen, oder daß ihr die Kraft nicht fehlen würde, mich dazu zu zwingen.
Daß dem nicht so ist, muß wohl eine weise Anordnung sein, die uns zugleich aber auch bestimmen kann, das Heil der Welt von keinem Einzelnen zu erwarten! Nicht durch die Riesenpläne eines Eroberers oder die Träume eines Staatsweisen wird die Welt regiert, sondern durch die zufällige Begegnung verschiedener Entwürfe, durch die Macht der kleinen Umstände.
Die Züge Alexanders sind vielleicht der Menschheit zu einem Segen gewesen, wenigstens behaupten es die Philologen, weil man in Alexandria seither anfing, die Alten zu tractiren; aber wahrlich, nicht zu dem, den der junge Eroberer beabsichtigte. Brachten Cäsars Legionen auf ihren Triumphzügen jene Güter heim, nach denen sich das römische Volk sehnte? Ist Napoleon darum groß, weil er das Wohl der Völker wollte, oder weil er so außerordentliche Fähigkeiten entwickelte, um es zu zerstören?
Das große Gebiet der Geschichte ist nur ein falscher Schein der wahren Fortschritte der Gesellschaft. Stellen die Historiker nicht immer das Krampfhafteste in den Bewegungen der Völker als 284 die Gränzpunkte der Perioden hin? Gleichen sie nicht Kindern, die sich im Theater an dem Lärm der blechernen Gefechte, an brennenden Lagern, an feierlichen Umzügen immerhin mehr ergötzen mögen, als an der meisterhaften Schürzung des Knotens, der geschickten Wendung der himmlischen Intrigue, die man im Trauerspiel Schicksal nennt, an dem zermalmenden Schmerz des vierten Acts und der versöhnenden Schlußscene des fünften? Unsere Historie spielt immer nur im Vordergrund, da doch die Vollendung des großen Planes der Menschenerziehung in jener Mittelgegend zwischen der gährenden Masse und den lenkenden großen Geistern liegt. Hier, wo nicht die Drohungen der Tyrannen, nicht die Einflüsterungen eitler Gecken, die sich zu Rathgebern der Fürsten hinaufgeschlichen haben, entscheiden, wo andrerseits der Ungestüm der wilden Menge keine Schreckengesetze vorschreibt, entwickeln sich jene bleibenden Folgen, die dem Leben sein Glück und seine Würde geben.
Auch im Gebiete der Wissenschaften haben sich die kleinen Umstände erfolgreich bewiesen. Columbus sah am Ufer des Meeres die Gewächse fremder Zonen herantreiben, ein Menschenleib von wunderlichen Farben bestimmte ihn, ein Land zu entdecken, das in der Geschichte jetzt schon die glänzendste Rolle spielt. Galiläi mochte in der 285 Kirche zu Pisa sehr zerstreut gewesen sein, als sein Blick auf eine in der Luft schwebende Ampel fiel, die ihm Veranlassung gab, die berühmten Gesetze der Pendelschwingungen in Anregung zu bringen. Newton mochte unter seinem Apfelbaume eben gedacht haben, er wäre durch seinen heutigen Fleiß der Unsterblichkeit mit vollen Segeln näher gekommen, als ein Apfel vom Baume herabfiel und er anfing über den Einfluß der Schwere und der Höhe auf die Beschleunigung des Falles nachzudenken, Untersuchungen, die zu seinen größten Verdiensten gehören.
Ich weiß wohl, daß mir tausend Aepfel auf die Nase fallen könnten, ehe ich anfinge, darüber Berechnungen anzustellen, daß ich stundenlang den Seifenblasen meiner Kinder zusehen möchte, ohne daß mir dabei gewisse Gesetze von der Brechung der Lichtstrahlen einfielen; aber was war dem Galiläi und Newton ihr Genie, wenn die Wünschelruthe des Zufalls es nicht auf einen silberhaltigen Gang geführt hätte?
Ebenso in der Geschichte. Der Tyrann Hipparch hätte seinen Nachkommen vielleicht auf Jahrhunderte den Besitz Athens und von hier aus des ganzen Griechenlands gesichert, wenn er nicht in einen nackten Jüngling entbrannt gewesen wäre, ihn zu seiner Lust gezwungen und die Rache des 286 Liebhabers des schönen Harmodius auf sich gezogen hätte. So wurde eine Tyrannei vertrieben, die die schlauen Kunstgriffe der Despotie, die sehr oft in dem Scheine eines milden Regimentes und der übertriebenen Förderung der Kunst und Wissenschaft bestehen, schon vortrefflich zu üben wußte. Die Gänse des Capitols sind bekannt.
Der neapolitanische Aufstand unter Mas Aniello kam von einem Fruchtkorbe her, der auf dem Markte in Neapel versteuert werden sollte.
Die Fortschritte der deutschen Reformation würden nie allgemein geworden sein, hätte sich das persönliche Interesse der Fürsten nicht eingemischt. Dem Calvinismus half nur ein Gassenhauer auf, dessen Refrain hieß: o Mönche, Mönche, ihr müßt freien! Die englische Kirche sagte sich in jener Nacht von Rom los, als Heinrich VIII. zum ersten Male in den Armen der schönen Anna Boleyn schlief.
Und was wär’ aus der französischen Revolution geworden, hätte ein berüchtigtes Halsband nicht dem Königthume die Kehle zugeschnürt?
Noch eine kurze Zeit und die Oeffentlichkeit hat alle weit angelegten Pläne zerstört. Weder verzweigte Verbindungen einzelner Stände oder Individuen, noch die Verschwörungen der Fürsten gegen die Völker können nicht nur glückliche, sondern überhaupt keine Folgen mehr nach sich ziehen. 287 Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, aus jeder Bewegung der Hand die Absicht dessen, der sie macht, zu erfahren; wir können untrüglichst von einer unbewachten Haltung des Kopfes oder der leisesten Krümmung der Nase auf die geheimsten Absichten des Herzens schließen; ein absichtlicher Betrug wird bald nicht mehr möglich sein. Wir haben uns zu viel gerührt, sind zu mannigfach thätig gewesen, als daß wir uns in unserm Thun nicht sogleich errathen sollten. Alle Anstöße kommen von Außen; es wird Zeit sein, die Menschen an eine höhere Lenkung der Ereignisse zu erinnern.
Es ist eine thörichte Verblendung der Fürsten, wenn sie durch Couriere, versiegelte Depeschen, Privataudienzen und Gesandtschaften die Wünsche der Nationen zu befriedigen denken. Man braucht Herrn Martens Guide diplomatique nicht zu studiren, und wird doch finden, daß die Diplomatie kein Geheimniß mehr ist. Ich habe einen Vetter in London, Gesandtschaftssecretär im Auswärtigen Amte, der mir die Entwürfe der Protokolle schon mittheilt, die in einem Jahre erst sollen publicirt werden. Aber auch ohne ihn wüßt’ ich den Inhalt der officiellen Noten, die gegeben würden, wenn sich Irland von England, Italien von Oesterreich, Polen von den drei Mächten und Deutschland von sich selbst, vom Bundestage losgerissen hätten. 288 Diese Kunst des Regierens ist vorüber, wie die großen Entwürfe des Genies, die sich nie anders, als mit Tyrannei endigen. Die kleinen Umstände werden regieren.
Eine Revolutionirung Deutschlands hat unendliche Schwierigkeiten. Den Bewohnern des flachen Landes fehlt es für ihre Coups an Concentration. Die Anzahl der schlagfertigen Masse in den Hauptstädten ist zu gering, als daß sie Garnisonen von 10–50,000 Mann widerstehen könnte. Eine Revolution Deutschlands wäre interessant, weil sie zur Poesie des Lebens gehören müßte, aber einen glücklichen Ausgang nimmt sie nicht, wenn man nicht etwa die Dictatur eines militärischen Befehlshabers einen solchen nennen will.
Die kleinen Umstände werden uns helfen. Die dreisten Plänkeleien, die Rücksichtslosigkeiten der Presse, die Huldigungen, die man einzelnen Freunden des Volks darzubringen nicht aufhören wird, müssen die Gegenmacht ermüden; sie wird unter Zischen und Pochen von der Bühne treten.
Fast alle Völker haben eine Sage von einem hartherzigen Könige oder Priester, den zwar nicht das schwache, hungernde, entwaffnete, gefesselte Volk, aber der Zorn Gottes bändigte. Es ist dann von Mäusen oder Ratten oder anderem kleinen Gethier die Rede, das den gottlosen Mann um 289 Liebe und Leben gebracht hat. So wird unser deutsches Fürstengeschlecht jener Kölner Bischof sein, der für den frevelhaften Uebermuth, mit dem er seine Unterthanen täuschte und würgte, durch diese Macht der kleinen Umstände bestraft wurde. Er baute sich, von Mäusen verfolgt, einen Thurm auf einer Insel im Rhein, auf den ihm aber seine Peiniger auch folgten, bis er jämmerlich zerfressen war.
Die Polen haben eine Sage von einem Könige, Namens Popel, den Gott für seinen Frevel durch dieselben Geschöpfe strafte. Der russische Nikolai dürfte vielleicht einst dieser polnische Popel werden, den die kleinen Unannehmlichkeiten seines Sieges bis aufs Blut zerfleischen.
Ich gönne es diesem verdüsterten Fanatiker, der es auf den Straßen von Petersburg unter dem freien Himmel, dem wir auch unsere Blicke zuwenden, gewagt hat, einen Gott, den diese Tollen den christlichen, also unsern Gott, nennen, um Rache und blutige Zeichen anzuflehen.
Dich eigentlich sollt’ ich zur Verantwortung ziehen, dieses Kaisers eifrigste Vertheidigerin! Ich denke mir, Du willst in Dorpat angestellt, Collegienrath und Wladimirritter werden. Denn nur ein deutscher Professor kann auf den Gedanken 290 kommen, daß eine solche Erscheinung, wie sie Nikolai darbietet, erhaben ist.
Das nennt Ihr Religion, wenn man von Gott Dinge verlangt, die nur ein Bewohner der Wüste dem Götzen, den er unter dem Sattel seines Pferdes trägt, zumuthet?
Das kann Dich rühren, wenn Nikolai als russischer Kaiser anders handeln müßte, denn als ein ruhiger Beobachter, dem keine Rechte verletzt, keine Pflichten aufgekündigt sind?
Muß Nikolai aufhören, Mensch zu sein, wenn er anfängt, russischer Kaiser zu werden?
Solche Fragen, meine Verblendete, sind diese Mäuse und Ratten, die ohne viel Geräusch das große Netz zernagen werden, worin der tapferste Löwe gefangen liegt, und bei der Gelegenheit Dich auch auffressen dürften.
Sieh’ Dich vor! Du russisch-polnischer Popel!
291 Fünf und zwanzigster Brief.#
Die Gesellschaft war von der Tafel aufgestanden, hatte sich in mehrere Gruppen gesondert, und trat aus dem hochgelegenen Pavillon heraus.
Eine Terrasse, deren Seitenwände aus den duftigsten Blumenstöcken aufgeführt waren, führte in den Garten hinunter, dessen vielfach sich kreuzende Gänge bald die fröhlichen Gäste aufnahmen.
Das lachende, mit tausend Blumenfarben gezierte Hellgrün der Beete, die Parallelen großer fruchtreicher Feigen- und Orangebäume verloren sich bald in den dunkleren Rebenlauben, deren hohe, gewölbte Dächer die Strahlen der Sonne schützend zurückhielten, bis selbst dies Dunkelgrün in den Schatten eines sich um die Lustwandelnden öffnenden Parkes aufgenommen wurde.
292 Einen Erlenpfad, der sich in vielen Windungen allmählich zu einem Hügel hinaufdachte, hatte ein Theil der zersprengten Gesellschaft eingeschlagen, während man durch das nächste Gebüsch und weiterher das fröhliche und lebhafte Gespräch der andern Spaziergänger noch unterscheiden konnte.
Unsre Gruppe war vielleicht durch Zufall aus den heterogensten Elementen zusammengesetzt. Die Uniform glänzte neben dem Civilrocke, der sich bei dem Einen kühner, bei dem Andern bescheidener an den Leib schloß. Ordenskreuze und Bänder der verschiedensten Nationen vereinigten sich nur in der einen Bestimmung, Belohnungen des Verdienstes und Zeichen der Ehre zu sein. Der trotzige, ungeduldige Gang des Kriegers konnte mit dem bedächtigen Fuße des Diplomaten und Geschäftsmannes nicht immer gleichen Schritt halten. Nur die Frauen vermittelten die Lücken, die durch eine so ungleiche Bewegung entstanden, obschon auch sie wie Rosen und Schneeballen gegeneinander abstachen.
Jetzt schien aber das lose Gewebe sich immer dichter zusammenzuziehen. Das lebhafteste Gespräch legte sich um die Spaziergänger wie ein bindender Reifen oder eine magische Zauberformel. Ein Jeder nahm Antheil an einer Unterhaltung, über deren Gegenstand die Meinungen eben so verschieden, als 293 das Interesse daran groß zu sein schien. Man war durch einzelne Uebergänge unvermuthet auf eine Debatte gekommen, die eine Ausgleichung der verschiedenen über das Wunderbare gefällten Urtheile bezwecken sollte.
„Sie verfahren zu kriegerisch gegen unsern Gegenstand, Herr General, – sagte eine Dame, die Schwester des Wirths zu einer kräftigen Gestalt, die sich nachlässig den goldstarrenden Rock lüftete – Sie hauen in die Wunder ein, als gält’ es ein Quarré zu zersprengen. Ich mag nicht behaupten, daß Alles, was die Phantasie oder das Vorurtheil für Wunder ausgibt, vor den Richterstuhl eines Unbefangenen treten darf, ohne zu erröthen; aber wir sollten Sorge tragen, die verschiedenartigsten Erscheinungen, nach ihren Ursachen und Absichten zu unterscheiden.“
„Das Leben selbst – fuhr ein jüngerer Mann mit lebhaftem Ausdruck fort – ist ein Räthsel. Obschon es uns zuweilen gelingt, es zu lösen, so wird uns doch der wunderbare Zusammenhang des Willens und der Fügung ewig unerklärlich bleiben. Die Gränze zwischen der Erklärung und dem Erstaunen ist sehr bestimmt abgesteckt. Ich halt’ es für eben so unzulässig, das Wunderbare alsbald zu verwerfen, wenn wir jene Gränze nicht auffinden 294 können, als von einem gelösten Räthsel auf die zu schließen, die ewig ihres Oedipus harren werden.“
Der General wandte sich zu dem letzten Sprecher um und sagte: „Ich hör’ es Ihnen an, Verehrtester, daß Sie einst in einer Synode sitzen werden. An dieser raschen Trennung zwischen Ja und Nein erkennt man den Theologen. Ich hab’ es bei solchen Fragen immer für nöthig gehalten, vor der Unterscheidung der Gegenstände nach jenem trennenden, sondernden Princip mich umzusehen, das doch unstreitig den von Ihnen verlangten Gränzwall aufwerfen müßte.“
Den jungen Mann verdroß die Beschuldigung, als Theolog gesprochen zu haben, wo er voraussetzen mußte, Jeden beschäftige nur der Gegenstand, Keinen sein Interesse. Er entgegnete also: „Sie sehen in mir ungern einen Advocaten des Positiven, Herr General, und doch zwingt mich Ihre Entgegnung auf dem Felde der interessirten Doctrin stehen zu bleiben. Sie sprachen von diesem ersten Gesetze, dessen Sie früher gewiß sein müßten, als des Gegenstandes, worauf es sich anwenden lasse. Allerdings! das ist die alte Frage der Philosophie, die ich aber nicht vertheidigen will, nicht sowohl der Abstrusität wegen, als wegen der Aussicht auf den künftigen Katheder.“
295 „Der Mensch ist das Maß aller Dinge!“ – sagte eine Figur, deren sonderbarer Aufzug mit der Achtung contrastirte, die man ihr allgemein bewies, der kleine Mann trug sich in seinen Kleidern durchaus nach dem Schnitte einer längst vergessenen Mode, nur sein graues Haar flatterte unter dem dreieckigen Hute, den er bald lüftete, bald wieder aufsetzte, ohne Zwang in langen Locken, deren natürliche Kräuselung sich noch nicht ganz verloren hatte. Seine Mienen sprachen Jugendmuth und eine Begeisterung aus, die er auf das Lebhafteste mit einem starken, goldknöpfigen Bambusrohre accompagnirte. Schnell fuhr er fort: „Wir müssen die Welt in unserer Brust tragen. Der Schmerz, der einem Andern Thränen auspreßt, kann mir oft sehr lächerlich vorkommen, ohne daß ich Jenem darum zu verstehen gebe, mit seinem Schmerze sei es nur Scherz. Für die Bergleute, die in Wielicza arbeiten, sind die Sterne nicht geschaffen, so wie diese meine Dose für Keinen da ist, der sie nicht gesehen, oder wie Sie jetzt thun, Herr Präsident, daraus geschnupft hat. Mit dem Wunder hat es seine ähnliche Bewandniß. Das Wunder ist etwas Zwiefaches: eine verborgene Erkenntniß und ein unerklärtes Gefühl: Geist und Herz muß an ihm Nahrung haben. So lange mir der Schlüssel des Geheimnisses fehlt, werd’ ich 296 an das ganze Wunder glauben. Hab’ ich ihn gefunden, so bleibt mir das Wunder des Herzens, die erwärmte Lebenskraft, das gläubige Gefühl noch übrig, und es wird lange währen, ehe mir dieses klar wird. Für mich sind keine Todten auferstanden, keine Geschiedenen ins Leben zurückgekehrt, keine Irdischen bei lebendigem Leibe in den Himmel gefahren: und dennoch weiß ich die frommen Zustände zu achten, in die solche Nachrichten die Gemüther zu setzen pflegen.“
Eine junge Dame von ausnehmender Schönheit, die sich mit zärtlicher Sorgfalt dem alten Manne, der so eben gesprochen, angeschlossen hatte, begann mit anmuthiger Stimme: „Es freut mich, daß sich endlich Gelegenheit darbietet, unsre Frage in ein Gebiet zu spielen, in dem ich und meine Freundinnen vielleicht heimischer sind. Wenn nur die Verschiedenheit der Individuen die Frage des Wunders entscheiden soll, so werden auch die Zeiten mitzusprechen haben, deren Werth dem Interesse der Poesie genau verbunden ist. Die alte Sage hat von Wundern zu erzählen, die sich in einem modernen Epos lächerlich ausnehmen würden, in einem Drama vollends abgeschmackt sind. Was trägt davon die Schuld? Sind die Menschen andre in einer andern Gattung der Poesie, oder sind die Lagen, in die sie kommen, ungleichartig? 297 Ist die Illusion die Ursache, daß wohl in einem Epos Ritter mit Lindwürmern kämpfen dürfen, in einem Drama dagegen schon ein ganz besonderer Duft dazu gehört, eine Fee oder einen bösen Dämon einführen zu dürfen? Wer trägt die Schuld? die Handelnden, der Ort, die Zuschauenden oder die Gattung?“
„Sie würden Unrecht thun – antwortete ein junger Officier – eins dieser Momente zu vergessen. Sie geben alle eine Sylbe zu jenem mystischen Abrakadabra, das man Wunder nennt. Der Glaube der Völker und Zeiten entscheidet nicht nur über seinen Werth, sondern die Völker und Zeiten selbst haben ein Anrecht auf gewisse Gattungen der Poesie. Es wird schwer fallen, das volksthümliche Epos von jenen himmelstürmenden Riesen, den neckenden Zwergen und Goldhütern, das künstliche von den Feenpallästen und den Zauberregionen Ginnistans zu trennen, eben so schwer, als auf der heutigen Bühne ein Wundervogel zur Personenrolle eines Trauerspiels sich würde zählen lassen.“
Inzwischen hatte die bis auf einige Wenige geschmolzene Gesellschaft den Hügel schon hinter sich. Die Fehlenden hatten sich oben auf eine Rasenbank niedergelassen, um die Aussichten, die sich durch einzelne Lücken der dichten Bäume öffne-298ten, zu verfolgen. Die Weitergehenden näherten sich einem Thale, das zwischen dem eben verlassenen Hügel und einem noch höhern sich ausbreitete. Einige Ruinen alterthümlicher Bauart auf dem letztern gaben dem General Veranlassung, das vorher abgebrochene Gespräch wieder anzuknüpfen.
„Unstreitig – begann er – machen solche Ueberbleibsel einer vergangenen Zeit einen Eindruck auf Sie, dessen Zusammenhang mit dem geheimen Schauer des Wunderbaren Ihnen zu errathen nicht schwer sein wird. Ich sage Ihnen aber, dieser Schauer ist nur die Folge der Ueberraschung, der Neuheit, einer gewissen poetischen Erziehung. Mein Schicksal hat mich nicht nur oft in die Nähe solcher geheimer, abgelegener Oerter, auf die die Zeit ihr geheimnißvolles Siegel gedrückt hat, geführt, sondern ich war selbst in einem Lande, wo solche Ruinen von all den Gestalten, die unsre Phantasie und Romanenkenntniß uns nur vorführen kann, belebt waren. Ich war Officier in dem letzten Invasionskriege Frankreichs gegen Spanien. Die Geschichte einer Liebe verwickelte mich in Verlegenheiten, die alle die Absicht hatten, mich durch Ueberraschung, durch den Reiz des Wunderbaren zu verwirren. Die geheimen Umtriebe einer pfäffischen Partei, die Vermummungen an geheimen Oertern, die sonderbarsten Begebnisse, die mir wie 299 aus dem Stegreif zufließen, waren aber alle so natürlich, daß ich die Absichten des Eigennutzes, das Schleichen der Intrigue und die Bosheit des Neides bald errathen könnte.“
Die Zuhörer waren überrascht, den sonst so verschlossenen General aufthauen zu sehen. Es war Niemand mit seinen nähern Lebensverhältnissen genauer vertraut. Nur der junge, angebliche Theolog, spanischer Geburt, aus einer angesehenen Familie, und in der That zum geistlichen Stande bestimmt, schien von der Erzählung betroffen. Die Frage des Wunders ganz vergessend, sagte er bald ungestüm, bald forschend:
„Ich kann die Geschichte der Zufälle, die den Herrn General in meinem Vaterlande betroffen haben, nicht errathen. Die Andeutung einer Liebe und einer fremden Intrigue führt mich aber auf Folgendes: Es gibt Lagen, wo man keine Mittel scheut, um sich eines lästigen Verhältnisses zu erwehren, und wo man die Wahl dieser Mittel durch dies Verhältniß selbst, seinen Unmuth, das Gefühl seiner Schwäche im offnen Kampfe, durch die Sitten eines Landes entschuldigen muß. Ich hatte einst das traurige Geschäft, einen französischen Officier, dessen Name und Rang mir niemals bekannt geworden sind, von einer Leidenschaft zu heilen, die meiner Ehre und dem Glücke einer 300 angebeteten Schwester hätte Gefahr bringen können. Meine Schwester verschmähte den Officier als einen Fremden, und als Verlobte eines Tapfern, der die Sache der Cortes vertheidigte, und in einem der spätern Einfälle Mina’s seinen Tod gefunden hat. Der Beichtvater meiner Schwester und ich haben vielleicht lächerliche Mittel gebraucht, um unsern Zweck zu erreichen, aber die schwierige Stellung gegen einen mächtigen Feind entschuldigte sie. Meine unglückliche Schwester, deren Verlobter von seinem heimathlichen Boden verbannt, und sich nur auf Augenblicke in ihrer Nähe sehen lassen durfte, ist vor einiger Zeit an Schwermuth über den Verlust ihres Geliebten gestorben.“
Der General blieb betroffen stehen, wandte sich um, und sah dem Spanier einen Augenblick flüchtig ins Gesicht. Dann fuhr er scheinbar beruhigt fort: „Sie vergessen unsern Gegenstand! Wir sprachen von Wundern und ähnlichen Geschichten. Es ist merkwürdig, daß wir oft Jahre lang einem bestimmten Ziele nachgehen, es aber niemals treffen, weil es die schlimme Eigenschaft hat, selbst wandelbar zu sein, und einen freien Willen zu haben. Um zwei mir theure Menschen aufzufinden, hab’ ich mich zuletzt sogar auf Divinationen gelegt, weil die Register der Municipalitäten und Paßbureaux nicht mehr helfen wollten. Ich habe 301 mich gewöhnen wollen, an Ahnungen zu glauben, und – wie sie mich zu täuschen pflegen, davon find’ ich in diesem Augenblick ein Beispiel – Ich würde das heutige Gastmahl nicht besucht haben, wenn ich mir nicht wieder hätte zuraunen lassen, die vergebens Gesuchten sollten auf diesen Ruinen, die wir jetzt erstiegen haben, gefunden werden. Ja, selbst dieser Stein, auf dem Sie, Fräulein, stehen, war mir traumartig als der Ort des Wiedersehens bestimmt. Aber, mein Gott, warum erblassen Sie?“
In der That schwankte die junge Dame in die Arme des altmodischen Alten. Dann hob sie ihre Augen wieder auf und rief, dem General zugewandt: „Mein Vater!“
Das Erstaunen war allgemein. Der General erkannte sein vergeblich gesuchtes Kind, und in dem Alten einen von ihm nie gesehenen Oheim, dem er jenes beim Marsche nach Spanien durch einen Diener anvertraut hatte. Mannigfache Schicksale, die ihre Aufklärung in den Verhältnissen zu dem spanischen Geistlichen fanden, hatte ihn längere Zeit von seiner Heirath zurückgehalten, bis er in diesem Augenblicke das geliebte Pfand seiner ersten Liebe an sein väterliches Herz drücken konnte. Die spanische Verirrung löste sich bald durch einige Verständigungen mit dem Geistlichen, und man 302 sah, daß der General sich eine Thräne aus dem Auge wischte. Die auf dem andern Hügel zurückgebliebene Gesellschaft staunte über diese sonderbare Wendung, die ein Dispüt über das Wunderbare genommen hatte. –
* * *
* *
Nicht wahr, Geliebte, ich kann den Romanschreiber machen? Einzig durch eine Schlußscene hab’ ich Dir ein so großartiges romantisches Gemälde hingestellt, daß Du alle Vorgänge leicht wirst ergänzen können. Du wirst Dir die Spukscenen auf den spanischen Schlössern, die Heimlichkeit der Liebe der Donna zu ihrem Constitutionellen ausmalen können, ohne daß ich davon mehr erwähne, als ich that. Es muß Dir die Ergänzung dieser Andeutungen noch besonders leicht sein, weil wir Beide zu den handelnden Personen der Geschichte gehören. Leider hab’ ich nur vergessen, welche Rolle ich eigentlich spielte.
Der General hat bei Don Pedro Dienste genommen, der junge Officier ist seiner Tochter Gatte geworden, und fiel bei der Eroberung von Constantine in Afrika, seine Tochter ist darüber wahnsinnig geworden, der alte Oheim soll auch 303 immer schwächer an Verstand werden, und den Spanier haben die Pariser als einen Jesuiten in die Seine geworfen – wer von diesen bin ich? und wer bist Du?
Und es sollte keine Wunder mehr geben?
304 Sechs und zwanzigster Brief.#
Das Jahr 1836 rückt immer näher heran. Haben Sie den tiefsinnigen Bengel auch so mißverstanden, daß in diesem die Welt untergehen werde? Unmöglich, sonst würden Sie Furcht und Besorgniß geäußert haben; dagegen sehen Sie der nächsten Zukunft mit jener Fassung, jenem beispiellosen Anstande entgegen, den ich an Ihnen, Verehrteste, immer so sehr habe bewundern müssen. Entweder verlassen Sie sich auf Ihr gutes Gewissen, oder auf Ihre richtigere Einsicht in den Sinn der merkwürdigen Prophezeiung; vielleicht auf Beides.
Es bleibt wahr, daß wir am Vorabende großer Ereignisse stehen. Das Jahr 1836 ist dieser heilige Abend, auf den ein tausendjähriger Festtag 305 folgen wird. Die drei Jahre, die wir zunächst noch zu durchleben haben, werden mit Vorbereitungen hingebracht. Es wird aufgeräumt, alles Alte nicht nur an den alten Ort gestellt, sondern gänzlich weggeschafft werden. Wir sind noch jung, Vortreffliche, wir bleiben. Wir werden noch die Palmen und grünen Zweige sehen, über die das neue Heil der Welt einziehen wird, werden in das begeisterte Hosianna der Heiligen einstimmen können.
Aber Sie zweifeln wohl noch? Ja, ja, Sie müssen zweifeln, weil ich Sie belehren will. Da liegt die Bibel neben mir aufgeschlagen, die betreffenden Punkte der Offenbarung Johannis sind mit rother Dinte angestrichen. Sie verschmähen gewiß nicht den nachfolgenden Beitrag zu einer gründlicheren, tieferen Schriftauslegung, o! er ist ja ein Saamenkorn der schönsten Hoffnungen.
Aber ich will neu sein, nicht in meinen Resultaten, sondern in der Art, wie ich zu den alten komme. Das Jahr 1836 ist unstreitig sehr richtig angegeben. Nur konnte Bengel vor hundert Jahren nicht so die Zeichen dieser ihm zukünftigen Zeiten deuten, als der, der selbst in ihnen lebt. Viele typischen Ausdrücke der Apokalypse werd’ ich anders erklären, und Ihres Beifalls bin ich – o, ich schmeichle mir ja so gern – schon im Voraus gewiß.
306 Ohne Zweifel wird es Ihnen bekannt sein, wo nicht, so lernen Sie es von mir – Schämen Sie sich nicht, man lernt nie aus! – daß die prophetischen Ausdrücke der Offenbarung nicht hintereinander zu stellen sind, so daß sich etwa ein Zeichen an das andere, eine Zeit an die andere, reihen müßte, sondern die Briefe, die Posaunen, die Siegel, die Hornschalen sind alle nur verschiedene Modificationen der Bezeichnung einer und derselben Zeit. Was Johannes bei der fünften Posaune gesehen hat, das hat er auch bei Eröffnung des fünften Siegels gesehen: nur mit dem Unterschiede, der zwischen irgend einer Empfindung, während ein Cavallerieregiment unterm Fenster vorbeizieht, und derselben Empfindung, während man das Siegel eines Briefes löst, Statt finden mag. Wenn Sie ein Thier mit sieben Hörnern und zehn Kronen sehen, so werden Sie anders erschrecken, als wenn Sie eines mit zehn Hörnern und sieben Kronen erblicken, nur bleibt der Schrecken Schrecken.
Jetzt bitt’ ich Sie, gefälligst Ihre Bibel aufzuschlagen. Sollten Sie keine besitzen, Fräulein, so – ja, was thut man dann? Nun, dann glauben Sie meinen Citaten.
Im 18. Capitel fällt das antichristische Reich: im 19. beginnt die Herrlichkeit des neuen. Was also im Vorhergehenden mit der Sechs oder Sie-307benzahl zu schaffen hat, deutet näher oder entfernter auf die Zeit, in welcher ich die Ehre habe, mit Ihnen zu leben.
Die Visionen beginnen mit 7 Leuchtern; vielleicht um in das Ganze der Offenbarung Licht zu bringen. Diese 7 Leuchter sind aber auch 7 Sterne, und eigentlich wieder keine Sterne, sondern 7 Briefe. Die ersten Briefe betreffen die Zeit bald nach Christi Tode, die letzten gehen uns an. Schon die Namen der Gemeinden, die von diesen brieflichen Sternen angeleuchtet werden, geben einen Schluß auf die Zeit, der sie zur Erklärung dienen. Z. B. ist einer nach Smyrna geschrieben. Sie begreifen die Andeutung der bittern Myrrhenzeit, wo die Christen den Märtyrertod erleiden mußten. Das S an Smyrna? o Liebe, das ist unwesentlich, lesen Sie nur fleißiger im Buttmann!
Der fünfte Brief ist nach Philadelphia geschrieben. Erstaunen Sie nicht? Unstreitig denkt der Apostel an den nordamericanischen Freiheitskrieg. Hören Sie doch die Worte, die dorthin geschrieben sind:
„Siehe, ich habe dir gegeben eine offne Thür, und Niemand kann sie zuschließen!“
Ein Stich auf die Engländer. Die Nordamericaner erhielten damals für ihren Handel eine 308 freie Bahn und offne Thür, und Niemand kann sie zuschließen.
„Halte, was Du hast, daß Niemand Deine Krone nehme!“
Die schönste Regel für Könige und Minister! Begnüge Dich mit dem, was Dir zugefallen ist, sonst verlierst Du auch dies noch! Die Nordamericaner folgen diesem Gebote, darum wird Gottes Finger bei ihnen so merklich. Dieses Budget! dieser Finanzzustand! Vor einigen Monaten haben sich alle Finanzminister Europa’s auf einen Tag deshalb in Flor gekleidet.
Endlich kommen wir auf unser Zeitalter. Der Engel schreibt nach Laodicäa. Mit Ihrer Erlaubniß übersetz’ ich Ihnen dies Wort. Es heißt Volksgericht. Wir leben im Zeitalter der Demokratie. Das wollt’ ich meinen! Das Volk richtet, seine Stimme ist Gottes Stimme.
Jetzt fangen die Sticheleien auf Deutschland an.
„Ich weiß Deine Werke, daß Du weder kalt noch warm bist.“
Müssen wir uns nicht schämen? Die Halben, die da wollen, und nicht können, die weder Fisch noch Fleisch, die hat der Engel in der Off. Joh. 3, 15 schon gekannt! Ist’s nicht gerade so, als hätte Wolfgang Menzel jene Stelle geschrieben?
„Ach, daß Du kalt oder warm wärest!“
309 wird seufzend hinzugefügt. Daß man doch wenigstens wüßte, wo man Dich angreifen soll! Wir wollen ja lieber lauter Bettler, als einen, der heute in Lumpen geht, und sich morgen für einen Crösus ausgibt. Nein, in der That, hierin ist unsere Zeit consequent, sie will nicht arm sein; denn stolz und hochmüthig sagt sie bald darauf:
„Nein, ich bin reich, und habe gar satt, und bedarf Nichts.“
Falsche Scham! Man weiß es besser:
„Du bist elend und jämmerlich, arm, blind und bloß.“
Leider, Die Noth des Volkes ist aufs Höchste gestiegen. Armes Irland, wie sehr bedarfst du des nachstehenden Trostes, daß nur die der Herr züchtigt, die er lieb hat.
Wenn Sie nun jetzt in der Bibel weiterläsen, so würden Sie einen Engel finden, der ein versiegeltes Buch trägt, das Buch der Weltgeschichte. Niemand ist da, der es öffnen kann. Die Zeit steht still und kann sich nicht mehr entwickeln. Da tritt endlich das apokalyptische Lamm hervor. Christus ist’s, der die abgelaufene Uhr der Geschichte wieder aufzieht. Er öffnet sechs Siegel, und zuletzt ein siebentes, und dann – o, ich zittre schon an allen Gliedern. Zittern auch Sie, Fräulein! Man hat Ursach!
310 Beim sechsten Siegel kommen wir in die Nähe unserer Zeit.
„Siehe, da ward ein groß Erdbeben.“
Das große Erdbeben in Lissabon ward ein Schauder der Erde, welche Dinge sie noch tragen müßte. Die alte Mutter sollte in Strömen das Blut ihrer Kinder trinken. Jetzt bricht die Revolution an.
„Und die Könige auf Erden, und die Obersten und die Reichen, und die Hauptleute und die Gewaltigen verbargen sich in den Klüften und Felsen an den Bergen.“
Wir Beide haben uns nicht verborgen; denn wir sind keine Könige, keine Obersten, keine Hauptleute, auch durchaus nicht gewaltig, am wenigsten aber reich. Die wissen’s recht gut, die sich verborgen haben. Weil es aber die Stimme des Unglücks ist, schon typisch in der Bibel gezüchtigt zu werden, so will ich die Merkwürdigkeit weiter nicht verfolgen, und nur so im Stillen mich ein Weniges deshalb entzücken.
Jetzt endlich soll das siebente Siegel geöffnet werden. Ehe dies noch geschieht, tritt eine kleine Stille ein. Sie verstehen mich, das ist die Restauration. Eine apokalyptische Stunde ist ein Menschenalter, eine halbe also 15 Jahre. So lange hat die kleine Stille und die Restauration gedauert.
311 Wie wichtig muß das siebente Siegel sein! Noch immer bedarf es zu seiner Lösung ungewöhnlicher Vorkehrungen. Mit Posaunen wurd’ es nach und nach geöffnet. Wie sich von selbst versteht, sind diese Posaunen die sogenannten Schreier des Tags, die Journalisten, die Männer sans loi et foi.
Es muß Ihnen bekannt sein, daß es in Deutschland beinahe das Ansehen gewann, als wären die Bestrebungen der Restaurirenden durchgedrungen. O! in den Jahren 20 – 30 waren wir seelenvergnügt. Wir trugen unsere Ketten aus Ironie, mit Vergnügen, lachten drüber. Wir glaubten Tage in Aranjuez zu leben, solche Richtung nahm die Literatur. Süß war sie, überzuckert, wie Honig. Wer sie aber verdauen wollte, bekam Bauchgrimmen. Darum nun verschlingt Johannes während der 6ten und 7ten Posaune ein Buch. Hören Sie darüber ihn selbst:
„Ich nahm das Büchlein von der Hand des Engels, und verschlang es. Und es war süß in meinem Munde, wie Honig: und da ich es gegessen hatte, grimmte mich’s im Bauche.“
Da nun der Engel die siebente Posaune blies, wurden die Erscheinungen so mannigfach, daß wir wohl daran thun, Alles gehörig zu unterscheiden. Es beginnt nämlich ein Kampf zwischen den Vor-312boten des Himmels und der Hölle. Die Zeichen sind so ausdrücklich, daß ich keinen Anstand nehme, die himmlische Erscheinung für die Hoffnung der Völker, die höllische für die Legitimität, heilige Allianz u. s. w. zu nehmen.
„Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: ein Weib mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen, und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen.“
Das ist die Volkssouveränität! Ja, das ist sie!
„Und sie war schwanger und schrie, und war in Kindesnöthen und hatte große Qual zur Geburt.“
Gott, daß ich ihr helfen könnte! Fräulein, Sie werden roth, aber in der That, jetzt ist nicht Zeit zum Rothwerden! Die Sache ist bedenklich, sehr bedenklich! Hören Sie nur:
„Und siehe, ein großer rother Drache, der hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen. Und sein Schwanz zog den dritten Theil der Sterne, und warf sie auf die Erde. Und der Drache trat vor das Weib, die gebären sollte, auf daß, wenn sie geboren hätte, er ihr Kind fräße.“
O, fallen Sie noch nicht in Ohnmacht! Gott nimmt ja das Kind auf seinen Stuhl und schickt 313 die Mutter so lange an einen sichern Ort, bis die Herrschaft ihres Kindes beginnt.
Jenen großen rothen Drachen muß ein Jeder für das Königthum im Allgemeinen und die heilige Allianz im Besondern halten. Die Dreizahl ist deutlich hervorgehoben. Sieben Häupter und zehn Hörner und nur sieben Kronen! Ziehen Sie gefälligst 7 von 10 ab, so bleiben 3. Diese Drei haben keine Kronen, ein Zeichen ab eventu: denn gerade diesen wird der kommende Sturz die Krone abstoßen.
Im Folgenden sind zwei Thiere merkwürdig und die große –
Allmächtiger Gott, hätt’ ich das gewußt! Fräulein, was fang’ ich nun an? das hab’ ich nicht ahnen können. Verzeihen Sie mir! Nur dies eine Mal noch! Verzeihen Sie mir! Hab’ ich denn die Bibel geschrieben? hab’ ich sie denn übersetzt? Es steht doch nun einmal da. O dem Reinen ist Alles rein – also die zweite Merkwürdigkeit ist die große Hure. Alle drei sind nähere Modificationen des Königthums.
Das siebenköpfige Thier der Lästerung ist die Wissenschaft (sieben freie Künste), wenn sie sich dem Dienste des Staates ergibt. Darum trägt auch sie 10 Kronen auf 7 Häuptern und 10 Hörnern, und es ist ausdrücklich gesagt, daß ihr der 314 Drache des Königthums seine Kraft, seinen Stuhl und große Macht gegeben hat. Die königliche Wissenschaft gleicht einem Pardel; denn sie ist geschmeidig, ihr Mund dem Mund eines Löwen; denn sie ist Autorität. Ihre Füße sind Bärenfüße; denn sie ist grob. Zwar kann sie große Dinge reden und hat Macht über alle Sprachen, sie überwindet auch die Heiligen Gottes, aber die Zeit der Ernte reift auch für sie heran.
Das zweiköpfige Thier der Verführung ist die Religion in ihrer falschen Verbindung mit dem Königthum. Sie thut große Wunder, läßt Feuer vom Himmel regnen, ist überhaupt falscher Prophet und Herold des Aberglaubens, und die Menge gehorcht dem, der ihr solche Macht gegeben. Alles was dies zweiköpfige Thier thut, thut es des siebenköpfigen, und mittelbar des rothen Drachen wegen.
Aus allen diesen höllischen Ingredienzien mischt sich nun das Bild der großen Hure, diese ewige Antichristin, die dabei noch immer den Schein des Christenthums annimmt. Da haben wir die heilige Inquisition, die heilige Ligue, – – – – – das göttliche Recht.
„Ich sahe das Weib sitzen auf einem rosinfarbenen Thier, das war voll Namen der Lästerung, und hatte sieben Häupter und zehn Hörner. Und 315 das Weib war bekleidet mit Scharlach und rosinfarb, und übergoldet mit Golde, und Edelgesteinen und Perlen; und hatte einen goldnen Becher in der Hand, voll Greuel und Unsauberkeit. Mit ihr haben gehuret die Könige auf Erden, und sind trunken worden von ihrem Weine.“
Pfui! diese Wirthschaft wird 1836 aufhören! Dann wird der Sitz dieses Weibes, Babylon, zerstört werden. Babylon? Sie denken vielleicht an Rom, wie die meisten Ausleger. Ein verzeihlicher Irrthum! Nein, es ist Frankfurt am Main. Hören Sie nur:
„Die Könige haben mit ihr u. s. w. und ihre Kaufleute sind reich geworden von ihrer großen Wollust.“
Also doch Frankfurt?
„Und eine Stimme rief: Bezahlet ihr, wie sie euch bezahlet hat!“
Frankfurt geht an einem totalen Falliment unter.
„Und alle Schiffherren, und der Haufe, die auf den Schiffen handthieren, und Schiffleute, die auf dem Meere handthieren (hausiren), klagten: Wehe, die grauße Stadt, in welcher sind reich geworden Alle, die da Schiffe im Meere hatten, von ihrer Waare!“
316 Es kommt noch mehr!
„Sie spricht in ihrem Herzen: ich sitze und bin eine Königin.“
Rom hat seinen Fürsten, Frankfurt ist eine Republik, hat also keinen König. Das Ich sitze heißt nicht, ich bin eine Königin und dabei sitzen geblieben, es will mich Niemand ehelichen, sondern es ist kühner apokalyptischer Ausdruck für: in mir werden Sitzungen gehalten!
„Wenn sie fällt, werden die Kaufleute auf Erden weinen und Leid tragen bei sich selbst, daß ihre Waare nun Niemand mehr kaufen wird.“
Und darauf folgt ein Preiscourant der früher gangbaren, reißend abgesetzten Artikel: Gold, Edelsteine, Wein, Semmel, Wagen, Pferde, sogar Leichname und zuletzt auch Seelen. – – – – – – – – – – – – – – – –
Dies Frankfurt wird untergehen nach der siebenten Zornschale der Plagen, wo die Pest, die Cholera herrschen wird und sich eine Insel wegbewegt, die Grahamsinsel, die Insel Fernandea. Untergehen wird es nach Eröffnung des siebenten Siegels, d. h. wenn es keine Fürsten und Diplomaten mehr gibt. Das Geheimniß des siebenten Siegels ist unstreitig die Diplomatik. In ihrem 666sten Protokolle wird die Londoner Conferenz nicht nur 317 ihren eignen Tod, sondern auch derer, die sie constituirt haben, unter Verbittung der Beileidsbezeugungen ankündigen.
Schönste, am ersten Januar 1836 besuch’ ich Sie, nicht der Neujahrvisite wegen, sondern ich erlaube mir, Ihnen meinen Arm anzubieten, um anzuhören das große Halleluja, das gesungen werden soll von allen Engeln, und das jauchzende Te Deum laudamus, das alle heiligen Singer anstimmen und läuten werden die Glocken im großen Weltendome.
Verwahren Sie ja diesen Brief, vielleicht kann er die Stelle eines Einlaßbillets vertreten!
Bis dahin werd’ ich jeden Tag für einen 31sten December halten und jeden Abend für einen Sylvesterabend und jede Nacht für eine Weihnacht.
Leben Sie wohl, Signora!
318 Sieben und zwanzigster Brief.#
C. Junius Brutus wünscht seiner Schwester Lucretia Heil!
Trifft Dich dieser Brief vielleicht opfernd an den Altären der Götter, so umarme sie, nicht um meine glückliche Heimkehr flehend, sondern dankend für diese: denn schon bin ich nahe den Thoren der Stadt.
Der weise Spruch des delphischen Gottes hat mich zu Roms künftigem Könige bestimmt. Wer zuerst die Mutter küsse – sagte die Priesterin, – würde die Krone tragen. Ich küßte den Boden der geliebten Heimath, die Brüste meiner ewigen Mutter. Aber ich werde klüger sein als der Rath der Himmlischen. Ich achte die Krone nicht höher, 319 als einen Stein am Wege, oder am Kleide des Bettlers einen Lumpen.
Schmerzlich fühl’ ich, daß ich meine Klugheit unter dem Gewande der Thorheit verbergen muß, schmerzlicher, daß wohl gar Deine liebende Seele, Schwester, bei der allgemeinen Kunde von der Schwäche und Zerrüttung meines Geistes, zu zweifeln anfängt, und an sich selbst irr wird, da sie doch besser von dem unseligen Verhältnisse unterrichtet ist. Kann doch der Glaube einer ganzen Welt selbst einen Blinden bewegen, sich für sehend zu halten.
Um Dich an die unerschütterliche Ausdauer und Kraft meines Willens zu erinnern, eil’ ich nun in Deine freundliche Nähe. Ich will Dich lehren, wie in dem Nebellande, das mich scheinbar umdämmert, noch immer die feurigste Gluth der Liebe und des Hasses lodert. Je länger ich der Weisheit dieser Welt eine Thorheit scheine, desto schärfer wetz’ ich mein Schwert. Ich will ihr schon die neue Lehre eines Thoren einst predigen. Mit Sehnsucht erwart’ ich jenen Augenblick, da ich endlich die täuschende Hülle abwerfen, und in richtenden Thaten die Größe meiner Einsicht zeigen werde.
Woher aber dies, daß mich oft eine so schmerzliche Ahnung bewegt, als müßte jener Augenblick 320 doch auch durch meine Seele wie ein Dolch fahren? als müßt’ ich betäubt, entsetzt vor irgend einem Anblick, mein Gesicht abwenden, und das Schwert nicht aus meiner Scheide ziehen, sondern erst aus den Händen rachefordernder Manen empfangen? Schwester, solltest Du das Opfer des Tyrannenfrevels werden? Bei jenen Tempelhöhen des capitolinischen Jupiter! ich schwöre Dir unerhörte Sühne.
Solche ahnungstrübe Gedanken engen oft hart die Straße, die ich wandle. Dann fahr’ ich entsetzt wie vor Gespenstern zurück. Und über Schwäger und Vettern, die mich nur im duldenden Blödsinne zu sehen gewohnt sind, kommt ein Schauder und Schrecken, daß sie das starre Weiß in meinen Augen nicht ertragen können. Wie sehn’ ich mich nach der Stunde der Erlösung!
Wer weise sein will, der werde ein Narr in dieser Welt! Ist dies die Art unseres Jahrhunderts, daß, wer sein Vaterland retten will, sich für verrückt ausgeben muß? Wie ein toller Sänger zieh’ ich durchs Land, und singe Lieder mit entsetzlicher Stimme, und schlage dazu Töne, lachend bald, bald weinend. Hier lärm’ und donnr’ ich, rede wie in Aprilschauern dort, und dann wieder wie Frühlingsglanz und Sonnenwärme. Das Volk gafft den Gaukler an, schlägt aber immer ein 321 Kreuz, wenn er sich naht. Oft liegt er im Staube oder Grase, und die Kinder spielen mit seinem weißen Barte; dann stürmt er aber plötzlich auf, und Alles flieht vor den Flammen seiner Blicke.
Und das Alles – fragst Du zweifelnd – um der Freiheit willen?
An den Höfen der Fürsten hab’ ich mich in ein buntes Kleid gesteckt, trage eine lange, klirrende Schellenkappe und ein hölzernes Schwert. Die Prinzessinnen muß ich ins Theater führen, in den Zwischenacten ihnen Späße vormachen, die Volte schlagen, auskundschaften, wer bei ihrem Eintritt den tiefsten Bückling gemacht, und zuletzt noch das Spiel und den Dichter recensiren. Geht es zu Tische, so bin ich eine lebendige Tafelmusik, muß die Unterhaltung beleben, Dummes in kluger, Kluges in dummer Manier vortragen, die Hohen Zwerchfelle in Bewegung setzen, und darf überhaupt die Talglichter und den Lachstoff nicht ausgehen lassen. Ja, selbst dann noch, wenn die Majestäten vom Regieren ermüdet sind, wenn sie den Tag über die Last des Volkes getragen, und ihm den Schweiß von der Stirne gewischt haben, wollen sie in das Kaleidoskop meiner Gedankenwelt sehen. Nur in den wenigen Stunden des Schlafes erlaubt man mir vernünftig, meinem leidenden Volke frei zu sein.
322 Man rechnet mich zu den bessern Schriftstellern der Nation, dankt mir für die Unterhaltung, die ich auf Augenblicke gewähre. Der Laune des Publicums, einer verzogenen, verbildeten Dame, muß ich mich hingeben, und auf dem Sopha neben Schooßhündchen und Stickmustern prangen. Wenn die Leute schläfrig sind, muß ich ihnen die Augenwimpern aufrecht stützen: und statt daß mir eine müde Schöne erlauben sollte, ihr die Seidendecke des Auges zu küssen, wirft sie mich unwillig zur Seite, nimmt ihr Licht, und geht zu Bett.
Ja, Schwester, die römischen Classiker müssen als erste Opfer fallen!
Wenn die Völker dieser Zeit nur auf Trümmern und zersprengten Felsen wohnen, so sind die Schriftsteller meist nur das niedrige ärmliche Gestrüpp, das ihnen noch einigen Reiz und Lebensaussehen gibt. So grünt das modernde Moos, wenn es sich über verwitterte Steine, zwischen Tod und Leben kämpfend, zieht. Sollen wir nicht rathend, belebend, schaffend durch die Räume der Erde walten? Wir besitzen die Klarheit des Geistes, und nicht die Sitte und Gewohnheit soll herrschen, sondern der Geist, der sie prüfend verwirft oder annimmt. Gibt es unter dem Volke Unmündige, so ist das ein Zeugniß gegen uns. Die Vorurtheile sind stark, aber sie sterben aus 323 mit denen, die sie hegen. Die Wahrheit des Geistes soll ein ewiges Erbe sein.
Die deutschen Schriftsteller Tadeln, theure Lucretia, ist nur die halbe Seite ihrer Würdigung. Noch öfter müssen wir sie bemitleiden. Ich kenne keine Literatur, die durch mildes Urtheil so sehr Alles, durch strengsten Angriff so sehr Nichts ist. Fast alle großen Geister unserer Nation verschwanden, wenn man neben der Gerechtigkeit nicht mehr die Billigkeit wollte gelten lassen. Auf die leichterregte Menge haben sie gewirkt, aber keinen Stein um einen Schritt fortgerückt. Wenn sie vorgeben, zu schaffen, so bildeten sie verschüttete Dome mit neuen Steinen nach, und bauten in der Meinung, Palläste zu zaubern, Ruinen. Deren haben wir genug.
Diese Abenddämmerung verspricht aber den Anbruch eines neuen Morgens. Die Zierde des kommenden Geschlechts wird eine Fülle lebensfroher Kräfte sein. Man hat oft in der Geschichte die Erscheinung erlebt, daß ein neues, thatenkräftiges Herrscherhaus eine sieche, geschwächte Nation wieder neu beleben konnte. So wird die wahre Aristokratie künftiger Geister wie neue Keime und grüne Schößlinge aus der alternden Welt emporwachsen. Die Schuppen werden von den blöden Augen fal-324len, und ein lichter Tag den Sehenden entgegenscheinen.
Jetzt, meine Schwester, sind wir noch Deinem Geschlecht in das zarte Werk seiner Hände gefallen. Wie wir heute z. B. zur Ostermesse 1832 schreiben, weben wir an einem großen Vorhange, der aber einst unter den Zeichen des Himmels zerreißen wird, wenn der neue Bund mit seinem Blut den Untergang des alten besiegelt. Weil dies Weben nur eine vorübergehende Beschäftigung ist, so ist es uns auch ungewohnt: denn mit den spitzen Nadeln fahren wir uns oft gar unsanft in die Hände. Aber ist der Vorhang zu Stande, so werfen wir die Nadeln weg, die neue Zeit wird uns anders beschäftigen.
Noch sind uns alle Wege zum Ziele mit schwarzem Trauerflor behangen. So viele junge Herzen, die sich entschlossen haben, auf ihr ganzes Leben den Belohnungen der Machthaber zu entsagen, wandeln diese Thränenstraße. Ueberall müssen sie sich an spitzen Dornen blutig ritzen. Kaum aus den Kreisen des häuslichen Lebens herausgetreten, mit kindlicher Hoffnung aus Liebe und Treue erwartend, werden sie schon von den rohen Schergen der Gewalt ergriffen. Ihre Hoffnung wird Mißtrauen, und dies bis zum Haß gesteigert. Wenn in die Köpfe der Deutschen während der 325 Restauration eine wahrhafte Oede und Leere eingezogen war, so ist dies die versteckte, nur die traurigsten Erinnerungen weckende Ursach. Wenn man ein Land in Bann legt, so läuten darin auch keine Glocken mehr.
Der Sand auf der Uhr ist bald verronnen. Ich rufe die Römer zum Streite, zur Befreiung ihres Vaterlandes. Wer sein Schwert zu zücken versteht, wird nicht ausbleiben.
Wer hat sie gelehrt, daß ich ein Narr bin? Ich selbst werde unsterbliche Beweise für meinen Verstand führen. Wirst Du mir den Lorbeerkranz um meinen Scheitel winden? Wenn ich auf goldenem Triumphwagen durch die heilige Straße zu dem Tempel des größten und besten Jupiter ziehe, die befreiten Scharen palmengeschmückter Sieger mir zur Seite, wirst Du mir dann an den Stufen des Heiligthums aus dem Kreise der versammelten Priester entgegen treten? Werden die Jungfrauen Roms zum Danke, daß ich sie in die Brautkammer freier Männer führte, mein Gedächtniß ewig mit Lobgesängen und festlichem Umzug feiern?
Der nächste Augenblick kann der Schöpfer großer Leiden und Freuden werden. Freuden? wir werden sie genießen! Leiden? Auch aus dem Gewitter spricht ein Gott, auch finstere Wolken lieben 326 sich, denn Blitze und Donner sind nur ihre Seufzer und Küsse.
Krieg oder Frieden! Leben oder Tod! Schüttle die Loose, ich erbleiche vor keinem!
Wenn in günstiger Richtung ein Adler an Deinem Hause vorüberfliegt, so freue Dich meiner Ankunft. Lebe wohl!
Apparat#
Bearbeitung: Richard J. Kavanagh, Cork; Martina Lauster, Exeter#
1. Textüberlieferung#
1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#
Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.
1.2. Drucke#
Der Roman liegt in zwei Druckfassungen vor, im folgenden aufgeführt nach Wolfgang Rasch: Bibliographie Karl Gutzkow (1829 - 1880). 2 Bde. Bielefeld: Aisthesis-Verl., 1998.
- E Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg: Hoffmann & Campe, 1832. (Rasch 2.1)
- A1 Aus den Briefen eines Narren an eine Närrin. In: Gesammelte Werke von Karl Gutzkow. Vollständig umgearb. Ausgabe. Bd. 3, Frankfurt/M.: Literarische Anstalt, 1845. S. 5-58. (Rasch 1.2.3.2)
2. Textdarbietung#
2.1. Edierter Text#
E. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem ersten Buchdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch – wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.
Die Liste der Texteingriffe nennt die vom Herausgeber berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Die Seiten-/Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Werkes im Band: Briefe eines Narren an eine Närrin. Hg. von R. J. Kavanagh. Münster: Oktober Verlag, 2003. (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. I: Erzählerische Werke, Bd. 1.)
Die Kollation von vier verschiedenen Exemplaren des Erstdrucks lässt vermuten, dass im Laufe der Produktion Presskorrekturen vorgenommen worden sind. Verglichen wurden die Exemplare der British Library (ELDN), der Stadt- und Universitäts-Bibliothek Frankfurt/M. (EFFM), der Bayerischen Staatsbibliothek München (EMCH) sowie des Germanistischen Seminars der Freien Universität Berlin (EBER). Der Abdruck folgt dem Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München. Alle Abweichungen von der Druckvorlage sind unten aufgeführt.
2.1.1. Texteingriffe#
9,4 der Sittengesetze des Sittengesetze
22,1 Volksaufläufen Volsaufläufen
33,3 Genil Geeil
34,15 und nnd
46,31 verlornen vorlornen
54,12 Geschichtsschauern Gesichtsschauern
76,31 Du du
76,32 Du du
78,5 Jammerrufe Jammerufe
82,29 schuldlosen schuldosen
83,21 irgend irend
85,4 ihm ihn
87,1 den eignen der eignen
87,15 annimmt. annimmt?
91,14 „Unvergeßliche,“ sprach ich, „merken Sie denn nicht „Unvergeßliche, „sprach ich,“ merken Sie denn nicht
91,27 Hoffnung Hoffrung
91,30-31 „Ach, Herr Hofrath,“ – sagtest Du damals zu mir – „wie gut Sie die Rolle „Ach, Herr Hofrath,“ – „sagtest Du damals zu mir – wie gut Sie die Rolle
95,22 meine Ansicht meine meine Ansicht
96,24 Silhouetteur Silhonetteur
105,20 Mechanismus Mechenismus
105,21 Sieg Sie
118,2 mit mie
119,29 die Marseillaise dir Marseillaise
119,34 nicht verloren gesungen“! nicht verloren“ gesungen!
132,12 früher frühe ausgefallene Letter am Zeilenende
139,16 Behandlungen Behandlung
140,16 hintreten hintrrten
145,7-9 Vergebens rief ich in die Salons meine ernsten Warnungen; noch waren sie aber zu schwach Vergebens rief in die Salons meine ernsten Warnungen; noch war sie aber zu schwach Textausfall ergänzt und syntaktische Korrektur nach A1
151,28 zu u ausgefallene Letter
158,26-27 da-[248]hingegen da [248]hingegen fehlendes Trennungszeichen am Seitenende
162,29 andern audern
169,34 selbst sebst
176,4 von vou
177,17 nahm, nahm;
177,23-24 Affectation Affectatation
182,6 Einfluß der Einfluß, der
189,13 Freundinnen Freudinnen
Errata#
Zur Buchausgabe (GWB I, Bd. 1) sind folgende Textkorrekturen zu vermerken:
7,28 G-Saite lies: G-Saite (G als fremdsprachiger Text, serifenloser Satz)
110,14 spricht lies: sprichst
112,6-7 Bestimmumgen lies: Bestimmungen
147,32 floh.’ lies: floh’
169,1 Tactitus lies: Tacitus
Bei den folgenden, in E fehlerhaften Lemmata hätte ein Texteingriff erfolgen müssen (entsprechend ist die auf S. 217 abgedruckte Liste der „Textänderungen“ zu ergänzen):
2,25 Siegen lies: Sieger
40,11-12 das Hohenzollern – das Wittelsbacherthum ] lies: das Hohenzollern- das Wittelsbacherthum
112,22 einandere lies: einander
145,7-9 Vergebens rief [ ] in die Salons meine ernsten Warnungen; noch war sie aber zu schwach Der in eckigen Klammern angedeutete Textausfall hätte nach der Ausgabe von 1845 (A1) ergänzt und danach auch eine weitere syntaktische Korrektur vorgenommen werden müssen. Lies: Vergebens rief ich in die Salons meine ernsten Warnungen; noch waren sie aber zu schwach
188,28 Wielicza lies: Wieliczka
2.1.2. Problemfall#
27,4 Chancer So in allen angesehenen Exemplaren; mögliche Fehlsetzung von ‚Chancen‛. Im Zauberer von Rom findet sich ein Gebrauch von ‚Chancen‛ im Sinne von ‚Umstände, Akzidentien, Zufälle‛ (Buch 4, Kap. 5; GWB I, Bd. 11/2, S. 1009, Zl. 34).
2.1.3. Abweichungen zwischen Exemplaren des Erstdrucks#
83,31 im Exemplar der British Library ist die Seite 129 als 120 paginiert
96,24 Silhouetteur Silhonetteur EFFM EMCH
104,5 Kinde Kiude ELDN
188,3 Beschuldigung Beschnldigung ELDN
200,20 Ligue, Ligue EBER
2.2. Varianten zwischen E und A1 #
2.2.1. Die neu strukturierte Textauswahl in A1#
Wie Gutzkow im Vorwort (4.1., Nr. 8) und im Titel der zweiten Auflage, Aus den Briefen eines Narren an eine Närrin, ankündigt, handelt es sich bei dieser Version lediglich um Textauszüge. Die Einteilung in Briefe ist dabei entfallen; stattdessen sind die Textblöcke durch zentrierte Linien voneinander abgesetzt. Manchmal markiert zusätzlich eine Reihe von Gedankenstrichen den Anfang oder das Ende einer solchen Sinneinheit. Gutzkow fügte gegebenenfalls neue Übergänge ein, um die Auswahl lesbarer zu machen. Sie umfasst folgende sechzehn Einheiten, die hier der Übersicht halber mit eingeklammerter Zählung versehen sind:
1,1 Vorwort bis 3,5 des Bedlam in London. (1)
Aus dem ersten Brief: 4,2 Wenn ich von meiner Freundin bis 6,32 seines Sturzes gehabt hätte. (2)
Aus dem vierten Brief:
25,2 Ein Räthsel bis 25,26-27 im großen Weltenauge. (3)
27,31 Ich schreibe jetzt an einer Geschichte der Zukunft bis 28,22-23 im Gebiete der geistigen Cultur. (4)
29,25 Unsere Zeit ist zum Märtyrerthum nicht mehr gemacht bis 30,4-5 die Augen seiner Zeitgenossen! (5)
Aus dem siebten und achten Brief: 44,2 Verzeih’, Unsterbliche bis 44,24-25 mit unsern Augenpfeilen durch und durch sähen! 51,30 Nicht ohne poetische Kraft bis 55,23 und so nie gefährlich werden. (6)
Aus dem achten Brief: 56,1 Es umdämmert mich bis 56,14-15 die erste Probe des Gemeingeistes aufstellen. (7)
Aus dem neunten Brief: 58,31 Nur begreif’ ich nicht bis 62,11-12 wollen wir auch hier nicht einmal glauben. 63,8-11 Aber wie gnädig bis durch Unsterblichkeit ausgezeichnet. (8)
Aus dem zehnten Brief: 64,2 Dir gehen die Augen vor Weinen, mir vor Lachen über bis 65,33-34 daß man sich [...] Bürger zweier Welten nennt. (9)
Aus dem zwölften Brief: 84,7 O ja, man hat sich bis 87,26-27 sollten geöffnet werden. (10)
Aus dem vierzehnten Brief: 98,2 Erinnerst Du Dich bis 99,9 für entschieden zu halten. (11)
Aus dem sechzehnten Brief: 121,31 O, meine Gute bis 123,24-25 frische Reiser, Liebe und Vertrauen, zu pflanzen. (12)
Aus dem achtzehnten Brief: 134,2 Nur nicht in die Rosengärten Saadi’s bis 138,25-26 so sind ihre Begriffe und Terminologien einfach. 139,22-32 Es gibt noch Andere bis als vor dem Wie? (13)
Aus dem achtzehnten Brief: 140,8 Du hast recht bis 141,28 O liebe mich, und bleibe treu, dem Treuen! – (14)
Aus dem neunzehnten Brief: 143,26 Laß uns nie die Bände der Weltgeschichte überspringen bis 148,20 weil sie selbst hoffen. (15)
Aus dem siebenundzwanzigsten Brief: 203,24 Schmerzlich fühl’ ich bis 205,8 meinem leidenden Volke frei zu sein. 205,20 Wenn die Völker dieser Zeit bis 207,25-26 nur ihre Seufzer und Küsse. (16)
2.2.2. Übersicht der größeren Streichungen und Adaptionen innerhalb der Textauszüge von A1#
5,7-8 warum ist überhaupt kein Mast darauf? fehlt in A1
5,19-22 ich vermag die Tage [...] Du sprachst die Wahrheit fehlt in A1
6,8 denn ich liebe diese Zeit fehlt in A1
25,12 Nicht wahr, ich komm’ ans Ziel? fehlt in A1
59,10-11 Für uns soll sie aber die höchste Wichtigkeit haben. Fehlt in A1
61,6-8 Der Thron, den sie verlassen sollen, enthält wohl noch so viel Gold, Sammet und Seide, als zum Ersatz nöthig ist. A1: Der Thron enthält wohl noch so viel Geld, Sammet und Seide, als zum Ersatz für ihre Alleinherrschaft nöthig ist.
62,3-4 was doch unerträglich wäre fehlt in A1
62,11-12 An einen Zufall wollen wir auch hier nicht einmal glauben. Danach in A1 Absatz und Hinzufügung: Genug von Plato.
63,8 Aber wie gnädig hat sich doch die Cholera bei Ihnen bewiesen. Einfügung in A1 nach bei Ihnen: in Berlin
63,12 Ich grüße Sie mit treuester Freundesliebe. Fehlt in A1
65,3-5 Wirklich, ich hätte [...] meine Scham mit Feigenblättern bedeckt. Fehlt in A1
84,29 ‑ Du natürlich immer mit ‑ fehlt in A1
85,1-2 Mit Recht; denn fehlt in A1
85,11-13 Da ich mich heute fast zum Declamatorischen aufgelegt fühle, so will ich Dir an den Parteiungen und dem bisherigen Streite unserer Theologen beweisen A1: An den Parteiungen und dem bisherigen Streite unserer Theologen will ich Dir beweisen
85,17 die Andere den Jünger dieses Namens A1: die Andere Johannes den Jünger
85,22 und reumüthig um den Hals fallen A1: nicht so reumüthig, wie jene Nonnen sich um den Hals fallen
86,19-21 ‑ thue doch Etwas in Berlin für den Mann [...] da jetzt arg zu Leibe! ‑ fehlt in A1
87,8-10 Wir Beide wären [...] Bietet man uns in Glaubenssachen A1: Und nun zuletzt bietet man uns in Glaubenssachen
123,6 Lausau A1: Flachsenfingen
123,20-21 Mit Congressen, Protokollen und verschärften Maßregelungen droht man die Völker zu beglücken fehlt in A1 (wie auch die auf die Metternichsche Diplomatie zielende Passage 183,21-24, die der übergreifenden Textauswahl zum Opfer gefallen ist)
136,27-30 Seitdem das Volk täglich einen Festtag hält [...] nicht mehr in den Geruch der Heiligkeit kommen. Fehlt in A1
207,27-30 Krieg oder Frieden! Leben oder Tod! [...] so freue Dich meiner Ankunft. Lebe wohl! Fehlt in A1
Weitere größere Streichungen im achtzehnten Brief (S. 134-141) sind unter 2.2.5. verzeichnet.
2.2.3. Varianten in Orthographie und Interpunktion#
Die Schreibung des Infinitivs sein in E variiert in A1 zum Teil als seyn. Weitere exemplarische Varianten: Gränze E, Grenze A1; Göthe E, Goethe A1; funfzehn E, fünfzehn A1; Schar E, Schaar A1; Militair E, Militär A1; Centrum E, Zentrum A1; Perrücken E, Perücken A1. Die gelegentliche Apostrophierung der Imperfektform in der ersten Person Singular: sah’, floh’ in E entfällt in A1: sah, floh. In A1 besteht die Tendenz, Zusammenschreibungen in E durch Getrenntschreibungen wiederzugeben: destoweniger E, desto weniger A1; wiederzufinden E, wieder zu finden A1; Genfersee E, Genfer See A1.
Die Kommata in E vor beiordnendem und sind in A1 fast durchgängig getilgt. Gelegentlich finden sich Korrekturen in der Zeichensetzung, so z. B. am Ende der Frage: War dies die große That [...], daß er mit eigener Hand mordendes Eisen in seine Brust senkte und seine große Seele aushauchte. E (52,33-53,1); in A1 steht am Schluss ein Fragezeichen: aushauchte? Ein weiteres Beispiel: die die Wahrheit [...] erst in dem Streite anmuthiger und mißfälliger Formen, der Liebe mit dem Hasse findet E (98,10-12); in A1 steht zur Hervorhebung der Apposition ein weiteres Komma: in dem Streite anmuthiger und mißfälliger Formen, der Liebe mit dem Hasse, findet.
2.2.4. Stilistische Abweichungen#
Gutzkow nahm an den Auszügen aus E kleine Streichungen vor, z. B. von Adjektiven und Adverbien (größere Kürzungen: siehe 2.2.2. und 2.2.5.). Auch machte er geringe grammatische Modifikationen und verbesserte vermutliche Sinnfehler. Dadurch wurde der Stil der Erstauflage geglättet und ihr Gedankennetz vereinfacht. Exemplarisch seien die stilistischen Änderungen am ersten Brief verdeutlicht:
4,28-29 die Wimpel meiner Gedanken lustig flaggen lassen E; lustig gestrichen A1
4,32-5,1 Eine Nachtigall muthet meinem Sinnen gar zu E; gar gestrichen A1
5,10-11 und heut’ einmal gerade stolz darauf E; und heute stolz darauf A1
5,5-8 Aber warum ist der Mast auf ihm nicht so hoch, daß ich die Welt im verjüngten Maßstabe sehe? daß ich einen Punkt habe, von dem ich Alles und Alles zugleich sähe? warum ist überhaupt kein Mast darauf? E.
Daraus wird in A1: Aber warum ist der Mast auf ihm nicht so hoch, daß ich die Welt in verjüngtem Maßstabe sähe, daß ich einen Punkt habe, von dem ich Alles und Alles zugleich sähe? Der letzte Satz entfällt.
5,18-25 Es fehlt unserer Zeit ein Ideenhanswurst, ich vermag die Tage, die einen solchen besaßen, zu preisen, und bin mit der Gegenwart doch zufrieden. [Absatz] Du sprachst die Wahrheit. Es lebten einst Völker, die jedes Wort aus dem Munde ihres Richters [...] auf die unmittelbare Eingebung eines göttlichen Geistes zurückführten.
Daraus wird in A1: Es fehlt unserer Zeit ein Ideenhanswurst. [Absatz] Es lebten einst Völker, die jedes Wort aus dem Munde ihres Richters [...] auf die unmittelbare Eingebung eines göttlichen Geistes zurückführten.
Einzelne Verbesserungen semantischer Art:
4,30-31 leuchtet wie aufs weiße Papier E; leuchtet mir aufs weiße Papier A1
28,8 zusammengeschlagen werden E; zusammenschlagen werden A1
59,31-32 zum eigentlichsten Narren des Staatslebens E; zum eigentlichsten Nerven des Staatslebens A1
206,33-207,2 mit kindlicher Hoffnung aus Liebe und Treue erwartend E; mit kindlicher Hoffnung nur Liebe und Treue erwartend A1
2.2.5. Die semantische Differenz von A1 zu E#
Um den ,Narrenbriefen‘ in den Gesammelten Werken eine Präsenz zu geben, ließ Gutzkow gut drei Viertel des ursprünglichen Werkes fort. Durch die zusätzlichen Kürzungen und Änderungen, die das Sprunghafte und Kuriose der Gedanken eindämmen, schuf er einen fundamental anderen Text als den seines Erstlings. Er verzichtete auf die pointierten kritischen Bemerkungen zu zeitgeschichtlichen Entwicklungen und aktuellen politischen Ereignissen der Jahre 1831-32 zugunsten eines geschichtsphilosophisch-theologisch-ethischen Schwerpunktes. Im Vordergrund stehen in A1 die Beziehung des ,Narren‘ zur ,Närrin‘, die Reflexionen zum Verhältnis von Mensch, Gott und Welt, zur Stellung des Ich in der Geschichte und zum Anbruch eines freiheitlichen Zeitalters. Vermutlich blieb damit in der späteren Auflage der Kern der ,Narrenbriefe‘ erhalten, den Gutzkow auf Anraten Menzels um brisante Tagesthemen erweiterte (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 7 und Nr. 9). Der höchst politisierte Charakter der Erstauflage lässt sich in A1 jedenfalls nicht mehr erkennen. Auch nicht mehr nachzuvollziehen ist somit die lebendige → Wirkungsgeschichte, die den ,Narrenbriefen‘ von 1832 unter deutschen Republikanern und Konstitutionellen zuteil wurde.
Exemplarisch sei am achtzehnten Brief dargestellt, wie A1 den Text von E um die spezifischen Politika der frühen dreißiger Jahre und um den drängenden republikanischen Diskurs des ,Narren‘ reduziert.
Dies wird erstens durch Streichungen erzielt:
135,3-6 Als ich aber [...] den Kopf blutig stieß fehlt in A1
136,4-8 Wenn das ganze linke Rheinufer [...] sie schwer zerreißen kann fehlt in A1
138,27-139,21 Es gibt in Preußen Leute [...] nicht lossagen, ohne eigenen Schaden fehlt in A1
139,32-140,7 So sind in Deutschland [...] sondern auch Dir gern die Ehre fehlt in A1
141,3-4 Gib mir Antwort, Beste! Fehlt in A1
141,22-141,26 Auch wird es keine Helden und Hofräthe mehr geben [...] immer zu Hofräthen geworden sind fehlt in A1
Zweitens nimmt Gutzkow Änderungen im Vokabular vor:
137,28-30 daß sie ein Kind an der Brust säugt. Vorwärts! [Absatz] Schon Viele sind der Sache des Liberalismus untreu geworden. E. Daraus wird in A1: daß sie ein Kind an der Brust säugt. Vorwärts! Vorwärts! [Absatz] Schon Viele sind der Sache des Vorwärts untreu geworden.
141,8-10 Natürlich ist die Zukunft das Werk einer allgemeinen Revolution, sollten also die revolutionairen Zustände unserer oder früherer Zeit nicht einiges Analoge zur Hand geben? E.
Daraus wird in A1: Natürlich ist die Zukunft das Werk einer allgemeinen Veränderung, sollten also die Zustände unserer oder früherer Zeit nicht einiges Analoge zur Hand geben?
Die Gründe für diese Unterschlagung von politisch brisanten Passagen und Formulierungen, die durch die Aufbruchsstimmung nach der Julirevolution inspiriert waren, liegen auf der Hand. Gutzkow gehörte zu den vom Bundestagsbeschluss gegen das Junge Deutschland betroffenen Autoren und konnte die Wiederveröffentlichung eines Textes, der in Preußen schon im Erscheinungsjahr 1832 verboten wurde (→ Andere Dokumente zur Rezeptionsgeschichte, Nr. 1), nicht riskieren. Mehr noch dürfte allerdings die Tatsache ins Gewicht fallen, dass Gutzkow als Herausgeber seiner ersten Gesammelten Werke darauf bedacht war, mit einem literarischen Profil an die Öffentlichkeit zu treten, das auf Dauerhaftigkeit Anspruch machen konnte. Dem standen die abschweifungsreichen, auf die Tagespolitik der frühen dreißiger Jahre eingehenden ,Narrenbriefe‘ entgegen. Aus Gutzkows Korrespondenz lässt sich belegen, dass er seinen Erstling bereits vor der Repression des Jahres 1835 nicht mehr anerkennen wollte. Er schätzte die ,Narrenbriefe‘ als juveniles politisch-weltanschauliches Bekenntnis ohne gestalterischen Wert ein. Diese Stufe der Standpunkt-Erklärung, meinte er, sei 1833 durch seine erste literarisch anspruchsvollere Leistung, den Roman Maha Guru, überwunden worden (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 5; vgl. auch → Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 3).
3. Quellen, Folien, Anspielungshorizonte#
Die um 1830 florierende unterhaltsam-kritische Gattung der „Briefe“ oft mit (verstecktem oder deutlichem) politischem Inhalt: Hermann von Pückler-Muskaus „Briefe eines Verstorbenen“, 1830-31, Friedrich Christoph Försters „Briefe eines Lebenden“, 1831, Ludwig Börnes „Briefe aus Paris“, ab Ende 1831 erscheinend; zu den letzteren stehen Gutzkows ,Narrenbriefe‘ in kongenialer Beziehung (→ Entstehungsgeschichte; → Dokumente zur Rezeptionsgeschichte)
Das Motiv des Narren als eines Verkünders unterdrückter Wahrheit und des närrischen Sprechens als Enthüllung verborgener Zusammenhänge; Vorbild dieses humoristisch-subversiven Schreibens ist Jean Paul (→ ); der Bezug auf das Londoner Irrenhaus Bedlam schließt möglicherweise eine Anspielung auf den Fall des dort internierten Republikaners Matthews (1770-1815) ein (→ )
Die Kritik der deutschen ,Zurückgebliebenheit‘, bei der Börne, Heine und Wolfgang Menzel den Ton angaben (→ ); die Kritik insbesondere am System der Zensur, für die Heines „Reisebilder“ eine Folie lieferten (→ Erl. zu ; )
Die ,frühlingshafte‘ Aufbruchsstimmung in Europa (), die sich im Gefolge der Pariser Julirevolution und des polnischen Freiheitskampfes ,telegraphenartig‘ durch die Journale verbreitete; die Cholera-Epidemie, die von Asien aus auf Europa übergriff und im Zusammenhang mit dem internationalen Aufschwung des Liberalismus oft politisch gedeutet wurde (→ ; → )
Aktuelle europäische Ereignisse vom Herbst 1831 bis zum Frühjahr 1832, auf deren Höhe sich Gutzkow als Journalleser und Journalist befand (→ Entstehungsgeschichte; → )
Der Konstitutionalismus und sein Süd-Nord-Gefälle im Deutschen Bund; preußische Geschichte sowie das uneingelöste Versprechen einer Verfassung für Preußen; die Frage der Legitimität von monarchischer Herrschaft und von Autorität überhaupt, z.B. auch im Bereich der akademischen Lehre (→ )
Das republikanische Erbe der Antike, vermittelt durch die Französische Revolution; das cäsaristische Erbe der Antike, vermittelt durch Napoleon (→ ); die christliche Heilslehre und die Bengelsche Erwartung der Apokalypse im Jahre 1836; diese Folie dient zur Entfaltung der oppositionellen Idee innerweltlicher Erlösung durch die historische ,Tat‘ (→ )
4. Entstehungsgeschichte#
4.1. Dokumente zur Entstehungsgeschichte#
1. Julius Campe an Heinrich Heine, 17. Juni 1832#
Julius Campe an Heinrich Heine, Hamburg, 17. Juni 1832. In: HSA, Bd. 24, S. 129.
Ein bedeutendes Buch von einem sehr jungen Mann „Briefe eines Narren an eine Närrin“ habe ich übernommen. Der Mensch wird es zu etwas Ungewöhnlichem bringen, und mache ich Sie aufmerksam hierauf.
2. Gutzkow an G. v. Cotta, 31. Juli 1833#
Karl Gutzkow an Georg von Cotta, München, 31. Juli 1833. – Deutsches Literaturarchiv Marbach, Cotta-Archiv (Stiftung der Stuttgarter Zeitung), Signatur: Cotta Briefe.
Meine Narrenbriefe hab’ ich in Stuttgart im Januar 1831 [recte: 1832] geschrieben, u in ihnen Alles geleistet, was man von einem 20jährigen jungen Manne verlangen kann. Die Kritiker sind mir günstig gewesen, ich habe mir Freunde dadurch erworben u nun ich auch erfahre von meinem Verleger erfahre, dß der Absatz namentlich im Norden recht reichlich ausgefallen ist, ärgert es mich, daß ich meinen Namen verschwieg.
3. Gutzkow, Papilloten, Juli 1833#
Karl Gutzkow: Papilloten. In: Der deutsche Horizont. München. [Heft 7, Juli] 1833, S. 289-301. Daraus: Guter Rath für werdende Schriftsteller, S. 297-298.
Seine erste Schrift muß man nicht herausgeben. Du lasest vielleicht eine erhabene Stelle deines Lieblingsautors, oder du kamst in einer Mondnacht aus den Umarmungen deines Mädchens heim, ein Stern fiel vom Himmel, und die aufgehende Sonne des nächsten Morgens schien auf das erste [298] Blatt, das unter deiner jungen Schöpferhand keimte und blühte. [...]
Für dieß Convolut, ich beschwöre dich, suche keinen Verleger! Es ist ein Heckthaler für deinen künftigen Reichthum. Es ist eine Hanswurstjacke, deren Lappen groß genug sind, daß du alle die nachgebornen Kinder deiner Phantasie darein kleiden kannst. Es ist ein Polyp, ein Vielfuß, mit welchem sich noch hundert Torsorumpfe, welche dir der Zufall oder die Speculation eines Buchhändlers in den Weg legen, auf die Beine bringen lassen. Es ist ein Baum, der noch unzählige schlanke, gefällige Ableger treibt. Es ist ein heiliger, züchtiger, erhabener Stamm, mit welchem du alle wilden und üppigen Launen deiner spätern Muse, wie junge, wilde Schößlinge, veredeln kannst. [...]
Die ersten hundert Bogen deiner Feder müssen nie bekannt werden, und wenn du stirbst, so befiehl deinen Erben, daß man sie verbrenne, und auf diese heilige Asche im Sarge dein todtes Haupt lege!
4. Gutzkow, Maha Guru, 1833#
4. Karl Gutzkow: Maha Guru. Geschichte eines Gottes. Hg. von Richard J. Kavanagh. Münster: Oktober Verl., 2020 (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. I, Bd. 2), S. 209-210.
Ich stand einmal in dem Vorzimmer eines Ministers. Die Thür öffnete sich und der gnädige Wink des Kammerdieners rief mich zu dem allmächtigen Manne hinein. Ich ließ es an Höflichkeit nicht fehlen, meine Verbeugungen waren eben so abgemessen, als der Zwischenraum, in welchem ich mich von der rechten Hand des Fürsten hielt. Aber in meinen Worten lag etwas Aufrechtes und Offenes, meine Gedanken waren höher, als das landesübliche Recrutenmaß; ich sprach von den Resultaten, die ich meinen Studien verdankte, von einer gewissen Unabhängigkeit der Meinung, welche die einzige Fessel wäre, welche ich mir anlegen ließe, und verlangte zuletzt, daß ich in der Staatsmaschine eine Stellung erhielt, die meinen Talenten und Einsichten [73] angemessen wäre. Man kennt unsre Minister nicht, wenn man glaubt, der Mann habe mich die Treppe hinunterwerfen lassen. Er besaß Geduld genug, mich anzuhören, ja er ging noch weiter, er wollte meine Fähigkeiten für eine Sache gewinnen, die ihm besser schien. Das System, welches ich in meinem Avertissement versteckt angegriffen hatte, war seine Ueberzeugung. Ich war damals noch blutjung, voller Ehrfurcht vor ergrauten Erfahrungen, hörte mit Andacht auf die Lehren, die dem beredtesten Munde entflossen und schied mit gebrochenen Flügeln, gestutztem Kamme, jede einzelne Stufe der Treppe zählend. Der Concierge zieht den Thürdrücker auf, ich stehe auf der offenen Straße, und schöpfe endlich wieder freie Luft. [...] [74] [...] ich kaufte mir ein Bund Eckposen und ein Buch unbeschnittenes Patentpapier und zwei Orangen und einen neuen Uhrschlüssel, weil ich den alten gestern verloren, und hundert Zündhölzer für mein Feuerzeug und eine Reitpeitsche, und einen Monat später schickte ich an Herrn Campe in Hamburg meine Narrenbriefe.
5. Gutzkow an Gustav Schlesier, 16. Januar 1835#
Karl Gutzkow an Gustav Schlesier, Frankfurt a. M., 16. Januar 1835. UBFM, Nachlass Karl Gutzkow, A 2 I, Nr. 35,16 (H).
[...] über den guten Mundt ist plötzlich so viel heiliger historischer Geist gekommen, dß er sich schier geberdet, wie ein toll gewordner Schmetterling. Die Erde, die Erde, die ihm an den Füßen sitzt! Nichts als saurer Schweiß, der das Zeichen von Schwindsucht ist. Die Modernen Lebenswirren (Lebenszwirn) sind nun auch so ein heillos zusammengestoppeltes Buch aus allen 3 Naturreichen: Madonna wird des gleichen seyn. Himmel, wohin führt das? Meine Narrenbriefe wurden doch geboren in einer aufgeregten Zeit, wo man überall hörte Qui vit? u seine Parole sagen mußte: aber später schick’ es sich doch, einzulenken, in die Form, in die Einheit, in die Kunst: Mein Maha Guru mag so arg sein, wie Sie ihn geschildert haben, aber er verrätht doch die Sehnsucht nach dem Ganzen u Abgerundeten.
6. Gutzkow, 19. September 1835#
Karl Gutzkow: Erklärung gegen Dr. Menzel in Stuttgart. In: Allgemeine Zeitung. Augsburg. Außerordentliche Beilage. Nr. 374 u. 375, 19. September 1835, S. 1498.
Ich verließ Stuttgart, nachdem ich auf Menzels Veranlassung mein erstes Buch geschrieben hatte.
7. Gutzkow an O. L. B. Wolff, 13. Februar 1837#
Karl Gutzkow an Oskar Bernhard Ludwig Wolff, Frankfurt/M., 13. Februar 1837. In: Houben, Jgdt. St. u. Dr., S. 535-537.
Die Literatur war mir ein Spiel; weil ich sie nur als untergeordnetes Hülfsmittel für politische Zielpunkte betrachtete. In der Laune, mit künstlichem Haß u angeborner Liebe zur Idylle, kalt aus Kunst u warm mit Schaam schrieb ich die Briefe eines Narren an eine Närrin, bei denen mir zunächst ein reines Gefühlsthema à la Jean Paul vorschwebte, u wo die eingewebten Anzüglichkeiten auf Menzels Rechnung kommen, der wollte, ich sollte mein Buch pikant machen. Noch keine Idee bei mir, das zu werden, was man Literat nennt.
[536] [...] Ich habe jedes Buch in der Meinung geschrieben, etwas leisten zu wollen, wofür ich keine Leistungen vorhanden [537] sahe. Ich wollte Bahnen brechen u Neues suchen. Alle meine Schriften sind Stadien meiner innern Gährungen; Alles, was ich schrieb, kam aus tiefster Empfindung; die Wärme, die meinen Schriften fehlt, liegt ganz tief im Grunde, wer nur tief zu greifen versteht. Willst Du Proben abdrucken, so nimm aus den Narrenbriefen die Vergleichung Rousseaus, Byrons u Jean Pauls [...].
8. Gutzkow, Vorwort der ,Narrenbriefe‛ (1845)#
Karl Gutzkow: Vorwort zu Aus den Briefen eines Narren an eine Närrin. In: Gesammelte Werke. Vollständig umgearbeitete Ausgabe. 13 Bde. Frankfurt/M.: Literarische Anstalt, 1845-1852. Bd. 3, S. 3-4.
Aus meinen 1831 geschriebenen „Briefen eines Narren an eine Närrin“ hab’ ich nur einige Bruchstücke geben wollen, weil dies mein erstes Buch so sehr unter dem Eindruck der damaligen Zeitumstände, ja sogar der kleinen Tageschronik verfaßt worden ist, daß es jetzt nach allen Seiten hin unverständlich erscheinen würde.
Diese Briefe waren verworren, wie jene Zeit selbst. Von tausend Neuerungen hatte man nur die Ahnungen und auch diese konnten sich nur kämpfend geltend machen. Für die Confusion eines Kopfes, der sich durch eine Masse von Widersprüchen hindurch zu arbeiten suchte, konnte keine bessere Form gewählt werden, als die der selbsteingestandenen irr- und wirrsinnigen Gedankensprünge. Was Kunst an dem Buche scheinen konnte, war in der That Natur. Es fehlte der Feder noch jeder Fluß. Ueberall mußte sie stocken, ja was ihr am meisten im Wege lag, das waren die schon gesammelten kleinen Reichthümer des Nachdenkens, diese kleinen Schätze von Abstraktionen und Erfahrungen, die der damals zwanzigjährige Autor um jeden Preis anbringen und mitthei-[4]len wollte, selbst auf die Gefahr hin, seinen Mangel an innerer Einheit und einer ihm selbst aufgegangenen Klarheit seiner Gedanken zu verrathen.
9. Karl Gutzkow, Rückblicke auf mein Leben (1875)#
Karl Gutzkow: Rückblicke auf mein Leben. Hg. von Peter Hasubek. Münster: Oktober Verl., 2003 (= Gutzkows Werke und Briefe. Abt. VII, Bd. 2). S. 79-80.
„Der alte Cotta“ hatte mir allerdings in zutraulichster Weise die Aufforderung zur Theilnahme an seinen Blättern ausgesprochen. Hermann Hauff leitete statt seines kurz zuvor verstorbenen Bruders Wilhelm das Morgenblatt. Der wohlwollende Mann nahm, was ich ihm anbot, Skizzen aus dem bürgerlichen Kleinleben Berlins, novellistische Versuche. Eine jeanpaulisirende Arbeit, „Briefe eines Narren an eine Närrin“, zeigte ich Menzel. Ich wollte durch diesen Briefwechsel eine Art Novelle hindurchschimmern lassen, die Aufklärung, worüber beide Theile in’s Irrenhaus geriethen. Menzel sagte mir, die wenigen Blätter in der Hand wiegend: „Beinahe geht es mir hier, wie mit Wilhelm Hauff, um den die Schwaben jetzt soviel Trauerns anstellen, während die Herren Lyriker bei seinen Lebzeiten von dem frischen Burschen nichts wissen wollten! [...] Wilhelm Hauff brachte mir eines Tages seinen „Mann im Monde“. Es war ein Machwerk ganz à la Clauren und zwar im vollen Ernste so gemeint. Schämen Sie sich denn nicht? sagte ich ihm. Wollen Sie denn auch dem berliner Postrath nachahmen? Können Sie denn nicht höher fliegen? Nach einer Weile milderte ich meinen Ton und fuhr fort: Kehren Sie den Spieß um, tragen Sie das Clauren’sche Colorit noch viel stärker auf, lassen Sie dann das Buch unter Clauren’s Namen erscheinen und Jeder wird sagen: Sie haben eine köstliche Satyre auf Clauren geschrieben. Richtig, Hauff befolgte den Rath und begründete seinen Ruf mit dem „Mann im Monde“. Machen Sie es ähnlich! Der kleine Aufsatz giebt ein Buch, wenn Sie alles mit hereinziehen, was in diesem Augenblick die Menschen beschäftigt, Politik, Literatur, Kunst — ich will nicht sagen, daß es eine Satyre auf Jean Paul werden soll, bewahre; aber besser verwerthen können Sie den guten Titel, als durch ein paar Nummern im Morgenblatt.“ Zur Satyre auf Jean Paul, den Liebling meines Herzens, den Weisen, den Propheten, war in mir nichts gerüstet. Aber „Briefe“ waren damals Mode geworden. „Briefe eines Verstorbenen“ – „Briefe eines Lebenden“ (von Friedrich Förster) – da konnten wol auch Narrenbriefe willkommen sein. Ich ging auf den Vorschlag ein. Das Ganze wurde durch Ergänzungen zu einem größern Umfange gebracht und verdankte der Empfehlung Menzel’s einen Verleger, Hoffmann und Campe in Hamburg, leider in einem Augenblick, wo der Börne’schen Briefe wegen in Preußen dieser hamburger Verlag verboten wurde, der jetzige und der künftige. Die Axt war damit an die Wurzel meiner ersten schriftstellerischen Entwicklung gelegt. Denn wie die Zustände waren, in Oesterreich nahm man solche Verbote leicht und wußte sie zu umgehen, in Preußen aber herrschte die strengste Aufsicht und die Loyalität kam den Machtsprüchen der Polizei auf halbem Wege entgegen.
4.2. Entstehungsgeschichte#
Die Briefe eines Narren an eine Närrin entstanden während Gutzkows erster längerer Abwesenheit von seinem Heimatort Berlin vom November 1831 bis April 1832. Zu dieser Zeit hielt er sich bei Wolfgang Menzel in Stuttgart auf und wurde zu dessen engem Mitarbeiter am „Literatur-Blatt“. Obwohl Gutzkow sich erst später entschied, die Schriftstellerei zum Beruf zu machen, sind die ,Narrenbriefe‘ im Zusammenhang mit seinen ersten Erfahrungen als professioneller Autor zu sehen, dessen Existenzgrundlage die journalistische Arbeit bildete. Wie Gutzkow selbst im Vorwort zur Auflage von 1845 – wenn auch in apologetischer Absicht – betont, nähren sich die Briefe eines Narren geradezu von der kleinen Tageschronik (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, ). Mit dieser frühen Exkursion in die ,Narrenfreiheit‘ des Schriftstellerberufs war der erwähnte räumliche Wechsel eng verbunden. Die Bezüge des Textes auf Gutzkows Reise von Berlin über Hanau und Frankfurt am Main nach Stuttgart (33,12-34,12; 45,32-47,24) sowie auf den Liberalismus Süddeutschlands (117,2-11; 169,19-171,5) bezeugen, dass die Entfernung aus der repressiven Atmosphäre der preußischen Hauptstadt eine wichtige Rolle für den kühnen, nahezu unbegrenzt assoziativen Gedankenschwung der Briefe spielt. Die Preußen-Kritik, die den gesamten Text durchzieht, ist ohne die Distanz zu Berlin, die Gutzkows Mitarbeit an süddeutschen Blättern mit sich brachte, nur schwer vorstellbar (→ ). Es ist jedoch anzunehmen, dass das Werk seinen endgültigen Abschluss erst erfuhr, als Gutzkow schon wieder in Berlin war (→ Erl. zu ). Die Daten seiner Rückreise von Stuttgart dürften ziemlich genau denen entsprechen, die er in einer Serie von Reisebriefen für das „Morgenblatt“ angab, erschienen vom 1. bis 23. Mai 1832 unter dem Titel Aus dem Reisetagebuche des jüngsten Anacharsis. Briefe an zwei Freundinnen in Stuttgart (Rasch 3.32.05.01). Demnach war Gutzkow am 9. April in Nürnberg, am 10. in Bayreuth, am 11./12. in Hof, am 13. in Altenberg, am 14./16. in Leipzig bzw. Dessau, am 17. in Potsdam und wohl am 18. April, vier Tage vor Ostern, wieder in Berlin. Eine Notiz im „Berliner Figaro“ meldet am 26. April 1832: „Dr. Gutzkow, der frühere Redakteur des Berliner Forums der Kritik, ist wieder nach Berlin zurückgekehrt.“
Die Dokumente zur Entstehungsgeschichte, größtenteils aus Gutzkows eigener Feder und im Rückblick entstanden, verweisen auf zwei verschiedene Schaffensphasen. Gutzkow erinnert sich einmal, die ,Narrenbriefe‘ 1831 als Zwanzigjähriger verfasst zu haben (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, und ), jedoch auch mehrfach, sie unter Menzels Anleitung Anfang 1832 zum Abschluss gebracht zu haben (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. , und ). In dem Brief an Cotta (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. ) verschwimmen die beiden Phasen (Ende 1831 und Anfang 1832) zu Januar 1831. Es handelt sich also um eine Schaffensperiode vor und eine nach der Begutachtung des Manuskripts durch Menzel, dessen Rolle als Mentor des jungen Autors somit klar hervortritt. Der Kritiker erkannte die ungewöhnliche Qualität der jeanpaulisirende[n] Arbeit und riet Gutzkow deshalb, sie erstens mit mehr Stoff zu versehen, damit sie als Buch erscheinen konnte und nicht als Novelle fortsetzungsweise im „Morgenblatt für gebildete Stände“, wo sie wohl kaum größere Aufmerksamkeit erregt hätte. Menzel empfahl, die ursprünglich stärkeren narrativen Elemente zugunsten versteckter tagespolitischer Anspielungen und Reflexionen in den Hintergrund treten zu lassen. Zweitens sollte Gutzkow die jeanpaulisirende Richtung noch mehr betonen, damit aus der schülerhaften Anlehnung an das Vorbild eine souveräne Parodie – der erste Schritt zur eigenen Autorschaft – werden konnte, wie im Falle Wilhelm Hauffs, der mit der Clauren-Satyre „Der Mann im Mond“ (1826) einen sensationellen Erfolg erlebte. Menzel vermittelte auch den ersten Kontakt Gutzkows zu Julius Campe, dem Hamburger Verleger Börnes und Heines: ein folgenreicher Schritt, wie Gutzkow hervorhebt. Seine Anfänge als freier Schriftsteller standen damit eindeutig unter dem Zeichen der ,Opposition‘, und die Zensur legte die Axt gleich an die Wurzel seiner ersten schriftstellerischen Entwicklung. Die ersten beiden Bände von Ludwig Börnes „Briefen aus Paris“, deren kühner Republikanismus nicht nur im konservativen, sondern auch im gemäßigt liberalen Lager schockierend wirkte, waren Ende 1831 bei Hoffmann und Campe erschienen. Es scheint bezeichnend, dass Gutzkow unter den literarischen Modellen, die ihn zur Wahl der Briefgattung für sein Erstlingswerk bewogen, zwar die höchst erfolgreichen „Briefe eines Verstorbenen“ von Hermann Pückler-Muskau nennt (Reisebeobachtungen von den britischen Inseln, anonym erschienen 1830-31), jedoch ausgerechnet die Börneschen „Briefe“ verschweigt. Sie waren dem eigenen Buch zeitlich und inhaltlich so nah, dass geradezu von einer Kongenialität der „Briefe“ Börnes und Gutzkows gesprochen werden kann. Es ist kein Zufall, dass Börne dann im fünften Band der „Briefe aus Paris“ (unter dem Datum vom 13. und 14. November 1832) ein glühendes Lob auf die anonym erschienenen Briefe eines Narren ausspricht (→ Andere Dokumente zur Rezeptionsgeschichte, ).
Als großer Verehrer Jean Pauls und als von Gutzkow hoch geschätzter Autor stand Börne bei der Konzipierung der Briefe eines Narren zweifellos Pate. Wann Gutzkow mit der Arbeit begann, muss offen bleiben; vielleicht hatte er auf seinem Weg nach Stuttgart schon ein halbwegs fertiges Manuskript dabei. Mit ziemlicher Sicherheit jedoch schrieb er während der Reise, und diese Aufzeichnungen waren oder wurden nicht nur Teil der ,Narrenbriefe‘, sondern standen auch in direktem Zusammenhang mit der Lektüre der „Briefe aus Paris“. In den Rückblicken erwähnt Gutzkow ausdrücklich, dass die unfreiwilligen Mußestunden, die ihm durch die Maßnahmen zur Cholera-Verhütung auferlegt wurden und die seine Reise auf über drei Wochen ausdehnten, durch Schreiben und Lesen ausgefüllt wurden (GWB VII, Bd. 2, S. 51). Zu seiner Lektüre gehörten eben auch die kürzlich erschienenen „Briefe aus Paris“, die er sich nicht in Preußen, sondern beim gesinnungsvollen unerschrockenen Buchhändler Friedrich König in Hanau besorgen konnte, und er war ,gefesselt‘ durch das wilde Buch mit dem Feuerwerk eines Brillanten (S. 57). Der subversive Republikanismus, der den Ideenstrom der ,Narrenbriefe‘ durchzieht und am Ende des 22. Kapitels kulminiert, dürfte also auch von Börnes „Briefen“ inspiriert sein. In den Rückblicken betont Gutzkow zudem, dass Wolfgang Menzel unter den namhaften Rezensenten der einzige gewesen sei, der die „Briefe aus Paris“ angemessen zu lesen verstand: als eine Sammlung lichtsprühender Gedanken, die über jede philiströse Interpretation erhaben sei (ebd., 57,24-32). In der Tat könnte Menzels Rezension Börnes (→ ), deren Abfassung für das „Literatur-Blatt“ sich mit Gutzkows Ankunft in Stuttgart und mit dem Beginn seiner Tätigkeit als Rezensent desselben Blattes überschnitt (Proelß, Jg. Dtld., S. 277), auch etwas mit den ,Narrenbriefen‘ zu tun haben. Dass Menzel in den „Briefen aus Paris“ eine politisch subversive Narren-Logik am Werk sieht, mag ein Reflex auf die kleine novellistische Arbeit sein, die sein junger Mitarbeiter ihm vorlegte und deren guten Titel Menzel besonders lobte; vorausgesetzt ist dabei allerdings, dass Gutzkow das Manuskript sofort nach der Ankunft seinem Mentor vorzeigte und dieser es umgehend las und verwertete. Am Anfang seiner Rezension von Börnes „Briefen“ schreibt Menzel:
Man wird das Buch verbieten oder hat es schon verboten, denn wenn man auch die Freiheitsschwärmer Narren nennt, so gibt man ihnen doch nicht einmal die Narrenfreiheit. Arg freilich hat es der Börne wieder einmal gemacht, ärger als je zuvor; wie es die Tollen pflegen, wenn sie einmal dem Tollhause entspringen. [...] Der selige Lichtenberg würde sagen: „es sind majestätsverbrecherische Gedanken, aber in beneidenswürdigen Ausdrücken.“ [...] Schreib’ einer in einem deutschen Journal. Riesengedanken springen aus der Stirne, aber die Censurscheere schneidet sie zu mittelmäßigen Geschöpfen zurecht, nachher kommen auch nur noch Mittelmäßigkeiten aus der Stirne [...]. Es ist zum Tollwerden, und Börne hat den schönen Muth, endlich toll zu werden. (Literatur-Blatt, Nr. 121, 28. November 1831, S. 481-482)
Auch der Hinweis Menzels auf „Dantes Hölle“, in der „ein Todtenkopf den andern beißt“, und darauf, dass „ein ächter Wahnsinniger seinen eignen Kopf [beißt]“ (S. 482), könnte an die Eröffnung der ,Narrenbriefe‘ anklingen mit ihrer Schilderung der beiden ,umhertollenden‘ Schädel, die sich bald zu necken, bald zu küssen [...] schienen (1,10-12) und die sich als die Überreste des ,Narren‘ und der ,Närrin‘ herausstellen. Bezeichnenderweise eröffnet Menzel seine spätere Rezension der ,Narrenbriefe‘ mit einem Zitat gerade dieser Stelle (→ Dokumente zur Rezeptionsgeschichte, ). Umgekehrt wäre es natürlich auch denkbar (und wahrscheinlicher), dass Gutzkow sich durch Menzels Börne-Rezension anregen ließ und das Vorwort des Londoner Totengräbers Jonathan Kennedy bei seiner weiteren Bearbeitung des Textes hinzufügte. Jedenfalls wird ein wesentlicher Teil der Arbeit an den ,Narrenbriefen‘ im Januar 1832 vorgenommen worden sein (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, und → Erl. zu ); ob bereits als Reaktion auf Menzels Änderungsvorschläge oder aus eigenem Antrieb, muss dahingestellt bleiben. Mit Sicherheit jedoch erstreckte sich der Überarbeitungsprozess, während dessen Gutzkow viele Anspielungen auf Tagesereignisse in den Text verwob, über mehrere Monate, mindestens bis Ende April 1832. Zu dieser Zeit war er bereits wieder in Berlin.
Die aktuellen Bezüge des Werkes lassen den Fortschritt der Überarbeitung ziemlich genau erkennen, vorausgesetzt, dass die unmittelbare Gegenwart des fiktiven Briefschreibers überwiegend mit der des Autors übereinstimmt. Die im ersten Brief enthaltenen Anspielungen auf den Untergang der Grahamsinsel (8,1-10) deuten auf den Februar 1832, als diese vulkanische Insel, die im Juli 1831 vor der Küste Siziliens aufgetaucht war, wieder versank. Wenn der ,Narr‘ am Anfang des sechzehnten Briefes sagt, er habe gestern, am 1. März, den Geburtstag der badischen Preßfreiheit [...] gefeiert (117,3-4), ist mit dem Schreibdatum der 2. März 1832 gemeint, denn das badische Pressegesetz, das die Zensur abschaffte, war am 1. März 1831 in Kraft getreten. Auf Ende März 1832 verweist im achtzehnten Brief die Erwähnung Spencer Percevals des Jüngeren und des von ihm verlangten Fasttags (136,27-30). Der Hinweis auf die (Leipziger) Buch-Ostermesse 1832 als Zeitraum, in den die Abfassung des letzten Briefes fällt, deutet auf Mai 1832 (→ Erl. zu ).
Die zeitgeschichtlichen Daten, die in den ,Narrenbriefen‘ nicht vorkommen, könnten ebenfalls als Hinweise auf den Abschluss des Manuskripts dienen. Beispielsweise ist es bei der starken europäischen Perspektivierung des Textes bemerkenswert, dass weder der Tod des französischen Innenministers Casimir Périer am 16. Mai 1832 Erwähnung findet, noch der des englischen Utilitaristen und Sozialreformers Jeremy Bentham am 6. Juni 1832, der wegen der vom Verstorbenen gewünschten medizinischen Verwertung seiner Leiche großes Aufsehen erregte. (Allerdings gibt es auch keinen direkten Hinweis auf den Tod Goethes am 22. März.) Der schließliche Abstimmungserfolg der lange debattierten Gesetzesvorlage zur britischen Wahlrechtsreform am 4. Juni 1832 kommt nicht vor, sondern nur ein Hinweis auf die Möglichkeit, dass die Reformbill siegt (78,24). Zu denken gibt der Hinweis auf liberale Volksversammlungen und -feste, über deren ungewöhnlich kühne Sprache sich die Gemäßigten beklagen (169,26-27). Das Hambacher Fest vom 27. bis 30. Mai, das große politische Ereignis des Jahres 1832 für den Liberalismus im südwestdeutschen Raum, muss damit nicht gemeint sein. Die Stelle scheint sich vielmehr auf die zahlreichen Veranstaltungen unter dem freien Himmel (169,14) zu beziehen, ohne deren Vorarbeit das Hambacher Fest als Massenversammlung sicher nicht möglich gewesen wäre. Vieles spricht also dafür, dass Gutzkow das Manuskript bis Ende Mai 1832 abschloss, ohne im letzten Bearbeitungsstadium noch auf größere Tagesereignisse Bezug zu nehmen. Allerdings könnte sich die Stelle 96,32-34 mit der Erwähnung der Zahl 30,000 dennoch auf das Hambacher Fest beziehen, ist doch allgemein nachzulesen, dass diese bei weitem größte politische Versammlung der Zeit etwa 30.000 Teilnehmer zählte. Denkbar wäre, dass Gutzkow diesen Hinweis noch dem Schluss des dreizehnten Briefes beifügte, bevor er das Manuskript nach Hamburg absandte. Ob der Verleger Campe es vor dem 17. Juni 1832 erhalten hatte (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, ), geht aus seinem Brief an Heine nicht eindeutig hervor. Jedoch ist es wahrscheinlich, dass Gutzkow das Manuskript Ende Mai / Anfang Juni von Berlin nach Hamburg schickte.
Die autobiographische Schilderung, die Gutzkow in den 1833 erschienenen Roman Maha Guru integrierte (→ ), erhellt die Grundsatzentscheidung, die sich für ihn mit der Publikation der ,Narrenbriefe‘ verband. Seine geplante Heirat mit Rosalie Scheidemantel machte eine berufliche Absicherung notwendig, die ihm nur noch im Schuldienst möglich schien, nachdem er sich zum Geistlichen definitiv nicht mehr berufen sah. Gleichwohl wollte er seine Tätigkeit als kritischer Schriftsteller und Publizist keineswegs aufgeben. Um die Bedingungen seiner Zukunft in Berlin auszuloten, suchte Gutzkow wohl bald nach seiner Rückkehr Ende April 1832 seinen alten Gönner auf, den inzwischen zum Wirklichen Geheimen Staats- und Justizminister gewordenen Demagogenverfolger Karl Albert von Kamptz. Bei diesem wollte Gutzkow offensichtlich erkunden, ob er sich Chancen auf ein Amt im preußischen Staatsdienst ausrechnen könne und inwieweit ein solches mit einer geistig unabhängigen schriftstellerischen Tätigkeit vereinbar sei. Konkreter Hintergrund dieser Audienz dürfte sein Vorhaben gewesen sein, in Berlin erneut ein Journal zu gründen, hatte man ihm doch 1831 erlaubt, im „Forum der Journal-Literatur“ auch über politische Dinge zu schreiben. Ein erster Versuch, die Genehmigung zur Übernahme und Herausgabe von Eduard Maria Oettingers „Berliner Eulenspiegel-Courier“ zu erlangen, war im November 1831 gescheitert (→ Lexikon: Zensur). Damit schien Gutzkow seine Journalpläne jedoch nicht aufgegeben zu haben. Jedenfalls bringt der von Adolf Glassbrenner redigierte „Berliner Don Quixote“ vom 17. Mai 1832 folgende Notiz: „Einem On dit zufolge wird eine politische Zeitung unter dem Schutze des erwarteten Preßgesetzes und der Redaction der Hrn. K. Gutzkow erscheinen.“ Eine Konzession zur Herausgabe dieser Zeitung bekam Gutzkow aber nicht. Überhaupt scheint seine Audienz bei Kamptz nicht sehr glücklich verlaufen zu sein. Der Minister dürfte ihm wohlwollend, aber entschieden geraten haben, auf eine weitere Zusammenarbeit mit Menzel zu verzichten oder gar die Schriftstellerei ganz an den Nagel zu hängen. Eine Stellung in der Staatsmaschine konnte er seinem einstigen Schützling wahrscheinlich nicht garantieren, legte ihm aber offenbar ans Herz, sein immenses, durch fleißiges Studium erworbenes Wissen, seine hoch entwickelte Urteilsfähigkeit und seinen intellektuellen Ehrgeiz für die ,bessere Sache‘ der preußischen Monarchie einzusetzen. Dazu kam es nicht, wohl aber zur Publikation der ,Narrenbriefe‘ und damit zu einer Selbstbehauptung Gutzkows als Protégé des liberalen Publizisten Menzel, nicht des preußischen Ministers. In dem autobiographischen Passus aus Maha Guru erhält die Veröffentlichung der ,Narrenbriefe‘ eine solche symbolische Bedeutung, besonders wenn der Wortlaut der zweiten Auflage von 1845 in Betracht gezogen wird. In dieser ändert Gutzkow das Ende der (insgesamt in die Du-Form transponierten) Passage zu einer verschlüsselten Aussage, die nur im Zusammenhang mit der Erstauflage deutlich wird. Der Text von 1833 lautet: ich kaufte mir ein Bund Eckposen [Schreibfedern] und ein Buch unbeschnittenes Patentpapier [...], und einen Monat später schickte ich an Herrn Campe in Hamburg meine Narrenbriefe. Stattdessen steht 1845: das Rauschen des alltäglichen Lebens gab dich dir selbst zurück, und du hieltest dem Minister nicht Wort! (GWI, Bd. 5, S. 262) Liest man die beiden Stellen zusammen, so scheint es also, als ob Kamptz von Gutzkow das Versprechen forderte, auf Publikationen kritischen Inhalts zu verzichten, um sich seine Zukunft nicht zu verbauen. Vielleicht etwas stilisiert, aber bezeichnend für den Anspruch des jungen Schriftstellers auf Gedankenfreiheit und öffentliche Wirksamkeit, wird der Schritt aus dem Haus des Ministers in das bunte Treiben auf der Straße zu einem Wiederfinden des eigenen Ich, das durch den Kauf von Federn und Papier bekräftigt wird. Nach einem Monat Bedenkzeit war die Entscheidung gefallen: Gutzkow schickte das Manuskript der Briefe eines Narren an Campe. Er wagte jedoch nicht, bei der Publikation dieses Erstlingswerkes seinen Namen zu nennen; die Entscheidung für eine Beamtenkarriere hatte er noch nicht ausgeschlossen. Das baldige Verbot des Buches in Preußen (→ Andere Dokumente zur Rezeptionsgeschichte, ) bestätigte seine Vorsicht. Der Roman erschien im August 1832, wie aus einem Brief Gutzkows an Menzel vom 11. Oktober 1833 hervorgeht. Gutzkow beklagt sich hier über Menzels verspätete Rezension des Werkes im „Literatur-Blatt“ (→ Dokumente zur Rezeptionsgeschichte, ): Sie sprachen, nachdem sie [die ,Narrenbriefe‘] im August erschienen waren, erst im Januar davon.
Die Entstehungsgeschichte der ,Narrenbriefe‘ gibt zumindest teilweise Aufschluss über den hybriden Charakter des Werkes. Einerseits handelt es sich, nach Gutzkows ursprünglicher Intention, um Liebesbriefe, deren Jean Paulsches Gefühlsthema (→ Dokumente, Nr. 7) Anlass zu Gedanken geben soll, warum der Briefsteller und seine Geliebte in’s Irrenhaus geriethen (→ Nr. 9). Andererseits bietet das Werk einen politisch-historisch-theologischen Ideenstrom, der auf einen radikalen Republikanismus hinausläuft und der auf Menzels Anraten mit Anspielungen auf aktuelle Politika gespickt ist. Der republikanische Diskurs dürfte aber schon Teil des ursprünglichen Entwurfs gewesen sein und durch Gutzkows Lektüre von Börnes „Briefen aus Paris“ Verstärkung erhalten haben. Ziemlich sicher korrespondierte Gutzkow in seiner Abwesenheit von Berlin regelmäßig mit Rosalie Scheidemantel, deren erhalten gebliebene Briefe von 1834 ein gewisses Maß an Verständnis für die intellektuellen Belange ihres Geliebten zeigen. Der Reflexionsgrad der ,närrischen‘ Liebesbriefe kann also durchaus in der gleichzeitig geführten realen Korrespondenz mit Rosalie einen weiteren entstehungsgeschichtlichen Hintergrund haben.
Rückblickend empfand Gutzkow die ,Narrenbriefe‘ als unausgegoren und unliterarisch. Er nannte sie verworren, wie jene Zeit selbst kurz nach der Julirevolution, in der sie entstanden (→ Nr. 8). Ihre dezidierte politische Ausrichtung führte er ebenfalls auf die Umstände einer aufgeregten Zeit zurück, die vom Autor ein klares Bekenntnis verlangt habe (→ Nr. 5). Der politische Zweck habe die Form so sehr dominiert, dass die eigentliche Liebe des Autors zur Idylle durch eine künstliche Kälte überlagert worden sei (→ Nr. 7); hier sei erwähnt, dass Gutzkow Menzel zur Beurteilung seiner ersten literarischen Versuche auch ein Konvolut an Lyrik überreichte. Die eigentlich literarische Substanz seiner Briefe eines Narren umfasste, nach damals geltenden literaturkritischen Maßstäben, kaum mehr als die Begeisterung durch eine erhabene Stelle seines Lieblingsautors Jean Paul, die Inspiration durch Börne und die Sehnsucht nach seiner ersten großen Liebe, nach den Umarmungen seines Mädchens (→ Nr. 3). Als arrivierter Autor, der bereits seine Gesammelten Werke herausgab, wollte Gutzkow 1845 die ,Narrenbriefe‘ nur noch in Bruchstücke[n] veröffentlichen (Vorwort zur Ausgabe von 1845, → Nr. 8; → Varianten). Bezeichnenderweise gehört zu diesen Fragmenten die Vergleichung Rousseaus, Byrons u Jean Pauls im 19. Brief, die Gutzkow zur Auswahl an O. L. B. Wolff für dessen „Encyclopädie der deutschen Nationallitteratur“ empfahl (→ Nr. 7). Schon bei der Arbeit am Roman Maha Guru im Sommer 1833 könnte Gutzkow die Publikation seiner ,Narrenbriefe‘ als verfrüht angesehen haben. Dieser Erstling, in dem er Alles geleistet habe, was man von einem 20jährigen jungen Manne verlangen kann (→ Nr. 2), wäre trotz seines relativen Erfolgs (→ Rezeptionsgeschichte) besser unpubliziert geblieben, wenn der Gute Rath an werdende Schriftsteller, den Gutzkow im Juli 1833 in Moritz Saphirs Zeitschrift „Der Deutsche Horizont“ veröffentlichte (→ Nr. 3), auch an die eigene Adresse gerichtet war. In seinem ersten Werk, der buntgeflickten Hanswurstjacke, so wusste Gutzkow, hatte er sich selbst im Gährungs-Stadium des literarisch talentierten Akademikers und Kritikers authentisch ausgedrückt (→ Nr. 7) und den gigantischen Wissens- und Ideenfundus niedergelegt, aus dem er als Berufsschriftsteller schöpfen würde. Dieser Fundus war allerdings für ein größeres Lesepublikum ungenießbar und bedurfte schriftstellerischer Übung, um sich zu Werken auszuspinnen, die Gutzkow später seinen Lebensunterhalt einbrachten. Noch hatte er bei der Verfassung der ,Narrenbriefe‘ nicht die Absicht, Berufsschriftsteller zu werden; erst mit Maha Guru und den im selben Jahr entstehenden Novellen wollte er sich durch unterhaltsam-gedankenreiche Erzählprosa einen Namen machen. Die endgültige Entscheidung zum Schriftstellerberuf fiel im Spätherbst 1833.
5. Rezeptions- und Wirkungsgeschichte#
5.1. Dokumente zur Rezeptionsgeschichte#
Die (auszugsweise) Textwiedergabe folgt zeichen- und buchstabengetreu der Vorlage; Druckfehler wurden stillschweigend berichtigt, ausgefallene Lettern in eckigen Klammern ergänzt.
5.1.1. Rezensionen#
1. Heinrich Laube, 3. Dezember 1832#
[Heinrich Laube:] Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg, Hoffmann und Campe. 1832. 8. 1 Thlr. 16 Gr. In: Blätter für literarische Unterhaltung. Leipzig. Nr. 338, 3. Dezember 1832, S. 1418-1420.
Es ist erquickend, wenn man in dem Wirthshaustreiben der heutigen Welt einen Mann von Bildung findet, einen Mann der poetischen Humanität entdeckt, mit dem sich ein Wort des ungebundenen Geistes reden läßt, der nicht so viel Paragraphen aus den Taschen zieht, daß das Gespräch ein wohlgeordnetes System werden muß. Solch ein Mann ist dieser Briefsteller; ich habe mich sehr gefreut, seine Bekanntschaft zu machen.
Es ist ein Vortheil, daß unsere Zeit die materiellen Bedürfnisse so streng ins Auge faßt, daß auch die Schriftsteller der neuen Zeit die Oekonomie unterjocht haben; aber es ist eine Erholung, wenn man einmal ein Buch hindurch nichts von den Bedürfnissen des Schlundes und Magens hört, wenn man einmal die Sprünge, ja seien es auch Capriolen des bessern Menschen, des geistigen, innerlichen ansieht; es kommt uns dann auch wieder die alte Turnregsamkeit des Geistes und Gemüthes, welche in Fesseln geschlagen ruht durch die gesetzliche, philisterhafte Anständigkeit unserer bürgerlichen Denkweise; alle die liebenswürdig ungezogenen Gedanken, die nicht für das polizeiliche Sonnenlicht gedacht, wachen wieder einmal auf, öffnen forschend die Schalksaugen und klingeln mit den Schellen, all der Uebermuth der unermeßlichen innern Freiheit schüttelt das alte stehende Wasser von den Flügeln und macht sich flügge. Man vergißt einen Augenblick und länger alles Das, was wir von Freiheit opfern müssen, um in einer Gesellschaft zu leben, man springt keck über Zäune und Hecken, und weil man fühlt, man meine es mit Jedermann redlich und gestatte Jedermann ein Gleiches, so hat man dabei ein fröhliches Gewissen und spottet lachend aller Formenängstlichkeit. O, es ist etwas Göttliches um den muntern Springquell der Freiheit im Herzen; das wußten selbst die ältesten, schlechtesten Herrscher und hielten sich Hofnarren. Denn der Hofnarr jener Zeit ist nichts als ein verzerrtes Bild unserer innern Ungebundenheit. Und nur Der, welcher dies Alles nicht versteht, ist sein baarer Gegensatz, der durch und durch zusammengeschnürte Philister.
Und wenn wir die ganze Welt werden eingeschachtelt haben in System und Ordnung und Rechnungszuverlässigkeit, so werden wir doch nichts haben als ein ärmliches Erzeugniß, ein klägliches Abbild unsers irdischen Menschen, sowie die feinstfühlenden Mystiker nur einen jämmerlichen Menschengott aus menschlichem Material zusammenfühlen – sollen wir uns nicht entschädigen für diese unsere zuverlässige Armuth, indem wir unsern besten innern Thätigkeiten je zuweilen den Zügel schießen und sie herumjagen lassen nach den Lichtfunken der Göttlichkeit?
Wir opfern ja die individuelle Ungebundenheit gern der Gesellschaft, ja wir helfen die neue Zeit verherrlichen, weil sie das Individuum mit starker Hand rettet aus alten, unnützen Banden; wir helfen sie aufrichten die neuen Schranken der Gesellschaftlichkeit, wir helfen sorgen für beengendes Recht und beengende Ordnung, weil sie Bedürfniß sind für die Allgemeinheit ? aber laßt uns zuweilen auch, frei von den nothwendigen Fesseln, schwärmen [1419] in kecken Vernunftoperationen, laßt uns zuweilen ganz frei sein.
So geht es ungefähr in diesen Briefen her: es ist ein zügelloses Treiben, aber es ist ein liebenswürdiges Treiben; ach und es ist auch ein schmerzliches, da noch so viele Freiheit übrig ist, welche Ordnung, gesetzlichste Ordnung werden könnte und noch nicht ist; darum schließen die närrischen Briefe mit einem, den Junius Brutus an seine Schwester schreibt, wo er schmerzlich fühlt, daß er seine Klugheit unter dem Gewande der Thorheit verbergen müßte. „Wer weise sein will, der werde ein Narr in dieser Welt! Ist dies die Art unsers Jahrhunderts, daß, wer sein Vaterland retten will, sich für verrückt ausgeben muß? Noch sind uns alle Wege zum Ziele mit schwarzem Trauerflore behangen. So viele junge Herzen, die sich entschlossen haben auf ihr ganzes Leben den Belohnungen der Machthaber zu entsagen, wandeln diese Thränenstraße. “
Die Phasen seiner Entwickelung nennt der neue Junius Brutus in den drei Namen: Rousseau, Jean Paul und Lord Byron. An die Wiege der Unmündigen sei er als Erster getreten; gern habe er als Zweiter in die Kreise des gewöhnlichen Lebens gesehen und aus den tiefsten Schachten einer reinen Gemüthswelt habe ihm Gold entgegengeblinkt; als Dritter habe er eingesehen, daß das Buch des Lebens nie mehr enthält, als was wir hineinschreiben, daß Der die Zeit versteht, der seinen Geist zu dem ihrigen macht, daß nur Der einen Tag genossen, der jede Stunde benutzt, daß auch nur die Jahrhunderte aus Tagen bestehen.
„Wir sind zum Leben im Staate nicht geboren. Es kann Gottes Wille nicht gewesen sein, daß wir Einem oder Mehren gehorchen, die nicht er selbst sind, daß Männer für die Ordnung sorgen sollen, da die Unordnung an ihm keinen Theil hat. Wir sollen friedfertig und einträchtig nebeneinander wohnen und Rechte uns zugestehen, als seien wir alle Brüder. Staat ist nur Uebergangspunkt in einen andern Zustand, und daß dieser glücklich ist, muß aus der Monarchie sich noch die Republik, dann aber erst aus der Republik sich das große Philadelphia bilden. Der wahren Bestimmung des Staats dient also nichts als seine Zerstörung; sein zärtlichster Freund wird immer sein geschworener Feind sein müssen. Macht aus dem Erdenrunde einen Staat, und wir werden ihn selbst zerstören, weil wir das Bedürfniß des Bauens haben und auf das Gebäude des Staates alles Material verthaten.“
„So weit wir gegenwärtig in Deutschland gekommen sind, kann man behaupten, daß von den Seiten des Volks es ebenso wol an der Begeisterung fehle, die einem Einzelnen allein könnte zugewendet werden, als auch, daß Keiner unserer Köpfe die Fähigkeit zu haben scheint, jene für sich zu erregen. Die politische Regsamkeit ist noch nicht bis auf jene Classen gedrungen, die sich durch nichts als durch ihre Kleider und selbst durch diese nicht einmal unterscheiden, wo der Vater wie der Sohn, dieser wie sein Schwager und Jeder wie sein Nachbar denkt. Noch steht die Liebe zur Freiheit auf einer Stufe, wo die Verschiedenartigkeit der Bildung das Recht, auf die kleinlichsten Dinge trotzige Ansprüche machen zu dürfen, behauptet. Die Wege, auf denen wir zur Einsicht in den Lauf der Zeiten gekommen sind, sind bei Wenigen dieselben gewesen. Der Eine las zufällig eine Ode von Klopstock, aber er schlug zufällig den Tactitus auf, dem Andern misfiel es, daß er nicht rauchen dürfe, wo er wolle, einem Dritten bekommt die Königin zu viel Kinder, nur Wenige sind, die den Tyrannen hassen und die Steuern nicht lieben.“
Was ihm jeder Tag bringt, was ihm die speculirende Phantasie, der phantasirende Verstand erzeugt, worüber sein Herz lacht, weshalb es blutet ? Alles, was ihm begegnet, bespricht der Verf. und er bespricht Alles mit Geist. Es ist ein zügelloses Buch, aber seine Zügellosigkeit ist gewissermaßen sein Vorzug.
„Die Gemäßigten und die Stürmischen unterscheiden sich vielleicht blos durch ihr Temperament: ihre Gesinnungen bleiben dieselben. Das wäre herrlich; denn sie werden sich vereinigen, wenn man ihre Gesinnungen in die Acht erklärt. Für diese Aussicht läßt sich das Schönste vom Bundestage erwarten. Wir bedürfen einiger Gewaltstreiche, die den Unterschied der Parteien aufhöben und die gute Sache wieder allgemein machten, und in Deutschland ist es Niemanden so unter die Hand gegeben . . . . . Hoffen wir also auf Frankfurt!“
Der Verf. scheint in Preußen zu leben, und sehr viele seiner Bemerkungen drehen sich um diesen Staat, dessen Organismus er Fichtisch nennt; sie sind zu zerstreut, und es sind ihrer zu viele, als daß ich sie hier anführen könnte. Man möge sie suchen, denn das Buch ist des Kaufs werth. Wie wohlfeil kann man einen ganzen Menschen der neuen Luft, gesäugt mit all den Stoffen, aus denen sie entstanden, ankaufen; wie selten ist es, daß ein ganzer Mensch im Buch geboten wird: meist erhalten wir ja doch eine officielle Gliedmaße, eine wissenschaftliche Rippe, höchstens einmal eine blutreiche Herzkammer.
„Die Hegel’schen Schüler hast Du sehr gut mit Instrumenten verglichen, die nur auf eine bestimmte Anzahl Musikstücke gesetzt sind.“
„Schon Viele sind der Sache des Liberalismus untreu geworden. Nicht darum lassen sie die Arme sinken, weil sie schwach und ermattet sind, sondern sie wollen bemerkt haben, daß sie die Streiche in die Luft geführt haben, wo sie nach den Befehlen der Ordner den dichtesten Scharen hätten begegnen müssen. Sie haben sich selbst auf einen gewissen Indifferentismus ertappt; sie sehen zwar ein, daß die Gegner zwar hier und da im Irrthume befangen sind, erschrecken aber vor dem Gedanken, daß es doch etwas Bestimmtes, ein gewisser Inhalt, ein Interesse ist, was Jene vertheidigen. Auch sie wollen nun mehr sein als ein Medium, woran sich die im Hintergrunde gähnenden Massen zersetzen. Sie wollen nicht nur zerstören, sondern auch aufbauen, neben dem Schwert auch den Scepter führen.“
„In Frankreich hält die Politik und der Kampf der Parteien alle Richtungen des dichtenden und denkenden Geistes zusammen. Dort sind die Helden des Tages auch Helden des Jahrhunderts. Wir Deutschen, bisher allem öffentlichen Leben entfremdet, haben von den Goldminen der Wissenschaft nie geahnt, daß sie unter dem Boden des Staatslebens sich fortziehen. Unser politisches Streiten ist demokratisch, wir sind aber gewohnt, nie die Feder zu ergreifen, als im Geiste unserer literarischen Aristokratie – – die Nothwendigkeit der Politisirung unserer Literatur ist unleugbar. Man gehorcht ihr zwar, aber mit welcher Zögerung! mit welchen fremdartigen Erscheinungen! Sie wird noch die häßlichsten Leidenschaften aufrufen. Die Eitelkeit der Originalität, die schmuzige Begeiferung, die fast anerkannter Ton unserer Kritik ist, Neid auf literarische Berühmtheit ? das Alles steht dem Siege der guten Sache entgegen. Es gibt noch Andere, die aus andern Gründen dem Liberalismus untreu geworden sind. Sie konnten den Nachwuchs eines neuen Geschlechts nicht ertragen – es ist in Frankreich ebenso gegangen: die in der alten französischen Kammer einst die äußerste Linke bildeten, die ausgezeichnetsten Glieder der ehemaligen Opposition sind nur darum in die rechte Mitte des Centrums hinaufgerückt, weil sie nicht ertragen mochten, daß eine Weisheit, die ihnen geborgt war, sich in jugendlichen Gemüthern lebendiger bethätigte. Die Menschen erschrecken nicht so sehr vor dem Was als vor dem Wie. So sind in Deutschland die ehemaligen Heerführer des Liberalismus die legalsten Organe der Regierung geworden.“
Ich möchte gern etwas Kluges über das Buch sagen, und ich komme zu nichts, als Stellen daraus zu citiren: es ist dies das sicherste Zeichen, daß dasselbe selbst etwas Kluges ist; es hat mit seinem Reichthum mich überwältigt, ich habe mich auf Gnade und Ungnade ergeben. Wie jedes bedeutende Buch, besitzt es die Fähigkeit, alle schlummernden Kräfte des Geistes und Herzens zu wecken, aber da ich bald nach dem Lesen schreibe, so gestattet seine geistige Despotie noch zu wenig Selbständigkeit.
„Du hast Recht. Wir kämpfen nur um die Wege zum Ziele, kennen aber das Ziel selbst nicht. Der letzte Grund unserer Wünsche ist noch kein bestimmter Zustand, sondern nur die [1420] Möglichkeit, sich frei zu bewegen, das Mittel, einst irgend einen Zustand herbeizuführen. Wir wollen die Freiheit haben, künftig Das zu sein, was wir sein werden. Das Zeitalter der Revolution deutet auf eine neue Schöpfung.“
„Ich glaube es nicht, daß einst in Buchstaben wieder geredet wird. Die Liebe wird herrschen. Aber die Liebe steht nicht unter dem Gesetz, sie ist Feindin des Gesetzes, wie Du schon in der Bibel lesen kannst. Viele Dinge werden dann aufhören, besonders die, die jetzt schon keinen Sinn mehr haben. Auch wird es keine Helden und Hofräthe mehr geben, weil man die Dummen von den Klugen mehr unterscheidet. Diese haben sich bisher so unterschieden, daß die Klugen an den Dummen zu Rittern, die Dummen an den Klugen immer zu Hofräthen wurden. Das nimmt Alles ein Ende. Nur die Liebe nicht und die Treue nicht.“
Ich weiß wahrlich über das Buch nichts Besseres zu sagen, als ich gethan, denn es sagt selbst das Beste; ich verweise den Leser noch auf das spaßhafte Bengel’sche Jahr 1836, wo unser kluger Narr die Prophezeihungen der Apokalypse sehr spaßhaft ausgehen läßt zu Frankfurt und anderswo, und ich schließe mit einem offenherzigen Danke für den Verleger, der das Buch gebracht.
2. Wolfgang Menzel, 16. Januar 1833#
[Wolfgang Menzel:] Humoristische Literatur. 14) Briefe eines Narren an eine Närrin. In: Literatur-Blatt. Stuttgart u. Tübingen. Nr. 7, 16. Januar 1833, S. 25-28.
[25] „Den nachfolgenden Briefwechsel – von dem, wie vom Monde nur eine Seite sichtbar ist – fand der Unterzeichnete bei einem unruhigen Kopfe, der selbst in seinem Tode die Narrheiten noch nicht lassen konnte. – Nächtlich ward ich aus meinem Schlafe durch ein ungewöhnliches Lärmen und Poltern aufgeschreckt, und vor einigen Monaten gelang es mir in einer mondhellen Stunde zwei Schädel über die Gräber des Friedhofes tollen zu sehen, die sich bald zu necken, bald zu küssen, erst zu verfolgen, dann wieder sich zu nähern schienen. Ich trat heran, und bemerkte an beiden silberweißen Schädeln einen seltsamen Schmuck, die Augen- und Ohrhöhlen waren mit Blumen besteckt, der eine trug zwischen seinen Zähnen eine Rose, der andere eine Lilie. – Ich mochte aber den Spuck nicht länger ertragen, und schlug nach §. 7 meiner Bestallung, die mir erlaubt, jeden Ruhestörer von der mir anvertrauten Stätte mit den gerade zu Gebote stehenden Mitteln zu vertreiben, dem Rosenritter mit meinem Spaten die Hirnschale von einander, die Lilie entsprang, und in meinem scharfen Eisen saßen die nachstehenden Briefe, hier und da durch den Hieb verlezt, was der Kenner an seinem Orte finden und meinem Eifer zu Gute halten wird.“
Die Briefe selbst gehören zu dem Geistreichsten, was in neuerer Zeit geschrieben worden ist. Unbeschadet der Narrheit herrscht ein Schmerz darin, der an Jean Pauls Schoppe und Giannozzo erinnert, und der oft in weiche Wehmuth übergeht. Diese Sentimentalität ist entschuldigt durch den Gegenstand, an den die Briefe gerichtet sind, denn es sind Liebesbriefe, und überdies wechselt Weinen und Lachen hier ganz so ächt humoristisch ab, wie bei Jean Paul. Ich halte diese Weichheit in der That für einen Vorzug vor der rauhen Manier, die durch Heine und Börne aufgekommen ist, denn der allzu stoische Hohn und die sarkastische Mitleidlosigkeit schließen eine gewisse Zartheit der Empfindung aus, die auf dem poetischen Gebiet eben so erwünscht ist, als sie allerdings aus dem publicistischen verbannt werden muß.
Folgende Beispiele mögen den Geist des Buchs näher erkennen lassen: „Ich schätze in Dir mehr, als man an Wesen Deines Gesch[l]echts zu schätzen gewohnt ist. Du bist nicht unbekannt mit den Grazien, und doch ein Frauenzimmer von der ernsthaften Gattung. Du gleichst dem chinesischen Glockentempel, wenn er den Ernst bedeuten soll, eben so sehr wie der Maiblume, wenn ich darunter die Freude verstehe; nur daß die lezte duftende [26] Glocke oben im Wipfel sich den Strahlen der Sonne öffnet, und ich schmeichle mir, diese Sonne immer für Dich gewesen zu seyn. – Du sendest mir eine Haarlocke, mit einem rosaseidenen Bande geziert. Sie muß auf der Reise schlecht gelegen haben, das sonst so dunkle Haar war ausgebleicht, und schien sehr grau. Das Gräuliche hat auch mich angesteckt, mein dunkelblonder Haarwuchs ist seither so weiß geworden, wie die schneebedeckten Fluren, die sich dort drüben vor meinen Augen ausbreiten. – Ich weiß nicht, ob Dir auch so ist. Mein Leben ist mir schon so alt, und doch fühl’ ich mich zuweilen jung, als lebt’ ich noch immer, obschon ich gewiß weiß, daß ich wenigstens einmal gestorben bin. – Glaubst auch Du nicht daran, daß ich im Grunde nur ein Mährchen bin? Mit dem Greisenhaupte meines Januskopfes seh’ ich in die dunkeln Nebelpforten fernster Vergangenheit, und mit dem Jünglingsblicke auf die Wiege, als wär’ ich erst gestern geboren. Da hab’ ich ein altes Buch voller wundersamer Geschichten, ich spiel’ in ihnen immer die Hauptrolle, die verzauberten Prinzen. Jezt in einen schwarzen Käfer, dann in eine glühende Kröte, oder auch in ein todtes Marmorbild verwandelt, harr’ ich auf Liebe und Unschuld, die meinen Zauber lösen können. – Deine Liebe und Unschuld hören gewiß meine Klagen, die jezt einsam durch die Nacht tönen, und von den Vögeln in Musik, von den Blumen in Duft gesezt werden. Liebste! erinnerst Du Dich wohl noch jener Zeit, als ich die Anatomie Deiner Blicke studierte, als ich bei Deinem Herzen ansprach um einen gefälligen Beitrag zu der Kollekte, die ich nach dem großen, von Deinen Augen in mir angerichteten Brande bei allen himmlischen Wesen sammeln ging? Oder wie war das? Man vergißt seine Freuden leichter, als seine Leiden. Ich habe so viel vergessen, waren das Alles Freuden?“ Und folgendes originelle Bild: „Ist Dir nicht bekannt, daß der Mond nicht das Symbol der Liebe, sondern nur der Ehe ist? und zwar der ewig schmollenden? Der Mann im Monde, nicht der Pseudo-Claurensche, der auf keine Nerve mehr wirkt, sondern jener, den ich täglich sehen kann, wenn ich an meiner Rosenhecke die Nacht abwarte, lebt in zwistigen Verhältnissen mit der Frau im Monde, die Du von Deiner Wohnung aus sehen kannst. Der Streit soll daher kommen, daß der Mann nur sein Gesicht in Thätigkeit sezt, und übers Küssen nicht hinausgeht. Die Hunde bellen den Mond auch wirklich nur in bestimmten Zeitläuften an; sie machen ihm damit ordentlich Vorwürfe. Bewundere aber das große Naturgesetz daran. So lange die Eheleute im Monde sich den Rücken zukehren, herrscht die himmlische Liebe hienieden im irdischen Jammerthal. Versöhnen sich die aber da oben, und wenden sich die Vordertheile ihres ganzen Körpers zu, so geht die Welt unter, also eigentlich vor Liebe. Wie ich immer gesagt habe, wird der Untergang der Welt eine wahre Lust seyn.“
Ueber Polen sagt der Verfasser: „Man ist dahinter gekommen, daß die schönste Pracht der Lenzesfeier in nichts Anderem besteht, als in den blühenden Pfirsichbäumen, wenn sie über Hecken und Gartenzäune uns mit ihren weißen karmosingesprenkelten Blüthendolden grüßen. Der Frühling hat sich für die polnische Sache entschieden, und die Nationalfarben des Landes zu den seinen gemacht, darum soll er nun in keinem deutschen Bundesstaat eingeführt werden. Man will das Erwachen jeder Leidenschaft vermeiden, vielleicht sezt man auch voraus, daß zwar die Blindheit der Menschen diesen wunderbaren Fingerzeig des Gottes in der Natur wie alles Tiefe und Ahnungsreiche nicht finden wird, doch fürchtet man, daß die Vögel auf den Zweigen von den Farben verlockt und an schönere Hoffnungen und Träume erinnert, von der gehässigen Sache singen könnten. Man weiß es, daß die Deutschen auf diesem Wege der Dichtung immer zur Wahrheit kommen. Das will vermieden seyn, daher diese Maßregel.“
Ueber den Kontrast unsrer Hyperkultur und der nordamerikanischen Roheit: „So ein Nordamerikaner ist, gegen einen simpeln Europäer genommen, doch äußerst unvollkommen daran. Jeder Professor auf dem Katheder, jeder Gassenjunge unter uns kann mit Recht zu ihm sagen: schäme dich, du Neuvolklicher! du bist nur ein halber Mensch, und hast ganz und gar keine historische Anfänglichkeit an dir. Du weißt weder von wannen du kommst, noch wohin du fährst. Du bist eine Waise und ein Bastard zugleich. Du ermangelst jener historischen Grundlage, die das breite Fundament unseres Daseyns bildet. Dein Staatsleben ist nicht mehr werth, als der todte Mechanismus einer Uhr. Du kannst nichts von dem geheimnißvollen Rauschen jener tiefangelegten Quellen des Geistes vernehmen, die mit ihren goldhaltigen Wogen durch Jahrhunderte strömten. Du weißt nicht, wie von den Bergen der Heimath die Geister der Vergangenheit winken. Die Leier – nicht einmal zerbrochen ist sie dir, du hattest nie eine – und dein Schwert kannst du nicht an den Stamm einer tausendjährigen Eiche als Weihopfer hängen! Was fühlt so ein Kerl wie du von dem Zauber einer Elegie in den Ruinen eines alten Burggemäuers!“
Sehr unterhaltend ist das Gemälde, das von der protestantischen Geistlichkeit entworfen wird: „Drei Bearbeitungen des gemeinen Mannes von Seiten der Seelensorger lassen sich unterscheiden. Das kleine Häuflein der Gläubigen rückt immer dichter und näher zusammen. Sie tauchen in ihre Empfindungen und Selbstbeschauungen unter, und hören vom Lärm des Tages nur ein fernes, unverständliches Rauschen und Murmeln. Sie wissen aus [27] der Apokalypse, daß das lezte Thier bald losgelassen wird. Die Erscheinung des Antichrists kann nur noch wenige Jahre dauern. Wenn nun die Entscheidung wie ein Fallstrick oder ein Dieb in der Nacht eintritt, so sollst Du sorgen, daß Du wachend und betend erfunden werdest. Andere Kanzelredner wollen in der That zeitgemäß werden. Aber sie sind zu ästhetisch gebildet, um an den Wirren dieser Zeit Wohlgefallen zu finden. Sie stehen den Fürsten, besonders den weiblichen Gliedern der Höfe so nahe, daß sie zu Seitenblicken auf die arge, böse Welt beständig versucht werden. Sie predigen über Unruhe und Verwirrung, über Völker, die frevelnd am Heiligsten gegen ihre Fürsten aufstehen, über die Verläugnung aller Liebe und alles Vertrauens. In Preußen sind die Prediger nach Vorschriften der Konsistorien gehalten, solche Themata ihren Vorträgen an bestimmten Sonntagen unterzulegen. Aber es freut mich, daß diese Fürstendiener ihre Zwecke durch ihr eignes Verfahren zerstören. Der größte Theil ihrer Zuhörer besteht aus genießenden Residenzbewohnern, die die ganze Woche Sorge tragen, die unangenehmen Eindrücke der Zeitgeschichte von sich fern zu halten. Des Sonntags holen sich diese aus den Kirchen nichts weniger als Trost und Beruhigung; es werden das erst recht die Oerter, wo die Wunden aufbrechen und das Blut wieder zu fließen anfängt. – Die lezte Klasse unterscheidet sich zwar von der vorigen durch die Art der Auffassung nicht, doch steht sie tief unter jener, weil sie unredlicher ist. Die sächsischen Hof- und Leibpastoren brüsten sich mit ihrer Freisinnigkeit, ihrem Lutherthum, und was in bestimmten, vorliegenden Fällen, wo sie zeigen konnten, an welchem Fleck ihnen das Herz sizt, aus ihrem kühnen Munde gegangen ist, beweisen die kurz nach den sächsischen Unruhen in Leipzig, Altenburg, Dresden und sonst gehaltenen Predigten. – Da stehen wir wieder bei unsern Jesuitenhelden, den Vorkäm[p]fern für Licht und Wahrheit, bei der großen Opposition gegen Montrouge und das Freiburger Seminar, bei den kühnen Cölibatsgegnern, kurz bei dieser ewigen Schande der Unredlichkeit auf der einen und der Leichtgläubigkeit auf der andern Seite. Mit der rechten Hand schreibt in Leipzig Einer gegen die Polen, mit der linken für die Juden, und er bleibt derselbe Hort der Freiheit. Gegen den edlen G. Rießer glaubt sich ein Anderer in Heidelberg bestimmt erklären zu müssen, so lange man den aber noch gegen Römlinge reden hört, bleibt er seines liberalen Rufes gewiß. Neulich hat Jemand, den ich nicht gern nenne, angekündigt, er wolle kein Bedenken tragen, er wolle das große Wagniß unternehmen, das konstitutionelle monarchische Princip gegen die Republikaner zu vertheidigen. Wo sind diese Gegner? wo sind diese Republikaner, an denen er sich messen will? wo steckt ihr denn, ihr deutschen Republikaner! Heraus, daß wir euch sehen! Redet, daß wir euch hören! Niemand da? Keiner? gar Niemand?“ Ueber dieselben Tapfern heißt es an einer andern Stelle: „Fallstaff wird von seinen Gesellen wirklich für tapfer gehalten. Die vermeinten Heroen der Freisinnigkeit sind bei uns in dieser Weise oft die Unterthänigsten. Sachsen steckt voll solcher Leute, die in jedem ernsten Triumvirate nur den Lepidus abgeben müßten, die aber als Erzketzer im deutschen Reiche verschrieen sind. Sie schießen Jahr aus Jahr ein die giftigsten Pfeile in die Weite, noch kann ich mich aber keines entsinnen, den sie getödtet hätten. Sie könnten Satiren auf die Religion des sechsten Welttheils schreiben, sie würden noch immer als Heroen der Freiheit gelten.“
Von Preußen heißt es Seite 155: „Du hegst die Besorgniß, alle Dinge im Himmel und in Preußen seyen nun ausgedacht. Aber Hegels Einfluß war doch nur unwesentlich im Preußischen, der Organismus des Landes und der Regierung ist noch immer Fichtisch. Fichte hat eine tiefere, mehr auf Grundlagen gebaute Stellung zum preußischen Staate gehabt. Hegel hat dem Gerüst zwar erst die Krone aufgesezt, doch nach abgehaltener Baurede muß man sie wieder abnehmen und mit Schornsteinen ersetzen. In friedlichen Zeiten mag der Staat die Eitelkeit besitzen, sich sogar in einem philosophischen Systeme wissenschaftlich konstruirt zu sehen. Im Augenblick der Noth ruft man aber jene kräftigen Naturen wieder auf, die mit Rath vorangehen, dann selbst Hand ans Werk legen, wenn der Feind vor den Thoren ist, Schanzen aufwerfen, und sich als Landsturm auf die Pike legen. Fichte kann die Folgen nicht geahnt haben, die seine Bestrebungen für das Wohl des Staates, der ihm einst Schutz und Sicherheit gewährte, dort nach sich gezogen haben. Die schroffe, nüchterne Manier des Borussianismus ist die den allgemeinen deutschen Zwecken meist so feindselige Konsequenz eines Systems, das sich an seinen Namen am passendsten anschließen läßt. Unter seinem leitenden Kompasse hat man dort eine Welt entdeckt, die tiefer begründet seyn will, als die gemeine Wirklichkeit, aber auch höher liegen soll, als die Gesetze der Vernunft. Ich will Dir die Beweise nicht schuldig bleiben. Der öffentliche Geist in Preußen bricht sich in drei Fulgurationen: Die Beamten oder die Altpreußen, die Geistreichen oder die Cavaliere und Liebhaber des preußischen Staates und endlich die sogenannten preußischen Liberalen. Der Schlüssel dieses harmonischen Dreiklangs ist die Erziehung, wie sie war und noch ist. Die erste Klasse bildet sich durch die vaterländischen Erinnerungen, sie ist die solideste Grundlage des preußischen Systems; fast anziehend, wenn man sie in ihrer Seligkeit gewähren läßt; unerträglich, wenn sie in einen Kampf mit fremden Ansichten geräth. Das Herz dieser Patrioten schlägt für Friedrich Wilhelm so rein, wie es nur eine Braut verlangen könnte. Wenn einem Gliede [28] der königl. Familie die Nase blutet oder ein Ohr saust, so sind sie traurig, und sehen sich einander bedenklich an. Ließe sich ein Prinz eine Gemahlin aus dem Reiche der Irokesen kommen, die Patrioten kämen zu keinem Gastmahle zusammen, wo nicht der indianischen, schwiegerväterlichen Majestät ein entzücktes Hoch gebracht würde. Es ist liebenswürdig, man möchte Thränen vergießen. Die Schulen erhalten diesen Sinn, vaterländische Erinnerungsfeste beleben ihn, die Frauen machen ihn poetisch. Wir haben hier ein Gedicht, ein Epos der Ueberzeugung. Welche Stellung dazu Fichte einnimmt, könnt’ ich aus meinem eignen Leben beweisen. Meine erste Jugend fällt in jene Zeit, wo die preußische Regierung sich vor Kindern fürchtete. Wenn wir einst auf dem Exercierplatze bei Berlin vor Hoheiten und Majestäten Uhren u. dgl. Habseligkeiten von weit über hundert Fuß hohen geschälten Fichten herunterbrachten, wie konnten wir da gefährlich werden? Es ist wahr, wir glaubten an ein freies, unabhängiges Leben, aber die Jugend ist nie folgsamer, als wenn sie unter dem Schein vollkommener Willensfreiheit erzogen wird. Es ist noch mehr wahr, wir traten in die Burschenschaft, substituirten in unsern Liedern statt Landesvater Vaterland, wir deklamirten viel vom Nibelungenhorte, der im Rhein läge, von der deutschen Kaiserkrone, aber wer unter uns hätte sie nicht Friedrich Wilhelm dem Gerechten zukommen lassen? Es ist wahr, wir ließen uns einen längern Bart stehen, als der militärisch gut gethan wurde, war das aber ein Grund, die angeblich hölzernen Urquellen dieser Begeisterung abzubrechen, die sandigen Laufgräben in der Hasenhaide zu verschütten, jenen herrlichen Irrgarten ebenda zu zertreten? Die Freiwilligen, die Lützowschen, die Turnenthusiasten sind Preußens festeste Grundlage; konnte irgend ein anderes deutsches Territorium ihrer Begeisterung größeren Spielraum geben? Wenn so ein purificirter preußischer Demagog es bis zu einem Oberlehrer etwa in Märkisch Friedland gebracht hat, so schreibt er als Ritter des eisernen Kreuzes noch nach den Julitagen ein kleines Gemälde der großen Völkerschlacht bei Leipzig, als Zeitgemäßestes. Ein Arndt, der den Franzosen vorwerfen kann, daß sie nicht wie wir germanischen Blutes sind, ist in den Burschenschaftstrümmern der preußischen Universitäten noch immer der Prophet und Gesalbte. So sehr ich Dich, meine Theure, als Ritterin des Louisenordens verehre, und die Nadelstiche segne, mit denen Du den erblindeten preußischen Kriegern das himmlische Auge der Wehmuth und des gerührten Dankes öffnest, so hat es doch immer Händel gegeben, wenn meine Kollegen nicht nur mit 13 und 14, sondern sogar mit Anno 6 anfingen, und von Louisa, Thusneldas Kinde und der einsam blühenden Rose sangen. Also das Preußenthum kann gar nicht untergehen, denn die Sentimentalität geht nie aus. Nein, auch das ist nicht der Grund; die Regierung dürfte nur die Empfindungen des Herzens verbieten, sie würden dennoch ein Organ finden, mittelst dessen sie ihre Gesinnungen an den Tag legten. Es geht in Preußen, wie in einem alten Mährchen, wo die Feinde des tugendhaften Sultans, selbst wenn sie ihn schmähten, verdammt waren, nur sein Lob auszusprechen. Die zweite Klasse sind die K. P. Staatsnarren, die in Preußen, Gott weiß, was, verwirklicht sehen. Den Kennern der deutschen Literatur kann es nicht fremd seyn, daß der Fichteschen Lebensansicht die Steffenssche sich gegenüberstellt. Sollte Steffens wirklich den Hegelschen Lehrstuhl erhalten, so ist diese zweite Klasse nach einer gewissen historischen Typik sogar mathematisch richtig bewiesen. Die tiefern in der Burschenschaft genährten Ideen über Volksthümlichkeit, Einfluß der Religion auf die Individualität der Völker, über die Nothwendigkeit gewisser theokratischer Lebensformen, gehören hierher. Du weißt, ich war einmal ein leidenschaftlicher Verehrer dieser Ansichten. Du tolles, unruhiges Weib, nanntest mich damals einen Quietisten, und wolltest mich stricken lehren. Auf einer Reise wollt’ ich Dir die Beweise vorbringen. Wir durchstrichen die deutschen Gauen, gingen immer nur Flußgebieten und Bergrücken nach, suchten und forschten nach den natürlichen Gränzen der einzelnen deutschen Staaten. In den tiefsten Gegenden lauschten wir, ob wir nicht wo die Quellen der sogenannten alten Naturempfindung sprudeln hörten. Springruthen legten wir des Tages wohl zu hundert Malen an, ob uns nicht wo die sogenannten historischen Bedingungen wie Erz und Silber entgegenblinkten &c. Die Mathematiker mühen sich mit der Quadratur des Cirkels ab, jene sublimen Theoretiker mit der Centralisation eines Vierecks. Sie suchen den Mittelpunkt des preußischen Staates, sie glauben ihn in Diesem oder Jenem gefunden zu haben. Der Kampf des Mechanismus und Organismus in der Politik ist ihnen für Preußen durch den Sieg des leztern entschieden. Wir wollen abwarten, wie sich ihre Illusionen aufdecken, wie die nackte Wahrheit einst sprechen wird. Der preußische Liberalismus wird von Raumer repräsentirt und Hegel ist ihm sehr verwandt. Man liest mit Theilnahme die fremden Zeitungen, und wagt einiges für Preußen zu hoffen. Man hört nicht ungern die Vorlesungen des Professors Gans und liest mit Vergnügen Börnes und Heines Schriften. Nur wird an allen diesen Richtungen eines freiern Geistes nicht der Inhalt, sondern nur die Form beachtenswerth gefunden; mißfällt die leztere, so ist jener völlig verloren, statt daß umgekehrt die Wahrheit die Schwäche ihres Organs entschuldigen sollte. Zu den preußischen Liberalen rechnet man Juden, als äußerste Linke, den Handelsstand als Centrum, die gemäßigtsten sind junge Beamte, Juristen und einige vom Militär. Hegel gehört in diese Kategorie; nicht so sehr durch sich selbst, als durch seine Schüler. Obschon Raumer von ihm ziemlich entfernt stand, so kann man doch sagen, daß Hegel die Doktrin des preußischen Liberalismus mit Ueberzeugung in seiner Art a priori konstruirte, Raumer übersezt sie ins Altpreußische, Gans ins Französische.“
3. Heinrich Laube, 28. Februar 1833#
[Heinrich Laube:] Literatur. Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg bei Hoffmann u. Campe, 1832. In: Zeitung für die elegante Welt. Leipzig. Nr. 42, 28. Februar 1833, S. 165-168.
[165] Ich habe schon mehrmal in unserm Literaturblatte darüber gesprochen, daß es Mode geworden ist, sich selbst zu Papier zerstampfen, drucken, einbinden und als Buch verkaufen zu lassen, daß die Schriftsteller sich ganz und selbst hinmalen auf das Papier. Es ist dies etwas Natürliches: in einer Zeit des Sturmes, der Prüfung, des Werdens, da rettet Jeder zuerst seine Person, er macht sich selbst tüchtig, um zu bestehen, er regt alle Glieder, um bei der neuen Schöpfung mit zu wachsen, mit neu zu werden. Millionen Einer bilden eine Million; in einer zersetzenden, kritischen Zeit erfährt man das; darum rüsten sich in ihr die Einer, um eine starke Million zu bilden. Wenn man eine Maschine reparirt, so wird jede einzelne Schraube in guten Stand gesetzt, solch eine Zeit der Reparatur ist eine kritische Epoche, daher sucht jeder Einzelne sich in guten Stand zu setzen, daher treten so viel Personen und so wenig Sachen in unsern Tagen auf. Die Sachen haben sich Gesichter aufgesetzt, darum ist in allen Wissenschaften ein[ ] solcher Lärm, darum sind alle lebendig worden. Sie fühlen, daß wer sich in dieser kurzen Zeit der Vergnügung [recte: Verjüngung?] nicht eiligst im Thau der neuen Lüfte badet, verfaulen oder verdorren wird, wenn die Wolken vom neuen Himmel verschwinden und die neu polirte Sonne ohne Unterlaß strahlen werde. Darum haben sich die Sachen Beine angeschnallt und kommen eiligst herbeigelaufen. Wenn man neue Gesetze machen will, muß man die Menschen ansehen und kennen, für die sie gemacht werden sollen. Es ist eine Freude, wie die Menschen sich jetzt am Abschlusse unsers neuen Codex herbeidrängen, um sich sehen zu lassen, und Jeder schreibt seinen Stammbuchvers in das große neue Buch, und wenn Keiner mehr kommen wird, dann ist das Buch fertig, und die Zeit vollendet. Das ist die Geschichte von der Subjectivität. Darum müssen wir Alle die, welche noch etwas hinzuzusetzen oder zu ändern haben am neuen Gesetzbuche aller Dinge im Himmel und auf Erden, darum müssen wir sie erinnern, eiligst aufzusitzen auf den Schreibesel, damit sie vor Abschluß der großen Weltrechnungen ankommen im Publicum.
Es ist eben so thöricht, die Subjectivität unserer literarischen Epoche ohne weiteres verwerfen zu wollen, als es thöricht wäre, den Frühling zu tadeln, daß seine Blüthen so viel Farben in unsere Augen werfen, ohne Früchte für unsere Hände zu haben, daß der Baum ein Blatt, eine Knospe nach der andern aufschließt, und nicht alle auf einmal ? wenn alle einzeln aufgegangen sind, da ist der Baum grün, wenn alle Schriftsteller zusammengekommen sind, dann haben wir eine Versammlung, und so wie der grüne Baum Früchte zeitigen wird, so wird unsere Versammlung Gesetze beschließen, und über Nacht wird der Sommer und über Nacht wird der Herbst da seyn, und Niemand wird die Personen mehr sehen vor den baumhohen Grundsätzen, die aus dem Samen ihrer Rede aufgeschossen sind vor ihnen. Es ist [166] so leicht, Geschichte zu erlernen, aber die Menschen haben nicht sowohl ein zu kurzes, als ein zu schmales und zu niedriges Gedächtniß, die Massen der Geschichte gehen nicht hinein, die hohen Gebäude der Jahrhunderte stoßen sich den Giebel ab, und ein Mensch ohne Kopf ist freilich schwer zu erkennen. Wie Wenige finden darum die Jahreszeiten heraus in der Geschichte, wie Viele haben das vorige Jahrhundert mit seiner Bequemlichkeit und Ruhe für einen vergnüglichen, gesegneten Sommer gehalten, wo die Menschheit im Schatten der hohen Aehren schliefe, wie Viele halten das jetzige für einen harten Winter, der alle Schönheit zerstöre. Der Winter folgt aber nicht auf den Sommer, sondern der Frühling auf den Winter, jene Zeit des Schlafs war die Siebenschläferepoche Europas, und auf der Chaussée von Paris nach Versailles schlug der junge Frühling aus der Erde, und alle die Subjectivität, die wir um uns sehen, welche ihre kaum aufgeblühten Blätter durch alle Bücher wirft, ist eitel Frühling und Jugend. Wenn man jung ist, gilt die Person, daher die Persönlichkeit unserer Literatur.
Wenn erst die Meisten diese Persönlichkeit unserer Literatur verstanden haben, dann ist ihr Sieg entschieden, das heißt: dann hört sie auf. Wenn der Frühling vollendet ist, tritt der Sommer ein. Wie thöricht ist es also, das Wachsthum unserer jungen Generation durch Kopfsch[l]äge u. dergl. aufhalten zu wollen; wenn das Pferd mit mir durchgeht, so sporne ich es noch obenein: um so schneller kommt es dann mit seiner Eil zu Ende – man soll lieber unsere Zeit spornen, daß sie recht viel aus ihres Herzens Fülle bringe, um so eher kommen wir dann zu Kopf und Herz, denn erst wenn das Herz leer geworden ist, sehen sich die jungen Leute nach dem Kopfe um.
Wenn dreißig solche Narren kommen wie der vor mir liegende, so ist die Narrheit überwiegend, und alsbald Weisheit, denn der Narr ist nur Narr, weil Niemand seine Narrheit theilt; wenn unter drei Personen eine gescheidt ist, so ist die eine Person der Narr, denn der Glaube der Majorität ist unser Bischen Wahrheit auf diesem Planeten. Dreißig solche Narren wie mein närrischer Briefsteller könnten alsbald die gesetzgebende Versammlung des modernen Europa bilden, und die Subjectivität könnte alsbald vorbei, und die Objectivität da seyn. Es wird mir Angst, wenn ich den Gedanken ausdenke: ich will’s nur gestehen, daß mich der Kampf mehr erfreut als der Sieg, denn der Kampf ist poetisch, und der Sieg ist das Ende, und alles Ende ist traurig, ist Tod. Wer verliert gern seine junge, warme Geliebte, auch wenn er weiß, daß seiner eine schönere harrt; ob und wie sie ihn lieben, ob und wie er sie lieben werde, ist ihm ja unbekannt. Wer möchte nicht lieber jung seyn, trotz aller Unvollkommenheiten der Jugend, und wenn dreißig solcher Narren kommen, da ist es vorbei mit unserer Jugend, da sind wir gesetzte, wohlerfahrene Männer, und mit meiner muntern, herumspringenden Kritik hat’s auch ein Ende. Ja, solch ein Narr allein ist liebenswürdig wie ein rothwangiger Knabe, aber ein mit solchen Narren angefülltes Haus ist kein Knabe mehr, ist ein schöner Mann, vor dem ich Respect haben muß. Es ist aber doch immer noch schöner, zu lieben als zu achten.
Dieser Briefsteller ist aber darum so liebenswürdig, weil er so viel weiß und so wenig wissen will, weil er so reich ist und doch zu Fuß geht, weil er nicht blos gelehrt, sondern auch gebildet, nicht blos gebildet, sondern auch poetisch ist. Was uns das Wissen, die Natur und das Leben immer so verleidete, das war unsere philisterhafte Manier, mit dem Buche in der Hand hinauszutreten in die grüne Erde und die Schöheit derselben zu beweisen. Was wir aber beweisen können, ist nicht das Größte für uns, sondern das Kleinste, denn des Bewiesenen sind wir Herren. Nun war aber das Buch vor langer Zeit und in dumpfer Stube geschrieben, und ein kleiner verstorbener Zwerg neben der ewig neuen, ewig lebendigen Natur; daher kam unser unerquickliches Wissen. Unser Narr aber springt mit offener Brust und mit leeren, ausgebreiteten Händen hinaus in die Welt und examinirt die Natur nicht, sondern läßt sich von ihr examiniren und antwortet munter und aufgeweckt. Darin ruht die schöne Poesie dieses Buches, und nun kann Philosophie, Geschichte, Physik, Mathematik, und Gott weiß was für eine Wissenschaft, an die Reihe kommen, Alles wird angenehm, weil es aufsprudelt aus den frischen Quellen der Erde. Er macht nicht mit der Wissenschaft die Natur, sondern die Natur macht ihm die Wissenschaft. Darin ruht’s, und das ist die Poesie der Gelehrsamkeit, und diese ist der unbezahlbare Vorzug dieses Buches.
Ich schrieb früher über den Verfasser und seine Briefe Folgendes: „Es ist erquickend, wenn man in dem Wirthshaustreiben der heutigen Welt einen Mann von Bildung findet, einen Mann der poetischen Humanität entdeckt, mit dem sich ein Wort des ungebundenen Geistes reden läßt, der nicht so viel Paragraphen aus der Tasche zieht, daß das Gespräch ein wohlgeordnetes System werden muß. Solch ein Mann ist dieser Briefsteller; ich habe mich sehr gefreut, seine Bekanntschaft zu machen. Es ist ein Vortheil, daß unsere Zeit die materiellen Bedürfnisse so streng ins Auge faßt, daß [167] die Schriftsteller der neuen Zeit auch die Oekonomie unterjocht haben; aber es ist eine Erholung, wenn man einmal ein Buch hindurch nichts von den Bedürfnissen des Schlundes und Magens hört, wenn man einmal die Sprünge, ja seyen es auch Capriolen, des bessern Menschen, des geistigen, innerlichen ansieht; es kommt uns dann auch wieder die alte Turnregsamkeit des Geistes und Gemüthes, welche in Fesseln geschlagen ruht durch die gesetzliche philisterhafte Anständigkeit unserer bürgerlichen Denkweise; alle die liebenswürdigen ungezogenen Gedanken, die nicht für das polizeiliche Sonnenlicht gedacht sind, wachen wieder einmal auf, öffnen forschend die Schalksaugen und klingeln mit den Schellen, all der Uebermuth der unermeßlich innern Freiheit schüttelt das alte stehende Wasser von den Flügeln und macht sie flügge. Man vergißt einen Augenblick und länger Alles das, was wir von Freiheit opfern müssen, um in einer Gesellschaft zu leben, man springt keck über Zäune und Hecken, und weil man fühlt, man meine es mit Jedermann redlich und gestatte Jedermann ein Gleiches, so hat man dabei ein fröhliches Genießen und spottet lächelnd aller Formenängstlichkeit. O, es ist etwas Göttliches um den muntern Springquell der Freiheit im Herzen; das wußten selbst die ältesten schlechtesten Herrscher und hielten sich Hofnarren. Denn der Hofnarr jener Zeit ist nichts als ein verzerrtes Bild unserer innern Ungebundenheit. Und nur der, welcher dies Alles nicht versteht, ist sein baarer Gegensatz, der durch und durch zusammengeschnürte Philister. Und wenn wir die ganze Welt werden eingeschachtelt haben in System und Ordnung und Rechnungszuverlässigkeit, so werden wir doch nichts haben als ein ärmliches Erzeugniß, ein klägliches Abbild unsers irdischen Menschen, sowie die feinstfühlenden Mystiker nur einen jämmerlichen Menschengott aus menschlichem Material zusammenfühlen – sollen wir uns nicht entschädigen für unsere zuverlässige Armuth, indem wir unseren besten innern Thätigkeiten je zuweilen den Zügel schießen und sie herumjagen lassen nach den Lichtfunken der Göttlichkeit. Wir opfern ja die individuelle Ungebundenheit gern der Gesellschaft, ja wir helfen die neue Zeit verherrlichen, weil sie das Individuum mit starker Hand rettet aus alten unnützen Banden; wir helfen sie aufrichten die neuen Schranken der Gesellschaftlichkeit, wir helfen sorgen für beengendes Recht und beengende Ordnung, weil sie Bedürfniß sind für die Allgemeinheit – aber laßt uns zuweilen auch, frei von den nothwendigen Fesseln, schwärmen in kecken Vernunftoperationen, laßt uns zuweilen ganz frei seyn. So geht es ungefähr in diesen Briefen her; es ist ein zügelloses Treiben; aber es ist ein liebenswürdiges Treiben; ach, und es ist auch ein schmerzliches, daß noch so viel Freiheit übrig ist, welche Ordnung, gesetzliche Ordnung werden könnte und noch nicht ist.“
Ich halte es noch für richtig, was ich da geschrieben, aber nicht für das Richtige. Die Scheibe ist getroffen, aber nicht der Mittelpunct. Mit jenen Worten aber hoffe ich ihn zu treffen: die Poesie der Gelehrsamkeit ist der Vorzug dieser närrischen Briefe. Das Herz nimmt den Kopf bei der Hand und führt ihn durch die Jahrhunderte, über die Urgebirge, durch die Meere, die Lüfte, in den Kreisen der Sterne umher. Die Briefe enthalten das Leben, aber mit dem ganzen Inbegriffe des Wortes Leben eines Mannes, der viel gelernt und empfunden hat, und der noch viel lernt und empfindet. Aus dem Hörsaale, vom Schooße des Poeten, vom Fenster des liebenden Mädchens, von der Tribune des Redners sind die Blätter geflogen, und unser geschäftiger Narr hat sie alle aufgefangen und seine Noten dazu geschrieben und ein Buch daraus gemacht.
An die alten Grundsätze, die man immer wieder hört, glaubt man am Ende nicht mehr, oder überhört sie doch, nennt sie Gemeinplätze, die nicht viel sagen wollen, und das oft mit Recht. Aber wenn man in großen Umrissen sie bestätigt findet, da erstaunt man über die Atmosphäre von Vernünftigkeit, in welcher dieser Globus kreist. Wenn Du über die Haide gehst und ein Samenkorn verlierst, und Du kommst nach Jahren wieder und hast jenen Gang längst vergessen und findest den hohen Baum, der aufgeschossen ist aus dem Keime jenes Samenkorns, da staunst Du über den gewaltigen Sinn des einfachen Wortes: „Kein Korn, das gestreut wird, geht verloren.“ – So gingen die Geister des neuen Jahrhunderts über die Haide unserer Literatur und warfen eine Hand voll Körner hin und sprachen: Die Wissenschaften sollen nicht starr und kalt wie Eiszapfen neben einander hängen, sondern in einen großen Strom zusammenfließen, in welchem der Mensch baden und die müden Kräfte erfrischen kann. Und wenn jene Geister die „Briefe eines Narren“ lesen, so werden sie sich die Augen reiben und anfänglich nicht wissen, wie ihnen geschieht, wenn sie die ernste Jungfrau Geschichte munter die Füße heben und hüpfend in geregeltem Takte herabtanzen sehen von den ägyptischen Pyramiden über die griechischen Rennbahnen, die römischen Plätze, die mittelalterlichen Kreuze und Burgen, die deutschen ledernen Bücher bis zu den Herzen der neuen Jahre. Und wenn sie die Religion, der sonst Niemand ungestraft ins Auge sehen durfte, als einen scherzenden Genius erblicken, der Blumen und Küsse austheilt und mit schwellender Lippe alte Geschichte von Brandopfern, Geißelhieben, verzückten Mördern, rechthaberischen Tyrannen, [168] predigenden Dummköpfen, vorträgt, da werden sie erstaunt fragen: „Wie ist uns?“ Und unser lieber Narr wird ihnen antworten: Seht nur recht zu, es ist jener Baum, an dessen Entstehen ihr selbst schuld seyd. Die kleinen, jungen Ideen sind groß geworden und gefallen nur Vielen noch nicht, weil sie eben in den Flegeljahren stehen. Und das ist ja das Charmante an ihnen, daß sie wie die harmlose Jugend Interesse an Allem nehmen, was zwischen den Sonnenstäubchen spielt, daß sie nichts von Privilegien wissen und Alles lieben, wie der gewaltigste Kaiser, so lange er jung ist, mit Allen spielt, die ihm begegnen. Ich will rasch noch einige Proben aus unsern närrischen Briefen, diesem Demokratismus der Wissenschaften, diesem Kosmopolitismus der Dinge, diesem Humanitätsgastmahle aller höhern Interessen anführen, und den bunten Narren schön bitten, bald wieder zu kommen.
„O, Du Herrliche, daß ich morgen erst lesen lernte! Daß ich so Vieles nicht wüßte, was mich verhindert, Besseres zu wissen. Daß ich jene Fülle von geistiger Spannkraft und Energie zurückbekäme, die ich einst an den todten Buchst aben verwitterter Pergamentblätter nach der Sitte jener Zeit vergeudet habe. Warum muß ich so alt seyn und in dieser Frühlingsgegenwart nur Eis und Schnee unter meinen Augen haben, daß ich nun an ewigem Thauwetter leide. O, ihr Glücklichen, die ihr heute zum ersten Male in die Welt blickt!“ —
„Ich trage mich mit dem Vorhaben, die ganze Weltgeschichte von Adam und Eva bis auf mich und Dich in einer neuen Weise zu bearbeiten. Man erzählt mir zu viel in der Geschichte, man schildert nicht. Man verwechselt das Bequeme in der Methode mit dem Passenden. Die Geschichte ist kein Drama, sondern ein Epos. Der Historiker muß seine Personen zu lebenden Bildern ordnen – – – – weil die Synchronistik eingeführt werden muß.“
Ich verweise hier auf meine vorhergehende Recension der Heine’schen französ. Zustände – wie sie einander ansehen, da sie sich auf schmalem Wege plötzlich begenen. So bildet sich die neue Gesellschaft, so finden sich die Geister, und Jeder hat seinen Kreis, und jeder Kreis hat Berührungspuncte mit einem andern, und so wird eine neue Welt, auch eine der Wissenschaft.
„Wenn die Baumeister des babylonischen Thurmes das Wesen Gottes mit Kalk und Steinen begreifen wollten, so ist das dieselbe Thorheit, die in den Versuchen der Gewalthaber liegt, wenn sie einen mächtigen Strom dämmen wollen. Der Strom glaubt ja nicht mehr an die Nothwendigkeit seines alten Bettes, wird er hier aufgehalten, so bahnt er sich dort einen neuen Weg, und das mit reißender, zerstörender Gewalt. So verfehlen sie nicht nur an der einen Seite ihre Absicht, sondern machen an einer andern Seite den Schaden größer, als er je zuvor war.“
„Ein thörichtes Weib (die Legitimität) hatte ein Kästchen voll schönster Pretiosen, Ringe, Kronen, Diademe. Um es vor jedem Einbruche aufs sicherste zu verwahren, verriegelte sie es dreifach und vierfach. Ein Dieb mühte sich aber die Nacht über nicht damit ab, es zu öffnen, und trug nicht nur die Kostbarkeiten, sondern auch das festverschlossene Kästchen mi[t] sich fort. Daheim mag er wohl Mittel gefunden haben, den Inhalt heraus zu bekommen.“
„Schon Viele sind der Sache des Liberalismus untreu geworden. Nicht darum lassen sie die Arme sinken, weil sie schwach und ermattet sind, sondern sie wollen bemerkt haben, daß sie da Streiche in die Luft geführt, wo sie nach den Befehlen der Ordner den dichtesten Streichen hätten begegnen müssen. Sie haben sich selbst auf einem gewissen Indifferentismus ertappt; sie sehen zwar ein, daß die Gegner hier und da im Irrthume befangen sind, erschrecken aber vor dem Gedanken, daß doch etwas Bestimmtes, ein gewisser Inhalt, ein Interesse ist, was Jene vertheidigen. Auch sie wollen nun mehr seyn als ein Medium, woran sich die im Hintergrunde gähnenden Massen zersetzen. – – Von jeher hat es Männer gegeben, die über dem Kampfe der Parteien erst den wahren Mittelpunct ihres Lebens finden wollten. – – – Diese Leute verlangen von der Wahrheit, daß sie auch immer neu von ihrer Darstellung, daß sie überraschend sey. Daher verschmähen sie eine Gemeinde, wo der Schüler vom Meister nur durch den Unterschied des Alters getrennt wird. Wir Deutschen würden mehr Vertheidiger der politischen Freiheit aufweisen können, wenn sie mit unserer Kunst, Wissenschaft und Literatur inniger zusammenhinge. – – Es gibt in Preußen Leute, die sich schämen, das Wort Constitution in den Mund zu nehmen, und es sind sonst die schlechtesten noch nicht. – – Wir Deutschen, bisher allem öffentlichen Leben entfremdet, haben von den Goldminen der Wissenschaft nie geahnt, daß sie unter dem Boden des Staatslebens sich fortziehen. Unser politisches Streiten ist demokratisch, wir sind aber gewohnt, nie die Feder zu ergreifen als im Geiste unserer literarischen Aristokratie[.] – – Andere konnten den Nachwuchs eines neuen Geschlechts nicht ertragen. Die Menschen erschrecken nicht so sehr vor dem Was? als vor dem Wie? So sind in Deutschland die ehemaligen Heerführer des Liberalismus die legalsten Organe der Regierung geworden. Früher sprachen sie allein über gewisse Wahrheiten, jetzt thun es ihnen hundert Andere nach.“
„Du hast Recht, wir kämpfen nur um den Weg zum Ziele, kennen aber das Ziel selbst nicht – – dies ist aber auch das Gesetz unserer Zeit. Die Willenskraft muß bis zum Letzten im Volke wiedergeboren werden. Jetzt muß ein Jeder das unbeschränkte Gefühl seiner Person wieder gewonnen haben &c.“ – –
Es ist nichts mit den Auszügen, man bringt ein paar Blüthen und verlangt, daß die Leute den Frühling bewundern sollen.
4. Gutzkow an Wolfgang Menzel, 11. Oktober 1833#
Karl Gutzkow an Wolfgang Menzel, Berlin, 11. Oktober 1833. In: Houben, Gutzkow-Funde, S. 29-30.
Sie machen mir wegen meiner steigenden Bekanntschaft ein Compliment, aber Sie haben mir es nicht umsonst gemacht. Gestehen Sie es, daß Sie einen großen Theil der Schriftsteller in Ihrer Hand haben, Sie haben Spindler zu Etwas gemacht u. Spindler zehrt noch immer an dem noblen Anstrich, den er Ihren weitläuftigen Anzeigen zu verdanken hat. Sie haben Posgaru [d. i. Karl Adolph Suckow, RJK] mit tausend Empfehlungen eingeführt, und es liegt nur an diesem selbst, daß er sie nicht benutzte. Ich will mit keinem von diesen gemessen sein, ich bitte Sie nur um die Begünstigung recht schnell etwas über mich sagen zu wollen. An meinen Briefen hatten Sie es versehen. Sie sprachen, nachdem sie im August erschienen waren, erst im Januar davon, als schon die Buchhändler ihre Packete schnürten, und die Krebse nach Leipzig zurückschickten. Nur Ihre spätere übertreibende Anzeige brachte das Versäumte zum Theil wieder ein. Sie werden von jedem Autor und Verleger um baldige Anzeige ersucht, warum wollen Sie es aber gerade mir abschlagen?
5. H. L., 1834#
H. L.: KURZE ANZEIGEN. VERMISCHTE SCHRIFTEN. Hamburg, b. Hoffmann und Campe: Briefe eines Narren an eine Närrin. 1832. X u. 326 S. 8. (1 Rthlr. 16 gr.). In: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung. Jena u. Leipzig. Bd. 1, Nr. 9, 1834, Sp. 71-72.
Das Vorwort unterschrieb der Todtengräber Jonathan Kennedy zur Kirche des Bedlam in London. Der Vf. ist ein Deutscher, der kaum die Universität Jena verlassen hat, und voll Fictionen von Weltbegebenheiten, die größtentheils nie existirten. Er spottet über den geritterten Oberbibliothekar Münch, mit dem er sich um die Redaction des sultanischen Moniteur beworben haben will. Er schreibt [72] an einer Geschichte der Zukunft, ob an der Spree oder am Main, ist ungewiß; doch giebt er Hn. Buchholz guten Rath und lobt den edlen Rießer in Altona, verräth etwas Kantianismus, Bekanntschaft mit Menzel, Heine und Börne, und liebt die Polen. Er schließt mit Bengels Prophezeihungen, die im J. 1836 erfüllt werden sollen. Wie konnte der Verleger glauben, daß ein solches Buch der Narrheit gekauft werden würde!
5.1.2. Andere Dokumente zur Rezeptionsgeschichte#
1. Preußisches Ober-Zensur-Kollegium, 2. Oktober 1832#
Urteil des Preußischen Ober-Zensur-Kollegiums über die Briefe eines Narren an eine Närrin vom 2. Oktober 1832 (zitiert nach Houben, Verb. Lit., S. 258-259).
Dieser Titel scheint theils um Aufmerksamkeit zu erregen, theils aber auch um deswillen gewählt zu seyn, damit unangemessene Dinge, ohne Zusammenhang und ohne Scheu dem Publicum mitgetheilt werden können. Hauptsächlich beschäftigt sich diese Schrift mit der Politik und es werden, dem schlechten Tone vieler Zeit- und Flugschriften gemäß, das Königthum nebst den Fürsten, dem Adel etc. herabgesetzt; die heilige Allianz, ferner die Bundesversammlung, und in Frankreich die Maßregeln zur Bekämpfung des unruhigen Geistes der Zeit etc. angegriffen. Namentlich wird Preußens, und des Preußen an Rußland knüpfenden verwandtschaftlichen Bandes auf eine so ganz ungeziemende Weise erwähnt, daß uns Maaßregeln gegen diese Schrift unerläßlich scheinen.
5.2. Dokumente zur Wirkungsgeschichte#
1. Ludwig Börne, November 1832#
Ludwig Börne: Briefe aus Paris. Bd. 5. Paris: Brunet [Hamburg: Hoffmann & Campe], 1834. S. 12-16.
[12] Dienstag, den 13. November [1832].
Ein herrliches deutsches Buch habe ich hier gelesen; schicken Sie gleich hin es holen zu lassen. Briefe eines Narren an eine Närrin. Auch in Hamburg bei Campe erschienen, der seine Freude daran hat, die Briefe aller Narren an alle Närrinnen drucken zu lassen. Es ist so schnell abwechselnd erhaben und tief, daß Sie vielleicht müde werden es zu lesen, ich bin es selbst geworden und bin doch ein besserer Kopfhänger als Sie. Aber es ist der Anstrengung werth. Der Narr ist ein schöner und edler Geist und so unbekümmert um die schöne Form, welcher oft die besten Schriftsteller ihr Bestes aufopfern, daß diese, wie jede Kokette, weil verschmäht, sich ihm so eifriger zudringt. Der Verfasser schreibt schön ohne es zu wollen. Er ist ein Republikaner wie alle Narren; denn wenn die Republikaner klug wären, dann bliebe ihnen nicht lange mehr etwas zu wünschen übrig und sie gewönnen Zeit sich zu verlieben und Novellen zu schreiben. Nichts kommt ihm lächerlicher vor als das monarchische Wesen, nichts sündlicher gegen Gott und die Natur. Er theilt meinen Abscheu gegen die vergötterten großen Männer der Geschichte und meint, die schöne Zeit werde kommen, wo es wie keine Hofräthe, so auch keine Helden mehr geben [13] wird. Die Klügsten unter den Gegnern des Liberalismus haben diese[m] immer vorgeworfen, es sei ihm gar nicht um diese oder jene Regierungsform zu thun, sondern er wolle gar keine Regierung. Ich trage diese Sünde schon zwanzig Jahre in meinem Herzen und sie hat mich noch in keinem Schlafe, in keiner gefährlichen Krankheit beunruhigt. Die Tyrannei der Willkühr war mir nie so verhaßt, wie die der Gesetze. Der Staat, die Regierung, das Gesetz, sie müssen alle suchen sich überflüssig zu machen, und ein tugendhafter Justizrath seufzt gewiß, so oft er sein Quartal einkassirt und ruft: O Gott! wie lange wird dieser elende Zustand der Dinge noch dauern? Und bei dieser Betrachtung hat der Verfasser eine schöne Stelle, die ich wörtlich ausschreiben will. „Freilich ist das Firmament ein Staat, und Gott ein Monarch, der sich die Gesetze und die Bahnen unterordnet; aber die Sterne des Himmels werden einst auf die Erde fallen, und Gott wird sein strahlendes Scepter und die Sonnenkrone von sich werfen, und den Menschen weinend in die Arme fallen, und die zitternden Seelen um Vergebung bitten, daß er sie so lange in seinen allmächtigen Banden gefangen gehalten.“ Küssen Sie den Unbekannten in der Seele, der über die Wehen, die Geburten und Misgeburten dieser Zeit so schöne Dinge gesagt. Auch eine betrübte räthselhafte Er-[14]scheinung unserer Tage, erklärt der Verfasser gut. Woher kömmt es, das so Viele in Deutschland, die früher freisinnig gewesen, es später nicht geblieben? Spötter werden sagen: sie haben sich der Regierung verkauft; ich aber möchte nie so schlecht von den Menschen denken. Ich war immer überzeugt, daß ein Wechsel der Hoffnung, gewöhnlich dem Lohne vorausginge, mit dem Regierungen, zur Aufmunterung der Tugend, diesen Wechsel bezahlten. „Sie könnten den Nachwuchs eines neuen Geschlechtes nicht ertragen; sie wollten nicht, daß man munterer, dreister dem gemeinschaftlichen Feinde die Spitze bieten könne. Es ist in Frankreich ebenso gegangen. Die in der alten französischen Kammer einst die äußerste Linke bildeten, die ausgezeichnetsten Glieder der ehemaligen Opposition sind nur darum in die rechte Mitte des Centrums hinaufgerückt, weil sie nicht ertragen mochten, daß eine Weisheit, die ihnen geborgt war, sich in jugendlichern Gemüthern lebendiger bethätigte. So sind in Deutschland die ehemaligen Heerführer des Liberalismus die loyalsten Organe der Regierung geworden. Früher sprachen sie allein über gewisse Wahrheiten, jetzt thun es ihnen hundert Andere nach.“
An dem Buche habe ich nichts zu tadeln, als seinen Titel. Man soll sich nicht toll, oder betrunken stellen wenn man die Wahrheit sagt. Auch nicht ein-[15]mal im Scherze soll man eine solche Maske vorhalten, denn es gibt unwissende Menschen genug, welche die Vermummung als einen Beweis ansehen, daß man nicht jeden Tag das Recht habe die Wahrheit zu sagen, sondern nur während der Fastnachtszeit und in der Hanswurstjacke. Ueberhaupt sollten wir jetzt keinen Spaß machen, damit die großen Herren erkennen, daß uns gar nicht darum zu thun sei, witzig zu seyn, sondern sie selbst zu witzigen.
_____________
[16] Mittwoch, den 14. November.
Ich muß noch einmal auf die Briefe eines Narren zurückkommen; das Wichtigste hätte ich fast vergessen. Stellen Sie sich vor es wird in dem Buche erzählt: der goldene Hahn auf der frankfurter Brücke sei abgenommen worden, und unsere Regierung habe es auf Befehl der Götter des taxischen Olymps thun müssen, weil der Hahn ein Symbol der Freiheit sei, der, ob er zwar nicht krähen könnte, sintemal er von Messing ist, doch als Kräh-Instrument in dem Munde eines sachsenhäuser Revolutionairs Staats- und diner-gefährlich werden könnte. Es wäre merkwürdig! aber ich glaube es nicht. Vielleicht war es ein Scherz von dem Verfasser, oder er hat es sich aufbinden lassen. Aber was ist in Frankfurt unmöglich? Ich bitte, lassen Sie doch **** auf die Sachsenhäuser Brücke gehen und nach dem uralten Hahne sehen. Ist er noch da, dann werde ich den närrischen Briefsteller öffentlich als einen Verläumder erklären.
2. Heinrich Heine, November 1832#
Heinrich Heine: Vorrede zur Vorrede [zu „Französische Zustände“]. [Signiert „Ende November 1832.“]. In: DHA, Bd. 12/1, S. 453-454. (→ Erl. zu )
Mißlicher ist es, wenn die Freunde mich verkennen. Das dürfte mich verstimmen, und wirklich, es verstimmt mich. Ich will es aber nicht verhehlen, ich will es selber zur öffentlichen Kunde bringen, daß auch von Seiten der himmlischen Parthey mein guter Leumund angegriffen worden. Diese hat jedoch Phantasie, und ihre Insinuazionen sind nicht so platt prosaisch wie die der böotischen, sodomitischen und abderitischen Parthey. Oder gehörte nicht eine große Phantasie dazu, daß man mich in jüngster Zeit der antiliberalsten Tendenzen bezüchtigte und der Sache der Freyheit abtrünnig glaubte? Eine gedruckte Aeußerung über diese angeschuldete Abtrünnigkeit fand ich diese Tage in einem Buche betitelt: „Briefe eines Narren an eine Närrin.“ Ob des vielen Guten und Geistreichen, das darin enthalten ist, ob der edlen Gesinnung des Verfassers überhaupt, verzeih ich diesem gern die mich betreffenden bösen Aeußerungen; ich weiß von welcher Himmelsgegend ihm dergleichen zugeblasen worden, ich weiß woher der Wind pfiff. Da giebt es nemlich unter unseren jakobinischen Enragés, die seit den Juliustagen so laut geworden, einige Nachahmer jener Polemik, die ich während der Restaurazionsperiode mit fester Rücksichtslosigkeit und zugleich mit besonnener Selbstsicherung, geführt habe. Jene aber haben ihre Sache sehr schlecht gemacht, und statt die persönlichen Bedrängnisse die ihnen daraus entstanden, nur ihrer eigenen Ungeschicklichkeit beyzumessen, fiel ihr Unmuth auf den Schreiber dieser Blätter, den sie unbeschädigt sahen.
3. Anton Edmund Wollheim da Fonseca, 1835#
[Anton Edmund Wollheim da Fonseca:] Spanischer Pfeffer gegen Deutsches Salz. Briefe einer Dame, herausgegeben von Dr. Anton Edmund Wollheim. Hamburg: Literatur-Comptoir, 1835.
[[I]] Vorrede. [→ Vorwort, ]
Der Mensch theilt mit den Büchern dasselbe Schicksal, so lange beide nicht im Staube des Grabkellers [→ ] oder des Viktualienkellers ruhen, und von Würmern angenagt werden, sind sie vor Nachrede [→ ] nicht sicher. – Da aber gewöhnlich, und besonders bei Büchern, der erste Nachredner zwar nicht der beste, aber doch der ist, nach welchem sich gewöhnlich die folgenden in ihren Nachreden richten, so habe ich es für rathsam erachtet, der Verfasserinn dieser Briefe selbst eine Nachrede zu schreiben; der geneigte Leser kann darauf rechnen, daß sie nicht zu strenge ausfallen wird. Mögen also diejenigen, welche [[II]] späterhin diesen Briefen nachreden oder schreiben werden, dieselben milden Gesinnungen hegen, welches sie gewiß, wenn sie nicht alle Ansprüche auf Galanterie aufgegeben haben, thun werden.
Ich schließe hiermit meine Vorrede, von der ich überzeugt bin, daß sie gut sey, weil sie kurz ist.
Im Sommer 1833.
D. H.
[6] Zweiter Brief. [→ Erster Brief, ]
Endlich einen Brief von Dir, aus Deiner Feder, d. h. aus Deinem Herzen geflossen.
Deine schöne Leichenrede am Grabe der Ferdinandoinsel [→ ; ] hat mich gerührt, und wenn das über uns waltende Wesen Sinn für deutsche Litteratur und besonders für Romantik hat, so wird es die Insel verjüngt aus dem Schooße Galatheas emporsteigen lassen [...]
[9] [...] Wenn nun die Ferdinandusinsel wirklich auf einen Wink des, durch Dein carmen sepulcrale sentimental gestimmten Gottes, an das Tageslicht emporgestiegen wäre [→ ], so hätte sie Dich zum Dank für ihre, durch Dich neu erworbene Existenz, folgendermaaßen apostrophirt: [...]
[38] Vierter Brief. [→ Dritter Brief, , → Vierter Brief, , u. a.]
Recht sehr hat mich Dein voriger Brief ergriffen, in welchem Du mir meldest, daß die Locke, die ich Dir übersendet habe, erbleicht sey [→ ]; so kurze Zeit war sie von mir entfernt, meine Gedanken folgten ihr und doch ist sie schon verwelkt; ach! so geht es mit unseren Lieben, kaum sind sie unseren Blicken entrückt und die Liebe entflieht, und das Andenken an uns verbleicht und wird immer matter, bis es gänzlich verschwindet. – Ich wollte recht herzlich weinen, als Du mir den Tod meiner Locke mit so kalten Worten anzeigtest; allein die Töchter des Schmerzes und der Wonne erstarrten mir in dem Auge zu Glas und gaben mir so zu sagen ein Bild krystallisirter Wehmuth! [→ ] [...]
[45] [...] Und wenn ich an den Lotos denke, so kann ich Dir zugleich erklären, woher der französische drapeau tricolore seinen Ursprung hat. [→ ] Als nämlich in uralten Zeiten die Indier gedrängt wurden und ihre Züge über Europa begannen, ließ sich einer dieser Stämme, dessen Sinnbild ein blauer, ein weißer und ein rother Lotos war, im heutigen Frankreich nieder, und aus den Farben dieser Blumen entsprangen die gallischen Nationalfarben. – Vor ungefähr drei Jahren hatte ich eine außerordentliche Sehnsucht nach Indien; da ich damals aber in der Abwesenheit meines Mannes in Berlin als Student immatrikulirt war, und in der Mitte des Semesters nicht verreisen konnte [...], so wünschte ich mir wenigstens meine Lieblingsblumen; indeß auch dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung und so entschloß ich mich, auf diplomatischem Wege, durch Kabalen am Hofe der Tuilerien, Carl den Zehnten dahin zu bringen, daß er die Ordonnanzen signirte [→ ], die ihm auf eine leichte Art vom Throne halfen, und [46] dergestalt die drey Farben, die Farbe des blauen, weißen und rothen Lotus wieder auffrischten. – So schreiben sich oft große Begebenheiten von kleinen Zufälligkeiten her. [→ ]
[54] Fünfter Brief. [→ Fünfter Brief, ]
Gleichgültig habe ich stets die Briefe meines Gatten aus Frankreich und Spanien erhalten; die Schwärmerei, welche ich an Dir so liebe, die des Ultra-Liberalismus, machte mir ihn verhaßt; besonders da er nicht wie Du, ein Märtyrer seiner Grundsätze, sondern als Scheinliberaler von den Regierungen betrachtet, und zum Geh. Legationsrathe ernannt wurde. [→ ] Du hingegen, mein Guter, reisest auf Gastrollen in Deinem Fache umher und erwartest silberne Becher und Volksjubel; allein das erste kostet viel Geld, und der Volksjubel ist bei Geld- oder verhältnißmäßiger Gefängnißstrafe verboten [...].
[56] [...] Indem ich nun über die Verwickelungen nachdachte [...], kehrt der Briefträger zurück und bringt mir noch einen Brief, den er abzugeben vergessen hatte. Dieser Brief enthält die Nachricht, daß mein Gatte in Frankreich gefangen sey [→ ], weil er mit liberalen Briefen, die ihn compromittirten, nach Spanien zurück gehen wollte, obgleich er von Hof und Land verwiesen war.
Da treibt mich meine Pflicht, – ich eile nach Paris, – kaum erfährt Lafayette, daß ich dort angelangt sey, so stattet er mir seinen Besuch ab [→ ], und erzählt mir, daß in Folge einer Amnestie mein Mann schon in Spanien sey. Voller Freude eile ich ihm nach [→ ], da erfahre ich, zu meinem größten Entsetzen, daß ein königlicher Freiwilliger, dessen Bruder früher durch meinen Mann im Duelle gefallen war, ihm aufgelauert und ihn erschossen habe. Nachdem ich auf seinem Grabe geweint und alles Nöthige besorgt hatte, bin ich wieder hieher zurückgekehrt. –
[57] Ich bitte aufrichtig dem Seeligen meine frühere Indifferenz ab; er erscheint mir jetzt als ein, für seine Idee gefallener Märtyrer, denn jeder Mensch, der für seine Meinung, sey sie nun wahr oder falsch, duldet, verdient gewiß Achtung, da er die Achtung für sich selbst bewahrt hat. Ich will dem Unglücklichen ein Mausoleum bauen [...].
[69] Sechster Brief. [→ Fünfter Brief, ]
[71] [...] Du spottest in Deinem letzten Schreiben über die Feigheit eines deutschen Schauspielers [→ ]; wie kannst Du aber auch nur so thöricht seyn, und von einem deutschen Schauspieler erwarten, daß er den Muth haben werde, sich über ein politisches oder polizeiliches Verhältniß, wie die Thorsperre eines ist, zu äußern? Die Bühne bedeutet nicht mehr die Welt, eher noch umgekehrt.
[73] [...] Du giebst mir Recht, daß die Poesie nur an Thronen gedeihen könne; allein Du bist so eigensinnig, daß Du mir, wenn ich Deinen liberalen Idee’n entgegen trete, durchaus nicht recht geben willst, und darauf bist Du so stolz, daß Du mir sagst: ein Frauenzimmer müße gar keine Idee’n haben, am allerwenigsten aber liberale! [→ ] Die letzten hege ich nun auch gar nicht; um die erste Forderung aber zu machen, muß man ein solcher Ultraliberaler seyn, wie Du bist. Keine Idee haben! Ein Frauenzimmer und keine Idee! [74] Bey der Juno! ganze Bücher wollte ich über solche Blasphemie schreiben.
[109] Eilfter Brief. [→ Eilfter Brief, ]
[111] [...] Was Du wahrscheinlich noch nicht wissen wirst, ist: daß die Reformbill durchgegangen ist. [→ ] Wenn ich gleich eine Freundinn von Menschenrechten und vernünftiger Freiheit bin, so hat mich doch diese Bill mit banger Ahnung von Unbill erfüllt.
[113] [...] Auch das Herz wird, wie der Stein durch Essig, durch den Essig des Unglücks erweicht und aufgelöst; darum wünsche Du mit Deinem sanften, jakobinischen Herzen nicht versteinert zu werden, sondern trachte darnach die Versteinerung von Dir zu entfernen. Gewiß ist [114] diese steinerne Hülle nur der Mantel, den die äußere Kälte um das warme Herz gelegt, damit es nicht erfriere; so wie der Winter selbst die Erde mit einer kalten Eis- und Schneedecke umwickelt, daß sie nicht erstarre und sterbe vor seiner Kälte; wenn aber der Frühling kömmt, dann schmelzen Schnee und Eis vor dem Kuße des Lenzes, und das Grüne drängt sich neugierig hervor, und alle Blumen öffnen ihre Augen aus dem langen Winterschlafe. So lasse auch meinen Kuß die Stein- und Eisrinde Deines Herzens lösen, damit Deine Liebe nicht wie ein dürftiges Pflänzchen aus öder Felsenspalte hervorkeime, sondern frei und freudig emporblühe unter der sorgfältigen Pflege meiner Gegenliebe; dann wollen und werden wir glücklich seyn. Lebe wohl! [→ ]
[115] Zwölfter Brief. [→ Eilfter Brief, , → Zwölfter Brief, ]
Jeder Posttag, an welchem Du mir nicht schreibst, ist für mich ein Trauertag [→ ], und ich notire ihn schwarz in dem Postbuche meines Lebens [...] Ich gehe nächstens nach Italien, um auf dem Kapitole Briefe zu schreiben. [→ ]
[116] [...] Dich fordere ich nicht zur Mitreise auf, denn Du würdest mir mit Deinen ewigen Floskeln über Weiber, Weiberthum, Reisen u. s. w. die ganze Lust vergällen, ich mag Deine Briefe in dieser Hinsicht lieber, als Dich selbst, weil sie die wohlschmeckende Quintessenz Deines schönen Geistes sind, während Du Dich oft selbst, aus einer Art Eitelkeit ungenießbar machst. [...]
Du weißt, daß ich, obgleich von altem ächt kastilischem Adel, ohne Zusatz von maurischem oder jüdischem Blute, eine Feindinn von allen Standesprärogativen, denen, wie Du mir schreibst, in [117] England und Frankreich jubelnd heimgeleuchtet wird, bin. [→ ]
[120] [...] Während Du die Zöglinge Deiner Propaganda schon in den Schulen suchst und heranbildest, soll ich Dir an den Höfen behülflich seyn, und dort Parteiungen stiften. Fordere dieses nicht, Du Vampyr des Monarchenthums! einmal habe ich Dir den Gefallen gethan, am Hofe Carls des Xten, als ich die berüchtigten Ordonnanzen veranlaßte [→ ], aber nie werde ich mich ferner dazu hergeben [...].
[130] Vierzehnter Brief. [→ Vierzehnter Brief, , → Funfzehnter Brief, ]
[131] [...] Auch Hegel ist gestorben, und mit dem Denken auf Erden ist’s vorbei; denn [132] jetzt wird sich Niemand die Mühe nehmen zu beweisen, daß er denke, und warum er denke, und weil nun der Philosoph und mit ihm die Philosophie zu Grabe getragen ist, so will man die Philosophie wieder in die Akademie einführen [→ ]; das ist aber eben so vernünftig, als wenn ein General, der eine Schlacht verloren hat, seine Truppen mit Lorbeer bekränzt, retiriren läßt, und aus den verlorenen Kanonen, ein Siegstropäum errichten will. Ich lade Dich zu dieser Feierlichkeit der Akademie ein [→ ], und schicke Dir hiemit eine Entréekarte für 4 Ggr., deren Betrag ich mir durch ein hiesiges Banquier-Haus wieder ausbitte. Jetzt, da Hegel fort ist, wage ich es, mit einem Werkchen, das ich ediren will, hervorzutreten, der Titel desselben ist: „Wanderlieder einer fahrenden Jungfrau.“ [→ ] Ich mochte es früher nicht publiciren, weil Hegel sonst die Nothwendigkeit des Nicht-Ich’s einer Jungfer zur Nothwendigkeit des Fahrens bewiesen, und meiner Ehre, so wie meinem Kredit geschadet hätte. Freilich weiß ich, daß auch Du, Spötter! das Wort Jungfrau in junge Frau umwandeln und über das Fahren, aus der Haut fahren wirst; indeß hoffe ich, daß Du wenigstens [133] auf 20 Exemplare subscribirst; dann magst Du immerhin so viel spötteln, als Du Lust hast.
[135] Funfzehnter Brief. [→ Funfzehnter Brief, ]
[136] [...] Ich weiß, Du wirst darüber spötteln, daß ein Frauenzimmer in ihren Schriften auf Geist Anspruch machen will [→ ]; allein dieses athmet so sehr den Männerstolz und Kastengeist, daß man gar nicht darauf eingehen muß. Außer meinen Wanderliedern werde ich bald ein Werkchen herausgeben, in welchem ich die Schriftstellerei der Männer lächerlich mache und beweise: daß nur eigentlich die Weiber, als mit einer zarter empfindenden Organisation begabt, das Recht haben, zu schreiben! Im Allgemeinen gönnen wir Euch gerne den Vorzug, über politische und allenfalls auch über wissenschaftliche Gegenstände zu schreiben, weil Ihr so viel darüber schreit. Ihr versammelt Euch auf Bergen und um Trinktische, bei den Restaurants, um alle Könige zu stürzen [→ ], und dann sagt Ihr: die Weiber hätten die französische Revolution veranlaßt. [→ ] Unwürdige Beschuldigung! Ihr seyd wie die Schulknaben, die, wenn sie einen losen Streich verübt haben, es auf ihre Nebenschüler schieben.
[145] Sechszehnter Brief. [→ Funfzehnter Brief, ]
[147] Deine spöttelnde, mitleidähnlich-seynsollende Satyre auf schriftstellernde Frauenzimmer [→ ] will ich gar nicht beantworten, und Dir nur darauf erwidern, daß die Frauen von der Natur nicht nur zum Empfangen [→ ], sondern auch zum Schaffen, zum Gebähren bestimmt sind. – – – – – – – – – – – – – – – – – –
[148] Siebenzehnter Brief. [ → Funfzehnter Brief, , → Sechzehnter Brief, , → Siebzehnter Brief, ]
Ich bitte Dich, Theurer, was schreibst Du mir? Ich solle die kritische Geißel schwingen, aber nur vom weiblichen Standpunkte aus. [→ ] Eine Kritik über ein Werk vom weiblichen Standpunkte aus! Ich begreife Dich nicht, auf geheime Legationsräthinn-Parole! Eben so wenig, als es einen Gott, oder einen König, oder einen Schnupfen und Husten vom männlichen oder weiblichen Standpunkte aus, gibt, eben so wenig existirt auch eine Wahrheit von verschiedenen Punkten aus. Ich schreibe auch nicht mit den Männern für die Frauen, sondern mit den Frauen gegen die Männer [→ ]; gewöhnlich schreibe ich gegen beide, weil ich durch Geburt, Erziehung und Schicksale beide Geschlechter zu kennen befähigt bin. Eben so geht es mir mit den politischen Verhältnissen; ich stehe mit einem Fuße in London oder Paris [→ ]; mit [149] dem anderen in Berlin, Wien oder Petersburg, und helfe beiden Parteien, den Liberalen und Aristokraten, weil ich von beiden etwas besitze und meinen guten Rath auf’s Unparteyischste ertheile. Denke Dir mich als politischen Koloß von Rhodus [→ ], wie zwischen meinen Füßen die Völker durchsegeln, und ich ihnen als Meteor durch die Nacht des Servilismus und die Klippen des Republikanismus, in den sichern Hafen einer gesetzmäßigen Freiheit leuchte, das größeste und würdigste Fanal unserer und aller Zeiten. Ich kann auch bei Tage als Telegraph dienen [], und rücke also nächstens zu diesem Behufe folgende Annonce in die Zeitungen ein:
„Ein gebildetes Frauenzimmer, in den besten
„Jahren, von guter Familie und von ziem-
„lich gutem Rufe, sucht bei einer Regierung,
„oder bei einem einzelnen Herrn, eine Stelle
„als Telegraph. Selbige ist mit den besten
„Zeugnissen über ihr Wohlverhalten und ihre
„Armfähigkeit in diesem Fache versehen, und
„sieht dieselbe mehr auf hohes Gehalt, als
„auf anständige Behandelung. Addressen
„unter G. D. 1. bittet man an die Expe-
[150]„dition der Haude- und Spenerischen Zei-
„tung [→ ], oder des Hamburger Korrespondenten
„abzugeben.“ –
Damit ich mich nun nicht gänzlich auf die Seite der Aristokratie neige, willst Du mich, ein zweiter Virginius, lieber ermorden. [→ ]
Ein zartes Bekehrungsmittel! und welch’ ein Egoismus, eine Blume vernichten zu wollen, damit Andere ihren Duft nicht einziehen können; wenn der Liberalismus keine edleren Gesinnungen kennt, so wird er sich, wenigstens unter Frauenzimmern, wenige Freunde machen.
Du rühmst Dich, ein Memnon zu seyn [→ ]; Du klingst also nur, wenn Dich die Sonnenstrahlen berühren, sonst bist Du Stein; lege diese Prahlerei ab, und sey mir in meinem Vauklüse willkommen.
[323] Nachrede.
Meinem Versprechen gemäß halte ich diesen Briefen einer Dame, und zwar der vielleicht großen Nachreden wegen, diese erste kleine. –
Wie der geneigte Leser durch die Briefe selbst ersehen wird, sind dieselben aus der Feder einer Spanierinn von hohem Range, deren Gemahl bei einer Gesandschaft an einem der größeren Höfe Deutschlands employirt war, gefloßen.
Mir selbst aber fielen oftmals Ausdrücke und Aeußerungen, die einer deutschen Dame wenigstens, unweiblich scheinen würden, auf; so würde z. B. keine meiner schönen Landsmänninnen ihrem Geliebten ein Gedicht wie [324] das S. 22 u. s. w. übersetzte, welches, wenn auch Vieles in demselben weggelassen oder gemildert ist, dennoch eine zu glühende, orientalische Sinnlichkeit athmet, mitgetheilt haben. Demnach ist es mir wahrscheinlich, daß viele dieser Briefe ganz oder theilweise interpolirt sind, welche Meinung dadurch in etwas bestätigt wird, daß ich in dem Manuskripte differirende Schriftzüge, so wie Verschiedenheit der Orthographie bemerkt habe, wenn man dies nicht etwa dem Charakter des weiblichen Geschlechtes zu Gute halten will.
Der erste Theil dieser Korrespondenz ist eine Antwort und Beziehung auf die Mittheilungen des Briefstellers, welche gedruckt unter dem Titel: „Briefe eines Narren an eine Närrinn“ im Buchhandel erschienen sind, und nur ihre Tendenz ist gegen diese letzteren gerichtet.
Die Dame ist (wenn meine Konjektur, nicht wie so viele gelehrte, bei näherer Beleuchtung in [325] Nichts zerfließt) durchaus legitimistisch gesinnt, Feindinn des Republikanismus, aber eben sowol des Despotismus in Ländern, wo diese Regierungsformen nicht herrschen dürfen und können. Sie ist unparteiisch, weil sie ein Frauenzimmer, und also, um das verschrieene Wort zu gebrauchen, Kosmopolitinn ist; der eigentlichen Intrigue selbst fremd, ist nur das Princip ihr Idol, dem sie Alles, nur nicht den politischen Frieden und den ihres Herzens opfern möchte.
Gewiß wird man die bunten Gedankensprünge der aufgeregten Phantasie einer Südländerinn, welche sich, durch ihre mannichfaltigen Schicksale in der Welt umhergeworfen, in Verstandessachen eher den Männern, als dem weiblichen Geschlechte beizählen kann, zu Gute halten.
Die Handschrift selbst, welche die Verfasserinn bei ihrer Abreise aus Deutschland in einer öffentlichen Bibliothek niedergelegt hatte, [326] erhielt ich durch Vermittelung eines Freundes der Legationsräthinn (wie sie sich in den Briefen nennt), welcher mir auch mehreres aus ihrem merkwürdigen Leben mittheilte. Dieser vermittelnde Freund aber empfing die Briefe auch erst durch Vermittelung eines Dritten, deßen Schwester eine Freundinn der Kousine der Frau des Oberbibliothekar’s war. – Ich selbst hatte mich nämlich vergeblich um diese Briefe bei dem ersten Bibliothekar verwendet, er schlug mir beharrlich mein Begehren mit einer Liberalität, welche sogar der Hamburger Stadtbibliothek Ehre gemacht hätte, ab; wie wird sich nun der gute Mann wundern, wenn er das mir Verweigerte gedruckt lies’t. Keine Rose, und wäre es auch nur eine Courtisanne, ohne Dornen!
Nur noch die Bemerkung, daß die Verfasserinn nie den Druck ihrer Gedankensergießungen gewünscht, ja selbst in einem der Briefe [327] ihre Furcht, dieselben der Presse übergeben zu sehen, geäußert hat.
Der schönste Lohn für den Herausgeber aber wird die Nachsicht seyn, mit der das Publikum diese Briefe aufnimmt und beurtheilt.
Im Sommer 1834.
D. H.
4. [Anon.], September 1835#
[Anon.:] HAMBURG, im Literatur-Compt.: Spanischer Pfeffer gegen Deutsches Salz. Briefe einer Dame, herausgegeben von Dr. Anton Edmund Wollheim, 1835, II u. 327 S. 8. In: Ergänzungsblätter zur Allgemeinen Literatur-Zeitung. Halle. Nr. 86, September 1835, Sp. 686-688.
Dieser Spanische Pfeffer, gutes deutsches Gewächs, ist gegen das Deutsche Salz in der unlängst unter dem Titel: „Briefe eines Narren an eine Närrin“ erschienenen Flugschrift gerichtet, von dem wir nicht wissen, ob es taub ist oder scharf, denn – wir kennen des Narren Briefe nicht. Aus den Ant-[687]worten der Närrin, die vor uns liegen, ersehen wir nur, daß Jener ein republikanischer Narr ist, dagegen sie gemäßigt monarchisch. Ihr Pfeffer ist nicht ohne Schärfe. Die Närrin, angeblich eine vornehme Spanierin, Gattin eines bei der Gesandtschaft an einem großen deutschen Hofe Employirten, der, gleichfalls Republikaner, während sie an ihren Geliebten diese Briefe schreibt, in Madrid erschossen wird, läßt fast alle neuern Zustände, besonders aber die politischen und literarischen, die Revüe passiren.
5. Eduard Baldamus, 1835#
Eugen St. Alban [d.i. Eduard Baldamus]: Bern wie es ist. Leipzig: Hartmann, 1835. Bd. 2, S. 116-117.
Ludwig Snell hat Anlage ein Narr zu werden, ein großer politischer Narr, viel zu groß für den alten Nürnberger Narrenspiegel. Am Stiftungstage der Helvetia wäre das Vernünftig-, das Kaltnüchternbleiben Versündigung an der neuen Heilsordnung gewesen. Uebrigens ist ja jede Begeisterung mehr oder weniger eine Folie. Die Narren, die vollständigen, die ganzen Narren, sind in meinen Augen Auserwählte, Heilige, die man mit einer Kniebeugung begrüssen sollte. Darum haben Gutzkow’s [117] Briefe eines Narren an eine Närrin für mich einen besondern Werth. Sie sind mir lieber als alle deutschen Literaturbriefe, lieber als die berüchtigten Englischen Juniusbriefe, lieber als die ganze Sendschreibenliteratur, selbst wenn diese durch Französische Juliusbriefe bereichert werden sollte.
5.3. Rezeptions- und Wirkungsgeschichte#
Mit den Briefen eines Narren an eine Närrin trat Gutzkow, der bisher nur als Kritiker und Herausgeber seiner Berliner Zeitschrift Forum der Journal-Literatur über einen gewissen Bekanntheitsgrad verfügte, zum ersten Mal als Buchautor an die Öffentlichkeit. Dass er seinen Namen dabei nicht nannte (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 2) und das Werk ohnehin bald in Preußen, dem buchhändlerischen Hauptabsatzgebiet im Deutschen Bund, verboten wurde, waren Hindernisse auf dem Weg zum Schriftstellertum. Das Verbot wurde besonders durch die ausgiebige Preußen-Kritik der ,Narrenbriefe‛ begründet, und hinter ihrem Titel witterte man ein taktisches Manöver, um die Zensur zu täuschen (→ 5.1.2., Nr. 1).
Trotz des im Oktober 1832 verhängten preußischen Verbots, und im Gegensatz zu Gutzkows eigener späterer Kritik an seinem Erstling, erfuhren die ,Narrenbriefe‘ eine bemerkenswerte, positive Rezeption. Zu ihren ersten Lesern, noch im Manuskript, gehörte der Verleger Julius Campe; er war so beeindruckt, dass er das Werk annahm, obwohl es aus der Feder eines Debütanten stammte. Campe spekulierte sicher auf weitere Titel des jungen Schriftstellers und wies seinen Hausautor Heine auf das vielversprechende junge Talent hin (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 1). Gutzkow wurde durch den guten Absatz des Werkes namentlich im Norden ermutigt, sein Glück dann als Romanschriftsteller zu versuchen, und zwar bei keinem Geringeren als Georg v. Cotta, den er auf den Verkaufserfolg seines ersten Buches hinwies (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 2). Damit deutete er an, dass der renommierte Klassikerverlag im Fall der Publikationszusage mit dem Namen Gutzkow schon auf einen etwas bekannteren Autor setzen könnte, hätte dieser die ,Narrenbriefe‘ nicht anonym publiziert.
Wolfgang Menzel war der erste, der das Potential der ,Narrenbriefe‘ erkannte und seinem Protégé zu einer Veröffentlichung in Buchform riet – mit den von ihm empfohlenen tagespolitischen Anspielungen –, und er vermittelte auch den Kontakt zu Campe (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 9). Menzels Rezension des Werkes (→ Dokumente zur Rezeptionsgeschichte, Nr. 4) erfolgte vielleicht deshalb mit mehreren Monaten Verspätung, weil sein längst getroffenes positives Urteil sozusagen in der Schublade lag. Wie bei ihm üblich, bietet seine Rezension fast ausschließlich Zitate, die seine am Anfang geäußerte Bewertung bestätigen sollen; diese wird bereits graphisch sinnfällig, bevor die Kritik überhaupt einsetzt, nämlich durch die Vignette des Lorbeerkranzes, in deren Mitte der Name des besprochenen Autors prangt. Diese Mitte blieb bei anonymen Publikationen leer (→ Bilder, Handschriften und Drucke: Literatur-Blatt, März 1832). Menzel rechnet die Briefe eines Narren an eine Närrin zu „dem Geistreichsten, was in neuerer Zeit geschrieben worden ist“ und benennt knapp die literarischen Einflüsse: Jean Paul, Heine und Börne. Er hebt den Übergang vom narrenhaften Humor zum Schmerz hervor, „der an Jean Pauls Schoppe und Giannozzo erinnert“. Wohltuend sei die humoristische Weichheit, die „gewisse Zartheit der Empfindung“, die dieses Werk vor den großen Spöttern Heine und Börne auszeichne. Die anschließende Auswahl an Textauszügen nimmt sich zum Teil Freiheiten gegenüber dem Original heraus, vor allem bei den Verweisen auf Körperlichkeit. So wird aus: Die Hunde bellen den Mond [...] nur dann an, wenn sie läufisch sind (45,3-4): „Die Hunde bellen den Mond [...] nur in bestimmten Zeitläuften an“; aus: aber die Brüste der Mutter Natur waren schlaff und ausgeleert (105,5-6) wird ein bloßes „&c.“ In den von ihm dargebotenen Zitaten konzentriert sich Menzel auf das ,Geistreiche‘ des Stils sowie ganz besonders auf die Kritik an Preußen und seiner „protestantischen Geistlichkeit“ im 10. und 14. Brief. Dies kam bei der süddeutschen Leserschaft gut an. Mit Behagen wird Menzel Gutzkows kritische Bemerkung über seinen eigenen Erzfeind, den Theologen Paulus (ein Anderer in Heidelberg, 69,1-2), zitiert haben, der vom ,Narren‛ des Scheinliberalismus bezichtigt wird.
Folgenreich für Gutzkows weitere Entwicklung waren die beiden Kritiken Heinrich Laubes (→ Nr. 1 und → Nr. 3). Laube, viereinhalb Jahre älter als Gutzkow, hatte Anfang 1833 die Redaktion der in Leipzig erscheinenden „Zeitung für die elegante Welt“ übernommen und machte diese innerhalb kurzer Zeit zu einem Organ ,junger‛, ,zeitgemäßer‛ Kritik. Mit der Sicherheit des Geistesverwandten sieht Laube in den Briefen eines Narren das unerhört Innovative: Konventionen werden radikal aus dem Weg geräumt, aber zugleich scheint die Möglichkeit auf, die umwälzenden neuen Denkformen zu sozialen und politischen Strukturen auszubilden. Der Leitgedanke von Laubes Kritik ist die Schaffung einer neuen, gesellschaftlich tragfähigen äußeren „Ordnung“ aus der „unermeßlichen innern Freiheit“, die jetzt die jungen Geister umtreibe: „Wenn dreißig solche Narren kommen wie der vor mir liegende, so ist die Narrheit überwiegend, und alsbald Weisheit [...]. Dreißig solche Narren wie mein närrischer Briefsteller könnten alsbald die gesetzgebende Versammlung des modernen Europa bilden, und die Subjectivität könnte alsbald vorbei, und die Objectivität da seyn“, heißt es in der Rezension vom 28. Februar 1833 (→ Nr. 3). Hier fliegt einer der Funken, die das ,Junge Deutschland‘ in Bewegung setzten. Laube suchte den Kontakt mit Gutzkow; es entspann sich eine Korrespondenz, und im Sommer 1833 unternahmen die beiden eine Reise nach Oberitalien und Österreich. Die Erwähnung des „modernen Europa“ weist auf Laubes entstehende Romantrilogie „Das junge Europa“ hin, deren in Briefform gehaltener erster Teil, „Die Poeten“, 1833 erschien. Das Kongeniale dieses Werkes mit den ,Narrenbriefen‛ liegt nicht so sehr im Inhalt (Gutzkow missfielen die „Poeten“, die er auf der Reise mit Laube las, durchgängig), sondern in der ‚Form der Formlosigkeit‘, d. h. in den Briefmitteilungen und ihrer Affinität zur Reiseliteratur. Wie Laubes freiheitssuchende junge „Poeten“ sich in den bewegten Zeiten des Jahres 1830 umtreiben und aus dem Moment heraus miteinander korrespondieren, schreibt Gutzkows ,Narr‛ im wörtlichen und übertragenen Sinn von unterwegs, denn seine verblüffende Gelehrsamkeit ist ubiquitär, nirgendwo und überall zu Hause, und nimmt die Dinge zum Anlass für Gedankenflüge. Der Leser, so Laube, fühle sich angesprochen, weil der ,Narr‘ „so viel weiß“, „weil er so reich ist und doch zu Fuß geht“. Das erworbene Wissen sei keine Stubengelehrsamkeit, sondern erneuere sich stetig im Dialog mit Welt und Natur, wodurch die Grenze zur Poesie überschritten werde: „Unser Narr [...] springt mit offener Brust und mit leeren, ausgebreiteten Händen hinaus in die Welt und examinirt die Natur nicht, sondern läßt sich von ihr examiniren und antwortet munter und aufgeweckt. Darin ruht die schöne Poesie dieses Buches.“ Aus den verschiedensten Wissensgebieten entstehe in den ,Narrenbriefen‘ eine umfassende, kursorisch vermittelte ,Wissenschaft‛, die Laube treffend als „Poesie der Gelehrsamkeit“ bezeichnet: Diese sei „der unbezahlbare Vorzug dieses Buches“.
Dieses zusammenfassende Urteil entsteht aber erst allmählich, ganz im Gegensatz zu Menzels Form der Besprechung. Der überreiche Inhalt der Briefe veranlasste Laube zu einer prozessualen Rezension. Seine erste, publiziert in Brockhaus’ „Blättern für literarische Unterhaltung“, betonte die „Zügellosigkeit“ des Werkes; hier liegt eine interessante Parallele zu Gutzkows Beschreibung seiner Reaktion auf Börnes „Briefe aus Paris“, das wilde Buch (→ Entstehungsgeschichte). Der Reichtum an Freiheit des Verfassers werde immer über jedes denkbare Maß an Ordnung hinausgehen, sagt Laube, und er fühle sich als Rezensent „überwältigt“. Die „Kräfte des Geistes und Herzens“, die das Buch in ihm geweckt habe, ständen noch zu sehr im Bann der Lektüre, und so begnüge er sich mit einer Reihe an Zitaten. Die zweite Rezension in der „Zeitung für die elegante Welt“ geht auf die erste durch ein langes Zitat daraus ein und folgert: „Ich halte es für richtig, was ich da geschrieben, aber nicht für das Richtige. Die Scheibe ist getroffen, aber nicht der Mittelpunct. Mit jenen Worten hoffe ich ihn zu treffen: die Poesie der Gelehrsamkeit ist der Vorzug dieser närrischen Briefe. Das Herz nimmt den Kopf bei der Hand und führt ihn durch die Jahrhunderte [...]“. Einschlägiger ist Gutzkows Eigenart als Schriftsteller in der Tat kaum zu formulieren. Laubes Besprechungen stellen eine durchaus kreative Antwort auf die ,Narrenbriefe‛ dar. Wie der Kritiker am Beginn seines ersten Artikels ausführt, sei er durch dieses Buch bereits mit dem „Briefsteller“ ohne jede persönliche Begegnung bekannt geworden und habe ein „Gespräch“ mit ihm geführt, habe also in einer der brieflichen Gedankenbewegung entsprechenden Weise reagiert. Der reale Briefwechsel der beiden jungen Autoren war eine Folge ihrer literarisch hergestellten Gedankenverbindung.
Durch die Freundschaft mit Laube entfremdete sich Gutzkow zusehends von Menzel. Laubes Rezeption der ,Narrenbriefe‛, eines Werkes, das doch so stark von Menzel geprägt war, bildete also ironischerweise den ersten Schritt in der Abkehr des Schützlings von seinem Mentor.
* * *
Die Briefe eines Narren an eine Närrin fanden jenseits der Literaturkritik auch ein wirkungsgeschichtliches Echo in der Literatur, und zwar zuerst in Werken Heines und Börnes.
Heines Beitragsreihe „Französische Zustände“ war in der „Außerordentlichen Beilage“ zur „Allgemeinen Zeitung“ im Januar 1832 angelaufen und wegen einer Missfallensäußerung aus den Kreisen Metternichs nach dem achten Artikel im Juni eingestellt worden. Obwohl Heine in seinen Beobachtungen des „Juste Milieu“ mit der oft höchst satirischen Kritik am Königtum Louis Philippes nicht sparte, schlug er insgesamt einen gemäßigteren Ton an, als republikanisch Gesinnte von ihm erwarteten. Es war zu vermuten, dass Heine sich mit dem Gedanken an eine Konsolidierung des ,Bürgerkönigtums‘ angefreundet hatte. Von deutschen Republikanern in Paris, zu denen auch Börne gehörte, wurde er des Gesinnungswechsels bezichtigt und stand sogar im Verdacht der politischen Bestechlichkeit. Heine wiederum verdächtigte den zeitweise in Paris anwesenden süddeutschen Verleger Friedrich Gottlob Franckh, der später zu den Verschwörern des Frankfurter Wachensturms gehörte, Machenschaften gegen ihn zu lenken. Parallel zu Heines Serie über Frankreich in der „Allgemeinen Zeitung“ verbreitete sich auch in Deutschland das Gerücht von der Abtrünnigkeit des Autors. Die Veröffentlichung der „Französischen Zustände“ in Buchform sollte daher eine „Vorrede“ enthalten, in der Heine die Vorwürfe eines Gesinnungswechsels durch eine explizite Darlegung seines Standpunktes zurückwies und dabei heftige Kritik an den deutschen Vaterlandsideologen, ob Monarchisten oder Republikanern, übte. Campe weigerte sich, diese „Vorrede“ zu drucken; Heine lieferte daraufhin eine gekürzte Fassung. Campe schlug vor, den Käufern des Buches die Originalfassung der „Vorrede“ als Separatdruck gratis nachzuliefern, und für diesen Separatdruck verfasste Heine eine weitere „Vorrede“ (→ Dokumente zur Wirkungsgeschichte, Nr. 2). Dann aber brachte Campe die „Französischen Zustände“ im Dezember 1832 mit der nicht nur von Heine selbst, sondern auch noch von der Zensur stark gekürzten „Vorrede“ heraus. Die unzensierte Version blieb wie die „Vorrede zur Vorrede“ ungedruckt. Heine veröffentlichte am 11. Januar 1833 in der „Allgemeinen Zeitung“ eine „Bitte“, dass alle ehrenhaften deutschen Journale die hiermit bekannt gemachte Entstellung seines „Vorrede“-Textes zur öffentlichen Kenntnis bringen würden. – Unveröffentlicht blieb mit der „Vorrede zur Vorrede“ also auch Heines Auseinandersetzung mit den Briefen eines Narren an eine Närrin, die Gutzkow somit unbekannt bleiben musste. Heine sah in den ,Narrenbriefen‛ (Nur das versöhnt mich mit dem abtrünnigen Heine [...], 50,20-21) ein weiteres Indiz für seine Verkennung in Deutschland (→ Erl. zu 50,21 = Nr. 200), und dies sogar durch „Freunde“ wie den ihm unbekannten ,geistreichen‘ Verfasser mit der „edlen Gesinnung“, d. h. jenen talentierten jungen Mann, auf den Campe ihn schon im Juni 1832 hingewiesen hatte (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 1). Mit der „Himmelsgegend“, aus welcher diesem die verleumderischen Gerüchte „zugeblasen“ worden seien, meint Heine ziemlich sicher die württembergischen Radikalen im allgemeinen und das Stuttgarter Verlagswesen um Franckh im besonderen.
Als schriftliches Zeugnis, das für den Druck vorgesehen war, gehört die „Vorrede zur Vorrede“ fest in Heines Werkcorpus. Klaus Briegleb bemerkt, dass Heine „eine feindliche Wirkungsgeschichte“ seiner Werke in Deutschland durch seine „gegenkämpfenden Texte“ abzuwehren versuchte und dadurch seine Rezeption „zum Thema der literarischen Produktion selbst“ machte (HSSchr, Bd. 5, S. 574). Als Dokument zur Gutzkow-Rezeption ist dieser Text also auch in der problematischen Heine-Rezeption verankert. Für Gutzkow sollte die Wirkungsgeschichte seiner Werke, die durch ähnliche Ausgrenzungsmechanismen gekennzeichnet war, ebenfalls ein integraler, kämpferischer Faktor des Schaffens werden.
Im Pariser Exil rezipierte etwa zur gleichen Zeit wie Heine, im November 1832, auch Börne die Briefe eines Narren an eine Närrin. Börnes Respons ist literarisch, da er ihn in die „Briefe aus Paris“ einschreibt. Mit diesen „Briefen“ handelt es sich um eben jenes Werk, das schon in der Entstehungsgeschichte der ,Narrenbriefe‛ eine wichtige Rolle spielt (→ Entstehungsgeschichte, Herausgebertext); es rahmt Gutzkows Briefe also entstehungs- und wirkungsgeschichtlich ein. Die Brief-Werke Gutzkows und Börnes stehen nicht nur in einem politischen, sondern auch in einem poetologischen Bezug zueinander.
Börne verweist auf die Verbindung seiner eigenen „Briefe“ zu denen des ,Narren‘, als er den gemeinsamen wagemutigen Verleger Campe erwähnt, „der seine Freude daran hat, die Briefe aller Narren an alle Närrinnen drucken zu lassen“. Sowohl Börnes als auch Gutzkows „Briefe“ wurden aus politischen Gründen verboten; Gutzkow bemerkt in den Rückblicken, dass durch den verlegerischen Kontext seines Erstlings die Axt schon an die Wurzel seiner schriftstellerischen Entwicklung gelegt worden sei (→ Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Nr. 9). Börne reagiert enthusiastisch auf den republikanischen Geist der ,Narrenbriefe‛, von ihrem Spott über das „monarchische Wesen“ über die „Abscheu gegen die vergötterten großen Männer der Geschichte“ bis zu der anarchistischen Tendenz gegen die Staatsform überhaupt. Wie Laube beeindruckt auch ihn, was der Text über den Grund des Konservativwerdens vieler Liberaler zu sagen hat: Er liege in einer Ablösung der etablierten liberalen Repräsentanten durch aufstrebende, radikalere junge Geister; ein Generationswechsel, den die Älteren nicht ertragen könnten und der sie nach rechts rücken lasse (139,22-31). Dies zeigt die Relevanz des Jugend-Diskurses in der Aufnahme der ,Narrenbriefe‘. Was die literarische Form betrifft, korrespondieren Börnes und Gutzkows Texte auf mehreren Ebenen. Wie die „Briefe aus Paris“ sind die ,Narrenbriefe‘ an eine (teils oder ganz in der Heimat verbliebene) Freundin gerichtet, deren Anteil an der Korrespondenz nicht mit zum Werk gehört. Dem Briefschreiber fällt die Rolle des vom Heimatort Entfernten und politisch Räsonnierenden zu. Während die Börneschen Briefe allerdings auf faktischen Personen beruhen, d. h. auf dem Schriftsteller-Ich in Paris und der Adressatin in Deutschland, handelt es sich bei dem ,Narren‛ und der ‚Närrin‛ um fiktive, z. T. phantastische Figuren, die mit (auto)biographischen Details unterfüttert sind. Übereinstimmend wird aber die Empfängerin in beiden Werken gebeten, für den Absender Aufträge auszuführen; so richtet Börne an seine Frankfurter Freundin die Bitte, sich die ,Narrenbriefe‘ umgehend zu besorgen, ihren unbekannten Verfasser als einen Verbündeten „in der Seele“ zu küssen und auch direkt vor Ort nachzusehen, ob der mittelalterliche goldene Hahn auf der Mainbrücke tatsächlich entfernt worden sei, weil er den Behörden als mögliches Symbol gallischer Freiheit in die Augen fiel, oder ob der ,Narr‘ sich hier nur einen Scherz erlaubt habe (vgl. 34,5-9 und → Erl. zu 34,6 = Nr. 125). Gutzkows ,Närrin‘ erhält in ihrer Berliner Inkarnation die Bitte, bei einem anstehenden Besuch des russischen Kaiserpaares antidynastische Schloßplatzbeobachtungen anzustellen (87,33-34); in ihrer Erscheinung als ,telegraphische‘ Europäerin dagegen wird sie ermuntert, die Julirevolution (nochmals) auszulösen, indem sie ihre Beziehungen zur französischen Krone spielen lässt (→ Erl. zu 76,13-14 = Nr. 277). In beiden Fällen ist die Frau in den Konspirationsduktus der Briefe eingebunden.
Börnes Respons auf die ,Narrenbriefe‛ kann im umfassenden Sinn als ,korrespondierend‛ verstanden werden: Er erkennt, dass das Werk, auf das er hier im 5. Band der „Briefe aus Paris“ eingeht – und das selbst bereits eine implizite Antwort auf seine früheren Pariser Briefe darstellt – seinem eigenen antiklassizistischen Formverständnis entspricht: „Der Narr ist ein schöner und edler Geist und so unbekümmert um die schöne Form, welcher oft die besten Schriftsteller ihr Bestes aufopfern, daß diese, wie jede Kokette, weil verschmäht, sich ihm so eifriger zudringt. Der Verfasser schreibt schön ohne es zu wollen.“ Der ,schöne‛ (weil freie und humane) Gedanke wird also zwanglos zur schönen Form des freien Sprechens; es ist unerheblich, wenn der Leser bei dem rapiden Strom der Ideen, die „abwechselnd erhaben und tief“ sind, ermüdet. Mit dieser Betonung des gedanklichen Inhalts als einer von selbst formgebenden Kraft beantwortet Börne vielleicht eine Bemerkung des ,Narren‘ im 14. Brief. Hier wird in einer Selbstreferenz auf die neuerdings erschienenen Briefe[.] eines Narren an eine Närrin Bezug genommen und vorausgesagt, wie man diese rezipieren werde, nämlich genau wie alle anderen neuen Äußerungen eines freiern Geistes. Es werde nicht der Inhalt, sondern nur die Form beachtenswerth gefunden. Wenn die Form keinen Gefallen finde, sei der Inhalt völlig verloren, statt dass man dem Inhalt, der Wahrheit, eine gewisse, tastende Schwäche des Organs zugestehen wolle (105,30-106,2). Für Börne ist der ,schöne und edle Geist‘ identisch mit seinem Diskurs; von Schwäche der Form kann keine Rede sein.
Eine ausdrückliche literarische Replik auf die ,Narrenbriefe‛ erschien anonym 1835: „Spanischer Pfeffer gegen Deutsches Salz“ (→ Nr. 3). Ihr Verfasser, der aus Hamburg stammende Anton Edmund Wollheim da Fonseca (1810-1884), studierte von 1828 bis 1831 an der Berliner Universität Philosophie, Philologie und Geschichte; er und Gutzkow könnten sich also bereits als Studenten begegnet sein (später kreuzten sich ihre Wege in Hamburg zu Beginn der vierziger Jahre in der Tat). Wollheim war ein illustres Multi-Sprachtalent, hauptsächlich aber Orientalist (wie z. B. sein dritter und vierter Brief bezeugen, in die er eigene Übersetzungen aus dem Sanskrit eingesetzt zu haben scheint). Bei einem Aufenthalt in Paris 1831 lernte er die Tochter eines portugiesischen Offiziers kennen, der auf der liberalen, den konstitutionellen Dom Pedro unterstützenden Seite stand. Im portugiesischen Bürgerkrieg 1832 kämpfte Wollheim mit den siegreichen Liberalen und erwarb die Hand der Offizierstochter sowie den Titel „chevalier de Fonseca“. Nachdem seine Braut verstarb, kehrte er nach Hamburg zurück. Die Datierung der Vor- und Nachrede von „Spanischer Pfeffer“, Sommer 1833 bzw. Sommer 1834, lässt vermuten, dass das Werk in diesem Zeitraum entstand. Es ist klar, dass die spanisch-portugiesischen Angelegenheiten, die Gutzkow in den ,Narrenbriefen‘ als Teil des europäischen Panoramas nach der Julirevolution auch verhandelt, für Wollheim von persönlichem Interesse waren. In dem einzigen ,Narrenbrief‘, der durchgehend erzählerischen Charakter hat, dem fünfundzwanzigsten, findet sich sogar eine verblüffende fiktionale Parallele zu Wollheims persönlicher Geschichte (193,11-12 und → Erl. zu 193,11 = Nr. 742). Ob Wollheim von Gutzkows Autorschaft wusste, muss dahingestellt bleiben. Auch ist kaum anzunehmen, dass Gutzkow bei der Episode am Ende des 25. Briefes die militärisch-familiären Verbindungen Wollheims in Portugal im Sinn hatte. Es ist jedoch deutlich, dass Wollheim sich durch Gutzkows republikanisch gesinnte Briefe zu einer ebenso schwungvollen konstitutionell-monarchistischen Replik angeregt sah. „Spanischer Pfeffer gegen deutsches Salz“ geht über die in den ,Narrenbriefen‘ behandelten Jahre 1830-32 hinaus; in der zweiten Hälfte seines Textes schreibt Wollheim das politische Räsonnement Gutzkows bis in die Mitte der dreißiger Jahre fort, immer vom gemäßigt liberalen Standpunkt aus. Die Briefe des zweiten Teils deuten durch viel Freifläche und gestische ,Zensurstriche‘ den fortgesetzten brisanten politischen Inhalt an und erfüllen möglicherweise durch Streckung des Textes die Bedingungen zur Umgehung der Vorzensur.
Wollheim greift die Korrespondenzform direkt auf, indem er den ,närrischen‘ Briefwechsel Gutzkows, von dem, wie vom Monde nur eine Seite sichtbar ist (1,2-3), um die Briefe der ,Närrin‘ ergänzt. Seine Briefschreiberin, die im Untertitel genannte „Dame“, ist eine spanische Adlige und liberale Monarchistin. Damit nimmt der Verfasser einen Faden aus Gutzkows Text auf, nämlich die Charakterisierung der ,Närrin‘ unter anderem als romantische Legitimistin (→ Globalkommentar, Gender). Insgesamt reduziert Wollheim seine Korrespondentin auf Dimensionen, die im Gegensatz zu Gutzkows ungreifbar-vielgestaltiger ,Närrin‛ eine reelle weibliche Person vorstellen. Dazu greift Wollheim auf Einzelheiten im fünften ,Narrenbrief‛ zurück, der sich mit der Exekution des Generals Torrijos beschäftigt (32,6-12; → Erl. zu 32,6-7=Nr. 111). Während Gutzkows ,Närrin‘ die Rolle der Witwe des Hingerichteten nur vorübergehend spielt, repräsentiert Wollheims Spanierin diese Dame voll und ganz und erhält dadurch eine glaubhafte soziale Grundlage. Sie wird dargestellt als Gattin eines hochadligen, auf der revolutionären Seite stehenden Spaniers, der seine politische Überzegung verbirgt und in Preußen diplomatische Dienste verrichtet; dies mit solchem Geschick, dass man ihn zum „Geheimen Legationsrath“ ernennt (vgl. die Beglückwünschung der ,Närrin‘ zu ihrem neuen Titel, 37,12-13). Zugleich aber führt dieser Gatte in Frankreich und Spanien republikanische Umtriebe, wird verraten und hingerichtet.
Glaubhaft wird als adliges Privileg der Briefpartnerin auch ihre geographische Ungebundenheit, ihre Vernetzung an hohen diplomatischen Stellen, Freizügigkeit in Liebesdingen und Schlagfertigeit in geistiger Hinsicht. Sie vertritt ihren Gegenstandpunkt zum Republikanismus des ,Narren‘ mit vehementen Ausführungen, die deshalb fundiert ausfallen, weil die Korrespondentin die radikale „Schwärmerei“ des ,Narren‘, des „Märtyrers“ seiner „Grundsätze“, von Grund auf versteht und liebt. So verwundert es nicht, dass auch die spanische Dame von der Winter- und Frühlingsmetaphorik der jungdeutschen Männergeneration reichlich Gebrauch macht und die Schmelze des Restaurationseises nicht nur politisch, sondern auch in Bezug auf die Erweckung und Befreiung der Sinne versteht. Ein utopisches Element in ihrer Charakterisierung besteht (Jahrzehnte vor der Zulassung von Frauen an Hochschulen) in ihrem Berliner Studium. Sie weiß genau, was der Tod Hegels, der in den ,Narrenbriefen‘ eine so prominente Rolle spielt, für die Zukunft der Philosophie in Berlin bedeute: Man werde das Erbe Hegels unterdrücken und konservative Gegner des Philosophen fördern. Intellektuell befindet sie sich also – aus derselben akademischen Schule kommend wie der ,Narr‛ – auf der Höhe des jungdeutschen Diskurses; der Herausgeber bemerkt, „dass sie in Verstandessachen eher den Männern, als dem weiblichen Geschlechte bei[zu]zählen“ sei. Auch moralisch ist sie die perfekte Zeitgenossin dieser Männergeneration, da sie sich durch ihre Ehe keineswegs an der leidenschaftlichen Liebe zu ihrem deutschen Briefpartner hindern lässt.
Wollheims Korrespondentin ist der Position des ,Narren‘ in Sachen Frauenemanzipation um etliche Schritte voraus. Sie kontert die maskuline Zentriertheit von Gutzkows Text durch feministische Einwürfe und legt Widersprüche im Gender-Diskurs des ,Narren‛ offen. Beispielsweise bestreitet sie die Aussage, dass Frauen literarisch nicht schöpferisch werden könnten, weil sie [z]um Empfangen, nicht zum Schaffen [...] geboren seien (109,24-25), durch den Hinweis, Frauen seien allerdings kreativ, da nämlich auch „zum Gebähren bestimmt“. Sie zahlt mit gleicher Münze heim. Die durchaus feministischen Perspektiven, die Gutzkows Text ja selbst stellenweise öffnet, werden bereits dort der Stimme der ,Närrin‘ überlassen (→ Erl. zu 113,33 = Nr. 407) oder als ihre Sicht referiert.
Wollheims Text ist auf solche Weise mit dem Gutzkows verzahnt, dass letzterer teilweise wie eine Replik auf „Spanischer Pfeffer“ erscheint. Mit Witz und Laune greift dieses Werk Einzelheiten aus den ,Narrenbriefen‘ auf wie die Bitte des ,Narren‘ im elften Brief, die ,Närrin‘ möge doch die Herrscher zu Gewaltschritten verleiten und Ordonnanzen befördern, damit erneut eine Julirevoltion ausbreche (76,12-14). Wollheims Korrespondentin sagt, sie habe der Bitte Folge geleistet und sei damit zur Stifterin der wirklichen Julirevolution von 1830 geworden, ein Schritt, den sie bitter bereue. Allerdings verspürt sie Lust, die telegraphische Phantasie des sechzehnten Briefes umzusetzen, wie der Koloß von Rhodus in partieller Allgegenwart mit dem einen Fuße in London, mit dem andern in Paris zu stehen und zu gleicher Zeit aus beiden Städten correspondiren zu können (117,16-20). Für die geplante Eröffnung einer preußischen Telegraphenlinie vom Rhein bis zum Memel (118,32-33) will sie sich daher um eine Stellung als „Telegraph“ bewerben und einen Anzeigetext in den Zeitungen aufgeben. Jedoch stellt sie dem ,Narren‘ gegenüber klar, dass ihre Allgegenwart eben nicht nur Paris und London, also das liberale Westeuropa, sondern auch den absolutistischen Osten, „Berlin, Wien oder Petersburg“ einschließen werde. Bei ihrem gemäßigten politischen Standpunkt bietet diese weibliche Stimme eine erstaunlich progressive Aussicht auf weibliche Berufstätigkeit (inklusive „hohes Gehalt“), lange bevor die ,Telegraphistin‛ zu einem typisch weiblichen Beruf wurde. Wollheims Text setzt somit die ,Narren‘-Phantasien gewissermaßen auf realen Zukunfts-Fuß. Pointiert ist auch die Bemerkung der Korrespondentin, Hegels Tod ermögliche es endlich, ihr schriftstellerisches Projekt, „Wanderlieder einer fahrenden Jungfrau“, anzugehen, da der Philosoph jetzt nicht mehr „die Nothwendigkeit des Nicht-Ich’s einer Jungfer zur Nothwendigkeit des Fahrens“ beweisen könne. Wollheim trifft ins Zentrum von Gutzkows Idee, dass seine ,Närrin‘ das Nicht-Existente eines femininen Fahrenden Gesellen in die romantische Liedergattung überführen wolle (→ Erl. zu 107,2-3 = Nr. 384). Einem solchen Schritt stehen, wie Wollheims ,Närrin‘ verdeutlicht, nicht nur literarische Konventionen, sondern auch die Diskursmacht der Lehrstuhlinhaber im Weg.
„Spanischer Pfeffer gegen Deutsches Salz“ verdeutlicht, welches Echo die anonym veröffentlichten Briefe eines Narren an eine Närrin auch außerhalb des bekannten jungdeutschen Umfeldes erweckten. Sie inspirierten kluge Geister und riefen bei dem Kosmopoliten Wollheim da Fonseca einen eigenständigen literarischen Respons hervor, der selbst rezensiert wurde (→ Dokumente zur Wirkungsgeschichte, Nr. 4). Mit seiner Festlegung auf den politisch-religiösen Standpunkt einer „allgemein anerkannten Royalistinn“ (S. 100) bzw. „eingefleischten Aristokratinn“ (S. 294) „von altem ächt kastilischen Adel, ohne Zusatz von maurischem oder jüdischem Blute“ (S. 116) präsentiert Wollheim seine persönliche Orientierung. Jüdischen Ursprungs, durch Universitätsstudium aus der merkantilischen Welt seiner Familie ausgebrochen, schuf er sich durch seinen portugiesischen Rittertitel und den Übertritt zum Katholizismus, dem er geradezu demonstrativ anhing, eine Identität. Die selbstgewählte Rolle des konservativ-christlichen Repräsentanten unterlag aber genau demselben intellektuellen Dezisionismus wie die Rolle des Erzschelms von Republikaner im Narrenkostüm. Es ist diese Entscheidung für eine gesellschaftlich nicht mehr vorgeprägte, vom eigenen Denken und Schreiben geschaffene Identität, die Wollheim mit Gutzkow verbindet und die das ,tertium comparationis‘ ihrer Texte ausmacht.
Das Narrenmotiv, das Börne teils affirmativ, teils kritisch aufnahm (→ Dokumente zur Wirkungsgeschichte, Nr. 1), war von relativ anhaltender Wirkung in republikanischen Kreisen, wie der zur Generation Börnes zählende Karl Baldamus (1784 - ?), Pseudonym: Eugen St. Alban, verdeutlicht. Er begegnete Gutzkow vielleicht 1834 in Stuttgart. Baldamus „war ein talentvoller Mann und seine Schriften, obwol jetzt vergessen, gehören zu den besseren seiner Zeit. Manche Fragen des Lebens, der Geschichte und Politik, welche später das junge Deutschland besonders beschäftigten, findet man in seinen Romanen (,Oskar und Theone‛ 1815; ,Hippolyte‛, 1822; ,Liebe und Tod‛, 1826; ,Wahnsinn und Liebe‛, 1826) geistvoll durchsprochen.“ (L., von: Baldamus, Karl. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 1 (1875), S. 780-781; https://www.deutsche-biographie.de/pnd100422004.html#adbcontent; Zugang 9. April 2021). Bei „Bern wie es ist“ (→ Dokumente zur Wirkungsgeschichte, Nr. 5) handelt es sich um ein weiteres Briefwerk, das mit Datum vom 6. Oktober 1834 einsetzt und über die Zustände in der Schweiz vom radikalliberalen Standpunkt räsonniert. Als weisen ,Narren‘ im Sinne der Gutzkowschen ,Narrenbriefe‘ bezeichnet Baldamus den aus Hessen stammenden Republikaner Ludwig Snell (1785-1854), der ab 1834 eine Professur für Staatswissenschaften an der Universität Bern innehatte und aus politischen Gründen 1836 aus dem Kanton verbannt wurde.
6. Globalkommentar#
Restauration #
Zensur#
Frühlingsmetapher#
Cholera#
Der Nord-Süd-Diskurs#
Ideenschmuggel#
Republikanismus#
Die Macht der kleinen Umstände#
Nebeneinander: Telegraphistik, Synchronistik, Palimpsest#
Metamorphosen#
Gender #
Erziehung#
Stellenerläuterungen#
1,13-14 der eine trug zwischen seinen Zähnen eine Rose, der andere eine Lilie]
Möglicherweise Anspielung auf Polen (Rose) und Frankreich (Bourbonenlilie). → Erl. zu 11,14.
1,16 Ruhestörer]
Laut der ministeriellen Bekanntmachung, die am 17. Oktober 1806, dem Tag nach der Schlacht bei Jena, an den Straßenecken von Berlin angeschlagen wurde, sollte nun „Ruhe“ die „erste Bürgerpflicht“ sein (Büchmann 1977, S. 251); → Erl. zu 22,6. Durch die Bezeichnung Ruhestörer werden die Skelette des ,Narren‘ und der ,Närrin‘ also dem oppositionellen Lager zugeordnet, wie überhaupt die ,Narrenbriefe‘ ein verbrecherisches corpus delicti darstellen (2,23-24).
1,20-22 hier und da durch den Hieb verletzt [...] zu Gute halten wird]
Diese ,Verletzungen‘ spielen auf die angeblichen Zensurstriche an, die der Text an verschiedenen Stellen aufweist: 37,10; 170,29-30; 200,20-21; 201,25-26, und die der Kenner zu entschlüsseln aufgefordert wird. Die ,Zensurstriche‘ springen bei dem kleineren Seitenformat des Erstdrucks eher ins Auge als in der vorliegenden Ausgabe. Da die ,Narrenbriefe‘ sich bei 326 + X Seiten der Vorzensur entzogen, sind diese Stellen nicht als amtliche Eingriffe in den Text zu verstehen (vgl. 130,11-13: Du siehst die weißen Stellen unserer Zeitungen und die Menge der Gedankenstriche), sondern als ironische Verweise des Textes auf das Zensurwesen. → Erl. zu 37,9-10.
1,24-25 es besuchen mich deren, um ihren Sinn fürs Schauerliche bei mir zu üben]
Londons Bedlam zu besuchen war unter den oberen Schichten Englands als gesellschaftliche Ablenkung beliebt. Zum Beispiel weist das → in William Hogarths „The Rake’s Progress“ auf diese Praxis hin: Der nach Bedlam überführte, in Ketten gelegte Wüstling wird im Hintergrund von Damen der vornehmen Welt betrachtet. Zu den gelehrten Besuchern Bedlams zählte u. a. Dr. Johnson (vgl. Boswell’s Life of Johnson. Hg. von R. W. Chapman. Oxford: Oxford University Press, 1953. S. 635). Fürst Pückler besuchte Bedlam ebenfalls; vgl. den sechzehnten Brief in den anonym erschienenen „Briefen eines Verstorbenen. Ein fragmentarisches Tagebuch. Deutschland, Holland und England, geschrieben in den Jahren 1826, 1827 und 1828“ (Stuttgart: Hallberger, 1831. Vierter Theil, S. 107-109). Der Besuch von Anstalten für Geisteskranke war auch in Deutschland beliebt. Vgl. Anke Bennboldt-Thomsen und Alfredo Guzzoni: Der Irrenhausbesuch. Ein Topos in der Literatur um 1800. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft. Würzburg. Bd. 42 (1982), S. 82-110.
1,31 unseres welthistorischen Instituts]
Bedlam, Kurzform für Bethlehem Royal Hospital, war ein 1247 vom Sheriff von London, Simon Fitzmary, für den Orden vom Star of Bethlehem gegründetes Hospital in der Bishopgate-Straße. Die früheste Erwähnung als Krankenhaus findet sich um 1330, für Patienten mit längeren Aufenthalten ab 1404. 1547 wurde die Anstalt von Heinrich VIII. der Stadt London für die Behandlung von Geisteskranken geschenkt und erfuhr im Lauf der Zeit mehrere Umsiedlungen. Im 18. Jahrhundert war Bedlam vor allem für die brutale Behandlung von Patienten berüchtigt. Sehr früh galt der Name der Anstalt als Synonym für unbändiges Gebrüll bzw. Durcheinander.
1,32 Prädicanten]
Prediger.
2,7 Magister]
Gelehrter mit Universitätsabschluss; hier ist wieder der Prediger gemeint. Der Rechtsstreit zwischen dem Arzt und dem Geistlichen von Bedlam um die Abfassung der Vorrede zu den ,Narrenbriefen‘ ist bezeichnend, weil er unentschieden bleibt. Weder medizinische noch theologische Erklärungen der ,Narrheit‘ bekommen Gewalt über den Text. Sein politisch subversiver Inhalt lässt sich weder wissenschaftlich noch religiös unterordnen. Die Briefe werden mit der bloß faktischen Einleitung ihres Entdeckers, des Totengräbers, der Öffentlichkeit übergeben.
2,23-24 corpus delicti]
Durch diese Bezeichnung wird das Werk von den im Vorwort erwähnten Behörden schon im Voraus kriminalisiert.
2,25 Sieger]
Siegen E
2,29-30 durch Veränderung eines einzigen flüssigen Buchstaben]
Durch Änderung der Liquida ,l‘ zum Nasallaut ,n‘ wird die Krankenanstalt (Lazareth) zum Geburtsort Jesu und damit figurativ zu dem des Christentums. Eine ähnliche Koppelung von christlicher Religion und Siechtum unternimmt Heine im Kapitel „Die Stadt Lukka“ der „Reisebilder“. Hier geht eine erinnerte Szene in einem Krakauer „Lazareth“, bei der sich die Kranken mit ihren Gebrechen zu übertrumpfen suchen, in die Vision des dornengekrönten, sein Kreuz tragenden „bleiche[n], bluttriefende[n] Jude[n]“ über, der der lebensbejahenden Götter-Religion des Altertums ein Ende bereitet (vgl. DHA, Bd. 7/1, S. 172-173). Der Totengräber gibt dem Rechtsstreit zwischen (materialistischem) Arzt und (spiritualistischem) Pfarrer, der mit seiner Interpretation der Geisteskrankheit vielleicht den Sieg davontragen wird, einen analogen Sinn.
4,8-9 Oetahöhen [...] dem Herculischen Opfertode weiht]
In wenigen Zeilen wird hier ein wichtiger Teil der Herkulesmythe verdichtet, ein Anspielungsverfahren, das diesen Roman durchweg kennzeichnet (→ ): Als der Halbgott Herkules seine Frau Deianeira nach Hause führt, versucht der Zentaur Nessus sie zu vergewaltigen. Herkules verwundet ihn tödlich mit einem in das Blut der Hydra getauchten Pfeil, worauf der sterbende Nessus Deianeira bittet, sein Blut aufzubewahren, denn jeder, der einen mit diesem Blut beschmierten Mantel trüge, werde sie ewig lieben. Als Herkules sich später in Iole verliebt, schickt Deineira ihm eben einen solchen Mantel. Das Blut aber ist kein Zaubermittel, sondern ein ätzendes Gift, und der leidende Herkules sucht den Tod. Er verbrennt sich selbst auf einem Scheiterhaufen auf dem Ötaberg; der sterbliche Teil des Helden wird von den Flammen verzehrt, der entfesselte göttliche Teil steigt zum Himmel, wo er mit der ihm lebenslang feindlich gesinnten Hera versöhnt wird und Hebe, die Göttin der Jugend, heiratet.
4,14 Phönixasche]
In der ägyptischen Mythologie ist Phönix ein Vogel, der sich im Feuer verjüngt. Als Sinnbild politischer Erneuerung im Sinne des jungdeutschen ,Fortschritts‘ erscheint der mythologische Vogel im Titel der von Eduard Duller ab 1. Januar 1835 herausgegebenen Zeitschrift „Phönix. Frühlings-Zeitung für Deutschland“ (→ Bilder und Materialien: Bilder. Handschriften und Drucke: Phönix, Titelvignette), zu der Gutzkow das wöchentliche „Literatur-Blatt“ schrieb. Der „Prospectus“ der Zeitschrift (November 1834) macht die bildliche Bedeutung des Phönix klar, indem das Verbrennungsmotiv – ähnlich wie hier in Gutzkows Text – mit dem der frühlingshaften Wiedergeburt in Beziehung gesetzt wird: „Vorwärts! heißt nicht bloß die Losung unserer Zeit; es ist der Anruf an den Menschengeist zu allen Zeiten; es ist der belebende Zauberspruch des Frühlings; das allen edlen Keimen zu morgenheller Entfaltung entgegengehauchte, befruchtende: Werde! Im geistigen Leben ist eine gleiche nimmerrastende Verjüngung und Wiedergeburt wie im organischen. Der wunderbare, geheimnißvolle Phönix der ▄ im Reprint unleserlich ▀ ist – das Menschengeschlecht selbst. Jenem Phönix der Sage wird der Sarg aus den kostbarsten Spezereien emporgethürmt und durch den Sonnenstrahl entzündet; so gewinnen die Söhne aus den edlen Bestrebungen ihrer Väter die neue Wiege und werden sie ihren Söhnen als heilbringende Reliquie ihrer Zeit hinterlassen.“ (Prospectus. In: Phönix. Frühlings-Zeitung für Deutschland. Bd. 1, Frankfurt/M.: Athenäum, 1971 [Athenäum Reprints. Die Zeitschriften des Jungen Deutschland. Hg. von Alfred Estermann], o. S.)
5,7-8 warum ist überhaupt kein Mast darauf?]
In A1 gestrichen.
5,19 Ideenhanswurst]
Eine Wortneuschöpfung (Neologismus) wie Ideenschmuggel (→ Erl. zu ). Der Hanswurst ist die dummpfiffige Dienerfigur im deutschen Fastnachtsspiel; lustige Person, „narr“ (Grimm, Bd. 10, Sp. 462) und nicht selten Kommentator im deutschen Schauspiel. Gutzkows ,Narr‘ übernimmt hier selbst die Rolle des Ideenhanswursts, der dafür sorgt, dass die Zeitgenossen an der subversiv verkündeten Wahrheit ihre Freude haben. → Erl. zu ; .
5,25-26 In die Schatten geweihter Höhlen legten sich die Völker mit allen ihren Schmerzen]
Das Hauptzentrum des Kultus um Asklepios, den Gott der Heilkunde, lag in Epidaurus im Peloponnes. Dort befanden sich Höhlen, in denen die Leidenden die Nacht verbrachten, in der Hoffnung, sie würden im Schlaf von diesem Gott besucht und so geheilt.
5,34 ein Kaiser]
Der römisch-deutsche Kaiser Heinrich IV. (1050-1106, Kaiser ab 1105) führte einen bitteren Streit mit Papst Gregor VII. (um 1025-1085) um die Frage der Laieninvestitur. Diese Auseinandersetzung fand einen Höhepunkt vor der Burg Canossa in Norditalien. Der Papst sollte am 2. Februar 1077 in Augsburg eintreffen, um vor den versammelten Fürsten über das Schicksal des mit Bann belegten Kaisers zu entscheiden, aber als er nach Norden reiste, hörte er, dass sich Heinrich auf dem Weg nach Süden befand, und zog sich in die Burg Canossa zurück. Der Kaiser war aber nicht als Feind, sondern als Büßender gekommen und brachte drei Tage vor den Burgmauern in der Kälte zu. Am Ende ließ sich der Papst erweichen und vergab ihm; der Streit zwischen den beiden zog sich danach jedoch in die Länge.
7,3 Tituskopf]
„Kopf mit kurzem wirrem Lockenhaar, frz. coiffure à la Titus, wie sie der Schauspieler Talma 1791 in der Rolle des Titus bei der Aufführung von Voltaires ,Brutus‘ trug. Bei uns seit Jean Paul 1809 Katzenb. Reise [...] ,wie an den Titusköpfen der Revolution zu sehen‘.“ Kluge 1960 (18. Aufl.), S. 780. Zu François Joseph Talma (1763-1826) vgl. Börne-Index, 2. Hbd., S. 785-786.
7,18 Chor von hunderttausend Narren]
Anspielung auf die ,Hexenküchen‘-Szene in Faust I. Auf die Deklamation der Hexe aus einem Buch entgegnet Faust: „Was sagt sie uns für Unsinn vor? / Es wird mir gleich der Kopf zerbrechen. / Mich dünkt, ich hör ein ganzes Chor / Von hunderttausend Narren sprechen.“ (HA, Bd. 3, S. 83, V. 2573-2576).
7,24-25 Paganini [...] auf der G-Saite geigte]
Der italienische Geigenvirtuose Niccolò Paganini (1782-1840) faszinierte durch seine sorgfältig vorbereiteten Auftritte und technische Brillianz das musikliebende und sensationssüchtige Publikum Europas. Seine Fähigkeit, ganze Sonaten auf einer einzigen Saite zu spielen, wurde sehr bewundert. Paganini war 1830 auf Tournee in Deutschland. Aus demselben Jahr stammt eine umfangreiche wissenschaftliche Studie des Münchner Professors Julius Max Schottky (Ausflugsgefährte Gutzkows im Jahre 1833; vgl. Rückblicke auf mein Leben, GWB VII, Bd. 2, S. 105-116), „Paganini’s Leben und Treiben als Künstler und als Mensch; mit unpartheiischer Berücksichtigung der Meinungen seiner Anhänger und Gegner“ (Prag: Calve, 1830), auf die Wienbarg unter dem Pseudonym Ludolf Vineta mit einer Broschüre reagierte: „Paganini’s Leben und Charakter nach Schottky“ (Hamburg: Hoffmann und Campe, 1830).
7,29 Wenn die Gräfin Rossi noch Rossignol wäre]
Die berühmte Sängerin Henriette Sontag (1806-1854), 1824-28 am Königstädtischen Theater in Berlin tätig, zog sich 1830 nach ihrer Heirat mit dem italienischen Grafen Rossi vorübergehend von der Bühne zurück, war also keine ,Nachtigall‘ (frz. ,rossignol‘) mehr.
7,32 Melodie des Dessauer Marsches]
Der „Alte Dessauer“ stand konkret für preußischen Disziplinarismus. „Dessauer Marsch (,So leben wir etc. ‘), volkstümliche Marschmelodie, benannt nach dem ,alten Dessauer‘ (Fürst Leopold von Dessau), der nach der Schlacht bei Cassano im Lager von Treviglio 1705 an einer Prozessionsmelodie solchen Gefallen fand, daß er seiner Musikbande befahl, dieselbe für einen Marsch zu benutzen.“ (Meyer, Bd. 4, S. 675) Gutzkow greift hier ein Lied auf, das nach landläufiger Meinung erst wenige Jahre später Karriere gemacht hat. Fontane z. B. glaubte, durch sein Gedicht „Der alte Dessauer“ sei es ,volkstümlich‘ geworden. Vgl. Hubertus Fischer: „Gedichte“ – „Soldatenlieder“ – „Preußenlieder“. Wie Fontanes „Preußische Feldherrn“ volkstümlich wurden. In: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte 50, 1999, S. 136-168.
7,34 Barcarole]
Die Barcarole „Amis, la matinée est belle“ in Akt II von Aubers Oper „La Muette de Portici“ (→ Erl. zu 16,29) drückt die „latente Tatentschlossenheit“ der neapolitanischen Fischer in einem „harmonisch gedrängten Chorsatz“ und „ostinate[n] Tonwiederholungen“ aus (Ulrich Schreiber: Opernführer für Fortgeschrittene. Eine Geschichte des Musiktheaters. Bd. 2: Das 19. Jahrhundert. Kassel: Bärenreiter, 1991. S. 368).
8,3 das neapolitanische Fischerlied]
Entweder eine Anspielung auf die in 7,33-34 erwähnte Barcarole oder auf das Duett zwischen Masaniello und Pietro, das auf die Marseillaise anspielende Freiheitslied „Amour sacré de la patrie“ aus Aubers „La Muette de Portici“. Dieses liefert in der Opernhandlung „den ersten Funken zum Aufstand“ (Ulrich Schreiber: Opernführer für Fortgeschrittene. Eine Geschichte des Musiktheaters. Bd. 2: Das 19. Jahrhundert. Kassel: Bärenreiter, 1991. S. 367). → Erl. zu 16,29.
8,5-6 jenes neue Eiland, die Ferdinands- oder Grahamsinsel]
Am 11. Juli 1831 tauchte in einer strategisch wichtigen Seeschifffahrtsstraße rund 60 km vor der Südwestküste Siziliens eine neue Insel aus dem Mittelmeer auf: „Ferdinandea (Sotto Marino), Insel im Mittelmeer […]; sie entstand, nachdem ein, seit dem Juli 1831 auf einer Korallenbank [...] ausbrechender u. 600 F. hoch auswerfender Vulcan gegen Ende August wieder aufgehört hatte; sie war gegen 4 ital. M. im Umfang; die Neapolitaner u. Engländer (die Letztern nannten sie Grahams-Insel), besetzten sie gleich nach ihrer Entstehung, doch verschwand sie 1832 wieder“. (Pierer 1840-46, Bd. 10 (1842), S. 310-311). Benannt wurde die Insel von dem deutschen Vulkanologen Friedrich Hoffmann (1797–1836) – er betrat die Insel als Erster – nach Ferdinand II. Karl (1810 -1859) aus dem Hause Bourbon, dem König beider Sizilien. Die Briten tauften sie dagegen nach Sir James Robert George Graham (1792-1861), der von 1830-34 Erster Lord der Admiralität war. Um die Herrschaft über die Insel stritten sich in erster Linie Neapel und Großbritannien. Jedoch schon gegen Februar 1832 war das Eiland wieder ganz mit Wasser bedeckt und versank im Meer. Dieses aktuelle Ereignis gibt dem Aufbau des ersten ,Narren‘-Briefes seinen Sinn: Die dreimalige Erwähnung des Bootes (5,4-8; 6,10-14; 7,15-25), das die ,Närrin‘ dem ,Narren‘ geschickt hat, um einen Eroberungszug mit ihm zu unternehmen nach den Gewässern des Mittelmeeres und jenes neue Eiland [...] im Namen der deutschen Freiheit in Besitz zu nehmen (8,3-7), führt zu der Leichenrede an dem Sarge einer früh gestorbenen Insel (8,21-22), die mit der Hoffnung schließt, die damit verschwundene Freiheit werde wieder auferstehen (10,6-10).
8,11 Besitzungsergreifungsstreites zwischen England und Neapel]
Die Stelle bezieht sich zunächst nur auf die umstrittene Insel, aber der komplexe historische Hintergrund des Königreiches Neapel spielt sicher mit hinein. Die Versuche des absolutistischen Königs Ferdinand IV., in Neapel Sozialreformen einzuführen, scheiterten beim Ausbruch der Französischen Revolution. Da er ein Gegner der Republik war, wurde Neapel von den Franzosen übernommen, worauf Ferdinand sich nach Sizilien rettete. Von den Franzosen verlassen, wurde Neapel am 13. Juni 1799 wiedererobert, und den besiegten neapolitanischen Patrioten wurde die Freiheit versprochen, im Lande bleiben oder ins Exil gehen zu können. Nelson, der mit der britischen Flotte dort am 24. Juni landete, erkannte dieses Abkommen aber nicht an, und viele der gefangenen Republikaner wurden hingerichtet. Napoleons Schwager, Joachim Murat, wurde 1808 König, schaffte den Feudalismus ab, führte einen einheitlichen Kodex ein und verkündete 1815 nach der Rückkehr Napoleons die Unabhängigkeit Italiens. Zweimal musste Ferdinand vor den Franzosen also nach Sizilien fliehen, das er mit Hilfe Großbritanniens weiterhin besaß. Nach der Restauration (ab 1816) war er als Ferdinand I. Herrscher im neuen Königreich Beider Sizilien. Sein Absolutismus führte zu neuen Schwierigkeiten, die in der Revolte von 1820 kulminierten.
8,12 mal de Naples]
Frz. „eig. das Übel von Neapel, die Unzuchtsseuche, Lustseuche“ (Heyse 1838, 2. Teil. S. 69), umschreibender Ausdruck für die Syphilis. Die Gepflogenheit, anderen Völkern die Schuld an der Geschlechtskrankheit zuzuschieben, war weitverbreitet. Der italienische Arzt und Astronom Girolamo Fracastoro (1478-1553) veröffentlichte 1530 ein Gedicht „Syphilis sive morbus Gallicus“, das dieser Krankheit nicht nur den Namen gab, sondern auch die Franzosen für sie verantwortlich machte. Goethes Mephistopheles verkündet Frau Marthe, ihr Gatte sei an der ,neapolitanischen Krankheit‛ gestorben: „Ein schönes Fräulein nahm sich seiner an, / Als er in Napel fremd umherspazierte, / Sie hat an ihm viel Lieb’s und Treu getan, / Daß er’s bis an sein selig Ende spürte.“ (Urfaust, HA, Bd. 3, S. 397) Die französischen Truppen, die in der napoleonischen Zeit Neapel belagerten, nannten sie „le mal de Naples“. Möglicherweise aber deutet „mal de Naples“ auch auf das in Aubers Oper (→ Erl. zu 16,29) artikulierte Freiheitsstreben hin; „La Muette de Portici“ spielt in und bei Neapel.
8,12-13 englischen Krankheit]
Rachitis, ausgelöst durch Licht- und Sonnenmangel.
9,19 Ceder auf Libanon]
Im Alten Testament wird das Fällen von Zedern, von denen die aus dem Libanon die berühmtesten sind, zum Tempel- und Palastbau öfter erwähnt. Vgl. 2 Kön 19,23.
9,23 Homiletik]
Kanzelberedsamkeit.
9,24 Schott]
Heinrich August Schott (1780-1835) war seit 1812 Professor der Theologie in Jena. Zu seinen Werken gehören: „Kurzer Entwurf einer Theorie der Beredsamkeit mit besonderer Anwendung auf die geistliche Beredsamkeit“ (1807); „Die Theorie der Beredsamkeit“ (3 Teile 1814-28, weitere Auflagen 1828, 1833 und 1846). Diese Publikationen wird Gutzkow als Kandidat der Theologie studiert haben. Er hielt zwei Probepredigten: die erste im Herbst 1829 in der Dorfkirche von Weißensee, die zweite am Pfingstsonntag 1832 auf Schleiermachers Kanzel in der Berliner Dreifaltigkeitskirche.
11,7 Ankunft des Frühlings]
→ Erl. zu 4,14 und → .
11,12 carmoisingesprenkelten]
Karmesin, frz. cramoisin, it. carmesino zu pers., türk., arab. qirmiz: Roter Farbstoff aus Koschenilleschildläusen.
11,14 Nationalfarben des Landes]
Die Nationalfarben Polens sind weiß und rot. Da der Drang nach Freiheit (der gehässigen Sache, 11,22) trotz des misslungenen polnischen Aufstands vom 29. November 1830 bis zum September 1831, der nicht nur bei Gutzkow, sondern auch in fast allen liberalen Kreisen Unterstützung fand und hier mit dem Frühling identifiziert wird, weder bei den Polen noch bei den deutschen Liberalen nachgelassen hat, soll, so wird hier ironisch angedeutet, der Frühling in den deutschen Bundesstaaten offiziell verboten werden.
11,25 Die Bibel lehrt, daß der letzte König kein Mensch ist]
Die Propheten des Alten Testaments verbanden ihre Kritik an der Herrschaft der israelitischen Könige mit der Hoffnung auf das ,Reich Gottes‘, in dem Jahwe selbst den Thron besteigen und als König regieren werde (Jesaja 52,7-10), um die Ungerechtigkeiten weltlicher Herrscher zu überwinden. Vgl. Bibellexikon. Hg. von Klaus Koch, Eckart Otto, Jürgen Roloff und Hans Schmoldt. Stuttgart: Reclam, 1978. (Lizenzausgabe Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg, 1992. Art. ,Reich Gottes‘, S. 427-429).
12,1 haben Könige nicht vergessen und verzeihen können]
Möglichwerweise eine leichte Abwandlung des Ausspruches von Charles du Périer Dumouriez (1739-1823) über die Höflinge Ludwigs XVIII. im September 1765: „Les courtisans qui l’entourent n’ont rien oublié et n’ont rien appris.“ (The Oxford Dictionary of Quotations. 4. rev. Ausgabe. Hg. von Angela Partington. Oxford, New York: Oxford University Press, 1996. S. 264) „Sie haben nichts gelernt und nichts vergessen, ,Ils n’ont rien appris ni rien oublié‘, sagte man im Frankreich der Restauration (nach 1815) von den Aristokraten, insbesondere von den rückkehrenden Emigranten, die am liebsten wieder die Zustände vor der Revolution hergestellt hätten.“ (Büchmann 1977, S. 254).
13,9-10 die drei Personen der Allianz]
Zar Alexander I. von Russland, König Friedrich Wilhelm III. von Preußen und Kaiser Franz I. von Österreich bildeten am 26. September 1815 in Paris auf Veranlassung Alexanders I. die ,Heilige Allianz‛. Ihr erklärtes Ziel war es, die Staaten Europas nach den Kriegen und Umwälzungen der napoleonischen Zeit als überkonfessionelles christliches Friedensbündnis zu leiten. Nur Großbritannien und der Vatikan traten der Allianz nicht bei. Unter der Führung Metternichs wurde sie zum Werkzeug der politischen Reaktion gegen nationale Freiheitsbewegungen und liberale Strömungen.
13,10 rectificiren]
Nach frz. rectifier: korrigieren, richtigstellen.
14,4 die Monarchen, wie sie da alle Drei in Paris einzogen]
Nach dem Kongress von Aachen (27. September bis 21. November 1818) zogen die drei Allianz-Monarchen Friedrich Wilhelm III., Franz I. und Alexander I. wieder nach Paris, wo sie sich mit Ludwig XVIII. trafen. Durch die Aufnahme Frankreichs in die Heilige Allianz wurde das ,Feindbild‘ Preußens, Russlands und Österreichs geschwächt. Vielleicht bezieht sich die Aussage des ,Narren‘, die reaktionären Mächte hätten in Paris alte sowie zukünftige Sünden büßen wollen, auf diese Tatsache.
14,14-16 Er soll weder Kirchen [...] noch Pinakotheken und dergleichen bauen lassen]
Bezieht sich auf die Kunstförderung Ludwigs I. von Bayern (→ Erl. zu 40,11-12). Der ,Narr‘ spricht hier den Fürsten das Recht ab, eigenmächtig ,im Namen des Volkes‘ zu agieren.
14,32 Juliustage]
Die dreitägige Pariser Revolution vom 27. bis 29. Juli 1830 (→ : Julirevolution).
14,32-33 das Princip der Nichteinmischung]
Die Heilige Allianz (→ Erl. zu 13,9-10) sollte gegenseitige Hilfe der Mitgliedsstaaten zur Bekämpfung revolutionärer Unruhen sichern. 1821 wurde auf dem Kongress von Laibach beschlossen, im Königreich Beider Sizilien zu intervenieren. Der Kongress von Verona 1822 führte zur Intervention in Spanien. Die Pariser Julirevolution setzte der antiquirten Allianz mit der Behauptung nationaler Selbstbestimmung faktisch ein Ende.
15,1 in thesi]
Lat., „im Allgemeinen oder in der Regel“ (Heyse 1838, 2. Teil, S. 499 , Stichwort ‚Thesis‘).
15,17-18 Nun Oestreich Galizien, Preußen, Posen [...] abgetreten haben]
Das Komma nach Preußen führt nach heutigen Regeln in die Irre, ist aber Bestandteil der historischen Zeichensetzung. Auch die gesamte Aussage ist erst einmal irreführend, denn weder trat Österreich Galizien an Polen ab, noch Preußen Posen, noch Russland Litauen. Es handelt sich also um eine ironische Äußerung: Als 1815 ,Kongresspolen‛ zustande kam und damit das neue polnische Königreich, behielten Österreich Galizien (in seinem Besitz seit der ersten polnischen Teilung 1772), Preußen das Großherzogtum Posen (in seinem Besitz, mit einer Unterbrechung 1807-15, seit der zweiten polnischen Teilung 1793) und Russland Litauen (in seinem Besitz seit der dritten polnischen Teilung 1795, während die weißrussischen Gebiete Litauens schon 1772 und 1793 an Russland gekommen waren). Der ,Narr‛ übertreibt also die Gebietskonzessionen, die die drei Allianz-Mächte 1815 dem neuen polnischen Staat machten; sie ,verzichteten‛ lediglich auf Teile Galiziens, Litauens und Posens, die sie sich bei den polnischen Teilungen des 18. Jahrhunderts angeeignet hatten. Damit aber machten sie den Bestand eines eigenen polnischen Staatswesens bei der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress überhaupt möglich und handelten im Sinn der Heiligen Allianz und ihres Friedensprogramms: Welcher Edelmuth! Welches großartige Beispiel! kommentiert der ,Narr‛ ironisch (15,24-25).
15,31-32 die in Spanien, Italien und Deutschland [...] noch nicht geheilten Wunden]
Bezieht sich auf die Freiheitskämpfe in diesen europäischen Ländern: → Erl. zu 32,6-7; 35,13-14; 8,11; 22,13-14; 33,18-19.
16,9 die Ringe]
▄ Die Legende der Ringe, aus denen die polnische Krone geschmolzen werden soll, verbunden mit der des Drachen, der den Insignienschmuck und die Reichskleinodien hütet, ist bisher nicht eruiert. Vermutlich bezieht sich Gutzkow auf ein Werk oder Werke der polnischen Nationalromantik. Der Absatz könnte vielleicht wie folgt ausgelegt werden: Nachdem 1830/31 der polnische Nationalaufstand unter der Dynastie der Romanows (→ Erl. ) erstickt worden ist, wird die Freiheitsbewegung aus der Kraft ihrer Literatur und ihrer Mythen wieder erstehen. Die Polen haben ihren falschen russischen Befreier, den Drachen, durchschaut und haben ihm bereits ihre eigenen Insignien, von diesem in den tiefsten Schluchten der litthauischen Wälder verborgen gehalten, entwendet. Litauen, mit Polen 1569 unter einem gemeinsamen Reichstag zu einer Adelsrepublik verschmolzen, war 1795 zu Russland geschlagen worden (→ Erl. zu ), nachdem der „stumme Reichstag“ von Grodno 1793 unter innen- und außenpolitischem Druck schon die Abtretung polnischer Gebiete an Russland und Preußen anerkannt hatte. Die adligen polnischen Damen, die vom Reichstag nun zusätzlich zu den Insignien auch noch die Ringe zum Schmelzen der zukünftigen Krone zurück verlangen, stehen somit für die nationale Integrität und Unabhängigkeit ihres Landes. Auch die Mächte der Heiligen Allianz sind in die Lösung der ,polnischen Frage‘ verwickelt. Ihre Einmischung bzw. Nichteinmischung wird über Erfolg oder Misserfolg der polnischen Unabhängigkeit entscheiden. In ihren Händen liegt seit 1815 das Gold der Krone Polens, und die deutsch-österreichische liberale Publizistik wird durch diese Tatsache ständig angestachelt bzw. sollte es bleiben. Die Flüchtlinge von 1832 sind eine Mahnung an die Publicisten Preußens und Österreichs, ihre eigenen Regierungen weiterhin in der polnischen Sache unter Druck zu setzen. ▀
15,33-34 die neue Dynastie in Polen]
Der Thron des 1815 neu konstituierten Königreiches Polen war in Personalunion mit dem russischen Zaren besetzt. Zar Alexander I. (1777-1825) hegte im Gegensatz zu seinen Allianzpartnern „freisinnige Grundsätze“ und verlieh „aus eigenem Antrieb und zum Verdruß von Oesterreich und Preußen“ dem neuen polnischen Staat eine bemerkenswert liberale Verfassung (Weber, Bd. 2, S. 574). Die Rahmenbedingungen für das Erstarken einer patriotischen Unabhängigkeitsbewegung Polens waren damit geschaffen. Sie erfuhr einen deutlichen Aufschwung nach dem Tod Alexanders 1825 und unter der Herrschaft seines absolutistischen Nachfolgers Nikolaus I. (1796-1855), der seinen Bruder Konstantin in Polen als Vizekönig einsetzte. Dieser entging seiner Ermordung beim Ausbruch des Warschauer Aufstandes am 29. November 1830 nur knapp (vgl. Weber, Bd. 2, S. 576).
16,1 in alten Zeiten unseligen Andenkens]
Durch innere Zwistigeiten und Misswirtschaft machte sich die Adelsrepublik Polen des 17. und 18. Jahrhunderts zum Spielball der sie umgebenden Großmächte Brandenburg-Preußen, Russland und Österreich, die das Land im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts sukzessive unter sich aufteilten und schließlich seinen Bestand als eigener Staat ganz auslöschten.
16,29 die Stumme von Portici]
Die Oper „La Muette de Portici“ von Daniel-François-Esprit Auber wurde 1828 an der Pariser Opéra uraufgeführt (Libretto von Germain Delavigne und Eugène Scribe). Die Handlung beschäftigt sich mit dem gescheiterten neapolitanischen Fischeraufstand des Jahres 1647. Trotz ihrer antirevolutionären Aussage feuerte „La Muette de Portici“ um 1830 die revolutionäre Stimmung in ganz Europa an. Die Aufführung (nicht die Erstaufführung, wie man behauptet hat) am 25. August 1830 im Brüsseler Théâtre de la Monnaie war das Moment, das die belgische Revolution auslöste (→ Erl. zu 7,34): „[S]chon vor dem fünften Akt und damit vor dem Zusammenbruch des Aufstands“ gingen die Zuschauer „aus dem Theater auf die Barrikaden“ und „[griffen] in die Realgeschichte ein [...]. Diese in die Realität übergehende Wirkung blieb dem Werk in halb Europa auch während der revolutionären Bewegungen von 1848/49 treu“ (Ulrich Schreiber: Opernführer für Fortgeschrittene. Eine Geschichte des Musiktheaters. Bd. 2: Das 19. Jahrhundert. Kassel: Bärenreiter, 1991. S. 365-366). Dass Aufführungen der Oper in einigen Staaten des Deutschen Bundes zeitweilig verboten waren, geht aus Gutzkows Äußerung in den Rückblicken hervor: „Bald wird die Freiheitsstunde schlagen!“ sang ich mit dem damals noch nicht allgemein gestatteten Masaniello in der „Stummen von Portici“, der Oper, die dem Könige von der Niederlande Belgien gekostet hatte. (GWB VII, Bd. 2, S. 53) Deutsche Fassungen existierten nach Schreiber (Bd. 2, S. 364) für Inszenierungen in Rudolstadt (1828), Mannheim (1829), Wien (Theater in der Josefstadt, 1829) und Dessau (1830). Die revolutionäre Wirkung der Oper erstreckte sich auch auf die höchst innovative Verschmelzung von Opernkunst und Populartheater sowie eine (zumindest in der Pariser Aufführung) unerhört ,industrielle‘ Inszenierungsweise: „Neue bühnentechnische Entwicklungen, insbesondere auf dem Gebiet der Beleuchtung, ermöglichten die Darstellung solcherart spektakulärer Vorgänge [wie dem eines Vulkanausbruchs im Schlussbild, R. J. K.] in bisher unbekannter Realistik, und so lag es denn auch nahe, daß die Opéra im Zuge der gerade begonnenen Umstellung ihres Repertoires auf Stoffe des Populartheaters auch von dessen jüngsten szenischen Errungenschaften [besonders von denen des „mélodrame à grand spectacle“, R. J. K.] zu profitieren gedachte.“ (Sieghart Döhring und Sabine Henze-Döhring: Oper und Musikdrama im 19. Jahrhundert. Laaber: Laaber-Verlag, 1997. S. 123 [Handbuch der musikalischen Gattungen. Hg. von Siegfried Mauser. Bd. 13])
18,15-16 mein dunkelblonder Haarwuchs]
→ Erl. zu 20,1-2.
16,31 Cholera]
Die Cholera verbreitete sich 1831 vom Osten her nach Deutschland (→ ). Gutzkow musste sich auf seiner Reise von Berlin nach Stuttgart im November 1831 immer wieder in Quarantänestationen aufhalten, da Berlin bereits von der Seuche befallen war. Vgl. auch → .
16,33 dem berüchtigten Göthe]
Eine entsprechende Stelle konnte in Goethes Werk nicht nachgewiesen werden. Gutzkows damalige, von Börne und Menzel beeinflusste kritische Haltung Goethe gegenüber zeichnet sich hier ab, indem Goethe eine solche banale Aussage angesichts des Choleraausbruches zugeschrieben wird. Ähnlich wie Börne, der an Goethe (und allen Formkünstlern) die „Sachdenklichkeit“ kritisiert, der es um die Objektivierung des Subjekts im Kunstwerk gehe (BSSchr, Bd. 2, S. 332), bringt der ,Narr‛ den Begriff Objectivität hier mit negativer Wertung und außerdem spöttisch vor: Die angebliche Tiefe der Objectivität dieses Mannes ist tatsächlich sehr seicht. Olaf Briese hat bemerkt, dass Goethe wie andere Zeitgenossen vor einer Auseinandersetzung mit der Seuche auswich und sich damit unberührt ließ von einer Realität, die ästhetisch bzw. mit Worten nicht zu verarbeiten war. Die Goethe hier zugeschriebene Formulierung ein furchtbares Geheimniß für die Cholera scheint dies zu bestätigen: „Die Bedrohung wurde namhaft gemacht, aber in das Märchenland der Mythen, Fabeln und Monstren verwiesen. Für Goethe und seine Kreise war das eine Angstbannungsstrategie. Ungeheuer, Gespenster und Monstren mögen die ungebildeten Massen verwirren und ängstigen. Für ihn aber waren sie erdichtete Fabelwesen, Zitate aus dem klassischen Bildungsschatz antiker Mythen, germanischer Epen und mittelalterlicher Heiligenlegenden.“ (Olaf Briese: Angst in den Zeiten der Cholera. Über kulturelle Ursprünge des Bakteriums. Seuchen-Cordon I. Berlin: Akademie-Verl., 2003. S. 30) Zu Menzels ganz persönlich gezieltem Hass auf Goethe: Rückblicke auf mein Leben (GWB VII, Bd. 2), S. 72-77.
17,4-5 den von Hegel verlassenen Lehrstuhl besteigen]
Hegel erkrankte am 13. November 1831 an der Cholera und starb am darauf folgenden Tag. Seine Nachfolge war lange ungeklärt und beschäftigte die öffentliche Meinung. Auch Gutzkow geht in einer Korrespondenz aus Berlin darauf ein: Es ist unverkennbar, daß sich die meisten unserer jüngern Universitätslehrer sehr anstrengen, Hegels Abgang zu ersetzen. Die Philosophen aus seiner Schule haben den Kreis der früher von ihnen behandelten Gegenstände ausgedehnt, und die von entgegengesezter oder neutraler Ansicht wollen in denselben Stunden dasselbe geben, was der Verblichene zu geben pflegte, oder vielmehr das von ihm Gegebene widerlegen. Von ihnen allen wird aber wohl Niemand den leeren Stuhl besteigen, vielmehr ist es wahrscheinlich, daß Gabler in seinen Besitz kommen wird. (Korrespondenz-Nachrichten. Berlin. Ende Mai. Literarische Freiheit. Hegel und seine Gegner. In: Morgenblatt für gebildete Stände. Stuttgart u. Tübingen. Nr. 131, 1. Juni 1832, S. 524 [Rasch 3.32.06.01.2]) Erst 1835 jedoch übernahm Georg Gabler (1786-1853) Hegels Lehrstuhl. Wie hier die Frage erörtert wird, ob der spekulationstüchtige ,Narr‘ der Nachfolger Hegels werden könne (vgl. auch: 100,2; 104,22-23 und 106,27-29), so wird später angedeutet, dass er zum Thronfolger in Griechenland berufen sei (58,1-4), und ihm wird im Zusammenhang mit der Freiheitsvision am Beginn des 22. Briefes (165,19-29) schließlich die Bürgerkrone angetragen (165,20). Das durchgängige Motiv der ,Thronfolge‘, verbunden mit der Vorstellung vom Narren als legitimem Herrscher, bezeichnet die unterschwellige republikanische Stoßrichtung des Textes. Dass Hegels Lehrstuhl implizit in die Reihe der freiheitlich zu besetzenden Herrscher-Positionen gestellt wird, bezeugt Gutzkows Kritik am preußischen ,Staatsphilosophen‘.
18,24 Januskopfes]
Janus, der römische Gott der Schwellen, wird mit einem Doppelgesicht dargestellt, schaut also nach vorne und nach hinten: nach diesem Gott wurde ab 153 v. Chr. der Anfangsmonat des römischen Jahres genannt.
19,14-15 Der Sultan hat mich als Redacteur des konstantinopolitanischen Moniteurs berufen]
Als Sultan des türkisch-osmanischen Reiches setzte Mahmud II. (1804-1839) mehrere Reformen durch; vgl. Gutzkows Kommentare dazu im Porträt Mehemed Alis der Oeffentlichen Charaktere (HU, Bd. 1, S. 21). Zur ,westlichen‘ Reformpolitik des Sultans gehörte die Gründung des „Moniteur Ottoman“ am 5. November 1831, der in türkischer und französischer Sprache erschien und von einem Franzosen redigiert wurde (vgl. Meyer, 4. Aufl., Bd. 11, S. 102). Im Hinblick auf die Pressefreiheit steht dieser konstantinopolitanische Moniteur wie sein Pariser Vorbild als Metapher für eine Staatszeitung (21,3): → Erl. zu 171,3-4.
19,17-18 Frau von Hübsch]
Diese Figur scheint erfunden zu sein.
48,9 infima plebs]
Lat.: das gemeinste Volk.
19,21-22 Lichtfreund]
Der Ausdruck kann sich nicht auf die protestantische Freie Gemeinde beziehen, die 1841 in Abgrenzung zur evangelischen Amtskirche Preußens in Erscheinung trat und als „Lichtfreunde“ bekannt wurde. Dennoch ist der Sinn der Bezeichnung hier – mit Bezug auf Münch als Herausgeber von Schriften des freimüthigen Hutten – ähnlich, wenn auch ironisch gebrochen, da Münch die Schriften Huttens ja nicht nachgeahmt, sondern nur herausgegeben hat. Möglicherweise eine Anspielung auf Hutten als den Mitverfasser der „Epistolae obscurum virorum“, der sogenannten „Dunkelmännerbriefe“, einer Sammlung von fingierten satirischen, gegen kirchliche Autorität und Mönchtum gerichteten Briefen, absichtlich in schlechtem Latein geschrieben (1. Teil von Crotus Rubianus 1515, 2. Teil von Hutten 1517). Heine bezieht sich darauf in „Deutschland. Ein Wintermärchen“: „Hier haben die Dunkelmänner geherrscht, / Die Ulrich von Hutten beschrieben.“ (Caput IV, Vers 23-24, DHA, Bd. 4, S. 98).
19,27 Desultoren]
Bei den antiken Römern Kunstreiter, die im vollen Rennen von einem Pferd auf das andere voltigierten; daher ,desultorisch‘: abspringend, nicht bei der Sache bleibend, unbeständig.
19,28 das Haager Doppelkreuz]
Das Doppelkreuz war vermutlich eine Chiffre, unter der Münch aus Den Haag Korrespondenzen für eine deutsche Zeitung schrieb.
19,30 Der westöstliche Divan]
Divan, pers.: Versammlung, Gruppe. In diesem Sinn von Goethe für seinen Gedichtzyklus gebraucht. „West-östlicher Divan“ erschien 1819, die erweiterte Fassung 1827 (→ Erl. zu 99,6).
20,1-2 Ein blondhaariger, blauäugiger junger Mann]
Zur Bezeichnung der eigenen Person greift Gutzkow oft auf seine Blondheit, manchmal auch auf die Farbe seiner Augen zurück. Vgl. die Schilderung seiner Ankunft in Stuttgart in den Rückblicken: Wolfgang Menzel [...] hieß den schon lange erwarteten blassen, magern, blonden berliner Ankömmling willkommen. (GWB VII, Bd. 2, S. 62).
20,4-5 russischen Gesinnungen]
Zu dieser Zeit besaß die Türkei die Unterstützung Russlands.
20,11-12 die Schweizer]
Schweizerische Söldner waren bei vielen militärischen Unternehmungen im frühen 19. Jahrhundert aktiv. Die ältere päpstliche Schweizergarde ist Teil dieser Tradition.
20,19 Nikolaus]
Zar Nikolaus I., unter dessen Herrschaft die Polen in ihrem Kampf um Unabhängigkeit geschlagen wurden; → Erl. zu 15,33-34.
20,21 Bibliopolen]
Griech. bibliopōlēs, Buchhändler. Gebräuchlicher Ausdruck der Zeit, wie z. B. der Titel des ab 1836 im Leipziger Verlag J. J. Weber erscheinenden „Bibliopolischen Jahrbuchs“ zeigt, in dem Verlagsberichte u. ä. erschienen. Der wortspielerische Gebrauch des Begriffs nimmt die Solidarität der Deutschen mit der polnischen Freiheitsbewegung als reine Büchersache aufs Korn.
20,26-27 Sie fingen von Freiburg an und hörten am Neckar auf]
Münch, in Rheinfelden (Schweiz) geboren, studierte in Freiburg und war ab 1831 in Stuttgart tätig.
20,27 Legitimität]
Die Ansprüche seitens der verschiedenen Fürstenhäuser auf die Rechtmäßigkeit ihrer z. T. noch absolutistischen Herrschaft, wenn nicht des Gottesgnadentums, stieß in der Restaurationszeit zwangsläufig auf die Opposition der Liberalen, welche die Gedanken der Volkssouveränität bzw. der konstitutionellen Verantwortlichkeit der Monarchen gegenüber dem Volk befürworteten. Der Begriff ,Legitimität‘ wurde vom konservativen Lager als emotives Schlagwort gebraucht, wie Rottecks und Welckers „Staatslexikon“ kritisch kommentiert: „In der engsten Bedeutung [...], [...] welche in der neuesten Zeit sich ganz vorzüglich geltend gemacht hat, wird unter Legitimität fast nur das angestammte Herrscherrecht verstanden, gewissermaßen die – wie man sonst sagte – unmittelbar von Gott verliehene Majestät, im Gegensatze der auf den Volkswillen, oder, wie man sagt, auf die Revolution begründeten Gewalt. Diesen dergestalt beschränkten Begriff hat man indessen nicht ausdrücklich oder deutlich festgestellt, sondern sich mit dem Ausrufen des Wortes gewissermaßen als eines Losungswortes für die jetzt in Europa vorherrschende Partei, als eine Art von Schiboleth – zur Unterscheidung der Anhänger von den Gegnern – begnügt, und mit der Benutzung desselben als eines Titels zur Rechtfertigung reactionärer Tendenzen.“ (Art. ,Legitimität‘, Rotteck/Welcker, Bd. 9 [1840], S. 644).
20,28-29 eine Nummer des Morgenblattes, wo er die Legitimität [...] bewiesen hätte]
Ein solcher Beitrag Münchs ist nicht ermittelt.
21,31 Hessen-Kassel’sche Angelegenheiten]
Anspielung auf das Verhältnis des regierenden Kurfürsten Wilhelm II. (1821-1847) mit seiner Mätresse, der Gräfin Reichenbach, das mehrmals zu Unruhen führte und bei der Forderung nach einer ,legitimen‘ Regierung, die die Gewährung der konstitutionellen Verfassung von 1831 bewirkte, im Hintergrund stand (vgl. Malwida von Meysenbug: Memoiren einer Idealistin. Neue Ausgabe. Berlin: Schuster & Löffler, 1918. Bd. 1, S. 16-22; Börne-Index, 2. Hbd., S. 853-855).
21,33 Atreus und Thyestes]
Atreus: Sohn des Pelops, Enkel des Tantalus. Sein Bruder, Thyestes, verführte dessen Frau, Aërope, die Mutter des Agamemnon und Menelaus. Atreus wurde von Ägisthus, dem Sohn des Thyestes, getötet. Die blutige Geschichte dieses Hauses lieferte öfter den Hauptstoff für die griechischen Tragiker.
23,33-34 Janitscharenmusik]
Die Janitscharen waren eine türkische Miliz, die Sultan Orkhan 1329 aus christlichen Gefangenen und vor allem ihren Nachkommen zusammenstellte. Sie fungierten als militärische Elitetruppe, Leibwache, z. T. als Polizei, und bekleideten hohe Staatsämter. Die nach ihnen benannte Militärmusik wird mit besonders vielen Schlaginstrumenten gespielt. Sultan Mahmud II. (→ Erl. zu 19,14-15) entledigte sich der schon lange eigenmächtig handelnden Janitscharen 1826, indem er sie umbringen oder hinrichten ließ.
22,1 Gardeducorpssäbeln]
Eigentlich Garde-du-Corps, Leibgarde zu Pferd.
22,4-5 Iffland’schen Familienscenen]
Die Familiendramen von August Wilhelm Iffland (1759-1814), die im Repertoire der deutschsprachigen Bühnen noch lange nach seinem Tod breiten Raum einnahmen, erreichten ein fast sprichwörtliches Maß an Sentimentalität. Sie stellten damit den Gegenentwurf zum politischen Anspruch des bürgerlichen Trauerspiels dar.
22,6 Wenn Ruhe die erste Bürgerpflicht ist]
Drei Tage nach der Niederlage der preußischen Armee in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 erschien in Berlin ein öffentlicher Anschlag folgenden Wortlauts: „Der König hat eine Bataille verloren. Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht. Ich fordere die Einwohner Berlins dazu auf. Der König und seine Brüder leben! Berlin, den 17. October 1806. Graf v. d. Schulenburg“ (Büchmann 1977, S. 251). Friedrich Wilhelm Graf von der Schulenburg-Kehnert (1742-1815), preußischer Staatsmann und General, war damals Gouverneur von Berlin.
22,10-12 in dem Königsspiel bei Horaz]
In den „Episteln“ des Horaz (I, 1, V. 59-60) heißt es: „At pueri ludentes: ,rex eris‘, aiunt, / ,si recte facies‘“ (Doch spielende Knaben sagen: „Du wirst König sein, wenn du es richtig machst“), wobei der ,König‘ wahrscheinlich eine gute Position im Spiel bezeichnet. Das Zitat ist aber noch einmal überliefert bei Isidor von Sevilla: Etymologiarum sive Originum libri XX, Buch IX, Kap. 3, Nr. 4. Er gibt den Text im trochäischen Tetrameter: „réx eris, si récte facies, sí non facies nón eris“. Isidor nennt dies ein Sprichwort, das die Alten hatten (ohne direkten Hinweis auf Horaz), wobei ,recte‘ – anders als bei Horazens ,Knabenspiel‘ – als ,gerecht‘ aufzufassen ist. Diese moralische Deutung (etwa: Herrscher müssen gerecht sein, sonst sind sie keine) ist die hier vom ,Narren‘ nahegelegte.
22,13-14 geht es in Hanau schon wieder hoch her]
Zu den Auswirkungen der Julirevolution auf die deutschen Staaten gehörten Teuerungs- und Zollunruhen. Das kurhessische Hanau „war am 24. September 1830 Schauplatz von Krawallen, die die Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit auf sich zogen“. Die „aufgebrachte Menge“ räumte „die Zollgebäude, das Lizentamt und das Mainzollamt“ aus und verbrannte „Einrichtung und Akten“. Am 25. September „wurde das Zollbüro bzw. Mautamt an der Mainkur“ zerstört. Aufgrund dieser Unruhen musste die „Erhebung der Zölle [...] in den Provinzen Hanau und Fulda eingestellt werden“. (Peter Burg: Zoll und Schmuggel. 2: Zollchaos und Zollvereinspolitik im Kurfürstentum Hessen-Kassel nach der Julirevolution [1830/31]. http://peter-burg.de/zollverein-zoll-schmuggel/zoll-und-schmuggel-vor-1834/zollchaos-in-hessen-kassel, Zugang 19. Januar 2021). Auf der Reise von Berlin nach Stuttgart im November 1831 sah Gutzkow die Spuren der Verwüstung selbst: Der Thurn- und Taxis’sche Wagen führte mich in das damals in den Nachwirkungen der Julirevolution noch nicht beruhigte Kurhessen. [...] Im strömenden Regen [...] angelangt vor einer dieser erst vor Kurzem zerstörten Zollstätten, an der Mainkur [...], wurde der Wagenzug [...] angehalten. (Rückblicke, GWB VII, Bd. 2, S. 53-54) Dass es in Hanau schon wieder hoch her gehe, ist ein Bezug auf erneute Unruhen am 5. Januar 1832, deren Auslöser der Beitritt Kurhessens zum preußischen Zollverband war (→ Erl. zu 127,30-31). Dadurch wurde gegen den Willen der Hanauer und Fuldaer die Zollgrenze zu Bayern wieder eingeführt: „Die Stadträte und Bürgermeister weigerten sich, die neuen Verordnungen zu veröffentlichen. Das Hanauer Hauptzollamt erklärte beschwichtigend, Bayern werde dem Zollverein in Kürze beitreten. Doch das bewahrte das Amt nicht davor, schon am 5. Januar 1832, kurz nach seiner Fertigstellung, von einer aufgebrachten Volksmenge wieder zerstört zu werden. Grenzaufseher wurden tätlich angegriffen. Die aus preußischen und kurhessischen Beamten bestehende Zolldirektion mußte die Stadt verlassen. Die Polizei versagte. Das Militär reichte nicht aus, die Empörung niederzuschlagen. An der Mainkur kam es zu einer Straßenschlacht mit dreißig Toten.“ (Burg, Zollchaos) Das Datum dieser neuen Unruhen gibt mithin Aufschluss darüber, dass Gutzkow den dritten ,Narrenbrief‛ im Januar 1832 bearbeitete.
22,25 veraccisen]
Versteuern. - Das Verb ist in zeitgenössischen Fremdwörterlexika belegt: „veraccisen, deutsch-lat. versteuern, mit Abgaben belegen“ (Heyse 1838, 2. Teil, S. 543).
22,33 Der Brand von Pera]
Pera war ein Stadtteil Konstantinopels. Ein verheerender Brand am 2. August 1831, gestiftet von Gegnern der Politik Sultan Mahmuds (→ Erl. zu 19,14-15), vernichtete unter anderem die Botschaftsgebäude der meisten europäischen Staaten mit Ausnahme derjenigen Österreichs und Schwedens. Die Praxis der deutschen Presse, die politische Misere im eigenen Land durch Sensationsberichte aus dem Ausland zu verdecken, wurde von Börne in seinen „Aphorismen und Miszellen“ ebenfalls mit Bezug auf den Brand von Pera glossiert: „Es gibt deutsche Blätter, die von jeder Feuersbrunst in Konstantinopel so genaue Nachrichten haben, als hätten deren Herausgeber dabei die Spritzen geleitet, aber den Rauch in ihrem eignen Vaterlande niemals wahrnehmen.“ (BSSchr, Bd. 2, S. 230).
22,33-34 der östreichische Beobachter]
Der „Österreichische Beobachter“ (Wien 1810-48) wurde „1812 von Metternich aufgekauft und zum offiziösen meinungsbildenden Organ der Regierung aufgebaut“ (Börne-Index, 2. Hbd., S. 1002).
23,5 des Marmormeers]
,Marmormeer‛ ist ein älterer Name für das Marmarameer.
26,3 Hengstenberg]
Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802-1865), der einflussreiche Vorkämpfer der neulutherischen Orthodoxie, gründete 1827 die „Evangelische Kirchenzeitung“, die erste echte Kirchenzeitung, ein mächtiges politisches Organ. Obwohl früher Mitglied der Burschenschaft, erlebte er 1823/24 in Basel unter dem Einfluss des dortigen Missionshauses und der Christentumsgesellschaft einen Umschwung seiner religiösen Gesinnung, der in Berlin, wo er mit den Erweckungskreisen in Berührung kam, vertieft wurde. Als Probst Gelbsattel, der ,lutherische Papst‘, erscheint er mehrmals in Gutzkows späterem Roman Die Ritter vom Geiste (z. B. im 3. Buch, 9. Kapitel).
26,6-8 aus dem Wupperthale, dem mildthätigen Elberfeld, Kielern, Glauchensern, Baslern]
Hier werden die prominentesten Zentren der Pietisten erwähnt. Glaucha, damals Vorort von Halle, war als Sitz der 1695 von August Hermann Francke (1663-1727) gegründeten Franckeschen Stiftungen ein Sammelpunkt des Halleschen Pietismus.
26,8-9 die Wilhelmsstraße oder die Wallachei in Berlin]
Die Berliner Wilhelmstraße war Sitz der preußischen Ministerien und steht daher als Synonym für den politischen Einfluss Hengstenbergs. Andererseits beherbergte die Straße einen Teil der Bevölkerung, die den sitzenden, webenden Geschäften (26,5) nachging, also arme Weber, die die soziale Hefe des Berliner Pietismus bildeten und mit denen Gutzkow sich wenig später in der Skizze Die Sterbecassirer (GWB I, Bd. 3, S. 75-85) beschäftigte. Der betreffende Teil der Wilhelmstraße erhielt im Volksmund wegen der eingewanderten Handwerker seinen Namen, wie die Erinnerungen Aus der Knabenzeit verdeutlichen: Diese Schuhmacher, diese Weber [...], besonders aus dem obern Theil der Wilhelmsstraße, den man der mährischen Einwanderer wegen spottweise die „Wallachei“ nannte [...] (GWB VII, Bd. 1, S. 113).
26,15-16 Der Scepter nimmt so gern die Gestalt des Krummstabes an]
Hinweis auf die Bereitwilligkeit der Fürsten, sich als ,Hirten‛ ihres Volks hervorzutun, indem sie durch den bischöflichen Krummstab, d. h. auch durch die sie stützende Kirche, ihre Macht ausüben.
26,19 die schriftliche Abfassung einer solchen]
Trotz der Verfassungsversprechungen der deutschen Fürsten beim Wiener Kongress (gemäß dem 13. Artikel der Wiener Bundesakte vom 8. Juni 1815: „In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden“; vgl. Fischer Weltgeschichte, Bd. 26, Frankfurt/M. 1969, S. 212) wurden nur in einigen Staaten, z. B. Bayern, Baden, Hannover, Hessen-Darmstadt, Nassau, Weimar, Württemberg, Verfassungen eingeführt. Friedrich Wilhelm III. hatte bei drei Gelegenheiten eine Verfassung für Preußen versprochen (→ Erl. zu 129,30-31), dieses Versprechen aber nicht eingehalten. Der politische Kurs Metternichs sowie der Partikularismus sorgten dafür, dass die deutschen Fürsten wenig Interesse daran hatten, die Macht mit ihren Untertanen zu teilen, geschweige denn im Rahmen des Frankfurter Bundestages Schritte zu unternehmen, die die von den Liberalen ersehnte deutsche Einheit gefördert hätten. Den Liberalen galt das Versagen des preußischen Königs als Wortbrüchigkeit. Erst 1848 erhielt Preußen eine Verfassung.
27,4 die Chancer]
Es könnte sich hier um einen Druckfehler des Wortes ,Chance‛ bzw. ,Chancen‛ handeln. Im Zauberer von Rom findet sich ein Gebrauch von Chancen im Sinne von ,Umstände‛, ,Akzidentien‘, ,Zufälle‘ (GWB I, Bd. 11.2, S. 1009). Andererseits könnte sich der Ausdruck Chancer (entsprechend der ,englischen‘ Identität des ,Narren‘) auf ,chancers‛, Opportunisten, beziehen. Vielleicht handelt es sich jedoch um eine Wortschöpfung Gutzkows aus dem Namen ,Chancery‛. Dieser bezeichnet „[t]he court of the Lord Chancellor of England, the highest court of judicature next to the House of Lords“ (OED 1971, S. 377). Die Chancer wären dann Rechtsprechende des höchsten englischen Gerichtshofes bzw. als Chancer dieser Zeit Richter, die vom Zeitgeist (dem Zuge des alltäglichen Treibens, 27,5) dazu ermächtigt sind, Preußen zu ,zwingen‘ (27,5) und zu ,verurteilen‘ (27,6), die religiöse Legitimation seiner Staatsmacht durch eine Verfassung zu ersetzen.
27,15 Conventikel]
Zunächst der (geheime) Gottesdienst der Puritaner, dann die außerkirchlichen religiösen Versammlungen der Pietisten.
27,18-19 Jeder dürfe sich [...] als ein Gefäß des göttlichen Geistes ansehen]
Der ,Narr‘ vetraut hier in einer subversiven Gedankenfigur ausgerechnet auf den als ,kopfhängerisch‘ bekannten Pietismus, um egalitäre, also revolutionäre Energien freizusetzen. Die zentrale Idee ist die der Gleichheit und damit der Priesterschafts-Befugnis aller Christen.
28,8-9 die furchtbare, imponirende Sittlichkeit eines Robespierre]
Maximilien de Robespierre (1758-1794), Advokat und Politiker, eine der einflussreichsten Gestalten der Französischen Revolution, wurde wegen seines moralischen Rigorismus „der Unbestechliche“ genannt. Das Argument des ,Narren‘ zielt hier darauf, dass die revolutionäre Kraft der Zukunft nicht allein auf einem republikanischen Tugendsystem wie dem Robespierres beruhen wird, sondern auf einer Verschmelzung von Christentum und Politik (27,13-23).
28,14 St. Simonisten]
Die Anhänger von Claude Henri de Rouvroy, Comte de Saint-Simon (1760-1825), Philosoph und Gesellschaftstheoretiker. In „Le Nouveau Christianisme“ (1825) konzipierte er eine religiöse Bindung in der modernen Gesellschaft auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Neuordnung von Industrie und Lebensweisen. Die Zeitschriften „Le Producteur“ (1825-26), „L’Organisateur“ (ab 1829) und die öffentlichen Darlegungen der Lehre, publiziert als „Doctrine de Saint-Simon. Exposition“ (1828-30), sorgten für die Verbreitung saint-simonistischer Ideen. Als Sekte organisiert, predigten die Saint-Simonisten Sozialismus und Frauenemanzipation; letztere wurde – über den Saint-Simonismus vermittelt oder nicht – auch zu einem Brennpunkt des Interesses jungdeutscher Autoren. Zur Wirkung der Lehre in Deutschland vgl. besonders E. M. Butler: The Saint-Simonian Religion in Germany. A Study of the Young German Movement. Cambridge: The University Press, 1926. Reprint New York: Fertig, 1968.
28,23 Carové]
Friedrich Wilhelm Carové (1789-1852), Mitstifter der Burschenschaft – er gehörte zu den Rednern des Wartburgfestes –, veröffentlichte 1831 in Leipzig „Der Saint-Simonismus und die neuere französische Philosophie“.
28,26 zu Mainz als Centralinquisitor]
Die Mainzer Zentraluntersuchungskommission wurde im September 1819 in Folge der Karlsbader Beschlüsse eingerichtet. Sie diente „zur Untersuchung demagogischer Umtriebe“ und „konstituierte sich aus den Vertretern der Regierungen Österreichs, Preussens, Bayerns, Hannovers, Badens, des Grossherzogtums Hessen und Nassaus“. Die Kommission wurde mangels Effektivität 1828 aufgelöst und 1833 nach dem Frankfurter Wachensturm durch die Bundeszentralbehörde in Frankfurt ersetzt (Börne-Index, 1. Hbd., S. 480).
28,28 la Mennais]
Hugues Félicité Robert de Lamennais (1782-1854), französischer Priester und Publizist, vetrat einen christlichen Sozialismus. Seine „Réflexions sur l’état et l’église en France pendant le XVIIIe et sur sa situation actuelle“ (1808) und sein „Essai sur l’indifférence en matière de religion“ (4 Bde., 1817-1823), eine glänzende Verteidigung der päpstlichen Hierarchie, sicherten vorübergehend seinen Ruhm. Um 1830 wurde er jedoch zum entschiedenen Vertreter des Gallikanismus und gründete 1830 die Zeitschrift „L’Avenir“. 1834 erschien sein einflussreiches Werk „Paroles d’un Croyant“, das die definitive Lossage von Rom bedeutete; bis Ende des Erscheinungsjahres wurden sieben Auflagen mit insgesamt ca. 100 000 Exemplaren verkauft. Von den „mindestens sieben“ deutschen Übersetzungen, die noch 1834 erschienen, stammt eine von Ludwig Börne („Félicité de Lamennais: Worte des Glaubens“), mit der sich Gutzkow in Börne’s Leben (1840) ausführlich beschäftigt (GWB IV, Bd. 5, S. 174-177). Vgl. Börne-Index, 1. Hbd., S. 427-428, und BSSchr, Bd. 2, S. 1157-1240.
28,28 Cousin]
Victor Cousin (1792-1867), französischer Philosoph, Schriftsteller und Politiker, unternahm mehrere Deutschlandreisen, wurde 1824 in Dresden verhaftet und auf Fürsprache seines Freundes Hegel freigelassen. Bei seiner Rückkehr nach Paris unterstützte er die Opposition und nach der Julirevolution wurde er u. a. Staatsrat, Oberaufseher des öffentlichen Schulwesens, Mitglied der Französischen Akademie und Pair von Frankreich. Sein System des „Eklektizismus“ stellte den Versuch einer Synthese der Philosophie Hegels, Schellings und der schottischen Schule dar.
28,29-30 Das hat Rußland trefflich verstanden]
Nach der Niederschlagung des polnischen Aufstandes von 1830/31 erfolgte eine Entpolitiserung der polnischen Bevölkerung durch Russland. Polen „verlor [...] seine Verfassung, seinen Reichstag und seinen Reichsrath und wurde als russische Provinz [...] dem großen Moskovitenreiche beigefügt und der strengsten Polizeiaufsicht unterworfen“ (Weber, S. 571). Zugleich wurde eine gezielte Russifizierung der polnischen Kultur in Angriff genommen.
28,31 deutschen Michel]
Auf den unpolitischen deutschen Michel bezieht sich Gutzkow hier schon zu einer Zeit, die der Hochkonjunktur der Michel-Karikaturen im Vormärz um ein Jahrzehnt vorausliegt.
29,4 Walter Scottisch]
Sir Walter Scott (1771-1832), schottischer Lyriker und Romancier, schrieb zwischen 1814 und 1823 mehr als zwanzig historische Romane, die allesamt Bestseller wurden. Er vertiefte sich vor allem in die schottische Geschichte und in die Volksliedtradition und debütierte mit der dreibändigen Sammlung schottischer Volkspoesie und Volkslieder „Minstrelsy of the Scottish Border“ (1802-03), die damals mit „Reliques of Ancient English Poetry“ von Thomas Percy (1765) verglichen wurde, denn beide Werke, wie auch „The Works of Ossian, Son of Fingal“ (1760-65) von James Macpherson, öffneten dem Leser eine mittelalterliche, gläubige und legendenvolle Welt. Bis 1818 spielten seine Romane im schottischen Raum; später bezogen sie auch die englische, französische und europäische Geschichte ein. Von „Ivanhoe“ (1819) mit seiner Handlung im England des zwölften Jahrhunderts bis „Count Robert of Paris“ (1832), einem der letzten Romane, der wieder das Thema der Kreuzzüge aufgreift, bot Scott dem Publikum eine abenteuerliche, aber bis ins Detail glaubhafte Darstellung historischer Verhältnisse und ihres prägenden Einflusses. Dieser Hang zur ritterlich-edlen Vergangenheit fand auch in Frankreich und Deutschland starken Anklang. Willibald Alexis zählte zu den vielen deutschen Übersetzern und veröffentlichte sogar eigene Werke unter Scotts Namen: „Walladmor“ (1823) und „Schloß Avalon“ (1827) erschienen beide mit dem Untertitel „Frei nach dem Englischen des Walter Scott“. → Erl. zu 29,4-5.
29,4-5 Karlistischem Romanticismus]
Die konservative französische Romantik der Restauration, deren Haupt der junge Victor Hugo war, genoss die Förderung des bourbonischen Königs, Karl X. Diese Phase ist auch noch von der intensiven französischen Scott-Rezeption geprägt.
29,5 Prätendentenscenen]
Direkte literarische Huldigungen des legitimen Thronanwärters; diese sind gleichermaßen im Sinne Scotts wie der Romantiker vor 1830. → Erl. zu 77,28.
29,23-24 decretirt er dem [...] Autor ein Halseisen]
Möglicherweise eine Anspielung auf Metternichs Vertrauten und einflussreichen Wort- und Schriftführer der Reaktion, den Hofrat Friedrich von Gentz (1764-1832), der, obwohl er z. B. ein großer Verehrer Heines war, dennoch die Karlsbader Beschlüsse verfasste. In der Beschreibung der aktuell politischen, witzig-verschlüsselten Schreibweise, die nicht nur beim breiteren liberalen Lesepublikum, sondern durchaus auch bei geistreichen Machthabern Gefallen finden mag, wird auch das eigene Werk charakterisiert: Anklänge an den Augenblick (29,9), Ernst als Scherz vorgetragen (29,11), eine untergelegte Diction, etwa daß der Autor einen Narren an eine Närrin Briefe schreiben ließe (29,12-14) und seine Stellung zu den Parteien nur versteckt durch den Schleier des Indifferentismus andeutete (29,14-15).
30,10 den spanischen Abenteurer]
Wohl der Protagonist aus Cervantes’ Roman „Don Quixote de la Mancha“.
30,13-14 Anakreontischen]
„Anakreontik, nach dem griech. Lyriker Anakreon (6. Jhd. v. Chr.) benannte Richtung der europ. Lyrik im Rokoko, etwa um 1740-1770. [...] Die Darstellung bedient sich oft des Schäferkostüms oder traditioneller Namen und Situationen aus der antiken Mythologie (Venus, Amor, Bacchus).“ (Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Kröner, 1989. S. 27).
30,17 Vom Lächerlichen zum Erhabenen]
Umgekehrt in fast allen nachweisbaren Quellen: „Du sublime au ridicule il n’y a qu’un pas“. Dies sind die Worte Napoleons I. zu de Pradt, dem polnischen Gesandten, nach dem Rückzug von Moskau 1812 (D. G. de Pradt: Histoire de l’ambassade dans le grand-duché de Varsovie en 1812. Paris: Pillet, 1815. S. 215). Vgl. auch Thomas Paine: „The sublime and the ridiculous are often so nearly related, that it is difficult to class them separately. One step above the sublime, makes the ridiculous; and one step above the ridiculous, makes the sublime again.“(The Age of Reason. London: Daniel Isaac Eaton, 1795. Bd. 2, S. 20.) Nach Büchmann 1977, S. 252, hat der Gedanke schon früher bei Jean-François Marmontel (1723-1799) Ausdruck gefunden: „Le ridicule touche au sublime.“ „Du sublime au ridicule il n’ya qu’un pas, Madame!“ steht als erster Satz und am Anfang des letzten Absatzes in Kapitel XI von Heines „Ideen. Das Buch Le Grand“ (1826).
30,18 Falstaff]
Der ständig mit seiner Tapferkeit prahlende, aber alles andere als ruhmreiche Sir John Falstaff erscheint in Shakespeares „King Henry the Fourth“ und „The Merry Wives of Windsor“.
30,22 Lepidus]
Marcus Aemilius Lepidus (90?-13 v. Chr.) war mit Marcus Antonius und Gaius Octavius, dem späteren Kaiser Augustus, Mitglied des sogenannten zweiten Triumvirats. Mit seinem geringen Einfluss unzufrieden, führte er 30 v. Chr. in Sizilien einen erfolglosen Aufstand gegen Octavius und zog sich danach aus dem öffentlichen Leben zurück.
32,3-4 Geliebte]
Die fiktive ,Närrin‘ erweist sich als ebenso vielgestaltig wie der ,Narr‘ selbst. Hier wird sie zur Witwe des hingerichteten spanischen Generals Torrijos, Luísa Saenz de Viniegra: → Erl. zu 32,6-7.
31,7-8 daß, wer hat, dem gegeben, wer aber Nichts hat, dem genommen werde]
Ironische Anspielung auf die Parabel von den anvertrauten Zentnern, wobei der religiöse Sinn vom ökonomischen Zweck verdrängt wird (vgl. Mt 25,14-30; Lk 19,1227).
31,9 Irländer und Juden]
Bis zur Katholikenemanzipation (April 1829), deren Vorkämpfer der Ire Daniel O’Connell gewesen war, bestand in Großbritannien für die katholische (d. h. zum größten Teil irische) Bevölkerung keine Rechtsgleichheit. Die Judenempanzipation war ein vordringlinges Anliegen vieler Vormärz-Liberalen. Nach dem Wiener Kongress waren viele Staatsbürgerrechte, die den Juden in den deutschen Staaten während der napoleonischen Zeit zuerkannt wurden, wieder rückgängig gemacht worden.
31,18 Chimborasso]
Chimborazo, Berg im heutigen Ecuador, nach Messungen aus dem Jahr 2016 mit einer Höhe von 6263 m. Er galt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als höchster Gipfel der Erde. Die spektakuläre Besteigung durch Alexander von Humboldt und seinen Reisegefährten, den Mediziner und Botaniker Aimé Bonpland, im Jahre 1802 bis auf die Höhe von 5759 m machte den Chimborazo in ganz Europa bekannt. Der Berg wird hier vermutlich wegen seiner Eigenschaft als erloschener Vulkan erwähnt. Friedrich Georg Weitschs berühmtes Gemälde von der Expedition (1810) war Gutzkow möglicherweise bekannt.
32,6-7 Deines Gemahls]
Der Text umspielt und verdeckt im Folgenden ein europäisches Politikum der frühen dreißiger Jahre: den Putschversuch der spanischen Liberalen unter General José María de Torrijos y Uriarte (1791-1831) gegen König Ferdinand VII. (→ Erl. zu 35,13-14). Zunächst spanischer Militär, emigrierte Torrijos nach 1823, dem Beginn einer erneuten absolutistischen Periode Ferdinands VII., nach Frankreich, dann nach England und wurde einer der Anführer der spanischen Opposition im Exil. Nach der Julirevolution unternahm er mehrfach von Gibraltar aus Versuche, den spanischen Absolutismus militärisch zu stürzen. Durch Verrat wurde er am 2. Dezember 1831 am Strand von Málaga festgenommen und mit 52 anderen Verschwörern (darunter auch der frühere Parlamentspräsident, der ehemalige Kriegsminister und der englische Offizier Robert Boyd) auf Befehl des Königs neun Tage später, am Sonntag, dem 11. Dezember, dort erschossen (vgl. Enciclopedia Universal Ilustrada europeo-americana. Madrid: Espasa-Calpe, 1928. Bd. 57, S. 1471-1472). Das Ereignis erfuhr in ganz Europa eine Rezeption durch Gedichte, Dramatisierungen und Bilder (vgl. das → „El fusilamiento de Torrijos“ von Antonio Gisbert, 1888, im Prado, Madrid). Im 68. der „Briefe aus Paris“ zitiert Börne ausführlich das auf den „schändliche[n] Mord des Torrijos“ bezogene Gedicht „L’Espagne et Torrijos, à Ferdinand VII.“ von Auguste Marseille Barthélemy (BSSchr, Bd. 3, S. 455-457). Im Artikel II der „Französischen Zustände“ thematisiert Heine die Haltung von Torrijos’ Frau, „eine arme todtblasse Dame“, die ihrem Mann von Paris aus zu Hilfe kommen wollte, jedoch umkehrte, „als sie an der spanischen Grenze die Nachricht von der Hinrichtung ihres Gatten und seiner zweyundfünfzig Unglücksgefährten erfuhr“ (DHA, Bd. 12/1, S. 86 mit Kommentar Bd. 12/2, S. 763-764). Eine weitere Verklärung erfuhren die Ereignisse in England durch Carlyles „Life of John Sterling“, Kapitel 10 und 13; in Spanien durch die Erinnerungen von Torrijos’ Witwe, Luísa Saenz de Viniegra (ca. 1792-ca. 1860); beide erschienen jedoch erst nach den Briefen eines Narren an eine Närrin.
32,7 Lafayette]
Marie-Joseph de Motier, Marquis de Lafayette (1757-1834), war eine europäische Freiheitsikone. Nachdem er entscheidend am Unabhängigkeitskampf der Vereinigten Staaten beteiligt gewesen war, wurde er zu Beginn der Französischen Revolution Oberbefehlshaber der Nationalgarde. Ab 1818 war er Abgeordneter und in der Julirevolution wiederum Anführer der Nationalgarde. Von Paris aus unterstützte er Torrijos in seinen Unternehmungen gegen den spanischen Absolutismus und finanzierte auch die Reise der bestürzten Gattin in Richtung Madrid.
32,31 Hesperia]
Altgriechischer Name für die iberische Halbinsel.
32,31-32 Manzanares]
Fluss durch Madrid.
33,3 Genil]
Fluss, der in der Sierra Nevada entspringt, die Gebirgslandschaft Granadas durchfließt und in der Ebene Andalusiens in den Guadalquivir mündet.
33,6 Ruhestätte]
Torrijos und 51 Mitverschwörer wurden in Wirklichkeit in der Nähe des Hinrichtungsortes, dem Strand von Málaga, begraben, der Engländer Robert Boyd auf dem Cemeterio Inglés der Stadt.
33,14 Man gab den kannegießernden Zinngießer]
„Der politische Kannegießer“ war ein Lustspiel des Freiherrn Ludvig Holberg (1684-1754, als ,Molière des Nordens‘ bezeichnet) von 1722. Der dänische Originaltitel lautete „Den politiske kandestøber“ (erstmals 1742 von Detharding ins Deutsche übersetzt). Die Haupfigur Meister Hermann von Bremen verkörpert den großsprecherischen Politisierer: Nach Grimm, Bd. 5, Sp. 167, geht die Bedeutung des Begriffs „kannengieszer“ als „bierbankpolitiker“ und „beschränkter leidenschaftlicher zeitungsleser“ auf jenes Drama zurück, wie auch das Verb „kannegieszern“. Das Stück wurde auch unter dem Titel „Der politische Zinngießer“ aufgeführt; Gutzkow schafft mit dem kannegießernden Zinngießer einen witzigen Pleonasmus. Bezeichnenderweise wohnt der ,Narr‘ in Frankfurt a. M., dem Sitz des deutschen Bundestages, einer Aufführung des Lustspiels bei. In Rückblicke auf mein Leben schreibt Gutzkow, er habe in Frankfurt an einem Sonntag, vermutlich dem 20. November 1831, eine Aufführung des „Politische[n] Zinngießers“ besucht (GWB VII, Bd. 2, S. 60-61). In dem langen Passus (33,12-34,12), der Fiktives und Reales (33,18) miteinander verknüpft, wird die politische Lage Frankfurts als stellvertretend für ganz Deutschland dargestellt.
33,12-13 bin ich gestern noch ins hiesige freie Reichsstadttheater gegangen]
Der Text fiktionalisiert ein Ereignis der Reise Gutzkows von Berlin nach Stuttgart im November 1831. Der Theaterbesuch in Frankfurt soll an einem Sonntag stattgefunden haben (vgl. Rückblicke, GWB IV, Bd. 2, S. 60-61), also vermutlich am 20. November. Torrijos und seine Mitverschwörer wurden am Morgen des 11. Dezember, ebenfalls an einem Sonntag, hingerichtet. Die Bitte des ,Narren‛ um die Nachsicht der trauernden Witwe, dass er sich [b]ei all dem Jammer dennoch zu einem Theaterbesuch entschlossen habe, basiert also nur auf der Übereinstimmung des Wochentags, nicht des Datums.
33,18-19 Vor einigen Tagen war hier nämlich eine so entsetzliche Revolution]
Am 24./25. Oktober 1831 fand in Frankfurt der sogenannte ,Torsperrentumult‛ statt. Er brach aus, „als die heimkehrende weinselige Menge die Tore, die während der drei Tage des Weinlesefestes bis 22 Uhr offen zu sein pflegten, bereits um 21.15 geschlossen fand. Die der Auseinandersetzung mit den Wachmannschaften am Allerheiligentor folgenden Kämpfe zwischen Bürgern und Liniensoldaten kosteten mehreren Menschen das Leben; obwohl am darauffolgenden Tag die Tore bis 22 Uhr offen blieben, kam es, aus Rache für das ,vergossene Bürgerblut‘, zu erneuten schweren Ausschreitungen, bei denen auch die beiden Bürgermeister bedroht wurden“ (Börne-Index, 1. Hbd., S. 186-187).
33,19 v. Bellinghausen]
Joachim Eduard Graf von Münch-Bellinghausen (1786-1866), österreichischer Staatsmann, übte als Präsidialgesandter am Bundestag in Frankfurt (ab 1823) auf die politischen Verhältnisse in Deutschland einen großen Einfluss aus. Die polizeiliche Tätigkeit des Bundestages war wesentlich sein Werk. Zur Unruhe der Bevölkerung im benachbarten kurhessischen Gebiet, gegen welche die Bundestruppen tatsächlich mobilisiert wurden: → Erl. zu 22,13.
33,25-26 ob ein deutscher Schauspieler so vielen Muth besitzt]
Der ,Narr‘ stellt hier die Frage nach der Zivilcourage und dem Improvisationstalent des deutschen Schauspielers, die diesen befähigen sollten, eine Rollenvorlage zu direkten politischen Anspielungen auszunutzen. Die Frankfurter Aufführung des „Politischen Kannegießers“ (33,12-13) ließ einen solchen Muth, Bezüge aus dem Stegreif herzustellen auf das, was allen den Hörern als das Vertrauteste sogleich zugegen war, hier die Thorsperre, vermissen. → Erl. zu 113,24.
33,32-34 Staub [...] von meinen Füßen geschüttelt]
Der ,Narr‘ unterstreicht die Entschiedenheit seiner Abkehr von Frankfurt durch Anspielung auf Mt 10, 14-15: „Und wenn euch jemand nicht aufnehmen wird noch eure Reden hören, so geht heraus von jenem Hause oder jener Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen. Wahrlich, ich sage euch: Dem Lande der Sodomer und Gomorrer wird es erträglicher gehen am Tage des Gerichts als solcher Stadt.“ Durch diese Anspielung wird schon hier auf den 26. Brief gedeutet.
34,1-2 Uhland in seinem Straßburgermünstergedichte]
Uhlands Gedicht trägt den Titel „Münstersage“ und erschien zuerst in Nr. 295 des „Morgenblatts für gebildete Stände“ vom 10. Dezember 1829 (Digitalisat MDZ). Darin verbeugt sich Uhland vor Goethe: „Am Münsterturm, dem grauen, / Da sieht man, groß und klein, / Viel Namen eingehauen; / Geduldig trägt’s der Stein. // Einst klomm die luft’gen Schnecken / Ein Musensohn heran, / Sah aus nach allen Ecken, / Hub dann zu meißeln an. // Von seinem Schlage knittern / Die hellen Funken auf; / Den Turm durchfährt ein Zittern / Vom Grundstein bis zum Knauf. // Da zuckt in seiner Grube / Erwins, des Meisters, Staub, / Da hallt die Glockenstube, / Da rauscht manch steinern Laub. // Im großen Bau ein Gären, / Als wollt’ er wunderbar / Aus seinem Stamm gebären, / Was unvollendet war! – // Der Name war geschrieben, / Von wenigen gekannt; / Doch ist er stehngeblieben / Und längst mit Preis genannt. // Wer ist noch, der sich wundert, / Daß ihm der Turm erdröhnt, / Dem nun ein halb Jahrhundert / Die Welt des Schönen tönt?“ Uhland merkt zu dem Gedicht an: „Auf der Plattform des Straßburger Münsters steht unter vielen auch Goethes Name, von seinen akademischen Jahren her, eingehauen.“ (Ludwig Uhland: Werke. Bd. 1. Sämtliche Gedichte. Hg. von Hartmut Fröschle u. Walter Scheffler. München: Winkler, 1980. S. 187-188.)
34,4 das Haus Göthe? muß längst fallirt haben?]
Diese scherzhafte Anekdote fand im Verlauf des 19. Jahrhundert weite Verbreitung, sodass Gutzkow im „Telegraph für Deutschland“ (Nr. 120, [28.] Juli 1838, S. 960, Kleine Chronik) erklärte: Die von mehreren Journalen wiederholte und aus Nöggeraths Bericht über die Prager Naturforscherversammlung entnommene Anekdote, daß ein Frankfurter auf die Frage: Wo ist Göthes Haus? geantwortet haben soll: Das Haus Göthe? Kenn’ ich nicht; muß wohl fallirt haben! ist unmöglich dem Freunde Nöggeraths passirt; denn, sie findet sich zum Erstenmale in den Briefen eines Narren an eine Närrin und ist, um es nur zu gestehen, von dem Verf. derselben erfunden worden. (Rasch 3.38.07.28.2) Die Anekdote steht noch im ersten Band von Moritz Gottlieb Saphirs „Conversations-Lexikon für Geist, Witz und Humor“ (Dresden: Schaefer, 1852, S. 351, Stichwort ‚Haus‘) sowie in allen (gemeinsam mit Adolf Glaßbrenner hg.) späteren Nachfolgeauflagen des Werkes. Gutzkow wird auch hier als Urheber nicht genannt.
34,6 ein metallener Hahn]
„Der ,Brickegickel‘ ist der ,vergoldete Hahn‘, welcher die Spitze eines Kruzifixes zierte, das 1401 auf der Mitte der alten, nach Sachsenhausen hinüberführenden Mainbrücke errichtet worden war (→ ); im ausgehenden Mittelalter bezeichnete dieses ,Sühnekreuz die Richtstätte‘, von wo aus ,die zum Ertränken Verurteilten gebunden in den Main geworfen‘ worden waren“ (Vonhoff, S. 11-12; vgl. auch dort S. 361-362).
34,12 ob der Hahn die Lilien aufwiege]
Ausspielung des gallischen Hahns der Freiheit gegen die Lilien des bourbonischen Königtums.
34,16 die siebenjährigen Thaten eines königlichen Helden]
Anspielung auf die Bedeutung Friedrichs des Großen und des Siebenjährigen Krieges für das Schaffen Wilhelm Ludwig Gleims (1719-1803). Er veröffentlichte 1757, also während des Siebenjährigen Krieges, seine „Preußischen Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757“.
34,17 durch den bekannten Gaul]
Bezieht sich vielleicht auf das Lehrgedicht von Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769): „Das Pferd und die Bremse“ („Ein Gaul, der Schmuck von weißen Pferden ...“).
34,20 Ossian Nichts ohne Fingal]
James Macpherson veröffentlichte die Epen „Fingal“ (1762) und „Temora“ (1763), die die Sagen um Fionn (bei Macpherson: Fingal) behandelten, den Anführer einer irischen Kriegerschar des 3. Jahrhunderts. Durch Manuskripte und mündliche Überlieferung erhalten, gingen diese Dichtungen (wie die 1760 publizierten „Fragments of ancient poetry [...] translated from the Gallic or Erse language“) angeblich auf Fingals Sohn, den legendären Sänger Oisín (Ossian) zurück. Bei Macpherson ist Fingal ein schottischer, in Irland aktiver König. In ganz Europa - und in Deutschland durch Herder und Goethe - berühmt geworden, erwiesen sich die Gesänge ,Ossians‛ später zum Teil als Macphersons Fälschungen bzw. Nachdichtungen mittelalterlicher Vorlagen.
34,21-23 was ist die ganze deutsche Literatur ohne das Großherzogthum Sachsen-Weimar-Eisenach!]
Goethe zog am 7. November 1775 auf Einladung des Herzogs Karl August nach Weimar. Die bissige Ironie, die wiederum eine starke, politisch motivierte Distanz zu Goethe offenbart, wird einige Zeilen später auf die Deutschen insgesamt ausgedehnt: Aus angeborner Leibeigenschaft knieen wir nicht vor den Königen und demüthigen uns, nur aus Gemüthlichkeit (35,1-3). → Erl. zum ,deutschen Michel‘, 28,31.
35,4 vom treuen Eckart]
Der ,treue Eckart‛ ist eine Gestalt der deutschen Heldensage. Er warnt die Harlunge vor den Anschlägen des ungetreuen Sibich. Vor allem aufgrund einer in Thüringen verbreiteten Sage steht die Figur sprichwörtlich für den Warner. Literarisch wurde der Stoff verarbeitet in Tiecks Novelle „Der getreue Eckart und der Tannenhäuser“ (1799) und in Goethes Ballade „Der getreue Eckart“ (1813, Erstdruck 1815).
35,13-14 der constitutionellen Prätendenten auf dem Doppelthron der iberischen Halbinsel]
1812 erhielt Spanien die sogenannte Cortes-Verfassung, „die in vielen Dingen der französischen Constitution von 1789 entsprach“ (Weber, Bd. 2, S. 486). Nachdem Napoleon den Thron Spaniens 1813 an Ferdinand VII. (1784-1833) zurückgegeben hatte, führte dieser ein Regime, das zwischen brutalem Absolutismus und Konstitutionalismus schwankte. Er verwarf zunächst die Cortes-Verfassung, wurde aber durch einen Aufstand 1820 gezwungen, sie wieder einzuführen. 1823 regierte er nach der Intervention des restaurativen Frankreich wieder absolutistisch. 1830 erwirkte er durch eine Gesetzesänderung die Möglichkeit einer weiblichen Thronfolge, so dass seine 1830 geborene Tochter Isabella bzw. seine Gattin Maria Christina ihm als Regentin nachfolgen konnten. Dies bereitete den Thronstreit zwischen Ferdinands Bruder Don Carlos und der Regentin Maria Christina vor, der sich zwischen 1830 und 1833 durch z. T. intrigante Maßnahmen der Carlos-Partei und den plötzlich wieder auf die Cortes zählenden Rechtsstandpunkt Ferdinands abzeichnete. Nach Ferdinands Tod 1833 weitete sich der Konflikt „zu einem Bürgerkrieg und Meinungskampf“ aus: „Die Karlisten kämpften für die altspanischen Einrichtungen, für Thron und Altar im alten [...] Bunde, für Legitimität [→ Erl. zu 20,27] und Priesterherrschaft. Auf ihrer Seite standen die absoluten Mächte [...], die hohe Aristokratie aller Länder und die kleine Zahl romantischer Verehrer mittelalterlicher Zustände und eines unbeschränkten Königthums ,von Gottes Gnaden‛. Die ,Christinos‛ stritten für landständische Verfassung und bürgerliche Freiheit und Rechtsgleichheit, für die Errungenschaften der Revolution und für die Vernichtung der Priestermacht [...].“ (Weber, Bd. 2, S. 707).
35,21-22 die Rosse der Viktoria [...] mit dem Pegasus drüben auf dem Schauspielhaus]
Das Brandenburger Tor von Karl Gotthart Langhans (1733-1808) wurde 1788-91 nach dem Vorbild der Propyläen auf der Akropolis errichtet. Gottfried Schadow (1764-1850) schuf die berühmte Quadriga, das Viergespann der Siegesgöttin, das Napoleon nach seinem Einzug in Berlin (20. Oktober 1806) als Siegesbeute nach Paris bringen ließ. Nach dem ersten Pariser Frieden (30. Mai 1814) musste Frankreich die Beutestücke und die geraubten Kunstschätze nicht zurückgeben, wohl aber die Siegesgöttin und den Degen Friedrichs des Großen. Das nah gelegene, von Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) entworfene Schauspielhaus mit dem Pegasus darauf wurde 1818 vollendet.
36,17-18 Sohn, da hast du meinen Speer!]
Mit diesen Worten beginnt das „Lied eines alten schwäbischen Ritters an seinen Sohn“ von Friedrich Leopold Graf von Stolberg (1750-1819), vertont von Friedrich Wilhelm Rust (1739-1796). Dieses Lied war sehr bekannt und wurde häufig parodiert, z. B. in antikolonialistischer Absicht von Theodor Fontane in „Britannia an ihren Sohn John Bull“: „,Sohn, hier hast du meinen Speer, / Nimm dir viel und dann noch mehr [...]‘“. Im Kommentar zu diesem Fontane-Gedicht wird auf eine parodistische Version „im Berliner Volksmund“ hingewiesen: „,Sohn, da haste Ritterspeer, / Nimm ihn dir, ick kann nich mehr.‘“ Möglicherweise spielt Gutzkow auf eine parodistische Fassung von Stolbergs Gedicht an, was mit dem ironischen Ton der Passage übereinstimmen würde. (Theodor Fontane: Gedichte. Hg. von Joachim Krueger und Anita Golz. 3 Bde. Berlin: Aufbau-Verl., 1995. Bd. 1, S. 67-68, Kommentar S. 485. [Große Brandenburger Ausgabe, Bd. 2]).
36,19-20 hat Graf Moltke die Nothwendigkeit des Adels gerad’ umsonst bewiesen]
Der Politiker Magnus Graf von Moltke (1783-1864) veröffentlichte 1830 eine vom konservativen Standpunkt aus verfasste Broschüre „Über den Adel und dessen Verhältnis zum Bürgerstand“, die 1831 eine anonyme Gegenschrift „Kahldorf über den Adel. In Briefen an den Grafen M. v. Moltke“ hervorrief. Deren Verfasser war der Publizist und Burschenschaftler Robert Wesselhöft, und Heine schrieb dazu ein Vorwort, in dem der Graf scharf angegriffen wird.
37,9-10 der deutsche Bundestag — — — — — —]
Ganz offensichtlich eine Anspielung auf das berühmte „Capitel XII.“ aus Heines „Ideen. Das Buch Le Grand“ im zweiten Teil der „Reisebilder“, wo imaginäre Zensurstriche den Inhalt so stark tilgen, dass nach dem Satzanfang „Die deutschen Zensoren“ nur noch das Wort „Dummköpfe“ stehen bleibt, welches wiederum im Zusammenhang mit dem ,nicht zensierten‘ Satzbeginn die Zensur witzig kritisiert (→ ). Der Leser dieses ,Narrenbriefes‘ ist somit aufgefordert, das Wort ,Dummköpfe‘ zwischen den ,Zensurstrichen‘ zu ergänzen und auf den deutsche[n] Bundestag zu beziehen. Dies bietet ein Beispiel dafür, wie mit einem bereits existierenden Modell der Zensurkritik (durch witzig pointiertes Weglassen) wiederum subversiv umgegangen werden kann.
38,2 hujus]
Lat.: „dieses od. desselben, nämlich mensis, des Monates“ (Heyse 1838, 1. Teil, S. 494), kurz: ‚des jetzigen Monats‘.
38,11 Gottes sämmtlichen Werken, die bei Cotta erscheinen]
Wortspiel mit ,Gott‘ und ,Goethe‘. Cotta, der Goethes Werke druckte, erscheint hier als der einzige Verlag, der auch Gottes Werke veröffentlichen dürfte. Die Formulierung, in der sich Gutzkow nicht nur über Goethe und Cotta, sondern auch über die preußische Zensur lustig macht, bildet einen Anklang an 29,23-24 (→ Erl. zu 29,23-24).
38,12 in Preußen werden verboten werden des Princips wegen]
Wie in 29,23-24 konstatiert der ,Narr‛ den Widerspruch zwischen dem ästhetischen Sinn preußischer Staatsvertreter und ihrer offiziellen Politik, die gewisse Werke des Princips wegen zensiert, verbietet oder gar ihre Autoren ins Gefängnis bringt. Obwohl man in Preußen weder gegen Gott noch Goethe politische Bedenken hätte, zählt Goethes / Gottes ,Amoralität‛ zu den zensurwürdigen Verstößen.
39,22 F. Förster]
Friedrich Förster (1791-1868), Schriftsteller und Publizist, war 1827-1830 zusammen mit Willibald Alexis Herausgeber des „Berliner Conversations-Blatt für Poesie, Literatur und Critik“. Förster bekleidete seit 1829 das Amt eines Direktorial-Gehilfen an der Königlichen Kunstkammer im Schloss. Von 1822 bis 1837 erschien jährlich „Die Runde des großen Kurfürsten in der Neujahrsnacht“: Förster lässt darin Schlüters Denkmal des Großen Kurfürsten, das sich an der Langen Brücke (der Kurfürstenbrücke) in Berlin befand, lebendig werden und den Kurfürsten durch Berlin reiten, um Glossen zu den aktuellen Veränderungen in der Stadt und zu den Sitten der Berliner zu machen.
39,29 die lange heißt]
Schon Heine hatte sich in den „Briefen aus Berlin“ über das Missverhältnis zwischen dem Namen und der Gestalt der Brücke lustig gemacht: „Wir stehen auf der langen Brücke. Sie wundern sich: die ist aber nicht sehr lang? Es ist Ironie, mein Lieber.“ (DHA, Bd. 6, S. 10).
39,31-32 in der Spener-Spiekerischen Zeitung]
→ Erl. zu 118,25.
40,6-7 keine persönliche Ahnen]
Hier wird das Thema der Legitimität königlicher Herrschaft wieder aufgegriffen. Die Krone Preußens hat es historisch klug verstanden, Legitimität nicht an Ahnenreihen, sondern an die dynamische Idee des Königthums (40,7-8) zu binden, und ist daher vom Liberalismus schwieriger anzugreifen. Abgesehen von den territorialen Gründen, die die Bezeichnung ,Könige in Preußen‘ (nicht ,von‘ Preußen) notwendig machte, ist es bezeichnend, dass das preußische Königtum am 18. Januar 1701 durch einen Akt der Selbstkrönung Friedrichs III. (1657-1713), Kurfürst von Brandenburg und Sohn des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, zu Friedrich I., König in Preußen, zustande kam.
40,11-12 hat das Hohenzollern- das Wittelsbacherthum noch nicht nachgeahmt]
Die Wittelsbacher, seit dem 10. Jahrhundert bayerisches Herzogs- und Kurfürstengeschlecht, aus dem zwei römisch-deutsche Kaiser stammten, waren ab 1806 Könige von Bayern und seit dem 18. Jahrhundert Kunstsammler und Mäzene (→ 14,14-16). Die Stelle 40,12-13 spielt besonders auf die verstärkte Kunstförderung in München durch Ludwig I. (König 1825-1848) an. „Bei seinem Regierungsantritt war es beschlossene Sache, München in die größte Kunstmetropole nördlich der Alpen zu verwandeln. Der König ließ umfangreiche Baumaßnahmen durchführen, die München bis heute sein klassizistisches Gepräge geben. Auf dem Gebiet der Malerei träumte der König von einer Erneuerung der deutschen Kunst durch die Freskomalerei – eine Idee, die auf den Nazarener Peter Cornelius zurückging und der der König Vorschub leistete, indem er eine Reihe von Freskenzyklen für öffentliche Gebäude, Schlösser und Burgen in Auftrag gab.“ (Geraldine Norman: Die Maler des Biedermeier 1815-1848. Beobachtete Wirklichkeit in Genre-, Porträt- und Landschaftsmalerei. Übertragung aus dem Englischen Dagmar von Naredi-Rainer. Freiburg, Basel, Wien: Herder, 1987. S. 104).
40,34 Glasfenstern]
Bei den Restaurierungsarbeiten an der Marienburg (→ Erl. zu 40,27-29) wurde das fürstliche Refektorium, der ,Große Remter‛, mit bemalten Fenstern ausgestattet. Die Aufsicht über die Malereien, die in Berlin von Leopold Ludwig Müller (1768-1839) angefertigt wurden, führte Karl Friedrich Schinkel (1781-1841). Die Restaurierung des Großen Remters war ein Prestigeprojekt des preußischen Königshauses, das dafür eine Stiftung einrichtete, und die Fenster mit ihren Bildern aus der Ordensgeschichte waren von besonderer Bedeutung. Der preußische Staatskanzler und Reformpolitiker Karl August von Hardenberg (1750-1822) ließ 1819 das von ihm gestiftete ,Hardenbergfenster‛ von Schinkel zur Marienburg bringen. Vgl. Max Rosenheyn: Die Marienburg, das Haupthaus der deutschen Ordens-Ritter. Für Besucher derselben beschrieben. Leipzig: J. J. Weber, 1858. Bes. S. 110-112.
40,23-24 nach dem alten Liede]
Das Gedicht „Moritz von Sachsen. Die Geschichten und ritterlichen Thaten Moritz Herzogs zu Sachsen, durch Leonhardt Reutter. 1553. Flugschrift“ findet sich in Arnim/Brentanos „Des Knaben Wunderhorn“ (1806). Das Zitat 40,25-26 ist eine Abwandlung der Verse „Viel Wappen sah ich rummer hangen / Mit Trauern mein Herz wurd’ umfangen“.
40,27-29 das Schloß Marienburg oder Ideen zu einer Vergangenheit des preußischen Staates]
Die Marienburg in Westpreußen war eine Deutschordensburg aus dem 13. Jahrhundert und 1309-1457 Sitz des Hochmeisters des Deutschen Ritterordens. Nach einer wechselvollen Geschichte kam sie infolge der dritten polnischen Teilung 1772 an Preußen. Im Zuge der romantisch-patriotischen Wiederentdeckung gotischer Architektur wurde die Burg von Friedrich Wilhem III. 1804 unter Schutz gestellt und ab 1817 unter der Leitung des westpreußischen Oberpräsidenten v. Schön (→ Erl. zu 42,26: ein Anderer an der Nogat) umfassend restauriert. Diese Arbeiten waren - ähnlich der Fertigstellung des Kölner Doms, → Erl. zu 119,15-16 - ein ,vaterländisches‛ Projekt Preußens mit großer symbolischer Wirkung, da das Verfassungsversprechen der preußischen Krone nach wie vor uneingelöst blieb. Der preußische Staat, so die kritische Spitze dieser Passage, wird von seinen Vertretern einzig und allein historisch-symbolisch, nicht konstitutionell-rechtlich legitimiert. Die Repräsentanten der Staatsreform v. Stein (→ Erl. zu 42,26), v. Hardenberg (→ Erl. zu 40,34) und v. Schön haben zwar juristische und soziale Modernisierungen eingeführt, aber letztlich bei der symbolischen Verklärung des absolutistischen Staates mitgewirkt.
40,32 Jobeljahre oder Posttage]
Vgl. Jean Pauls „Hesperus, oder 45 Hundsposttage“ (1795) bzw. die 35 „Jobelperioden“ des „Titan“ (1800-1803).
41,4 Albrecht der Bär]
Albrecht I. von Brandenburg, Graf von Ballenstedt (um 1100-1170), aus dem Geschlecht der Askanier, war ab 1157 erster Markgraf von Brandenburg, nachdem er 1150 und 1157 das Havelland mit Brandenburg gewonnen hatte. Er kolonisierte und christianisierte das Land und war mit Heinrich dem Löwen wichtigster Wegbereiter der deutschen Ostbesiedlung.
41,4 Cöln an der Spree]
Die Gründung der gegenüberliegenden Orte Berlin und Cölln wurde gern Albrecht dem Bären zugeschrieben, da Name und Stadtwappen von Berlin auf ihn hinzudeuten scheinen. Jedoch wies z. B. Carl von Kertbeny 1831 auf das Fälschliche dieser Annahme hin, indem er die wendische (d. h. slawische und damit vom germanischen Patriotismus nur schwer zu vereinnahmende) Bedeutung der Ortsnamen hervorhob. Mit „Berlin“ sei demnach „ein wüstes Stück Land“ benannt, während mit „Koll“ im Wendischen „ein in’s Wasser geschlagener Pfahl“ bezeichnet werde, mit „Kollne aber Gebäude auf solchen Pfählen“ (Kertbeny, S. 5). Das Projekt einer ,närrischen‘ Geschichte Preußens, bei der das von den Römern gegründete Köln am Rhein, und nicht Cölln an der Spree, zur Schöpfung des Markgrafen Albrecht erklärt wird, stellt somit eine doppelte Verfälschung der Tatsachen und damit eine subversive antinationalistische ,Berichtigung‘ dar.
41,8 falschen Waldemar]
Anspielung auf eine Episode aus der brandenburgischen Geschichte. Der später so genannte ,falsche Waldemar‛ soll einem Verhältnis der Clothilde von Eberswalde mit dem Markgrafen Konrad entstammen und bei einem Müller aufgewachsen sein; sein Name war Jakob Rehbock (daher: den Müllerburschen Jäckel). Der ,echte‘ Waldemar, Markgraf von Brandenburg, war 1319 ums Leben gekommen; sein Tod verursachte ein Machtvakuum und andauernde Unsicherheit für die Bevölkerung der Mark. Unter dem bayerischen Markgrafen Ludwig (1324-1351) trat 1348 Jäckel auf und gab sich für den heimlich nach Palästina gepilgerten Waldemar aus. Er wurde von dessen Mutter wie auch von den Fürsten und Kaiser Karl IV. anerkannt. Auf dem Reichstag zu Nürnberg wurde er 1350 offiziell zum Betrüger erklärt, entsagte aber erst 1355 seinen Rechten und starb im darauf folgenden Jahr am Hof zu Dessau. (Vgl. www.opitz-hh.de/Geschichte/1346.htm; www.luise-berlin.de/_private/indexsuche.htm; Zugriff 14. April 2007; Meyer, Bd. 20, S. 327-328).
41,12 Der Nürnbergische Burggraf]
Das Haus der Hohenzollern erhielt 1411 durch den römisch-deutschen Kaiser Sigismund die Herrschaft in Brandenburg; Markgraf wurde Friedrich I., Burggraf von Nürnberg. Da Friedrich zwar die Nürnberger Stadt- und Waldrechte an die Stadt verkaufte, sich jedoch Rechte über das Land vorbehielt, entstanden „viele Streitigkeiten und verheerende Kriege der Stadt mit den [brandenburgischen] Markgrafen, besonders im 15. und 16. Jahrh[undert]“, und daher „[schrieb sich] selbst 1796 noch Preußen [...] das Recht zu [...], das nürnberger Gebiet bis an die Thore zu besetzen“ (Brockhaus 1864-68, Bd. 10 [1867], S. 923). Die Könige von Preußen führten bis zuletzt den Titel „Burggraf von Nürnberg“ (vgl. Meyer, Bd. 3 [1905], S. 628).
41,24 von Lancizolle]
Carl Wilhelm von Lancizolle (1796-1871), Jurist und Rechtshistoriker, stammte aus der ,französischen Kolonie‘ Preußens, die sich als „Reformirte“ „stets als biedere, fleißige, dem [preußischen] Könige treue und anhängliche Bürger gezeigt“ (Kertbeny, S. 286). Diese Loyalität stellte Lancizolle nicht nur durch seine rechtshistorischen Publikationen unter Beweis (u. a. „Die Geschichte der Bildung des Preußischen Staates“, 1828; „Uebersicht der deutschen Reichsstandschafts- und Territorialverhältnisse vor dem französischen Revolutionskriege“, 1830), sondern auch durch seine Mitgliedschaft im Oberzensurkollegium ab 1832 und durch seine Lesungen zur deutschen Rechtsgeschichte, die er „seit 1825 fünf Winter hindurch dem Kronprinzen von Preußen“, also dem künftigen Friedrich Wilhelm IV., hielt, und „denen nicht selten der Prinz Wilhelm [...] beiwohnte“, also der spätere Kaiser Wilhelm I. (ADB, Bd. 17, S. 583). Diese sind mit der geringe[n] Zuhörerzahl gemeint.
41,29 Ancillon]
Johann Peter Friedrich (Jean Pierre Frédéric) Ancillon (1767-1837) stammte wie Lancizolle aus einer Familie calvinistischer französischer Einwanderer. Er war Prediger an der französischen Kirche und Professor der Geschichte an der Militärakademie zu Berlin, preußischer Staatsmann, Außenminister, Historiker und politischer Philosoph, der mit Metternich zusammenarbeitete, um den Status quo von 1815 in Europa aufrecht zu erhalten. Ab 1810 war er Privatlehrer des Kronprinzen, d. h. des zukünftigen Friedrich Wilhelm IV. Der „Allgemeinen Deutschen Biographie“ zufolge galt Ancillon wegen seiner gelegentlichen liberalen Bekundungen beim ,Jungen Deutschland‘ nach seiner Übernahme „der auswärtigen Angelegenheiten“ Preußens im Jahre 1832 als „Hoffnungsstern“; Gutzkow wird in diesem Zusammenhang namentlich hervorgehoben (ADB, Bd. 1, S. 423). Gutzkow widmete Ancillon ein Kapitel seiner 1834 in Buchform publizierten Oeffentlichen Charaktere (Rasch 2.5.11).
41,32-33 Rochow’s, Quitzow’s, Arnim’s]
Hier und im folgenden eine teilweise wortspielerische Reihung preußischer Adelsnamen.
42,1-2 die faule Grete]
Ein legendäres Geschütz aus der preußischen Geschichte, „das Friedrich I. von Brandenburg zur Zerstörung der Ritterburgen der Quitzows etc. vom Landgrafen von Thüringen geliehen haben sollte, als er jene, die mit dem Herzog von Pommern verbündet waren, nicht bezwingen konnte. Die Landleute nannten die Grete ,faul‘, weil 24 Pferde zu ihrer Fortschaffung nötig waren; sie soll 24 Pfd. schwere Steinkugeln geschossen haben“ (Meyer, Bd. 6, S. 352). Gutzkow erwähnt die faule Grete auch in seinem Nekrolog auf Willibald Alexis: Nur von heute datirt unsere Geschichte des Deutschen Reichs, von dem Tage von Wörth und Sedan, von den Tagen des Vorparlaments. Aber ihre ersten Capitel schon mit der Heraufführung der „faulen Grete“ aus Nürnberg nach Köllen an der Spree zu beginnen, das wollen wir doch den „Strebern“ oder „Scheerenberg, Hesekiel, Fontane“ überlassen. (Karl Gutzkow: Zum Gedächtniß Wilhelm Härings. In: Allgemeine Zeitung. Augsburg. Nr. 20, 20. Januar 1872, S. 298. eGWB IV, Bd. 6.2., pdf 1.0, S. 8-9).
42,2 ultima ratio regum]
Lat.: Das letzte Mittel der Könige. Geflügeltes Wort, das auf Ludwig XIV. zurückgeführt wird, der durch den spanischen Dramatiker Calderon dazu angeregt wurde. „Im 1. Akt von Calderon’s ‚In diesem Leben ist Alles wahr und Alles Lüge‘ heißt es: ‚Im Kriege sind das letzte Wort der Könige (ultima razon de Reyes) Pulver und Kugeln‘.“ Ludwig XIV. ließ den Spruch in seine Kanonen gravieren. Friedrich der Große wählte ab 1742 dasselbe Motto für alle Bronzegeschütze, aus Haltbarkeitsgründen jedoch nicht für die eisernen. (Vgl. Büchmann 1879, S. 309-310.)
42,5 Wettrennen am Kreuzberge]
Seit etwa 1829 fanden in Berlin jährlich Pferderennen statt, eine Festivität des Adels und der Wohlhabenden: „An dieser Lustbarkeit, dessen [sic] Hauptzweck die Veredlung und Vervollkommnung der inländischen Pferdezucht ist, nehmen der König, der Königliche Hof, der hohe Adel und alle diejenigen Privatpersonen Theil, welche bei jenem Hauptzwecke ein Interesse haben. Die Preise für die besten Renner werden großentheils vom Könige und den höchsten Personen ausgetheilt, und überhaupt findet dabei die Beobachtung aller derjenigen Gebräuche Statt, welche bei Festlichkeiten dieser Art herkömmlich sind. Das Volk verhält sich bei diesen Vergnügungen mehr passiv, da die Theilnahme an denselben mit Kosten verknüpft ist, die nur der Begüterte aufbringen kann.“ (Kertbeny, S. 315).
42,14 Städteordnung]
→ Erl. zu 42,26.
69,1 G. Rießer]
Gabriel Riesser (1806-1863), Hamburger Jurist und berühmter Vorkämpfer der Judenemanzipation, gründete 1832 die Zeitschrift „Der Jude. Periodische Blätter für Religions- und Gewissensfreiheit, in zwanglosen Abtheilungen“, die nach 1835 als „Der Jude. Ein Journal für Gewissensfreiheit“ fortgesetzt wurde. Wichtig im Zusammenhang mit der vorliegenden Textstelle ist Riessers Schrift „Ueber die Stellung der Bekenner des mosaischen Glaubens in Deutschland. An die Deutschen aller Confessionen“ (1830, 2. Aufl. 1831); → Erl. zu 69,1-2.
42,26 v. Stein]
Heinrich Friedrich Karl, Freiherr vom und zum Stein (1757-1831), nassauischer Jurist, seit 1780 im preußischen Staatsdienst, war maßgeblich bei den großen (,Stein-Hardenbergschen‘) Reformen, die den preußischen Staat im Zuge der napoleonischen Herausforderung modernisierten. Wichtige Maßnahmen waren z. B. die Bauernbefreiung (1807), die Städteordnung (1808), die Aufhebung der Zünfte (1810-11) und die zu ihrer Zeit höchst fortschrittliche, in der Restauration jedoch großenteils wieder rückgängig gemachte Judenemanzipation (1812). Dass Stein im Text nicht als Modernisierer gepriesen, sondern im Gegenteil zum erzkonservativen preußischen Erbe gerechnet wird, liegt an der Kombination von Fortschrittlichkeit und autoritärem Staatsdenken, die die Stein-Hardenbergschen Reformen charakterisiert und die nach Ansicht Gutzkows für die preußische Staatsidee insgesamt typisch ist. Von dieser Tradition darf nichts abweichen, und selbst die hegelianisch erzogene Jugend unterliegt mit der dialektischen Theorie des Bestehenden dieser Last: Nicht in dem Willen der leicht erregten Masse, noch weniger in den Deklamationen der heutigen Wortführer und Tageshelden liege das Gesetz der Vernunft, sondern wir seien die Leibeigenen der Vernunft, seien ihr untertan. Weil sich nun diese Vernunft in dem offenbart, was die Geschichte bringt, so müßten wir uns auch andächtig vor der Macht des Positiven beugen. (Karl Gutzkow: Über die historischen Grundlagen einer preußischen Verfassung. RAB, S. 92) Die historischen Interessen des Freiherrn vom Stein fanden besonderen Ausdruck in seinem Einsatz für die Restaurierung der Marienburg in Westpreußen.
42,26 ein Anderer an der Nogat]
Der seit 1815 amtierende Oberpräsident von Westpreußen Heinrich Theodor von Schön (1773-1856), ab „1824 Oberpräsident von Ost- u. Westpreußen (1829: Prov. Preußen)“, gehörte wie der mit ihm verbundene Freiherr vom Stein zu den preußischen Reformern, in der Tat „zu der selbstbewußt agierenden ,liberalen Fraktion‛ der Oberpräsidenten, die mit ihrer entschiedenen Kritik an den zentralistischen und restaurativen Tendenzen der Berliner Ministerialbürokratie wiederholt Erfolge zu erringen vermochten“ (Bernd Sösemann: Schön, Theodor von. In: Neue Deutsche Biographie 23 [2007], S. 378-380 [Online-Version]; https://www.deutsche-biographie.de/pnd118610007.html#ndbcontent, Zugang 25. Januar 2021). Ab 1817 war v. Schön die treibende Kraft bei der Restaurierung der an der Nogat gelegenen Marienburg in Westpreußen. König Friedrich Wilhelm IV. verlieh ihm später den Ehrentitel „Burggraf von Marienburg“ (→ Erl. zu 40,27-29).
42,29 Buchholz]
Paul Ferdinand Friedrich Buchholz (1768-1843), Lehrer an der Ritter-Akademie zu Brandenburg und historischer Schriftsteller, veröffentlichte ein „Historisches Taschenbuch“ (22 Bde., 1814-37) und die „Neue Monatsschrift für Deutschland“ (48 Bde., 1820-35).
42,33 Leviathan]
Thomas Hobbes (1588-1679) schrieb in „Leviathan, or the Matter, Forme, and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil“ (1651): „I have set forth the nature of man (whose Pride and other Passions have compelled him to submit himselfe to Government;) together with the great power of his Governour, whom I compared to Leviathan, taking that comparison out of the two last verses of the one and fortieth of Job; where God having set forth the great power of Leviathan, called him King of the Proud.“ („Leviathan“, Teil 2, Kapitel 28) Bei Hobbes ist Leviathan der von den Menschen aus rationalen Gründen gewählte absolute Staat. Weil z. B. zur Zeit Hobbes’ die Royalisten das Werk als ideologische Rechtfertigung für die Einsetzung Cromwells als Staatsoberhaupt verstanden, hat die folgende Anspielung auf Hallers Werk, „Die Restauration der Staatswissenschaft“, stark ironischen Charakter.
42,33-34 Restauration der Staatswissenschaften]
Der Schweizer Staatsrechtler Karl Ludwig von Haller (1768-1854) schrieb das Werk, das geradezu als Programmschrift der ,Restaurations‛-Periode nach 1815 gelten kann: „Restauration der Staatswissenschaft oder Theorie des natürlich-geselligen Zustands, der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt“ (Winterthur 1816-34); → Erl. zu 131,8-9.
43,3 Codicem Fridericianum]
Am Ende des Siebenjährigen Krieges war Preußen eine europäische Großmacht geworden, und Friedrich der Große führte mehrere Reformen ein: die Aufhebung der Erbuntertänigkeit auf den Domänen und das Verbot des Bauernlegens. Die Justizreformen unter dem Kammergerichtspräsidenten Samuel Freiherr von Cocceji (1679-1755) führten u. a. zur Abschaffung der Folter, und der Jurist Carl Gottlieb Svarez (1746-1798) war für die Grundlegung des „Preußischen Allgemeinen Landrechts“, den „Corpus Juris Fridericianum“, verantwortlich.
43,4 Horaz]
Der römische Dichter Horaz (Quintus Horacius Flaccus, 65-8 v. Chr.) war ,tribunis militum‛, einer der sechs Offiziere in einer römischen Legion, in der Armee von Brutus. Nach den beiden Schlachten zu Philippi gegen Marcus Antonius und Octavius im November 42 v. Chr., in denen Brutus und Cassius sich selbst töteten, warf Horaz nach eigenem Bericht den Schild weg und flüchtete mittellos nach Italien zurück („Carmina“, II,7). Der siegreiche Octavius wurde Kaiser Augustus, und da er 63 v. Chr. bis 14 n. Chr. lebte, wird er zum Helden der beiden zusammenstoßenden Jahrhunderte.
43,12-13 in seine Tollheit eine Art Methode bringen]
Polonius in „Hamlet, Prince of Denmark“, Akt II, Szene 2, Z. 205-206: „Though this be madness, yet there is method in’t.“
41,1 Domcapitel]
Wortspiel, da der Ausdruck sich auf die leitende Versammlung von Geistlichen einer Domkirche bezieht.
40,19 Glasmaler]
→ Erl. zu 40,34.
40,20-21 Belebung alles Großen und Herrlichen]
→ Erl. zu 42,28.
42,27-28 sie tranken „auf Wiederbelebung alles Hohen und Edlen.“]
In seiner im selben Jahr wie die ,Narrenbriefe‛ publizierten Schrift Ueber die historischen Grundlagen einer preußischen Verfassung schreibt Gutzkow zu den Zauberformeln, die in Preußen aus der Historie bezogen würden: „Alles Hohe und Edle der Vergangenheit!“ sei ein bekannter auf Marienburg ausgebrachter Toast. Durch solche Trinksprüche werde die Jugend alt gemacht und das Alte [...] wieder verjüngt. (RAB, S. 92) Eine Broschüre zur Marienburg aus der Mitte des 19. Jahrhunderts enthält einen Anklang an den Trinkspruch des Oberpräsidenten v. Schön: Sein Gedanke sei gewesen, „das ewig Alte und Neue aus dem Schutt der Jahrhunderte verjüngend wieder emporzurichten“ (Max Rosenheyn: Die Marienburg, das Haupthaus der deutschen Ordens-Ritter. Für Besucher derselben beschrieben. Leipzig: J. J. Weber, 1858. S. 33).
44,19 Endymion]
In den griechischen Mythen ein schöner Jüngling, der ewig schlief. Auf seinen Wunsch hin soll Zeus ihm den ewigen Schlaf geschenkt haben, damit er für immer jugendlich bleibe. Er wurde von der Mondgöttin Selene geliebt, und sie besuchte ihn jeden Abend, als er in einer Höhle auf dem Latmusberg in Karia schlief. Sie gebar fünfzig Töchter.
44,26 Adoniskuß]
Adonis, Sohn von Myrrha/Smyrna (→ Erl. zu 195,34). Er war ein so schöner Jüngling, dass sowohl Aphrodite wie auch Persephone sich in ihn verliebten; der Kuss wäre dann einer Göttin würdig.
44,28-29 Der Mann im Monde, nicht der Pseudo-Claurensche]
„Der Mann im Monde oder Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme“ von Wilhelm Hauff (1802-1827) erschien 1825 (2 Bde., vordatiert auf 1826), ein Werk, das den Moderoman Claurens parodierte und unter dem Allonym Heinrich Clauren (= Karl Gottlieb Samuel Heun [1771-1854]) gedruckt wurde. Dies führte im Dezember desselben Jahres zu einem Prozess gegen Hauff wegen unrechtmäßiger Verwendung eines Pseudonyms. Vgl. hierzu Hauffs „Kontroverspredigt über H. Clauren und den Mann im Monde“ (1827). Wolfgang Menzel hatte Gutzkow wegen der engen Anlehnung der ,Narrenbriefe‘ an Jean Paul auf das Modell der Hauff’schen Parodie Claurens verwiesen (vgl. → Dokumente zur Entstehungsgeschichte, ; → Erl. zu 46,9).
45,23-24 den unglücklichen Lyonesen zu helfen]
Ironische Anspielung auf Wohltätigkeit als politisches Engagement, wie es begüterte Frauen im 19. Jahrhundert pflegten. Durch den ,subskribierten‘ Luxus seidener Kleider wollen die Pariser Damen dem Elend der Seidenweber in Lyon abhelfen, das im November-Dezember 1831 zu blutigen Aufständen geführt hatte.
45,4 wenn sie läufisch sind]
Menzel unterschlägt diese Wendung bezeichnenderweise in seiner Rezension der ,Narrenbriefe‘ (→ ). Dort wird die Stelle wie folgt zitiert: „Die Hunde bellen den Mond auch wirklich nur in bestimmten Zeitläuften an“.
45,32 Contumazleiden]
Contumazanstalten waren Quarantänestationen. Der Ausdruck Contumazleiden bezieht sich auf die Einschränkungen des Reiseverkehrs, die Gutzkow auf dem Weg nach Stuttgart im Spätherbst 1831 selbst betrafen. Zu dem Quarantäneaufenthalt im hessischen Raßdorf vgl. Rückblicke auf mein Leben (GWB VII, Bd. 2), S. 50-51. → Lexikon: Cholera.
46,7 heil. Bonifacius]
Der heilige Bonifatius (ca. 673 - 754 oder 755), im Südwesten Englands geboren, war im Gebiet von Bayern, Thüringen, Sachsen, Hessen und Friesland als Bekehrer der Germanen tätig; nach seinen Lebensdaten also im 8. Jahrhundert, nicht im neunten Jahrhunderte (46,11).
46,9 Seitenblicke auf die Rationalisten]
Zur Richtung des Rationalismus gehörte der Heidelberger Theologe Heinrich Eberhard Paulus (1761-1851; → Erl. zu 69,1-2), ein Gegner Wolfgang Menzels; letzter hing der Mystik an. Gutzkow vollführt durch diesen ,Seitenblick‛ eine kleine Verbeugung vor seinem Mentor Menzel, nachdem er ihm vorher Kritik signalisiert hatte: Der auf Menzels Anraten entstandene Pseudo-Clauren, Hauffs „Mann im Monde“, an dessen parodistischem Modell Gutzkow sich mit den ,Narrenbriefen‛ orientieren solle (→ Erl. zu 44,28-29), wirke auf keine Nerve mehr (44,29). Der erste Schritt zum Bruch mit Menzel war dann Gutzkows Spott in der Vorrede seiner Novellen (1834), Menzel schreibe keine Zeile, ohne zu denken, was wohl Paulus in Heidelberg dazu sagen werde (GWB I, Bd. 3, S. 5).
46,32 Sarmatenkind]
Lat.: Sarmatae, ein Nomadenvolk der südrussischen Steppe; ,Sarmaten‛ später Bezeichnung von Slawen allgemein. Nach dem Scheitern des Aufstands vom November 1831 wanderten etwa 50.000 Polen aus. Da sie alle als mögliche Choleraträger betrachtet wurden, erfuhren sie durch die Behörden der deutschen Staaten eine besonders strenge Behandlung.
46,15-17 weshalb mir auch die Frankfurter [...] schlechthin verweigerten]
Die Bestimmung für die Einreise sowohl ins Frankfurter Umland als auch nach Frankfurt selbst lautete, dass zwanzig Tage seit der Abreise aus einem Cholera-Gebiet vergangen sein mussten. Gutzkow, der erst zehn Tage unterwegs war, hatte daher noch einmal einen zehntägigen Aufenthalt in Hanau einzulegen, bevor er in Frankfurt Station machen konnte (vgl. Rückblicke, GWB VII, Bd. 2, S. 54-55). Schuld daran, so der ,Narr‛, war das geschwinde Tempo des Eilwagens und die direkte Route, die einen Nordzipfel des Königreiches Bayern durchschnitten hatte.
47,3-5 Jubel, wie bei den Triumphzügen der Ramorino, Langermann, Ledochowski im südlichen Deutschland]
Girolamo Ramorino (1792?-1849), italienischer General, nahm an allen Kriegszügen Napoleons teil, kämpfte auch bei Waterloo mit und war an den Erhebungen in Italien und Polen (1821 und 1831) entscheidend beteiligt. Bei G. F. Langermann (1791-1840) handelt es sich um Gotfryd Jerzy bzw. Daniel Langermann, einen Deutschen, der den polnischen Aufstand u. a. mit Ramorino zusammen militärisch geführt hatte. Jan Ledóchowski (1791-1864), politischer Aktivist, war Mitinitiator der Resolution für die Entthronung von Zar Nikolaus, wurde 1836 Mitbegründer des Bundes der polnischen Nation und saß später im Komitee der Polnischen Emigrantenunion (1862). Als Beleg für den Jubel, mit dem die exilierten Führer des polnischen Aufstandes auf ihrem Weg nach Paris begrüßt wurden, mag die Schilderung Georg Büchners gelten: „Als sich das Gerücht verbreitete, daß Romarino durch Straßburg reisen würde, eröffneten die Studenten sogleich eine Subscription und beschlossen, ihm mit einer schwarzen Fahne entgegenzuziehen. Endlich traf die Nachricht hier ein, daß Romarino den Nachmittag mit den Generälen Schneider und Langermann ankommen würde. Wir versammelten uns sogleich in der Academie; als wir aber durch das Thor ziehen wollten, ließ der Offizier, der von der Regierung Befehl erhalten hatte, uns mit der Fahne nicht passiren zu lassen, die Wache unter das Gewehr treten, um uns den Durchgang zu wehren. Doch wir brachen mit Gewalt durch und stellten uns drei- bis vierhundert Mann stark an der großen Rheinbrücke auf. An uns schloß sich die Nationalgarde an. Endlich erschien Romarino, begleitet von einer Menge Reiter; ein Student hält eine Anrede, die er beantwortet, ebenso ein Nationalgardist. Die Nationalgarden umgeben den Wagen und ziehen ihn; wir stellen uns mit der Fahne an die Spitze des Zugs, dem ein großes Musikchor vormarschirt. So ziehen wir in die Stadt, begleitet von einer ungeheuren Volksmenge unter Absingung der Marseillaise und der Carmagnole; überall erschallt der Ruf: Vive la liberté! vive Romarino! à bas les ministres! à bas le juste milieu! Die Stadt selbst illuminirt, an den Fenstern schwenken die Damen ihre Tücher, und Romarino wird im Triumph bis zum Gasthof gezogen, wo ihm unser Fahnenträger die Fahne mit dem Wunsch überreicht, daß diese Trauerfahne sich bald in Polens Freiheitsfahne verwandeln möge. Darauf erscheint Romarino auf dem Balkon, dankt, man ruft Vivat! – und die Comödie ist fertig.“ (An die Familie, Straßburg, im October 1831 [nach 4. Dezember 1831], BSWB, S. 293).
47,26-27 mit Karlistischen Umtrieben]
Bezieht sich auf die legitimistische Opposition, d. h. die Anhänger des 1830 gestürzten Bourbonenkönigs Karl X; → Erl. zu 77,28.
47,29 Charte]
Die französische Verfassung. Nach dem Einzug der Verbündeten in Paris am 31. März 1814 erhielt Frankreich durch die ,Charte‛ eine konstitutionelle Monarchie. Diese Verfassung wurde nach der Julirevolution 1830, in welcher der legitime Bourbonen-Herrscher durch den ,Bürgerkönig‘ ersetzt wurde, in revidierter Form beibehalten: Die Zensur wurde (vorübergehend) abgeschafft; Ministerverantwortlichkeit, die Trikolore und die Nationalgarde wurden wieder eingeführt. Die Senkung des Wahlzensus sorgte dafür, dass die Zahl der Wahlberechtigten von 90 000 auf fast 200 000 stieg. Dennoch änderte dies nichts an den traditionellen Machtverhältnissen: „Der Wahlzensus zeitigt [...] für die Zukunft folgenreiche Konsequenzen. Er schließt die Mehrheit [der] jungen Industriebourgeoisie von der Möglichkeit direkter politischer Einflußnahme aus und bindet, da die indirekten Steuern [→ 47,34] für die Erlangung des Wahlrechtes ohne Belang sind, den Staat und seine Körperschaften erneut an die Grund- und Kapitaleigentümer. Wie schon in den Jahrzehnten zuvor wird die Stadt gewissermaßen vom Land regiert. 80 Prozent aller Wähler nämlich zur Zeit der Julimonarchie kommen aus den Reihen der Großgrundbesitzer [...].“ (Kurt Holzapfel: Julirevolution 1830 in Frankreich. Französische Klassenkämpfe und die Krise der Heiligen Allianz [1830-1832]. Berlin: Dietz, 1990. S. 193).
47,32-33 Bitte an Leute wie Rothschild: vergib uns unsere Schuld!]
Anspielung auf die Abhängigkeit der Staatsmacht von der Finanzbourgeoisie (Erl. zu → 47,29). Siehe auch → : Rothschild.
19,21 Ernst Münch]
Der antikatholische Schweizer Historiker Ernst Münch (1798-1841) studierte Rechtswissenschaft in Freiburg i. Br., erhielt 1828 eine Professur für Kirchengeschichte in Lüttich und wurde dann vom niederländischen König als Staatsbibliothekar nach Den Haag berufen. Als Gutzkow Ende 1831 in Stuttgart eintraf, war Münch gerade aus Lüttich angekommen, um in der württembergischen Hauptstadt seine Stellung als Geheimer Hofrat und königlicher Bibliothekar anzutreten. Auf Menzels Empfehlung wurde er Mitarbeiter an der regierungsfreundlichen „Stuttgarter privilegirten Zeitung“. Münch gab die Werke Ulrichs von Hutten (1488-1523) heraus: Des teutschen Ritters Ulrich von Hutten Sämmtliche Werke. 5 Tle. Berlin, Leipzig: Herbig, 1821-25. Der Titel des anderen Werkes von Münch, auf das der ,Narr‘ sich bezieht (19,24-25), lautet: „Die Heerzüge des christlichen Europas wider die Osmanen, und die Versuche der Griechen zur Freiheit. Von dem ersten Erscheinen der Osmanenmacht bis auf unsere Tage.“ Es erschien ebenfalls in fünf Teilen beim Baseler Verlag Schweighauser (1822-26). Der ,Narr‘ spielt hier (19,21-28) auf das Doppelgesicht Münchs als Freund der Aufklärung einerseits, als Fürstendiener andererseits an. Vgl. die Charakteristik Münchs in den Rückblicken auf mein Leben (GWB VII, Bd. 2), S. 66-67.
48,3 Säcken und Ersäufen in der Rhone]
Historische Hinrichtungsart.
48,3 Kronprinz]
Sohn von Louis-Philippe (→ Lexikon): Ferdinand-Louis-Philippe-Charles-Henri (1810-1842), ab 1830 duc d’Orléans, als sein Vater König wurde.
48,4-5 Curtius und Cäsars Commentarien]
Quintus Curtius Rufus schrieb in der Zeit der Herrschaft von Claudius oder Vespasian eine Geschichte von Alexander in zehn Büchern, von denen die zwei ersten verloren sind. Cäsar schrieb „Commentarii de bello Gallico“, einen Bericht über seine Feldzüge in Gallien (58-52 v. Chr.), und „Commentarii de bello civili“, einen Bericht über den Bürgerkrieg bis zur Schlacht von Pharsala im Jahre 48.
48,6-7 Gnade [...], die sein Papa auf den Spitzen der Bayonette überschickt]
Bezieht sich auf die Niederwerfung des Lyoner Seidenweber-Aufstands durch die Nationalgarde im Dezember 1831, bei der 600 Menschen getötet wurden. → Erl. zu 45,23-24 und 118,20.
48,18 Nebelstecher]
Hut, bei dem die Krempe wenigstens zu einer, wenn nicht zu drei Spitzen gebogen ist. Diese Kopfbedeckung war in der süddeutsch-österreichischen Landbevölkerung verbreitet: „Sie tragen sich wie andere Bauern, weiße Zwilchkittel, gelblederne Hosen, und Nebelstecher [...].“ (F. L. B.: Wanderung über die schwäbische Alb. In: Zeitung für die elegante Welt. Leipzig. Nr. 241, 8. Dezember 1832, S. 1926).
49,11-12 Brutus und Cassius, Robespierre und St. Just]
Die ersten beiden sind Verschwörer gegen Cäsar, die letzten beiden Repräsentanten des jakobinischen Flügels der Französischen Revolution. Ihnen allen gemeinsam ist ihre Beteiligung am Königsmord. Der Regizid an den heiligen drei Königen ist eine Drohung gegen die drei gekrönten Häupter der Heiligen Allianz (→ Erl. zu 13,9-10) und zugleich Symbol einer Befreiung von kirchlicher Herrschaft; vgl. Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“, Caput VII.
49,14-15 bebte im Preußischen die Erde bei Aachen]
Obwohl die thermalquellenreiche Gegend um Aachen von Erdbeben nicht frei ist, handelt es sich hier um eine politische Anspielung. Vom 27. August bis 4. September 1830 fanden in Aachen Arbeiterunruhen mit Maschinensturm statt, und 2000 Mann Infanterie, Kavallerie und Artillerie rückten in die Stadt ein. Vgl. Helmut Bock/Renate Plöse: Aufbruch in die Bürgerwelt. Lebensbilder aus Vormärz und Biedermeier. Münster: Westfälisches Dampfboot, 1994. S. 46-56.
48,16-17 Mützen und Rundhüte, Beides wird verworfen]
Hier wird die Mentalität der unteren Stände in den deutschen Staaten mit der des ,gemeinen Volkes‘ in Frankreich verglichen. Weder hier noch dort haben die Unterprivilegierten ein Verständnis für die politischen Parteiungen, die Formeln und Meinungsfarben (48,10-11) des gebildeten Bürgertums. Ihr Interesse ist dagegen ein soziales. Die Unterschichten Frankreichs setzen mit ihrem Anspruch auf Beteiligung am Reichtum fast zwangsläufig die republikanisch-demokratische Tradition der Französischen Revolution fort: Mützen stehen für die jakobinische Kopfbedeckung, Rundhüte für den als ,Kalabreser‛ bekannten weichen, breitkrempigen Filzhut, der in den deutschen Staaten 1848-49 zum Erkennungszeichen der republikanischen Linken wurde (→ ). Die deutschen Kleinbürger und Bauern sind jedoch noch vollkommen im mittelalterlich-ständischen Denken befangen. Sie wollen nicht materielle, sondern berufsständische Gleichberechtigung, sich also zünftisch behaupten. Dieser Kontrast wird in der Kleidersymbolik angedeutet; → Erl. zu 48,17-18 und 48,18.
48,17-18 Barbierbecken]
Breitkrempige Hutform mit eng am Kopf sitzender runder Kappe. Vermutlich wegen ihres unterbürgerlichen Ursprungs missbilligt Gustav Freytags Hutfabrikant Hummel die Produktion dieser in Mode kommenden Hüte, bei der minderwertiges Material verwendet wird: „,Es ist das reine Barbierbecken. Der Mensch verliert seine Hoheit. Allerdings, bei diesen Deckeln wird verdient, Niemand merkt die Katzenhaare, die darin sind, aber sie rauben dem Kopf des deutschen Bürgers den letzten Rest von freier Luft, den er bis jetzt in seinem Cylinder heimlich mit sich herumtrug [...]‛.“ (Gustav Freytag: Die verlorene Handschrift. Roman in fünf Büchern. Dritter Theil. Leipzig: Hirzel, 1864. S. 70).
50,16 Extreme sich berühren]
Anspielung auf Heines vermeintlichen Umschwung vom Republikaner zum Ästheten; → Erl. zu 50,21. Zugleich lässt Gutzkow hier das im 19. Jahrhundert weit verbreitete geflügelte Wort anklingen: „Les extrêmes se touchent“ („die Extreme berühren sich“), vgl. Büchmann 1879, S. 208-209.
50,19-20 Scott’s wegen, der die Prophezeiung gab]
Nach seinem ersten Treffen mit Byron notierte Scott: „Our sentiments agreed a good deal, except upon the subjects of religion and politics [...] I remember saying to him, that I really thought, that if he lived a few years he would alter his sentiments. He answered, rather sharply, ‘I suppose you are one of those who prophesy I will turn Methodist’. I replied, ‘No – I don’t expect your conversion to be of such an ordinary kind. I would rather look to see you retreat upon the Catholic faith, and distinguish yourself by the austerity of your penances.’ He smiled gravely, and seemed to allow I might be right.“ (Leslie A. Marchand: Byron. A Biography. London: Murray, 1957. Bd. 2, S. 529).
50,21 mit dem abtrünnigen Heine]
Die Auffassung des ,Narren‘ gehört mit der Äußerung von Willibald Alexis in den „Blättern für literarische Unterhaltung“ (→ Erl. zu 51,10-11) zu den frühesten publizierten Kritiken aus liberaler Sicht, die Heines vermeintliche Abkehr von politischen Zielen zum Gegenstand hatten. Heine selbst reagierte auf Gutzkows Kritik in der „Vorrede zur Vorrede“ der „Französischen Zustände“ Ende November 1832: „Eine gedruckte Aeußerung über diese angeschuldete Abtrünnigkeit fand ich diese Tage in einem Buche betitelt: ,Briefe eines Narren an eine Närrin‘. Ob des vielen Guten und Geistreichen, das darin enthalten ist, ob der edlen Gesinnung des Verfassers überhaupt, verzeih ich diesem gern die mich betreffenden bösen Aeußerungen; ich weiß von welcher Himmelsgegend ihm dergleichen zugeblasen worden, ich weiß woher der Wind pfiff.“ (DHA, Bd. 12/1, S. 453) Mit der Anspielung auf Gerüchte meint Heine die ihm feindliche Stimmung „unter unseren jakobinischen Enragés“ (ebd.), d. h. in den Kreisen republikanischer Handwerker-Emigranten in Paris, zu denen sich auch Börne gesellt hatte und deren Ansichten über Heine nach Deutschland kolportiert wurden. Im Kommentar der DHA (12/2, S. 1024) wird diese Stelle aus den ,Narrenbriefen‘ als versteckte Sympathieerklärung Gutzkows an Börne gedeutet. (Der Passus aus Heines „Vorrede zur Vorrede“ der „Französischen Zustände“ findet sich in den → Dokumenten zur Rezeptionsgeschichte).
50,27 Pygmalion]
Pygmalion war der Mythe nach König von Zypern und verliebte sich in eine von ihm gefertigte weibliche Statue aus Elfenbein, die Aphrodite auf seine Bitten belebte. Er nahm sie dann zur Gemahlin. In der nachklassischen Zeit wird sie oft Galatea genannt.
50,27-28 der Immermann’sche]
Karl Leberecht Immermann (1796-1840) ließ seine Novelle „Der neue Pygmalion“ im fünften Jahrgang (auf 1825) des in Leipzig publizierten Almanachs „Taschenbuch zum Geselligen Vergnügen. Neue Folge“, S. 10-100, erscheinen. Die 1823 entstandene Novelle wurde stark überarbeitet in seine „Miscellen“ (Stuttgart: Cotta, 1830) übernommen.
50,28-30 durch warmen Liederkuß [...] als leuchtender Stern aufgegangen war]
In Heines „Buch der Lieder“ finden sich zwei Gedichte, auf die sich diese Stelle beziehen könnte: aus dem Zyklus „Lyrisches Intermezzo“ (1822-23) das Gedicht „Im Rhein, im schönen Strome“, dessen zweite und die dritte Strophe lauten: „Im Dom da steht ein Bildniß, / Auf goldenem Leder gemalt; / In meines Herzens Wildniß / Hat’s freundlich hineingestrahlt. // Es schweben Blumen und Englein / Um unsre liebe Frau; / Die Augen, die Lippen, die Wänglein, / Die gleichen der Liebsten genau.“ (DHA, Bd. 1/1, S. 143) . Das andere Gedicht ist aus dem Zyklus „Die Heimkehr“ (1823-24), und seine erste Strophe lautet: „In mein gar zu dunkles Leben / Stralte einst ein süßes Bild; / Nun das süße Bild erblichen, / Bin ich gänzlich nachtumhüllt.“ (DHA, Bd. 1/1, S. 206).
51,10-11 Wilibald Alexis in den Leipziger Unterhaltungsblättern drucken läßt]
Willibald Alexis war das Pseudonym von Wilhelm Häring (1798-1871), Romancier, Dramatiker und Kritiker (→ Erl. zu 29,4 und 57,28-29). In den „Blättern für literarische Unterhaltung“ hatte Alexis sich Ende 1831 sowohl über Börne als auch über Heine mokiert. Zwar würden die beiden von den inzwischen freiheitsliebenden Deutschen in ein imaginäres „Pantheon“ der Literatur aufgenommen, und ihre Büsten würden – mit der Menzels – sogar ganz vorn aufgestellt. Dem Fortschritt des deutschen Liberalismus sei jedoch weder Börne noch Heine dienlich. Börnes kompromissloser Republikanismus in den „Briefen aus Paris“ wirke so abschreckend, dass man fast vermuten könne, der Autor werde von der Reaktion bezahlt (ein Gedanke, der, kaum ausgesprochen, wieder zurückgenommen wird). An Heine bemängelt Alexis dagegen die Einbuße an kämpferischer Liberalität seit den „Reisebildern“: „Heine hat, so lange es eine kitzliche Opposition war, als Liberaler gefochten; jetzt ist er es nur noch aus jugendlichem Mutwillen“. Solange er sein Talent nicht „gegen den jetzt bequemen Liberalismus“ unter Beweis stelle, müsse seine Büste verhüllt und inschriftslos bleiben (Blätter für literarische Unterhaltung. Leipzig. Jg. 1831, Nr. 336 [2. Dezember], S. 1454 ff., abgedruckt in: Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. 7 Bde. München, Wien: Hanser, 1976. Bd. 4, S. 658-659). Börne ironisierte Alexis’ Kritik daraufhin in „Härings-Salat“, Teil des vierundsiebzigsten der „Briefe aus Paris“, wo die relevante Passage aus den „Blättern für literarische Unterhaltung“ zitiert wird. Damit griff Börne natürlich auch Alexis’ Kritik an Heine auf und hob dessen Formulierung, Heine solle sich „gegen den jetzt bequemen Liberalismus“ bewähren, als implizite Aufforderung seinerseits an Heine hervor (BSSchr, Bd. 3, S. 523-561, bes. S. 543-544).
51,21-22 Wenn ein Fürst die Art seiner Anschauungsweise auf 1777 zurückdatirt]
Möglicherweise Anspielung auf Ludwig I. von Bayern (Regierungszeit: 1825 bis 1848). Die bayerische Hauptlinie der Wittelsbacher starb 1777 aus und wurde durch die pfälzische Linie weitergeführt. Dadurch kamen die Kurpfalz, Jülich und Berg zu Bayern; 1806 wurde die Düsseldorfer Gemäldesammlung nach München überführt. Der als Kunstmäzen und Initiator vaterländischer Baudenkmäler besonders prominente Ludwig I. (→ Erl. zu 40,11-12), unter dessen Regierung die Walhalla erbaut wurde (1830-42), trat zugleich als Bekämpfer der Liberalen und Gönner des Klerus auf.
51,23-24 der hat das Ziel erreicht, der da ankommt, von wo er ausgegangen ist]
Ein entsprechender Passus in Börnes Werk ist nicht ermittelt.
51,32-33 Hospiz der menschenfreundlichen Klosterbrüder]
Das Sankt-Bernhardskloster der Augustinerchorherren, eine berühmte Herberge zur Verpflegung der Reisenden, liegt in einer Höhe von fast 2500 m an einem Alpenpass zwischen Martinguay im Wallis und Aosta in Italien.
52,31-33 Cato träumte den schönen Traum von einer ewigen römischen Republik]
Cato der Jüngere (95-46 v. Chr.), Republikaner und Gegner von Cäsar, tötete sich in Utica nach der Schlacht von Thapsus, in der Cäsar die Anhänger von Pompejus besiegte. Dadurch wurde er für alle, die republikanisch gesinnt waren, zur Heldenfigur. Die Anhänger Catos waren zahl- und einflussreich, und gegen sie verfasste Cäsar eine verloren gegangene Schrift, den „Anticato“.
53,4-5 daß er an der Säule des Pompejus starb]
Die römische Pompejussäule steht im ägyptischen Alexandria und soll über dem Grab des Pompejus (106 - 48 v. Chr.) errichtet worden sein. Der Politiker und Feldherr Gnaeus Pompeius Magnus war ein gewichtiger Kontrahent Cäsars. Wie Plutarch in „Parallele Leben“, Buch 17, 5, lässt auch Shakespeare Cäsar an der Säule des Pompejus sterben: vgl. „Julius Caesar“, III, 2, 189-191: „And in his mantle muffling up his face, / Even at the base of Pompey’s statue / (Which all the while ran blood) great Caesar fell“.
53,5-6 daß er auf die Felsen von Helena geschmiedet wurde]
Napoleons Haftzeit auf der Insel St. Helena wird hier mit dem Schicksal von Prometheus verglichen, wie damals, z. B. bei Goethe und Heine, und bis in die letzten Jahrzehnte hinein, z. B. bei Hans Blumenberg, allgemein üblich (vgl. Wulf Wülfing, Karin Bruns, Rolf Parr: Napoleon. In: Dies.: Historische Mythologie der Deutschen. München: Fink, 1991. S. 18-58, bes. S. 30, 38-40). → Erl. zu 54,30-31.
64,2-3 Du bist Heraklit, ich Demokrit]
Heraklit wird oft als der ,weinende Philosoph‘ bezeichnet, im Gegensatz zu Demokrit, dem ,lachenden Philosophen‘. Diese Stelle ist verbunden mit dem Tragödien-/Komödienmotiv und dem Thema des ,höheren Narrentums‘; → Erl. zu 132,2 und 132,6.
53,7 Simplon]
Berg im Süden der Schweiz, der Aussicht auf den Simplonpass (2006 m) bietet. Den Bau der Landstraße (53,8) über diesen Pass unternahm Napoleon 1800-1807. Jacques-Louis Davids berühmtes Gemälde von 1801 verherrlicht Napoleon bei der Überquerung des Sankt Bernhard; eine realistischere Version desselben Themas findet sich in einem Gemälde von Paul Delaroche (1850).
53,24 Anrede]
In dem folgenden geschichtlichen Panorama werden die Soldaten Hannibals, Cäsars und Napoleons unterwegs nach oder von Rom angeredet. Sie tragen die ihrer Zeit entsprechenden Waffen und Uniformen. Vgl. hierzu Gerhard Friesen: The German Panoramic Novel of the 19th Century. Bern, Frankfurt/M.: Lang, 1972. S. 118-119.
53,31-32 Numidier, der Du Dir das Tabackrauchen angewöhnt hast]
Absichtlicher Anachronismus (wie auch z. B. 176,1): Das Berbervolk der Numider war als Kavallerie bei vielen Schlachten der Antike im Einsatz. Der Tabak, der aus der Neuen Welt stammt, erschien erst 1556 in Frankreich. Jean Nicot, nach dem das Nikotin benannt ist, soll ihn Catherine de Médicis als Geschenk überreicht haben.
53,32 Schwamm]
Feuerschwamm. Zum Anzünden von Rauchgerät verwendeter Röhrenpilz, Ungulina fomentaria.
57,11 ochsenäugigen Blick]
Bei Homer Attribut von Zeus’ Gemahlin Hera, römisch Juno.
54,27-28 Die Wiege der Thaten eines Hannibal [...] am Altare der Hausgötter bleiben]
Nach Polybius und Livius ließ Hamilcar Barca seinen Sohn Hannibal (247-181 v. Chr.) schon als Kind den Schwur ewiger Feindschaft gegen Rom ablegen.
54,29 Anekdotenkrämer Plutarch]
Plutarch (um 46 - um 119) ist vor allem für seine „Parallelen Leben“ („Bioi paralleloi“) bekannt. Die erhaltenen 23 Paare, jeweils aus der griechischen und römischen Geschichte gewählt, und 4 Einzelbiographien sind 1799-1806 ins Deutsche übersetzt worden. Buch 16 stellt das Leben Alexanders und Buch 17 das Leben Cäsars dar. → Erl. zu 142,2.
54,30-31 Napoleons fingirte Zwiegespräche]
Dass mehrere Schriften dieser Art damals veröffentlicht waren, geht aus Napoleons Testament hervor: im 8. Abschnitt der Präambel dazu (auf den 15. April 1821 datiert) leugnet Napoleon die Autorschaft mehrerer ihm zugeschriebener Publikationen, darunter „das ,Manuskript von St. Helena‘ und andere Werke unter dem Titel von Maximen, Worten usw., die in den letzten sechs Jahren veröffentlicht worden sind“. Vgl. die von der britischen Regierung angefertigte autorisierte Übersetzung dieses Testaments: http://www.DocumentsOnline.pro.gov.uk.
55,15 Johannes Müller’schen]
Der Schweizer Historiker Johannes von Müller (1752-1809) war vor allem durch die „Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft“ (1786-1808) bekannt. Seine idealistische und patriotische Darstellung der alten schweizerischen Verfassung – die Quelle für Schillers „Wilhelm Tell“ – übte einen breiten Einfluss auf die Geschichtsvorstellung des 19. Jahrhunderts aus. Seine Universalgeschichte „24 Bücher allgemeiner Geschichten“ (ab 1810), in der er versuchte, das geistige Erbe Roms mit den germanischen Ursprüngen der eigenen Kultur zu vereinigen, sicherten den Ruhm dieses ,Schweizerischen Tacitus‛. → Erl. zu 176,29.
55,16 den Hegel’schen Geschichtsstupor]
Diese Bezeichnung, mit der Gutzkow Hegels ,stupende‘ dialektische Geschichtsbetrachtung einerseits, ihre lähmende Wirkung andererseits auszudrücken scheint, wird hier mit dem ,Weltepochiren‘ und ,Weltzeitaltern‘ der von Müller’schen Schule parallel gesetzt. Gemeinsam, so wird angedeutet, ist beiden ihre freiheitliche Grundrichtung, aber eben auch ein Universalismus, der politisch ineffektiv bleiben muss. Wüssten die Fürsten solches Geschichtsdenken für sich auszunutzen, wäre ihre Macht über den denkenden Teil der Bevölkerung wahrlich unerschütterlich: Diejenigen Gebildeten, die die emanzipativen Elemente der Geschichtsphilosophie begreifen und sie in die Praxis umzusetzen verstünden (große Geister, 55,17), sind in einer verschwindenden Minderzahl und können daher nichts ausrichten. Diejenigen, die sich vom Totalitätsanspruch der Geschichtsphilosophie entmuthigen lassen (55,18), bilden den wesentlich stärkeren Anteil der Intelligenz. Sie vor allem sind die Opfer des Hegel’schen Geschichtsstupors (→ Erl. zu 42,26). Jene schließlich, die intellektuell von der Geschichtsphilosphie überfordert sind, werden durch die schwere Arbeit des Verstehens so sehr beschäftigt, dass sie politisch nie gefährlich werden können.
56,20 Lebt denn Papchen noch in seinem messingenen Ringe?]
Exotische wie auch einheimische Vögel waren im 19. Jahrhundert als Haustiere sehr beliebt. Gutzkows thierische Novelle mit dem Titel Kanarienvogels Liebe und Leid, zuerst veröffentlicht im „Morgenblatt für gebildete Stände“, 2.-4. April 1834 (Rasch 3.34.04.02), und sein satirischer Vortrag vor dem Frankfurter Museum, Ueber Pudel, Jokey’s und Nachtigallen oder über die kleinen Freuden des Lebens, abgedruckt im „Phönix“, 16.-17. März 1835 (eGWB III, Bd. 8), behandeln das Thema aus der Perspektive des gefangenen Vogels, wobei das ,Thierische‘ der zivilisierten Gesellschaft bloßgestellt wird. Vgl. auch die Einleitung des Neunten Briefes, 57,2-6.
57,28-29 Nero, Perier, Caligula, W. Alexis, Marat, Krug, Epikur, Hr. v. Schlegel]
Der Leser ist hier aufgefordert, sich vorzustellen, auf welche Personen die Wahl des Esels fallen würde – zweifellos auf Willibald Alexis, den Börne in „Härings-Salat“ (→ Erl. zu 51,10-11) mit ähnlicher Metaphorik als preußischen (Angst-)Hasen aufs Korn nimmt, und Wilhelm Traugott Krug (→ Erl. zu 68,31). Zusätzliche Komik entsteht durch die Einreihung der deutschen Zeitgenossen in eine Kette europäischer Berühmtheiten, vom griechischen Philosophen Epikur (341-271 v. Chr.) und den römischen Kaisern Caligula (37-41) und Nero (54-68) bis zu Prominenten der Französischen Revolution: Jean-Paul Marat (1743-1793) und des Juste Milieu (→ ): Casimir Périer (→ Erl. zu 118,20). Hr. v. Schlegel zielt ziemlich sicher auf August Wilhelm Schlegel (1767-1845), seit 1818 Professor für Literaturwissenschaft in Bonn. „Seine Eitelkeit war sprichwörtlich und Gegenstand allgemeinen Spotts unter den Zeitgenossen. Schlegel selbst pflegte die literarische Provokation durch seine Epigramme, in denen er sowohl lebende (W. Menzel) wie verstorbene Zeitgenossen angriff“ (Börne-Index, 2. Hbd., S. 734).
58,1-2 haben denn die Griechen noch immer keinen König?]
„Durch das Londoner Protokoll vom 3. Feb. 1830, dem die Pforte 24. April beitrat, wurde G[riechenland] zum souveränen Königreich erklärt. Nachdem der schon 11. April 1827 zum Regenten des neuen Staates auf 7 J[ahre] gewählte Graf Kapodistrias (→ Erl. zu 58,5) 9. Okt. 1831 ermordet worden war, wurde durch Vertrag vom 7. Mai zwischen G., den Schutzmächten und Bayern Prinz Otto von Bayern zum König von G. bestimmt und 8. Aug. durch die Nationalversammlung ernannt, bis zu seiner Volljährigkeit (1. Juli 1835) eine bayr. Regentschaft eingesetzt.“ (Brockhaus’ Kleines Conversations-Lexikon. 8. Auflage. Bd. 1, S. 856). → Erl. zu 61,18.
58,5 Capodistrias]
Graf Ioánis Antónios Kapodístrias, genannt Giovanni Antonio Capo D’Istria (1776-1831), wurde 1827 zum provisorischen Präsidenten Griechenlands ernannt. Er war lange Zeit im russischen Außenministerium beschäftigt. Mit Metternich verfeindet, verließ er seinen Posten, als Zar Alexander I. sich weigerte, die griechische Revolte gegen die Türkei (Anfang 1821) zu unterstützen. Er fiel am 8. Oktober 1831 einem Attentat zum Opfer.
58,9 Salutarassecuranz]
It.: assicurare, versichern. Gleichbedeutend mit 58,8 Sicherungstractat.
58,10 Der junge Prinz von Baiern]
Otto von Wittelsbach, der spätere König von Griechenland (1815-1867), wurde von Friedrich Thiersch (1784-1860), Professor der Philologie an der Universität München, sowie von Schelling unterrichtet. Thiersch „förderte seine Bildung durch Reisen in Deutschland und Italien“ (Meyer, Bd. 15, S. 256) und wirkte 1831-32 „nach dem Tode Kapo d’Istrias“ (→ Erl. zu ) in Griechenland „für die Erwählung des Prinzen Otto von Bayern zum König“ (Meyer, Bd. 19, S. 488).
58,17 Leopold]
Léopold-Georges-Chrétien-Frédéric von Sachsen-Coburg (1790-1865) wurde als Leopold I. am 6. Juni 1831 zum König der Belgier gewählt. Er lehnte 1830 nach langen Verhandlungen die griechische Krone ab, was möglicherweise zu den Gerüchten über seine Aktienspekulation beigetragen hat.
58,17-19 Stockjobber]
Eigentlich Aktienhändler, hier Spekulant in Aktien. Verzeichnet mit der ausschließlichen Bedeutung „Actienwucherer“ in: Heyse 1838, 2. Teil, S. 451.
58,22 Local- und Sachkenntniß]
Kapodístrias war auf der Insel Korfu geboren.
58,31-32 Plato’s Werke im Lande verbieten]
Kapodístrias trat allerdings vehement gegen die Gründung einer griechischen Republik ein.
59,6 Machiavell]
Der Name des italienischen Staatsmannes und politischen Philosophen Niccolò Machiavelli (1469-1527), dessen einflussreiche Schrift „Der Fürst“ (geschrieben 1513) skrupellose Realpolitik zur Erreichung von Zielen projektierte, wurde zum Synonym für politische Schlauheit und Hinterhältigkeit.
59,8-9 Potsdamer Riesen]
Anspielung auf die durch ihre Körpergröße berühmten Gardisten (die ,langen Kerle‛) des sogenannten ,Soldatenkönigs‛ Friedrich Wilhelm I. (1688-1740).
59,26-27 denen wie dem Steffens’schen Adel das Genießen ihre Arbeit ist]
Der romantische Philosoph und Naturforscher Henrik Steffens (1773-1845), 1832 an die Berliner Universität berufen, hatte in seiner Schrift „Caricaturen des Heiligsten“ ein Bild vom Staat entworfen, in dem der Adel als müßiger, schöner Gipfel aller Mühen und Tätigkeiten der unteren Stände seine Existenzberechtigung hat: „Was unter Arbeit und Anstrengung dem Bauer gedeiht, alles Schöne und Kunstreiche, was dem Bürger gelingt, alle Mannichfaltigkeit der Producte, die durch den Handel nicht ohne Gefahr [...] in flüssige Bewegung gesetzt wird, findet hier [im Adel, R. J. K.] einen freien Vereinigungspunkt [...]. Ein Punkt muß im Leben da seyn, wo die Anstrengung, die Mühe, die Sorge zurücktritt. [...] Den Bauer läßt man sagen: Soll ich arbeiten, damit Andre genießen können? Allerdings, behaupten wir, denn Arbeit ist dein Genuß. – Den Bürger läßt man klagen: sollen wir gestalten, damit Andre besitzen, wir mit Gefahr erwerben, damit ein Anderer mit Sicherheit erhalten kann? Allerdings, denn das Gestalten, das Erwerben ist dein Besitz. [...] Ein jeder Staat, der ohne Adel ist, wird immer etwas Kleinliches, Spießbürgerliches behalten; es fehlt ihm der edle Mittelpunkt, in welchem sein mannichfaches Streben sich vereinigt [...].“ (Henrich Steffens: Carikaturen des Heiligsten. 2 Teile. 1. Teil. Leipzig: Brockhaus, 1819. S. 98-99). Das von Steffens aufgesetzte Begriffspaar ,Genießen / Arbeiten? bildet eine vereinfachende Wiederspiegelung von philosophischen Überlegungen, die in der antiken Literatur um ,otium‛ (Muße) und ,negotium‛ (Abwesenheit von Muße, Beschäftigung) u. a. bei Vergil, Seneca, Cicero und Horaz vorzufinden sind. Eine kurze Überschau dieses Topos bietet Paolo Logo: Otium et negotium. Aus dem Italienischen übersetzt von Lorenz Glatz. In: Streifzüge. Wien. Nr. 34 (2005), Sp. 1-13. (http:///www.streifzuege.org/2005/otium-und-negotium/comment-page-1 . Zugang 27. Januar 2021).
60,12-13 In seinen Verhältnissen zum Syracusanischen Hofe hat Plato dies Schicksal getroffen]
Dion, Schwager von Dionysius dem Älteren, herrschte in Syrakus, als der minderjährige Nachfolger, Dionysius der Jüngere, 367 v. Chr. auf den Thron kam. Da Dionysius noch jung und unerfahren war, lud Dion den 60jährigen Platon, mit dem er befreundet war, nach Syrakus ein, um Dion philosophisch auszubilden und ihn durch die praktische Anwendung von Platons Lehre ein guter Herrscher werden lassen. Dieser Versuch aber scheiterte an Dions Eifersucht dem jungen Dionysius gegenüber, der verbannt wurde. Ein zweiter Aufenthalt Platons am Syrakusanischen Hof 361-360 blieb ebenso erfolglos.
61,18 Londoner Conferenz]
London war der Ort zahlreicher Konferenzen (1827, 1829, 1830 und 1832), die zu Protokollen, Verträgen und Abkommen in der Griechenlandfrage führten. Am 2. April 1826 brachte das Protokoll von St. Petersburg die englisch-russische Anerkennung der griechischen Autonomie, und am 3. Februar 1832 wurde von Großbritannien, Frankreich und Russland die Unabhängigkeit Griechenlands als Monarchie garantiert.
61,18-19 Amphiktyonengericht]
Amphiktyonen waren im klassischen Griechenland diejenigen, die im Umkreis eines Heiligtums wohnten und sich zu Schutzverbänden der heiligen Stätten zusammenschlossen. Die Londoner Conferenz als europäisches Amphiktyonengericht urteilt also zum Schutze eines modernen europäischen ,Heiligtums‘, des freien Griechenland. Von der Politisierung der Frauen im zeitgenössischen Europa, so deutet der ,Narr‘ hier an, sind noch weit größere internationale Fortschritte zu erwarten.
61,25 Simonisten]
Die Anhänger Saint-Simons: → Erl. zu 28,14.
61,24 Entsagung und Entwaffung]
Die Pazifizierung der europäischen Zivilisation nach dem Revolutionszeitalter entspricht einer Feminisierung, bei der die Frauen sich eine Zeitlang den Männern sexuell verweigern; → Erl. zu 115,10.
64,20-21 Mich interessirt weniger das Gefundene als das Gesuchte]
→ Erl. zu 84,10.
64,22-23 Aepfel der Hesperiden]
Die Hesperiden bewachten die goldenen Äpfel Heras, die Herkules der Sage nach rauben musste, um eine seiner zwölf Aufgaben zu bestehen. Der Baum soll in Arkadien gestanden haben.
64,22 Kamtschatka]
Die Halbinsel Kamtschatka war damals eine kaum bewohnte russische Provinz des Bezirks Ost-Sibirien.
64,26-27 Als Korinth zerstört und Griechenlands letzte Kraft gebrochen wurde]
„Die Lage zwischen zwei Meeren, die Schwierigkeit, den Peloponnes zu umschiffen, die Leichtigkeit dagegen, Waren und selbst Schiffe über den Isthmus zu schaffen, hatten K[orinth] schon sehr früh zu einem großen Markt- und Stapelplatz gemacht; insbesondere war es der Mittelpunkt des gesamten Verkehrs mit griechischen, italischen, illyrischen und asiatischen Handelartikeln. Was K[orinth] an eignen Produkten ausführte, waren meist Kunsterzeugnisse: Ton- und Erzwaren, Statuen, Gemälde etc.“ (Meyer, Bd. 11, S. 496.) Der römische General Lucius Mummius (2 Jh. v. Chr.) „machte auf Befehl des Senats [die Stadt] Korinth, die sich ohne Widerstand ihm ergeben hatte, dem Erdboden gleich und führte ganze Schiffladungen von Kunstschätzen nach Italien, um dort die Tempel, besonders die römischen, zu schmücken“ (Art. ,Mummius‘ [druckfehlerbedingt unter ,Mummins‘ verzeichnet, R. J. K.], Meyer, Bd. 14, S. 244). Alle Männer wurden getötet, die Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft. In demselben Jahr, 146 v. Chr., fiel auch Karthago. Scipio Aemilianus (185-129 v. Chr.) ließ diese Stadt auch bis auf die Grundmauern schleifen. Mit der Vernichtung dieser beiden außerordentlich reichen Städte, die damals auch die wichtigsten Handelszentren bildeten, wurde Rom nunmehr zum unbestrittenen Herrscher über den Mittelmeerraum. Nach Sallust (Cat. 10-13, Bell. Jug. 41.2-7) wie auch nach Velleius Paterculus (Hist. rom. 2.5.1) bedeutete diese doppelte Vernichtung und die darauffolgende Konzentration von Handel, Reichtum und Macht in den Händen einer sehr kleinen Minorität und der dadurch auf einmal geschaffene Zugang zu Luxus jeder Art das Ende der republikanischen Ära in der Geschichte Roms. (Vgl. hierzu: Mary Beard: SPQR. A History of Ancient Rome. London: Profile Books, 2015. S. 209-213.) Daher die Thränen (64,29) der republikanisch gesinnten ,Närrin‘.
64,32 Cassius Schatten]
Eine phantasievolle Abwandlung der Szene in Shakespeares „Julius Caesar“ (IV, 3), in der am Vorabend der beiden Schlachten zu Philippi (42 v. Chr.) der Geist Cäsars vor Brutus erscheint und ihn vor seiner Niederlage warnt. Sowohl Cassius als auch Brutus nehmen sich wegen ihrer jeweils verlorenen Schlacht das Leben.
66,2-3 Das sonntägliche salvos fac die acht und dreißig Bundestagsconstituenten]
Sinngemäß: die beim sonntäglichen Gottesdienst gesungene Fürbitte: „Herr, erhalte unsere achtunddreißig Regierungen“. Hier wird also eine kirchliche mit einer politischen Anspielung verbunden. Die Formel „salvos fac servos tuos“ (,erhalte Deine Diener‘) ist Bestandteil der lateinischen Allerheiligenlitanei der katholischen Kirche. Es handelt sich um ein großes, feierliches Bittgebet, bei dem die Heiligen als Fürbitter angerufen werden. Mit den acht und dreißig Bundestagsconstituenten sind die Regierungen des Deutschen Bundes gemeint: Der Bundestag von 1815 setzte sich aus den Gesandten der 38 souveränen Staaten zusammen (34 Fürstentümer und vier freie Städte). Mit dem ironischen Hinweis auf eine Fürbitte für ganz spezielle ,Gottesdiener‘, nämlich die Regierungen der Bundesstaaten, bewegt sich der ,Narr‘ wiederum auf höchst aktuellem politischem Terrain. Aus dem Jahre 1832, also dem Erscheinungsjahr der ,Narrenbriefe‘, lässt sich z. B. ein Bittgesang für die Wittelsbacher Könige Ludwig I. von Bayern und Otto von Griechenland nachweisen. Er trägt den Titel „Domine! salvos fac Reges nostros, Ludovicum et Ottonem“, wurde aber in deutscher Sprache vorgetragen, und zwar als Komposition für gemischten Chor. Anlass war der „Maximilians-Jahrtag 1832“, der vermutlich im Herbst des Jahres lag, als Gutzkows Buch bereits erschienen war. Die Anspielung des ,Narren‘ auf das ,Bündnis von Thron und Altar‘ dürfte somit kaum diesen speziellen Bezug haben, zumal Otto von Griechenland nicht zu den Fürsten des Deutschen Bundes zählte. Jedoch treffen die Worte der bayerischen Fürbitte den vom ,Narren‘ witzig aufs Korn genommenen Sachverhalt genau. Weiter unten im Text ist davon die Rede, daß die Könige vieler Huld von Gott bedürfen, um regieren zu können (66,4-5); die Fürbitte lautet, natürlich völlig unironisch: „Bittet ja bey jeder Feyer, / Bittet stets um Glück und Segen / Für den allgeliebten König [Ludwig]! / Daß Ihn lang, gerecht, beharrlich, / Uns erhalt’ der liebe Gott. // [...] // Bittet für den König Otto; / Bittet, daß, gleich seinen Ahnen – / Stets gerecht, geliebt und liebreich – , / Die Hellenen zu regieren, / Ihn erleucht’ der liebe Gott.“ (Bayerische Staatsbibliothek Mus. Pr. 2753, S. 1-4.)
66,7-8 Gottes unterthänigen Knecht nennen]
Bekannt ist das Diktum Friedrichs des Großen: „Der Fürst ist der erste Diener seines Staates“ (Büchmann 1977, S. 249; vgl. auch 134,30-31). Die zusätzliche Legitimation des Fürsten als eines untertänigen Knechtes von Gott, wie sie noch im aufgeklärten Absolutismus wirksam werden konnte, sei mit der Aufhebung der Leibeigenschaft in der Stein-Hardenbergschen Bauernbefreiung zu Beginn des 19. Jahrhunderts (→ Erl. zu 42,25) nicht mehr möglich oder solle es zumindest nicht mehr sein. Weiter unten im Text (von 66,17 an) wird nämlich der frömmelnde preußische Pietismus angegriffen, der hinter die Errungenschaften der Reformära zurückfällt und als angeblicher ,Protestantismus‘ bedenklicher sei als der ,naive‘ Katholizismus Süddeutschlands mit seinem Heiligenglauben.
66,25-26 Teufel, der wie ein brüllender Löwe Dich umgeht, und droht Dich zu verschlingen]
Nach 1 Petr 5,8. Die in solchen Predigten aufgezählten Quellen der Gefahr werden im folgenden Passus mit den realen Verhältnissen kontrastiert.
66,32-33 ein neuer Komet]
Wie der Kontext dieser Stelle verdeutlicht, wurde das Erscheinen von Kometen von großen Teilen der Bevölkerung stets mit Angst beobachtet. So verursachte der Großkomet Dabadie (1830 I) großes Aufsehen, als er in Deutschland zwischen dem 16. März und 17. August 1831 ununterbrochen sichtbar war. Der hellere Großkomet Herapath (1830 II), der einen längeren Schweif besaß, war vom 1. Januar bis zum 19. März zu sehen. Speziell im Jahre 1832 sorgte der ,Biela’sche Komet‘ für Unruhe. Wilhelm Freiherr von Biela hatte 1826 erstmals die Periodizität dieses bereits 1772 gesichteten Himmelskörpers (3D/Biela) berechnet. Seine Umlaufzeit um die Sonne betrug 6½ Jahre. Für Oktober 1832 wurde eine Berührung seiner Bahn mit der der Erde vorausberechnet, was theologische Deutungen und Weltuntergangsvisionen aller Art heraufbeschwor. Wie erwartet, erschien der Komet im Herbst 1832, passierte den kritischen Umlaufspunkt jedoch vor der Erde, wie es Astronomen vorausgesagt hatten. Zu denjenigen, die der Panik im deutschsprachigen Raum gegensteuerten, gehörte der Wiener Astronomieprofessor J. J. Littrow, Verfasser der Schrift „Über den gefürchteten Kometen des gegenwärtigen Jahres 1832 und über Kometen überhaupt“ (Wien: Gerold, 1832).
67,3-4 drei Bearbeitungen des gemeinen Mannes]
Im Folgenden wird die Rolle der norddeutsch-protestantischen Prediger, die ihre Gemeinden angesichts der Kometenkrise (→ Erl. zu 66,32-33) verschieden ,bearbeiten‘, nach drei Hauptrichtungen dargestellt.
67,5 Das kleine Häuflein der Gläubigen]
Die erste Gruppe (→ Erl. zu 67,3-4) sind die weltfern-introvertierten Pietisten. Gutzkow war im Milieu dieses Pietismus aufgewachsen; besonders sein Onkel Wilhelm, ein verarmter Weber, verkörperte diese entsagungsvolle Religionsschwärmerei, wie Gutzkow sie in Aus der Knabenzeit darstellt (GWB VII, Bd. 1, S. 48-52). Vgl. dort bes. die Schilderung von Betstunden, zu denen sich einige fünfzig Gläubige versammelten (S. 113-116).
67,9 daß das letzte Thier bald losgelassen wird]
Vgl. Offb 11,7. Die Apokalypse der Johannes-Offenbarung war den Pietisten zur Weltdeutung unerlässlich. Gutzkow beschreibt dies in Aus der Knabenzeit mit Bezug auf seinen Onkel Wilhelm: Er prophezeite mit ruhig lächelnder, unerschütterlich sicherer Ueberzeugung alle Weltalter nach der Offenbarung Johannis. Das große siebenköpfige Thier, mit dem die Könige buhlten, war ihm Rom, der Papst, der Antichrist. (GWB VII, Bd. 1, S. 51) Der 26. ,Narrenbrief‛ stellt eine Kontrafaktur der Johannes-Apokalypse dar.
67,14 fünf klugen Jungfrauen]
Vgl. Mt 25,1-13. Das Gleichnis von den fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen handelt von der Vorbereitung auf das Reich Gottes. Die klugen Jungfrauen erwarten den Bräutigam mit ölgefüllten Lampen.
67,18 auf welchen Fels Christus seine Kirche gegründet hat]
Vgl. Neues Testament: Mt 16, 18.
67,23-24 Büchlein, worin die Perioden und Epochen dieser Geschichte in Bildern dargestellt sind]
Möglicherweise Anspielung auf ein Werk des Schweizer Geistlichen Johann Kaspar Häfeli (1754-1811): „Predigten und Predigtfragmente, gesäet dem Tage der Garben“ (4 Bdchen. Winterthur: Füssli und Steiner, 1778-83). In seiner Autobiographie Aus der Knabenzeit schildert Gutzkow die tiefgreifende Wirkung, die die Lektüre des dritten Bändchens (1782) wegen des poetischen, an Lavater und Klopstock geschulten Stils auf ihn hatte. Aus dem Verständnis der Bilder habe sich zum ersten Mal für ihn ein Blick auf geschichtliche Zusammenhänge eröffnet: die Bilder des Verfassers, die aphoristische, phantasievolle Schreibweise, [...] die Bilderpracht, die Fingerzeige auf die allgemeine Weltgeschichte [...]: das alles war so eigenthümlich [...], daß es [...] einen eignen Vortrag bedingte, in dem sich der Knabe in stiller Einsamkeit übte. (GWB VII, Bd. 1, S. 119).
67,33 Stichwörter seiner Bluttheologie]
Dem Christentum herrnhutischer „Brüder“, auf das hier angespielt wird, ist die Identifikation mit dem Leiden, dem Blutvergießen Jesu ein zentrales Anliegen. Die Lehre dieser „pietistischen Schule“, geprägt durch Ludwig von Zinzendorf (1700-1760), war daher als „Kreuz- und Blut-Theologie“ bekannt. „Zinzendorf hatte [...] die Vorstellung, daß Alle, die nur die Erlösung im Blute Christi annehmen, unter sich Eins seien [...].“ Dies sind Worte des katholischen Tübinger Theologen Johann Adam Möhler, der übrigens wie sein Zeitgenosse Gutzkow die Abhängigkeit der Bluttheologie von Stichwörtern hervorhebt. Den Herrnhutern sei es eigen, „daß sie sich in einem höchst beschränkten, einförmigen Kreise von Redensarten und bildlichen Bezeichnungen herumbewegen“ (J. A. Möhler: Symbolik, oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten, nach ihren öffentlichen Bekenntnißschriften. 2. verb. u. verm. Aufl. Mainz: Kupferberg; Wien: Gerold, 1833. S. 528-530).
68,1 Andere Kanzelredner]
Die zweite Gruppe (→ Erl. zu 67,3-4) verkörpert jenen vornehme[n] Pietismus, dessen Verbindungen zum preußischen Königshaus, vor allem zur frommen Prinzessin Marianne, in Aus der Knabenzeit beschrieben werden (GWB VII, Bd. 1, S. 84-85).
68,9 Consistorien]
Ein ,Consistorium‘ ist „[b]ei den Protestanten ein [...] Collegium, zur Aufsicht über die Geistlichen u. Oberleitung der geistl. Angelegenheiten. [...] Das Recht, ein C[onsistorium] anzuordnen [...], gehört dem Regenten [...]. [...] Die Geschäfte eines C[onsistoriums] [...] sind nach dem Willen des Landesherrn verschieden; oft liegt die ganze Gerichtsbarkeit über alle geistl. Personen in ihrem Geschäftskreise, oft nur die Entscheidung über geistl. Angelegenheiten, wie die Besetzung der Stellen, Ehestreitigkeiten etc. [...]. Das 1. protestant. C[onsistorium] ward 1537 zu Wittenberg, das andre 1543 zu Leipzig errichtet; nach ihnen sind C[onsistori]en in allen protestant. Ländern errichtet worden.“ (Pierer 1840-46, Bd. 7 [1841], S. 261-262).
68,19 Die letzte Classe]
Die dritte Gruppe (→ Erl. zu 67,3-4) besteht aus Lutheranern, der vermeintlich ,liberalsten‘ Geistlichkeit unter den Protestanten; diese Ansicht wird vom ,Narren‘ jedoch diskreditiert.
68,25-26 sächsischen Unruhen]
In Sachsen war die soziale und politische Bewegung der Jahre 1830 und 1831 besonders markant. Von Leipzig ausgehend, erfasste sie Dresden, Chemnitz, Freiberg, Plauen und die Weberbezirke in der Oberlausitz. Vgl. James J. Sheehan: German History 1770-1866. Oxford: University Press, 1989. S. 607.
68,28 Jesuitenhelden]
Idiosynkrasie von Gutzkows Begrifflichkeit; hier sind keine jesuitischen Helden gemeint, sondern gerade solche, die sich in ihrem Feldzug gegen die Jesuiten Ruhm erworben haben; → Erl. zu 68,29-30.
68,29-30 Opposition gegen Montrouge und das Freiburger Seminar]
Einflussreiche katholische Kollegien befanden sich damals in Montrouge, drei Kilometer südlich von Paris, und Freiburg (Schweiz). Die Schweizer Gründung durch die Jesuiten – der von Papst Clemens XIV. 1773 aufgehobene Jesuitenorden wurde 1814 wiederhergestellt – stieß auf eine von den Liberalen in der Presse geführte heftige Gegenkampagne.
68,31 Cölibatsgegnern]
Wilhelm Traugott Krug (1770-1842), Professor der Philosophie zu Leipzig, richtete eine Abhandlung gegen das Zölibat: Enthüllungen mystischer Umtriebe in und außer Leipzig. Ein Beitrag zur Geschichte unserer Zeit. Leipzig: Kollmann, 1829.
68,33-34 Mit der rechten Hand schreibt in Leipzig Einer gegen die Polen, mit der linken für die Juden]
Hier wird die Widersprüchlichkeit des ,liberalen‘ Protestantismus aufgedeckt, da sich der europäische Liberalismus sowohl für den polnischen Befreiungskampf (also die Angelegenheit einer katholischen Nation) als auch für die Judenemanzipation einsetzte.
127,21 dreifarbigen Sacktücher und Halsbinden]
Anspielung sowohl auf die Farben der französischen Trikolore wie auch auf das ,Schwarz-Rot-Gold‘, die Farben der deutschen Nationalbewegung (→ Erl. zu 103,22-23), die später beim Hambacher Fest als Symbol des Strebens nach Freiheit, Recht und Einheit gezeigt wurden.
69,1-2 ein Anderer in Heidelberg]
Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761-1851), Heidelberger protestantischer Theologe (→ Erl. zu 46,9), schrieb eine Replik auf Riessers Schrift (→ Erl. zu 69,1) in der Zeitschrift „Sophronizon“ (Jg. 1831, 4. Heft), „Der wahre Standpunkt, von welchem her die wichtige Frage: Warum kann die Judenschaft nicht aus Schutzbürgern in Staatsbürger verwandelt werden? zu beantworten ist“. Er argumentierte für eine jüdische Emanzipation auf der Grundlage weitgehender Assimilation und kritisierte den Standpunkt Riessers. Dieser Beitrag wurde nochmals selbständig veröffentlicht unter dem Titel „Die Jüdische Nationalabsonderung nach Ursprung, Folgen und Besserungsmitteln. [...] Allen teutschen Staatsregierungen und landständischen Versammlungen zur Erwägung gewidmet“ (Heidelberg: Winter, 1831). Riesser antwortete wiederum mit der Schrift „Vertheidigung der bürgerlichen Gleichstellung der Juden gegen die Einwürfe des Herrn Doktor H. E. G. Paulus. Den Gesetzgebenden Versammlungen Deutschlands gewidmet“ (Altona: Hammerich, 1831). Vgl. Börne-Index, 1. Hbd., S. 586, und 2. Hbd., S. 642.
69,4-5 Jemand, den ich nicht gern nenne]
Nicht ermittelt.
70,2-3 die Republik Bopfingen]
Das schwäbische Städtchen Bopfingen, im 18. Jahrhundert noch Freie Reichsstadt, war im Sommer 1796 Schauplatz eines Gefechts zwischen französischen und österreichischen Truppen; pro-französische, also republikanische, Neigungen lassen sich ihm nicht nachsagen. Bopfingen verlor 1802 seinen Status als Freie Reichsstadt (und in diesem Sinne als ,Republik‘).
71,7-8 Gott war sehr ungehalten [...] einen König salben]
Im Buch Samuel des Alten Testaments verlangt das Volk Israel vom Propheten und Richter Samuel, dass er einen König einsetze, der Israel hinfort regieren soll (1 Sam, 8). Gott befiehlt Samuel, dem Wunsch des Volkes zu folgen: Es sei nämlich von ihm, Jahwe, abgefallen und solle seinen gewünschten König haben. Samuel solle das Volk Israel aber ausdrücklich warnen, und Samuel gehorcht diesem Befehl. Börne hat im achten Brief aus Paris vom 28. September 1830 (BSSchr, Bd. 3, S. 36) ebenfalls auf diese biblische Warnung vor dem Königtum hingewiesen, und zwar im Zusammenhang mit dem Verlauf der belgischen Revolution.
72,3 Kaukasus]
Der Kaukasus ist ein hochgradig mythologisch besetzter Ort. Im Alten Testament landet nach der Sintflut Noahs Arche auf seiner höchsten Erhebung, dem Ararat. In der griechischen Mythologie ist er Sitz des Titanengeschlechts, wo der Abkömmling der Titanen Prometheus an einen Felsen gefesselt und von Herakles befreit wurde (vgl. Vollmer, S. 390). Die Generation des Sturm und Drang verstand sich, der Genie-Ästhetik folgend, als ein neues Titanengeschlecht, beispielhaft Goethe in seinem Gedicht „Prometheus“ (HA, Bd. 1, S. 44-46). Der ,Narr‘ nimmt dieses titanische Streben hier auch für die republikanische Strömung seiner jungdeutschen Generation in Anspruch.
145,7-9 Vergebens rief ich in die Salons meine ernsten Warnungen; noch waren sie aber zu schwach]
In E ist der Text hier korrupt: Vergebens rief in die Salons meine ernsten Warnungen; noch war sie aber zu schwach. Emendation nach A1.
73,4-5 eine neue Völkerwanderung]
Dieser Passus bis 73,8 bezieht sich auf das Auseinanderbrechen des Osmanischen Reiches. Ägyptische Truppen rückten im November 1831 in Syrien ein, da der Vizekönig Ägyptens, Mehemed Ali, seine zunehmende Unabhängigkeit vom Oberhaupt des Reiches, Sultan Mahmud (→ Erl. zu 19,14-15), unter Beweis stellen wollte. Darauf bezieht sich die Formulierung Der rechte Flügel der Pforte versagt länger den Dienst (73,5-6): Der „Vasall“ Mehemed Ali rebellierte „gegen seinen Oberherren“, den Sultan, dessen Regierung redensartlich mit dem Eingang seines Palastes, der Pforte, bezeichnet wurde. Das ägyptische Heer befand sich unter dem Befehl von Mehemed Alis Sohn Ibrahim und nahm Syrien ohne großen Widerstand ein. Der überraschte Sultan schlug mit seiner türkischen Armee erst im Frühjahr 1832 zurück. Vgl. Franz Kottenkamp: Allgemeine Geschichte der neuesten Zeit von dem Ende des Jahres 1830. Ein Supplement-Band zu Ernst Münch’s (→ Erl. zu 19,21) allgemeiner Geschichte der neuesten Zeit [...]. Stuttgart: Literatur-Comptoir, 1837. S. 375-383, bes. S. 378-380, Zit. S. 379.
73,8-10 In Frankreich und England wird den Standesprärogativen […] heimgeleuchtet]
In Frankreich hatte die Julirevolution von 1830 zum Sturz der Bourbonen und damit zum Ende der 1815 restaurierten Adelsherrschaft geführt. In England beendete die Reform Bill von 1832 die Vorherrschaft der adligen Großgrundbesitzer im Parlament (→ Erl. zu 78,24).
73,10-11 Roms weltlicher Thron hat keine andere Stütze mehr, als fremde Bayonette]
Um die polizeistaatlichen Verhältnisse im römischen Kirchenstaat zu mildern, erließ Papst Gregor XVI. zwischen Juli und November 1831 mehrere Reformedikte, die der unzufriedenen Bevölkerung aber nicht weit genug gingen. Als erneut Unruhen ausbrachen, wurden die Edikte widerrufen, und fremdes Militär kam zu Hilfe: „Man verließ sich auf den vierfachen Arm der Oestreicher, der Franzosen, der Schweizer und der eignen Truppen“ (Johann Josef Ignaz von Döllinger: Kirche und Kirchen, Pastthum und Kirchenstaat. Historisch-politische Betrachtungen. München: Literarisch-artistische Anstalt der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, 1861. S. 568).
73,15 Fichte’s Schriften]
Johann Gottlob Fichte (→ Erl. zu 100,21) verteidigte seit 1793 in mehreren Schriften die Errungenschaften der Französischen Revolution gegen die Fürstenherrschaft.
73,16-18 die ewige Jüdin]
Der Leidensweg der ,Närrin‘ (73,20-29) als der dauernd missverstandenen Verkörperung der menschlichen Freiheit wird mit dem des ,ewigen Juden‘ Ahasver gleichgesetzt. Zu Gutzkows Behandlung der Ahasverfigur vgl. Houben, Gutzkow-Funde, S. 232-245.
75,22-23 Als Galiläi die Daumenschrauben der Tortur fühlte]
Galileo Galilei (1564-1642) wurde 1615/16 von der Inquisition zum Schweigen verurteilt, veröffentlichte aber 1632 seine Lehre und wurde daraufhin der sog. ,interrogatio tertialis‘ unterzogen, d. h. ihm wurden die Foltergeräte gezeigt und deren Wirkung beschrieben. Er wurde 1633 gezwungen, seine Theorien zu widerrufen, setzte aber in der Haft seine Untersuchungen fort. Vom Index verschwanden seine Werke erst 1835. Die ihm zugeschriebenen trotzigen Worte lauten: „Eppure si muove!“ („Und sie bewegt sich doch!“; vgl. Büchmann 1977, S. 246).
76,13-14 die Ordonnanzen]
Die Maßregeln, die König Karl X. am 25. Juli 1830 anordnete (Zensur der Presse, Auflösung des Parlaments, Änderung des Wahlsystems, Neuwahlen im folgenden September), lösten die Julierevolution aus.
76,23-24 Habeascorpusacte]
Das 1679 gesetzlich verankerte englische Grundrecht (Lat. ,habeas corpus‘: du habest den Körper; d. h. bringe die Person [zur richterlichen Untersuchung]), wonach die Rechtmäßigkeit einer Verhaftung gerichtlich geprüft werden kann. Im England des 17. Jahrhunderts bewirkte diese Akte auch Schutz vor dem Übergriff des absoluten Monarchen auf den Besitz reicher Untertanen (vgl. Christian Schmidt: Individualität und Eigentum. Zur Rekonstruktion zweier Grundbegriffe der Moderne. Frankfurt, New York: Campus Verl., 2006. S. 308). Die Akte wurde mehrmals aufgehoben, z. B. 1817, als Hungersnot soziale wie politische Unruhen verursachte.
77,1 Museen]
,Museum‘ war ein gebräuchlicher Name für eine allgemeinbildende Gesellschaft. Solche Institutionen wurden vornehmlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Städten gegründet und besaßen oft ein Naturalienkabinett oder andere Sammlungen. Sie organisierten Vorträge über wissenschaftliche Themen, aber zunehmend auch Konzerte. Das Frankfurter Museum, vor dem Gutzkow 1835 seine satirischen Vorträge Naturgeschichte der deutschen Kameele (eGWB III, Bd. 8), Ueber Pudel, Jokeys, Nachtigallen und die kleinen Freuden des Lebens und Ueber die Natur der Kometen hielt, ist ein gutes Beispiel.
77,8 Hunt]
Der englische Liberale Henry Hunt (1773-1834) kämpfte für das allgemeine Wahlrecht und jährliche Parlamentswahlen. ,Orator Hunt‘ war Vorsitzender bei einer Versammlung von 60 000 Demonstranten für die Reform des britischen Unterhauses auf dem St. Peter’s Field, Manchester (16. August 1819). Bei dem Versuch, ihn und andere Reform-Vertreter festzunehmen, wurden 500 Demonstranten von berittenem Militär verletzt und 11 getötet. Das Massaker von Peterloo (so genannt in Analogie zur Schlacht von Waterloo) führte 1820 zu Hunts Verhaftung und zweijährigem Gefängnisaufenthalt. 1830 wurde er als Abgeordneter für Preston in Lancashire gewählt. Die Wahlrechtsreform von 1832 löste seine Forderungen nur sehr begrenzt ein. → Erl. zu 78,24.
77,16 sie lobte Lafayette, um ihn zu tadeln]
Der General Lafayette (1757–1834), eine republikanische „Galionsfigur“ der Französischen Revolution (→ Erl. zu 32,7), hatte bei der Thronbesteigung des ,Bürgerkönigs‘ Louis Philippe in der Julirevolution eine äußerst wichtige Rolle gespielt. Er erschien am 31. Juli 1830 neben dem neuen König vor dem Hôtel de Ville und stellte ihn der Nation als die „beste aller Republiken“ vor. Lafayette war Ehrenbürger Nordamerikas, hatte 1777-79 und 1780-82 dort gegen die Briten mitgekämpft und wurde am 13. Juli 1789 von der Assemblé Nationale zum Kommandanten der Nationalgarde erklärt, eine Funktion, die ihm 1830 wieder verliehen wurde. Als es in der Anfangsphase der Julimonarchie zu einer „Machtprobe“ zwischen republikanischen Kämpfern, darunter die z. T. republikanisch gesinnte Nationalgarde, und der Regierung Louis Philippes kam, beschloss der König am 24. Dezember 1830 mit der ihn stützenden Kammermehrheit, das Amt des nationalen Kommandos für die Nationalgarde abzuschaffen. Damit war die „bisher einzigartige Machtstellung“ Lafayettes unterminiert. Der General, der ebenfalls Abgeordneter war, bat selbst am darauffolgenden Tag um seine Entlassung als Nationalgardenkommandant. (Vgl. Börne-Index, Bd. 1, S. 420-421) In den ersten Monaten des Jahres 1831, die der ,Narr‘ hier erwähnt, war das unbequeme Verhältnis der Deputiertenkammer zu dem greisen Volksidol Lafayette kennzeichnend.
77,24-25 die Tribune, die Revolution, der National]
Französische Zeitungen: „La Tribune“, die die republikanische Partei unterstützte, wurde von Armand Marrast (1801-1852) herausgegeben; „La Révolution de 1830. Journal des interêts populaires“, die den Standpunkt Lafayettes unterstützte, erschien 1830-32, ab Dezember 1831 mit dem Untertitel „Courrier des électeurs“, herausgegeben von James Fazy und Antony Touret; „Le National“, von Talleyrand inspiriert, begründet und herausgegeben von Adolphe Thiers (1797-1877; → Lexikon), unterstützte den Duc d’Orléans.
77,26 Odillon Barrot]
Camille-Hyacinthe-Odilon Barrot (1791-1873) wurde als Advokat durch die „Verteidigung politisch Angeklagter“ populär. „Er half die Julirevolution vorbereiten und ward nach deren Gelingen Seinepräfekt und Mitglied des Staatsrats bis zum Sturze des Ministeriums Laffitte, worauf er als Deputierter in die Kammer gewählt wurde. Hier ward er der Führer der ,dynastischen Opposition‘, welche die Aufrechterhaltung der Orléans, dabei aber die freisinnige Entwickelung der Verfassung erstrebte.“ (Meyer, Bd. 2, S. 398).
77,26-27 die Affichen der Studierenden]
Nicht ermittelt.
77,28 Karlisten]
Die Anhänger des 1830 gestürzten Bourbonenkönigs Karl X., die Karlisten, bildeten in der französischen Deputiertenkammer die legitimistische Opposition gegen den ,Bürgerkönig‘ Louis Philippe und seine Minister, während die Republikaner auf der Linken opponierten: „Der Bürgerthron behauptete sich mitten unter Emeuten, von Karlisten und Republikanern erregt oder benutzt; die Ministerien wechselten; die Opposition in der Deputirtenkammer drohte mehrmals die Mehrheit an sich zu reißen“ (Art. ,Ludwig Philipp, (König der Franzosen)‘. Conv.-Lex. d. neuesten Zeit, Bd. 2 [1833], S. 967).
77,30 Simonisten]
Claude Henri Graf Saint-Simon (1760-1825; → Erl. zu 28,14) gilt als Begründer der sozialistischen Theorie. Seine Schüler bildeten „als Saint-Simonisten die erste sozialistische Schule, die von 1825-32 die neue sozialistische Lehre in weitern Kreisen mit Erfolg verbreitete“ (Meyer, Bd. 17, S. 452).
77,31-32 wie die Allgemeine Zeitung jüngst berichtet]
Die von 1798 bis 1929 bei Cotta erscheinende, ab 1807 in Augsburg basierte „Allgemeine Zeitung“ war lange die bedeutendste überregionale deutsche Zeitung. Auf den hier angesprochenen, Artikel bezieht sich Gutzkow auch in einer seiner Berliner Korrespondenzen für die Stuttgarter „Deutsche Allgemeine Zeitung“ (Nr. 172, 19. Juli 1832): hat nicht vor einigen Monaten schon in der Augsburger Zeitung ein Berliner Korrespondent erklärt, daß in Preußen der wahre Simonismus schon vor St. Simon zu Hause gewesen sey? (Korrespondenz-Nachrichten. Berlin, Anfang Juli. In: RABS, S. 54-55.)
78,21 mit Walter Scott gegen die Reform]
Walter Scott (→ Erl. zu 29,4) war als ,High Tory‘ gegen Reformen. Vgl. Leslie A. Marchand: Byron. A Biography. London: Murray, 1957. Bd. 1, S. 529-530. Wie bei der im 5. Brief ausgeführten Satyre auf die Freiheit (35,23-36,21) steht die Burg (78,18) – hier mit den verfallenen Flecken gleichgesetzt (→ Erl. zu 78,24) – emblematisch für die Gesinnung der reaktionären Romantik (vgl. 78,24-27).
78,24 Wenn die Reformbill siegt]
Der erste der drei Gesetzentwürfe zur Wahlrechtsreform wurde dem britischen Unterhaus von der Whig-Partei Lord Greys am 23. März 1831 vorgelegt. Die Torypartei lehnte ihn im April ab, und Lord Grey trat zurück, aber bei der darauf folgenden allgemeinen Wahl kamen die Whigs wieder an die Macht und legten im Juni einen zweiten Entwurf vor. Das Oberhaus lehnte ihn im Oktober ab, was besonders wegen der kirchlichen Opposition gegen die Reform zu Unruhen führte. Die dritte, im Dezember vorgelegte Fassung traf ebenfalls auf den Widerstand des Oberhauses; Lord Grey trat erneut zurück, und dies verursachte wiederum Unruhen. Nur dadurch, dass König William IV. androhte, genügend neue Lords zu schaffen, um die Opposition im Oberhaus nichtig zu machen, konnte das Reformgesetz am 7. Juni 1832 in Kraft treten. So verschwanden nicht weniger als 56 sogenannte ,rotten boroughs‘ (verfallene Flecken, 78,25), d. h. ländliche Wahlkreise ohne Bevölkerung. In diesen war die Zahl der Wahlberechtigten entweder sehr gering geworden oder gänzlich auf Null gesunken, so dass der Gewählte vom örtlichen Schirmherrn, wenn nicht von der Krone, ernannt werden musste. Andererseits wurden durch die Reform entscheidende neue, städtische Wahlkreise geschaffen, die die Industriezentren des Landes erstmals politisch repräsentierten. Vgl. Edward Pearce: Reform! The Fight for the 1832 Reform Act. London: Jonathan Cape, 2003.
79,3 tribunus plebis]
Lat. Volkstribun, „Volksvertreter od. Vorsteher, Volkssprecher“ (Heyse 1838, 2. Teil, S. 516).
79,3-4 lex agraria]
Lat. Ackergesetz; agrariae leges „agrarische Gesetze (lat.) waren bei den Römern solche, welche eine gleiche Vertheilung aller Ländereien und einzelne Austheilung gewisser Grundstücke u. d. g. betrafen“ (Heyse 1838, 1. Teil, S. 30).
79,5-6 à bas les hauteurs immesurées!]
Frz.: Nieder mit dem maßlosen Hochmut!
80,8-9 Selbst einen Galgen haben die Mädchen in Posen mit Blumen bekränzt]
Hier handelt es sich um ein weiteres Politikum des Tages. Jeanette Wohl informiert Ludwig Börne in einem Brief vom 30. Januar 1832: „In Posen war ganz in der Nähe der Schildwachen ein Galgen aufgerichtet mit den Namen der revolutionären Flüchtlinge wie Uminski und anderer. Trotz der Nähe der Wachen sah man am Morgen das Gerüst mit Lorbeerkränzen und Inschriften zur Verherrlichung dieser Namen bedeckt, und niemand geht vorüber, ohne ehrfurchtsvoll den Hut zu ziehen.“ Ein Gedicht „Der neue Galgen in Posen“, das dieses Ereignis feierte, war am 28. Januar 1832 in den Hanauer „Neuen Zeitschwingen“ (→ Erl. zu 128,6-7) und zuvor im Stuttgarter „Hochwächter“ gedruckt worden; Wohl schickte Börne eine Abschrift, und Börne lobt das „Gedicht auf den Preußengalgen“ im vierundsiebzigsten seiner „Briefe aus Paris“ unter dem Datum des 4. Februar 1832 (BSSchr, Bd. 3, S. 504; vgl. Börne-Index, 2. Hbd., S. 804, S. 999 und S. 1078). Kurioserweise beziehen sich Gutzkow und Börne in ihren „Briefen“ also unabhängig voneinander und um dieselbe Zeit auf dieselbe Manifestation oppositioneller Gesinnung in Preußen (→ 4.2. Entstehungsgeschichte).
81,10 die alte Seefahrt]
Bezieht sich auf die im ersten Brief erwähnte Reise zur ,verstorbenen‘ Grahamsinsel (→ Erl. zu 8,5-6).
81,24 neu erbauten Domes]
1816-17 wurde das Innere des barocken Berliner Doms am Lustgarten nach Plänen Schinkels im klassizistischen Stil neu gestaltet; der Umbau des Äußeren folgte 1820-21. Gutzkow dürfte die erneuerte Kirche mit seiner Mutter als Sechsjähriger zum ersten Mal besucht haben.
84,10 lieber das letzte wollte]
Der Text bezieht sich auf die folgende Stelle in Lessings Schrift „Eine Duplik“: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz – “ (Gotthold Ephraim Lessing’s sämmtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann. 3. Auflage besorgt durch Franz Muncker. Stuttgart: Göschen, 1886-1924. Bd. 13, S. 23-24).
85,26-27 funfzehn Jahre der Restaurationsperiode]
→ Erl. zu 131,8-9.
86,19 einen Historiker]
Anspielung auf den Kirchenhistoriker August Neander (1789-1850), bei dem Gutzkow in Berlin hörte. Der Grund für dessen gegenwärtige Schwierigkeiten in Berlin (86,20-21) besteht darin, dass er sich 1830 „öffentlich von der L. v. Gerlach und E. W. Hengstenberg geführten Kampagne gegen die ,rationalistischen‘ Hallenser Theologieprofessoren Gesenius [...] und Wegscheider distanziert“ hatte (Kurt-Victor Selge: Die Berliner Kirchenhistoriker. In: Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Reimer Hansen und Wolfgang Ribbe. Berlin, New York: De Gruyter, 1992. S. 409-448; hier S. 413). Dass sich die Stelle auf Neander bezieht, liegt auch deshalb nahe, weil dieser 1813 in Berlin ein Buch über Bernhard von Clairvaux mit dem Titel „Der Heilige Bernhard und sein Zeitalter“ veröffentlicht hatte (vgl. 86,23-24).
86,23-24 Bernhard von Clairvaux]
Bernhard von Clairvaux (1090-1153) war Gründer und Abt der Abtei von Clairvaux und entscheidend am Zustandekommen des Zweiten Kreuzzugs beteiligt. Unterstützung dafür gewann er bei Königen wie beim Volk durch die ihm nachgesagten Wunder und die Stärke seiner Predigten. 1830 wurde er zum Kirchenlehrer ernannt.
87,6-7 seid fromm wie die Tauben, aber klug wie die Schlangen!]
Vgl. Mt 10,16. Die opportunistische Haltung der beschriebenen theologischen Gruppe wird durch dieses paradox klingende Bibelzitat unterstrichen.
87,9 mit Marius auf die Trümmer Karthago’s]
Gajus Marius (155-86 v. Chr.) löste dadurch, dass er Sulla im Jahre 88 den Oberbefehl im Kampf gegen Mithridates entreißen wollte, den ersten Bürgerkrieg aus. Er entkam unter großen Gefahren nach Nordafrika. Vgl. Börne-Index, 1. Hbd., S. 491, wo eine ähnliche Erwähnung der Figur bei Börne so erklärt wird: „Nach Plutarch soll M[arius] dem Boten, der ihm die Nachricht von der Ausweisung durch den röm. Statthalter überbrachte, gesagt haben: ,So melde ihnen denn, du habest den Gaius Marius auf den Ruinen von Karthago sitzen sehen‘.“ Vgl. Plutarch: Leben des Marius, Kapitel 40. - Der Satz 87,8-10 fehlt in A1.
87,12-13 Knigge’s Umgang mit den Menschen]
Freiherr von Knigges „Über den Umgang mit Menschen“ erschien 1788. Der Verfasser kam dadurch zu „fragwürdigem Ruhm“: „Das, was als Beitrag zum bürgerlichen Emanzipationskampf gemeint war, geriet in seiner Wirkung zum banalen Etikette-Buch. Die zahlreichen Neuauflagen des Buches drängten die politischen und sozialen Absichten des Verfassers immer stärker zurück und verkehrten sich schließlich in ihr Gegenteil.“ (Inge Stephan: Knigge, Adolf Franz Freiherr von. In: Metzler Autoren Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Bernd Lutz. Stuttgart: Metzler, 1986. S. 372).
87,13 Chesterfield’s Briefe]
Briefe, die Philip Stanhope, Earl of Chesterfield (1694-1773) zwischen 1732 und 1768 an seinen natürlichen Sohn, Philip Stanhope, schrieb und die 1774 veröffentlicht wurden. Sie handeln von guten Manieren, der Kunst des Gefallens und der Art, wie der Mensch in dieser Welt erfolgreich werden kann. Chesterfield war mit Pope, Swift und Voltaire befreundet, fand aber in Samuel Johnson einen bitteren Feind. Johnson meinte, die Briefe lehrten „the morals of a whore, and the manners of a dancing-master“. (Vgl. Boswell’s Life of Johnson. Hg. von R. W. Chapman. London: Oxford University Press, 1953. S. 188).
88,1 Quittel und Comp.]
Bekanntes und vornehmes Berliner Moden- und Galanteriewarengeschäft, das J. F. Quittel jun. im Haus An der Stechbahn Nr. 2 (am Berliner Schloßplatz) unterhielt. In der autobiographischen Schrift Zwei Gefangene erinnert sich Gutzkow an seine Begegnung mit dem ebenfalls aus Berlin stammenden Schauspieler Theodor Döring in der Mannheimer Haft. Döring, Vetter von Willibald Alexis, war in seiner Jugend bei Quittel Verkäufer. Die gemeinsamen Reminiszenzen kommen immer wieder auf dieses Geschäft zurück: „Ja, Quittel! Galanteriewaarenhändler unter der Stechbahn! Sein Konkurrent hieß Fiocati und wohnte in der Königsstraße ... Dieser handelte auch mit Papageien und nachgemachten Paradiesvögeln – “ [...] „Nein bei Quitteln! Stechbahn! Perjemieten – verkooft – Walddeibel verkooft!“ Am Quittel’schen Laden begann nämlich derjenige Theil des berliner Weihnachtsmarktes, wo die zur Besteckung mit Lichtern bestimmten hellgrünen Papierpyramiden verkauft wurden und die Passanten der damals lebensgefährlich engen „Werder’schen Mühlen“ durch eine Gasse kleiner, frierender Waldteufelverkäufer hindurch mußten. (GWB VII, Bd. 3, S. 59).
88,5-6 der zweiköpfige Adler dem einköpfigen an die Brust werfen]
Der zweiköpfige Adler war das heraldische Emblem Russlands, der einköpfige das Preußens; Anspielung auf die Politik Preußens und Russlands, die durch dynastische Verwandtschaft verbunden waren (→ Erl. zu 88,8), gegenüber Polen.
88,7 Pereat]
Lat.: ,Es möge zugrunde gehen‘.
88,8 Kaiserin von Rußland]
Die Ehefrau (seit 13. Juli 1817) des russischen Zaren Nikolaus I. (1796-1855; → Erl. zu ) war die preußische Prinzessin Charlotte, älteste Tochter König Friedrich Wilhelms III., die bei ihrer Vermählung den Namen Alexandra annahm. Als Zeichen der engen Freundschaft zwischen Preußen und Russland erhob sich der König beim staatlichen Festmahl für Nikolaus am 4. November 1815 und kündigte die Verlobung der Tochter an. Sie machte 1829 – vor drei Jahren – einen Besuch bei ihren Eltern in Berlin.
90,4-5 Cäsar sein Haupt mit dem blutigen Mantel verhüllte]
→ Erl. zu 53,4-5.
90,28-29 „Die Herden sind’s, die der Hirt von den Triften zur Senne führt!“]
Zitat nicht ermittelt.
90,30-31 „Eine Quelle ist’s, oder ein Gießbach, der sich in’s Thal stürzt,“]
Zitat nicht ermittelt.
91,3-4 über Sachsen sähest Du helle Streiflichter]
Anspielung auf die von Mitteldeutschland ausgehende Reformation (91,6); sie ist der neue Denkglaube und Vorläufer der Aufklärung. In den Zeitgenossen (1837) heißt es: Sachsen ist jenes Land, von welchem die Reformation aufleuchtete und noch bis zu dieser Stunde zeichnen sich namentlich die Deutschen durch diese nimmersatte Unruhe aus, sich aufzuklären und das Geglaubte auch zu verstehen. (GWB III, Bd. 3, S. 470).
92,13 Klostergarten beim Escorial]
Das Kloster El Escorial, dem Heiligen Laurentius geweiht, liegt südlich von Madrid und war seit Karl V. (1500-1558) Begräbnisort der spanischen Königsfamilie. Unter Philipp II. (1556-1598) nach dem Sieg von Saint-Quentin (1557) als Residenz ausgebaut.
92,20-21 Pseudoexsequien]
Der deutsche Kaiser Karl V. (1500-1558) „habe bei lebendigem Leibe seine Exsequien gefeiert; er habe sich dabei selbst schon in den Sarg gelegt und durch dies Experiment seine letzte Krankheit sich zugezogen. Für eine einfachere Version – daß er lebend sich eine Todtenmesse habe halten lassen – kann man den Bericht eines Mönches anführen, der dabei gewesen zu sein behauptet“ (ADB, Bd. 15 [1882], S. 203).
93,6 Pasquill]
Bezeichnung für eine (anonyme) Schmähschrift. Pasquino, ein spottlustiger römischer Schuhmacher oder Ladenbesitzer, wurde zum Namensgeber einer 1501 in der Nähe seines Geschäftes ausgegrabenen römischen Statue. Danach Pasquill: Spottschrift, die man der Statue von Pasquino anheftete.
93,21 Marengo]
In der Schlacht bei Marengo, fünf Kilometer südöstlich der piemontesischen Stadt Alessandria, besiegten Napoleons Truppen am 14. Juni 1800 die Österreicher und befestigten so Napoleons Stellung als Erster Konsul im Gefolge seiner Machtübernahme.
93,22 Montmartre]
Der 130 m hohe Hügel im Norden von Paris war damals noch nicht in das Stadtgebiet eingegliedert. Ursprünglich Märtyrerstätte von St. Denis, Kapellen- und Klosterort, wurde Montmartre im Zuge der Französischen Revolution zum Sitz einer ,commune‘ (Produktionsgemeinschaft) und gelangte am Ende der Napoleonischen Kriege zu europäischem Ruhm. „Als 1814 die Verbündeten in Frankreich einrückten, ließ Napoleon die Höhen von M[ontmartre] befestigen und übergab die Vertheidigung seinem Bruder Joseph. Im J[ahre] 1815 wurden die Werke zur Beschützung der Hauptstadt noch vermehrt [...]. Der M[ontmartre] hat Kalk- und Gypsbrüche, die einen so reichen Ertrag geben, daß nicht allein ganz Paris damit versorgt, sondern auch noch viel davon verführt wird.“ (Brockhaus 1833-37, Bd. 7, S. 503).
93,23 Die Kirche Notre Dame ist die neue Peterskirche]
Napoleons Kaiserkrönung in der Pariser Kathedrale Notre Dame am 2. Dezember 1804 geschah in Gegenwart des Papstes Pius VII. Nachdem Napoleon, ,der kleine Mann‘ (93,29-30), vom Papst gesalbt worden war, nahm er diesem die Kaiserkrone aus den Händen (dies war vorher abgesprochen) und krönte sich selbst (93,30-31). Der ,Narr‘ impliziert, dass das päpstliche (mittelalterliche) Machtzentrum in Rom durch Napoleon auf Paris übergegangen ist, d. h. auf die moderne Staatsmacht mit ihrer pseudo-sakralen Aura, die im Pathos der Französischen Revolution ihren Ursprung hat. Die sieben Hügel der ,ewigen Stadt‘ Rom haben ihre Bedeutung an den einen Hügel von Paris, den ewigen Montmartre (93,22), abgegeben.
93,31-32 Damals hab’ ich ihn in jener Stellung gezeichnet]
Der Maler Jacques-Louis David (1748-1825), ein ehemaliger Robespierre-Anhänger, war von Napoleon beauftragt worden, die Krönungsfeierlichkeiten in Gemälden zu dokumentieren. Das berühmte große Werk, das er von der Krönung Josephines durch Napoleon schuf, hängt im Louvre. David vermied es, darauf den provozierenden Akt der Selbstkrönung festzuhalten, und zeigt Napoleon auch nicht mit der Kaiserkrone, die er in diesem Moment bereits trug, sondern nur mit dem goldenen Lorbeerkranz (93,31). Der ,Narr‘ bezieht sich aber nicht auf dieses Bild, sondern auf Davids Zeichnungen, die Napoleons Selbstkrönung zeigen und die der Künstler während der ,Generalprobe‘ zur Krönung machte. Der ,Narr‘ identifiziert sich hier deutlich mit dem Revolutionär David, nicht mit dem ,Hofmaler‘. Eine der Zeichnungen gehört zu einem Skizzenbuch, das sich heute im Fogg-Museum (Harvard) befindet, die andere ist im Louvre (vgl. Anita Brookner: Jacques-Louis David. London: Chatto & Windus, 1980. S. 152-153).
94,15 Souslieutenant]
1785 war Napoleon Leutnant zweiten Grades der Artillerie im La Frère-Regiment.
94,22-23 „der Mann da sucht ein Pferd, und reitet drauf.“]
Sprichwörtlich: „Er sucht das Pferd und reitet drauf“, d. h. bereits im Besitz des Gesuchten sein. (Sprichwörter der germanischen und romanischen Sprachen. Vergleichend zusammengestellt von Ida von Düringsfeld, Otto Freiherrn von Reinsberg-Düringsfeld. 2 Bde. Leipzig: Fries, 1872-75. Bd. 2, S. 227).
95,10 Dragonaden und Auto da fés]
Dragonaden: frz. ,dragonnades‘, Bezeichnung für die Zwangsmaßnahmen Ludwigs XIV. sowie seines Ministers Louvois zur Bekehrung der Protestanten Frankreichs. Diese wurden mit einer doppelten Einquartierung von Dragonern belegt, welchen man zudem Misshandlungen und Plünderungen gestattete. Auto da fés: portug. ,auto de fé‘, Bezeichnung für die öffentliche Verkündigung des Urteils der Inquisition und die darauf folgende Bestrafung des Verurteilten, gewöhnlich durch Verbrennung.
95,13-14 den Schwanz ihres weltgürtenden Ringes loslassen]
Anspielung auf den germanischen Mythos der Midgardschlange, die die Welt umspannt. Das ,Loslassen‘ bezieht sich auf den mythischen Weltuntergang (die ,Ragnarök‘, d. h. den ,Kampf der Götter‘), bei der die Midgardschlange aus dem Meer kommt, an der Vernichtung mitwirkt und von Thor erschlagen wird, bevor dieser selbst ihrem Gift erliegt. Aus der ausgelöschten Ordnung entsteht im germanischen Mythos eine neue. Der ,Narr‘ stellt einen Zusammenhang her zwischen diesem Untergangs- bzw. Neuschöpfungsmythos und einem germanische[n] Princip der Geschichte, bei dem sich jeder Einzelne mit seinen banalen Empfindungen und Taten als Zentrum des Weltgeschehens fühlt (vgl. 95,33-96,28).
95,31-32 Pflücke den Tag!]
Geflügeltes Wort aus den „Oden“ des Horaz, Buch I, Nr. 11, Z. 8: „Carpe diem, quam minimum credula postero“, „Pflücke den Tag, setze in die Zukunft kein Vertrauen“.
96,5-6 Spaziergänger vor dem Thore]
Anspielung auf die Szene „Vor dem Tor“ in Goethes „Faust“, in der Faust und Wagner sich unter die Bürger auf ihrem Osterspaziergang mischen und den Pudel erblicken, in dem sich Mephistopheles (vgl. Hörner und langen Schweif) verbirgt. (HA, Bd. 3, S. 32-34, V. 808-1177).
96,32-34 Im Frühjahre wird die Propaganda losgelassen. [...] aus Preußen dazu 30,000 Dolche bezogen hat.]
Es lässt sich zwar mit einiger Sicherheit behaupten, dass die ,Narrenbriefe‘ noch vor dem Hambacher Fest vom 27. bis 30. Mai 1832 abgeschlossen waren (→ 4.2. ). Die Übereinstimmung der in diesem Passus angegebenen Zahl mit der geschätzten Teilnehmerzahl bei dem Fest könnte jedoch darauf hinweisen, dass Gutzkow diesen Absatz am Schluss des 13. Briefes eingetragen hat, als er in Berlin eine Reinschrift des Manuskripts anfertigte, um sie an Campe abzuschicken (→ 4.1.3).
97,6-7 wenn Du meine Heloise bist, immer Dein Abälard]
Pierre Abelard (1079-1142), Theologe und Philosoph, hatte ein Verhältnis mit Héloise, seiner Schülerin, Nichte eines Kanonikus der Pariser Kathedrale Notre Dame. Als ihre geheime Heirat und die Geburt eines Sohnes ans Licht kamen, zog sie sich in ein Kloster zurück. Abelard wurde von Freunden des Kanonikus kastriert und danach Mönch im Kloster von St. Denis. Héloise wurde Nonne. Die Veröffentlichung ihres Briefwechsels ließ die beiden in Europa zum Musterbild der Liebenden werden.
98,22-23 hatt’ ich diese Kunst von einem Lehrer gelernt]
Als Primaner am Friedrichswerderschen Gymnasium Berlin hatte sich Gutzkow in lateinischer Verskunst geübt. Zum Amtsantritt des Rektors Ribbeck trug er eine selbstverfasste Ode vor, wobei dem Rektor Gutzkows stetige „Abweichung vom strengen Schema der alcäischen Strophe“ auffiel. Nachdem Ribbeck Gutzkow auf dieses Manko aufmerksam gemacht hatte, trug er seinen Schüler „auf den Händen und in der ersten Stunde, die er lateinisch gab, begrüßte er den poeta carminis ingeniosi mit besonderer Wärme“, wie sich Schulfreund Adolf Licht erinnert (Rasch, Gutzkow-Doku, S. 18).
98,24 Turbatverse]
Aus dem Lateinischen ,turbare‘ (,stören‘): die ,ungebundenen‘ Verse, die der harmonischen Bindung vorangehen (98,18-21).
98,25-26 spielt auf der Harfe, deren Saiten Himmelssphären sind, die Harmonie der Welt]
Nach der Lehre des Pythagoras beruht die Ordnng des ,Kosmos‘ auf der Harmonie der Himmelskörper, die auf ihrem Lauf um das Zentralfeuer Töne hervorbringen, die für die Menschen nicht hörbar sind. Diese ,Sphärenmusik‘ gehorcht den mathematischen Gesetzen der pythagoreischen Tonleiter, deren Intervalle die Abstände der sieben Kreise der Weltkörper vom Zentralgestirn fixieren. Die mathematische Erklärung der Weltordnung wurde grundlegend für die Entwicklung der abendländischen Künste und Wissenschaften. Sie wurde entscheidend für Keplers Konzeption der Astronomie. Die pythagoreische Tonleiter lieferte das Gerüst für die abendländische Musik, und ihre Intervalle begründeten die Proportionallehre, die seit der Renaissance das theoretische Fundament von Kunst und Architektur bildeten.
99,6 Sänger eines westöstlichen Divans]
Johann Wolfgang Goethe. Seine Gedichtsammlung „West-östlicher Divan“ erschien zuerst 1819 und in erweiterter Fassung 1827 (→ Erl. zu 19,30).
99,29 Jakobi]
Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819), Vertreter der Gefühlsphilosophie, war ein prominenter Gegner des Rationalismus, besonders des spinozistischen. Sein Werk „Über die Lehre des Spinoza, in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn“ erschien 1785.
99,32 Wolff’schen Metaphysik]
Freiherr Christian von Wolff (1679-1745), Mathematiker, Naturwissenschaftler und Philosoph, war vor allem als Fürsprecher des Rationalismus bekannt; durch seine Systematik und die Einführung eines spezifischen philosophischen Wortschatzes wurde er zum Mitbegründer der Aufklärungsphilosophie.
100,1-2 den Stein der Weisen höher achte, als jeden Ritt ins romantische Land]
Hier ist der Gegensatz umrissen, von dem der ,Narr‘ im Folgenden handelt: zwischen der Vernunft-Philosophie Hegels (dem Stein der Weisen) und dem Denken der ,romantischen Schule‘.
100,2 Hegels Tod]
→ Erl. zu 17,4-5.
100,5-6 die Statue der Minerva wieder in die öden Hallen Eurer Akademie einführen]
Anspielung auf die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin, im 18. Jahrhundert unter Friedrich dem Großen zu einer Institution von europäischem Rang erhoben. In ihrem Gebäude, das zugleich Stallungen des Königshauses beherbergte, war Gutzkow als Sohn eines ,Bereiters‘ aufgewachsen. Ursprünglich mit vier „Abtheilungen“ (einer physikalischen, einer mathematischen, einer philosophischen und einer historischen) versehen (Pierer 1840-46, Bd. 1, S. 288), erhielt die Akademie 1826 eine Struktur von nur noch zwei „Klassen“: „einer mathematisch-physikalischen und einer philosophisch-historischen“ (Meyer, Bd. 1, S. 218). Der ,Narr‘ bezieht sich somit auf den Statusverlust, den die philosophische Abteilung an der Akademie erlitt. Selbst wenn die Bestrebungen dahin gehen sollten, die Statue der Minerva, Sinnbild der Weisheit, wieder in der Akademie aufzustellen und der Philosophie ihre Eigenständigkeit wieder einzuräumen, werden umwälzende Denker zu ihr keinen Zutritt finden (vgl. auch 100,26-29).
100,21 Sie wären Einer der Unsrigen gewesen]
Nachdem der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) im Jahre 1799 aufgrund des ,Atheismusstreites‘ von der Universität Jena entlassen worden war, suchte er in Berlin, das noch keine Universität besaß, einen neuen Wirkungskreis. Die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften (→ Erl. zu 100,5-6 ) lehnte seine Aufnahme trotz Empfehlung „von höherer Stelle“ jedoch ab (Hermann Zeltner: Fichte, Johann Gottlieb. In: NDB, Bd. 5, 1961, S. 122-125, Zit. S. 124). Dies hinderte nicht Fichtes Berufung zum ersten Inhaber des philosophischen Lehrstuhls der 1810 gegründeten Berliner Universität. → Erl. zu 104,14.
100,22-23 wir hätten’s uns für eine Ehre geschätzt – mais la philosophie n’existe plus]
Wie sein Vorgänger Fichte auf dem philosophischen Lehrstuhl der Berliner Universität, wurde auch Hegel nicht in die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften (→ Erl. zu 100,5-6) aufgenommen. Deren philosophiefeindliche Richtung wurde wesentlich von Anti-Hegelianern, dem Juristen Savigny und dem Theologen Schleiermacher, bestimmt (→ Erl. zu 100,27-28), und ihrem Betreiben ist die Verwandlung der philosophischen in eine historisch dominierte Klasse zu verdanken. „Im Juli 1830 aber entschloss sich die philosophisch-historische Klasse der Akademie doch noch, den ungeliebten Hegel zur Zuwahl aufzustellen.“ Doch Hegels Aufnahme scheiterte an der geheimen Abstimmung. (Steffen Dietzsch: Ein Hegel und wurde nicht berufen. Aus den Annalen der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. In: Gegenworte. Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin. H. 14, 2004, S. 80-81, Zit. S. 81) Die ironische Wiedergabe des Ablehnungsgrundes durch den ,Narren‘, mais la philosophie n’existe plus (frz.: ,aber die Philosophie existiert nicht mehr‘), spielt sowohl auf die Abschaffung der philosophischen Abteilung der Akademie als auch auf deren (bis ca. 1812 währenden) Gebrauch des Französischen als Verkehrssprache an, mithin auf ihren ,verzopften‘ Geist.
100,24 F. Förster]
→ Erl. zu 39,22.
100,24-25 er sitzet zur Rechten Gottes]
Nach Mk 16,19 dort, wo Christus nach der Himmelfahrt sitzt. Diese Positionierung tut dem verstorbenen Hegel unrecht, denn er hatte nicht Gott, sondern die Vernunft zur obersten Instanz erhoben. An der „philosophischen Botschaft“ Hegels war in Berlin so manches „unwillkommen: zu viel Vernunft, zu wenig Religion (und auch die noch unter Vernunftkuratel)“ (Dietzsch: Ein Hegel und wurde nicht berufen, S. 80). Nach Ansicht des ,Narren‘ setzt man in Berlin nach Hegels Tod alles daran, dessen Philosophie ungefährlich machen; die christlich-romantische Linie gewinnt akademisch die Oberhand (→ Erl. zu 100,27-28).
103,13-14 wir traten in die Burschenschaft]
Im Folgenden verdeutlicht der ,Narr‘ die herrschaftsstabilisierende Natur der Burschenschaften, die vom preußischen Staat ja noch immer als ,demagogisch‘ verfolgt werden. Was zur Zeit der antinapoleonischen Befreiungskriege ,zeitgemäß‘ im Sinne der progressiven Veränderung sein konnte, gilt nicht mehr für die Zeit nach 1830, als freiheitliche Impulse erneut von Frankreich ausgehen. Die Burschenschaften haben den Umbruch von 1830 verträumt; ihr romantisches Schwärmen vom Mittelalter, vom Nibelungenhorde und der deutschen Kaiserkrone, macht sie nunmehr zu Verteidigern des Bestehenden. Ihre Vorstellung vom Vaterland kommt nicht nur wortspielerisch einer Demut gegenüber dem fürstlichen Landesvater gleich. Ihnen fehlt jeglicher (von Frankreich inspirierte) republikanische Geist; ihre Mitglieder werden zu treuen preußischen Staatsbeamten (103,26-30). Damit drückt Gutzkow die Distanzierung von seinem eigenen einstigen burschenschaftlichen Engagement in der „societas bibatoria“ (einer geheimen studentischen Berliner Trinkgesellschaft) aus. Laut Erinnerungen des Studienfreundes Gustav Schlemüller wurden dort „Ceremonien, wie der ,Landesvater‘, für welchen hier das ,Vaterland‘ substituirt war, [...] mit der Weihe einer unendlich feierlichen Handlung ausgeführt“ (Rasch, Gutzkow-Doku, S. 23). Der Wandel von Gutzkows politischer Orientierung wurde 1830 durch seine Gespräche mit dem Pariser Journalisten und Professor Saint Marc-Girardin eingeleitet, wie er in den Rückblicken schildert (GWB VII, Bd. 2, S. 11-12).
100,25-26 Der Convent decretirt das Dasein Gottes]
Auf ironische Weise glossiert der ,Narr‘ die Neuordnung der Berliner Philosophischen Fakultät nach Hegels Tod (→ Erl. zu 100,27-28), indem er auf Ereignisse aus der Zeit der Französischen Revolution anspielt. Der vor allem von dem antiklerikalen Jakobiner Jacques-Réné Hébert (1755-1794) zwischen Herbst 1793 und Frühjahr 1794 eingeführte ,Kult der Vernunft‘ (Culte de la Raison) hatte die Entchristianisierung Frankreichs zum Ziel. Schon am 21. November 1793 hatte Robespierre gegen diesen Kult und für die Freiheit der Religionsausübung im Konvent gesprochen. Nach der Verfolgung und Hinrichtung der Hébertisten wurde deren Kult verboten, und Robespierre setzte an seiner Stelle am 7. Mai 1794 im Konvent den ,Kult des Höchsten Wesens‘ (Culte de l’Être Suprême) durch.
100,26-27 Philosophie ist wieder Facultät der Berliner Akademie]
Ob und wann in den Jahren 1831/32 die Philosophie als eigenständige ,Klasse‘, ,Abteilung‘ bzw. ,Facultät‘ der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften wieder eingerichtet wurde, ist nicht ermittelt.
100,27-28 Zweigespann des preußischen Pascal und des preußisch-christlichen Sokrates]
Die beiden Professoren, die die „konzentrierten Bemühungen“ der Berliner Akademie zur Abwehr Hegels steuerten, waren der Jurist Friedrich Carl von Savigny (1779-1861) und der Theologe Friedrich Schleiermacher (1768-1834) (vgl. Hermann Klenner: Corollarium: Hegels Berliner Alternativ-Akademie. In: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät. Berlin. Bd. 3, 1995, S. 49-60, Zit. S. 49). Die Verschlüsselung der beiden Personen durch Bezug auf Pascal und Sokrates spielt auf den apologetischen Charakter von Savignys Lehre bzw. Schleiermachers Wirken an. Die beiden Akademiemitglieder und Professoren an der Berliner Universität waren – anders als der zum preußischen ,Staatsphilosophen‘ gewordene Hegel – im historischen Denken der deutschen Romantik verwurzelt. Savigny, Begründer der sogenannten ,historischen Rechtsschule‘, sah das im romanisch-katholischen Mittelalter wirkende römische Recht (im Gegensatz zu dem konstruierten Vernunftrecht der Aufklärung) als Basis für ein deutsches Rechtssystem an. Blaise Pascal (1623-1662), französischer Mathematiker und Philosoph, veröffentlichte eine Apologie des christlichen Glaubens in seinen posthum erschienenen „Pensées sur la religion et autres sujets“ (Gedanken über die Religion und andere Themen). – Schleiermacher war nicht nur akademisch tätig, sondern predigte zugleich an der Berliner Dreifaltigkeitskirche. Seine innige protestantische Frömmigkeit, kombiniert mit einem außerordentlichen Redetalent, machte ihn zu einem Lehrer bzw. Prediger mit hoher pädagogischer Wirkung. Der Philosoph Sokrates (469-399 v. Chr.) war Lehrer der männlichen Jugend Athens; seine dialogische Methode wurde von seinem Schüler Platon übernommen. Weder Pascal noch Sokrates wirkten in ihrer Zeit als ,systemstabilisierend‘ (Sokrates wurde als Staatsverbrecher zum Tode verurteilt); ganz im Gegensatz zu ihren vom ,Narren‘ gemeinten preußischen bzw. preußisch-christlichen Gegenstücken.
101,6 jene kräftigeren Naturen]
Hier spielt der ,Narr‘ auf die aktive Teilnahme des über fünfzigjährigen Fichte, inzwischen Berliner Universitätsprofessor, an den Übungen des preußischen Landsturms an. Diese folgten der allgemeinen Mobilmachung gegen Napoleon im Jahre 1813. Der preußische Staat verlässt sich nach der Julirevolution von 1830, im gegenwärtigen Augenblick der Noth, lieber wieder auf den antifranzösischen Patriotismus Fichtes als auf Hegels an die Französische Revolution angelehnte Systematik.
101,13 Borussianismus]
Preußentum; vom lateinischen ,Borussia‘ für ,Preußen‘.
101,25 Lykurg]
Legendärer Gesetzgeber Spartas. Nach dem Tod seines älteren Bruders, König Polydektes, wurde er König. „Als jedoch bekannt ward, daß die hinterlassene Gemahlin des Polydektes schwanger sei, erklärte L[ykurgus], daß, wenn sie einen Thronerben gebären sollte, er der Erste sein werde, ihn als seinen König anzuerkennen.“ Um die Aufrichtigkeit seiner Gesinnung zu beweisen, „legte er den kön[iglichen] Titel ab und verwaltete das Reich nur als Vormund des künftigen Thronerben. Indessen ließ ihm die Königin das Anerbieten machen, ohne Anstand ihr Kind zu tödten, wenn er sich mit ihr vermählen wolle. L[ykurgus] schmeichelte ihr mit der Erfüllung dieses Wunsches; aber blos darum, um den Knaben, welchen die Königin gebar, in seine Gewalt zu bekommen, der wegen der Freude des Volkes über dieses Ereigniß den Namen Charilaus, d. h. die Freude des Volkes, erhielt.“ (Brockhaus 1833-37, Bd. 6, S. 784).
101,26 Pestalozzi]
Johann Heinrich Pestalozzis Internat zu Yverdon in der Nähe von Neuchâtel (1805-25), wo er die Erziehung der Kinder nach Rousseaus „Émile“ plante, wurde weltberühmt.
101,26-28 die Kinder zu sich kommen [...] schon auf Erden gewiß schien]
Die biblische Anspielung bezieht sich auf den Ausspruch Jesu in Mk 10,14: „Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes.“
101,33-34 Fichte suchte [...] verständlich zu machen]
Fichtes Pädagogik mit ihrer staatsbürgerlich-nationalistischen Tendenz kam in den „Reden an die deutsche Nation“ (gehalten im Winter 1807-08) deutlich zum Ausdruck. Diese freiheitliche Tendenz ,entschuldigt‘ in den Augen des ,Narren‘, was die (preußische) Nachwelt aus Fichte gemacht hat, nämlich den Verfechter eines inhaltslosen Cocardennationalismus (102,2-3), der sich auf einen Enthusiasmus für Nationalfarben und auf Franzosenfeindlichkeit beschränkt. Wie der ,Narr‘ ausführt, sind die vaterländischen Erinnerungen, die sich u. a. mit Fichtes erzieherischem Wirken in den Befreiungskriegen verbinden, die solideste Grundlage des preußischen Systems (102,16-18).
102,12 Fulgurationen]
Lat.: Blitze, Wetterleuchten. In der Philosophie bezeichnet der Begriff die ,Ausstrahlungen‘ von einer Ur-Einheit, so z. B. bei Schelling, wie das „Historische Wörterbuch der Philosophie“ erläutert: Die „konkreten Dinge, die durch das Zusammenwirken der Potenzen im Prozeß der Schöpfung entstehen, [bleiben] immer von der ursprünglichen Einheit umfaßt und bestimmt [...], wie fern sie auch dieser Einheit stehen mögen“ (Art. ,Fulguration‘, Ritter/Gründer, Bd. 2, Sp. 1130-1132, hier Sp. 1131). Der ,Narr‘ bezieht diesen Begriff also ironisch auf die drei Manifestationen der ,Ur-Einheit‘ des öffentliche[n] Geist[es] in Preußen (102,11).
102,22-23 Wenn einem Gliede der königlichen Familie die Nase blutet]
Berichte über Trivialia am Hof füllten die Berliner Presse. Das hat Börne mit Bezug auf die Korrespondenzen „deutsche[r] Blätter“ im allgemeinen glossiert: „Es gibt deutsche Blätter, die nie von dem vielen, was in englischen Hochherziges und Herrliches enthalten ist, auch nur ein einziges Wort mitteilen, aber von den Schmerzen und Erleichterungen der jetzt verstorbenen Königin von England uns monatelang täglich die genauesten Berichte lieferten. Es gibt deutsche Blätter, die vierzehn hintereinander folgende Tage von einer toten Prinzessin und von den Lichtern sprechen, die bei ihrer Bahre gebrannt und wieviel Ellen schwarzes Tuch zum Trauerbehänge verbraucht worden; aber von den leuchtenden großen Gedanken, die durch die französische Deputiertenkammer blitzen und gewittergleich ganz Franzreich erfrischen, mäuschenstille schweigen.“ (BSSchr, Bd. 2, S. 230) → Erl. zu 22,33.
103,1-4 Wenn wir einst auf dem Exercierplatze bei Berlin [...] herunterbrachten]
Dieser Passus schildert kein persönliches Kletter-Erlebnis aus der Kindheit Gutzkows, nicht nur, weil sein Vater mit Abneigung auf die von Friedrich Ludwig Jahn initiierte Turnbewegung reagierte und die heißeste Neigung des Knaben, sich [...] anwerben zu lassen, unterdrückte (Aus der Knabenzeit, GWB VII, Bd. 1, S. 135). Das hier erwähnte Turnfest vor Hoheiten und Majestäten auf dem Exercierplatze vor dem Brandenburger Tor, noch nicht auf der Hasenheide (→ Erl. zu 103,21-22), war das erste seiner Art. Es fand anlässlich des Sieges von Belle-Alliance und des 400jährigen Hohenzollernjubiläums im Oktober 1815 statt (vgl. Adolf Streckfuß: 500 Jahre Berliner Geschichte. Vom Fischerdorf zur Weltstadt. Geschichte und Sage. 2 Bde. 3. Aufl. Bd. 2. Berlin: Brigl, 1880. S. 737). Solche Feste wurden Bestandteil der von der Monarchie unterstützten Gedenkfeiern zum Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht. Sie fanden dann auf der Hasenheide statt und banden als vaterländische Erinnerungsfeste (102,29-30) die Untertanen Preußens an ihr Königshaus. Die körperliche Ertüchtigung der Jugend – so der Gedanke dieses Textabschnitts – gehört zu diesem emotionalen, ,vaterländisch‘ gefärbten Preußentum. Das Subjekt wir in 103,1 ist im Sinne einer Generation gemeint: die Altersgruppe der in die Turnbewegung Hineingeborenen, die also schon als Kinder dazugehörten, zuschauend oder mitmachend. Das Klettern gehörte zu den wichtigsten Übungen. So wird über die Vorstellung der „Berlinischen Turngesellschaft“ zur Völkerschlachts-Gedenkfeier 1817 (auf dem Turnplatz in der Hasenheide) berichtet: „Alle Kletter-Gerüste waren mit Eichenzweigen geschmückt, und unter der wehenden Landes-Flagge des Kletterthurms hieng ein Eichenkranz.“ Bei den Speerwurfübungen derselben Feier wurde auf eine fratzenhaft bemalte Scheibe gezielt, vom Publikum verstanden als „Sinnbild des gefallenen und zum Kinderspott gewordenen Einsiedlers auf Helena“, also Napoleons (Bericht der Vossischen Zeitung am 21. Oktober 1817, nachgedruckt in Baierische National-Zeitung. München. Nr. 257, 30. Oktober 1817, S. 974). Bei den Uhren und dergleichen Habseligkeiten, die die Knaben von den hohen, zum Klettern geschälten Fichten herunterbrachten, handelt es sich um materielle Anreize, die die Kletterer zu höheren Leistungen anspornen sollten (vgl. Streckfuß, S. 737). Der gesamte Passus illustriert, wie wenig gefährlich (103,4) dieser gefürchtete Patriotismus für die preußische Regierung werden kann – er bildet die solideste Grundlage des preußischen Systems (102,17-18) und somit das systemkonforme Erbe Fichtes (102,32; → Erl. zu 104,14), der einst auf dem städtischen Exerzierplatz vor dem Brandenburger Tor im Landsturm gegen die Franzosen rüstete.
103,18-19 wir ließen uns einen längern Bart stehen, als der militärisch gut gethan wurde]
Die Barttracht gehörte zu den Zeichen eines Burschenschaftlers und galt besonders im Vormärz generell als Signal einer oppositionellen Gesinnung. Auch im Militär war das Tragen von (kürzeren) Bärten üblich, ohne politische Konnotation.
103,21-22 die sandigen Laufgräben in der Hasenhaide zu verschütten]
Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852; → Erl. zu 103,23) eröffnete 1811 auf der außerhalb der Stadt liegenden Hasenheide (heute Volkspark zwischen Neukölln und Kreuzberg) den ersten Turnplatz. Die Hasenheide war einst königliches Jagdgelände und wurde später zu militärischen Übungen genutzt; daher wohl Gutzkows Bezeichnung auf dem Exercierplatze bei Berlin (103,3-4). Der Turnplatz stand nicht nur Mitgliedern des Turnvereins zur Verfügung und erfreute sich großer Beliebtheit, vor allem bei festlichen Anlässen (→ Erl. zu 103,1-4). 1817 war das Gelände mit seinen Gerüsten, Geräten und seiner „Rennbahn“ gerade verbessert worden: „besonders haben die Umgänge für die Zuschauer an Bequemlichkeit und Annehmlichkeit gewonnen“ (Baierische National-Zeitung. München. Nr. 257, 30. Oktober 1817, S. 974). Als die Demagogenverfolgung 1819 verschärft wurde, fiel auch das Turnen dem Verbot zum Opfer. Jahn wurde 1819 inhaftiert, der Platz auf der Hasenheide konnte ab 1820 nur noch illegal zum Turnen genutzt werden, und erst ab 1844 stand er wieder zu diesem Zweck zur Verfügung.
103,22-23 Die Freiwilligen, die Lützow’schen]
Die Truppen der ,Freiwilligen Jäger‘ wurden 1813 in Preußen zur Verstärkung des gerade geschaffenen Wehrpflichtigenheeres gebildet. Sie trugen ihre eigene Ausrüstung und Uniform. Abgesehen von der Wehrpflicht, waren diese Freiwilligenheere ein entscheidender Schritt zur ,Verbürgerlichung‘ der Armee nicht nur in Preußen, und sie trugen zu dem Gefühl einer egalitären, vom ,Volk‘ getragenen nationalen Freiheitsbewegung bei. Um einen speziellen Freiwilligenverband handelt es sich bei dem Lützow’schen Freicorps, das 1813 auf Betreiben Jahns (→ Erl. zu 103,21-22) unter Führung des preußischen Generalmajors von Lützow (1782-1834) zustande kam. Diese Truppen sollten hinter der französischen Front tätig sein. Sie wurden nach der von ihnen getragenen schwarzen Uniform auch ,Schwarze Jäger‘ genannt. Diese Uniform sowie die Farben Schwarz-Rot-Gold und der Wahlspruch „Ehre, Freiheit, Vaterland“ wurden später von der Ur-Burschenschaft übernommen, die sich in Jena aus ehemaligen Lützowschen Jägern bildete.
103,23 Turnenthusiasten]
Die Turnbewegung war durch ihren Initiator Jahn engstens mit der militärischen Begeisterung der Befreiungskriege verflochten (→ Erl. zu 103,22-23). Das Turnen sollte „der körperlichen und moralischen Ertüchtigung der Jugend unter der Devise ,Frisch-frei-fröhlich-fromm‘ dienen und gleichzeitig eine Art vormilitärischer Ausbildung im Hinblick auf die erwartete Auseinandersetzung mit Frankreich bieten“ (Art. ,Jahn‘. Börne-Index, 1. Hbd., S. 339-340. Dort auch weitere Informationen zum Einfluss der Turnschulen auf die Burschenschaft). Jahn selbst diente als Bataillonsführer im Lützowschen Korps.
103,27 Oberlehrer etwa in Märkisch Friedland]
In Preußen war ,Oberlehrer‘ der Titel von „Lehrer[n] an den höheren Unterrichtsanstalten, bes. an Gymnasien u. Realschulen“ (Pierer, Bd. 21, S. 108). Märkisch Friedland war eine Stadt in der westpreußischen Provinz, die seit der ersten Teilung Polens (1772) zu Preußen gehörte, in diesem Zuge auch den Zusatz ,Märkisch‘ erhielt und weniger als 2000 Einwohner zählte. 1832 war Gutzkow selbst auf dem besten Wege, Oberlehrer zu werden. Schon die Assoziation dieses Lebensweges mit einer ,Purifizierung‘ (103,26) der oppositionellen Gesinnung in der Beamtenlaufbahn war mit freier schriftstellerischer Tätigkeit unvereinbar.
103,28 Ritter des eisernen Kreuzes]
Das Eiserne Kreuz wurde 1813 vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. zur Auszeichnung von Teilnehmern am Befreiungskrieg gestiftet. Der Orden wurde standesunabhängig verliehen. Seine Form ist an das Balkenkreuz des mittelalterlichen Deutschordens angelehnt; daher die Bezeichnung seines Trägers als Ritter. Im Eisernen Kreuz Preußens spiegelt sich die gesamte egalitär-vaterländisch-christliche Ideologie der Befreiungskriege. Vgl. auch den besonders instruktiven Artikel ,Eisernes Kreuz‘ in „de.wikipedia.org“: https://de.wikipedia.org/wiki/Eisernes_Kreuz (Zugang 5. Februar 2021).
103,30 Arndt]
Ernst Moritz Arndt (1769-1860) galt als ,Sänger der Befreiungskriege‘. Sein antifranzösischer Nationalismus trat besonders markant in dem Lied „Was ist des Deutschen Vaterland?“ hervor. Ziel der Kritik ist hier die nach 1830 in den Burschenschaften andauernde, messianische Verehrung des Dichters. Dass der germanisch-nationalistische Geist der Leipziger ,Völkerschlacht‘ nicht nur unter provinziellen Oberlehrer[n] etwa in Märkisch Friedland (103,27) kultiviert wird, sondern auch unter der jungen akademischen Generation, welche die geistige Zukunft Deutschlands bestimmen wird, verschärft die Kritik.
103,34 Ritterin des Louisenordens]
Das weibliche Gegenstück zum Eisernen Kreuz (→ Erl. zu 103,28) war der Luisenorden, gestiftet 1814 zum Andenken an die 1810 verstorbene Gemahlin Friedrich Wilhelms III., Königin Luise. Die Auszeichnung wurde standes- und religionsunabhängig an preußische Staatsbürgerinnen verliehen, die sich bei der Pflege Verwundeter in den Befreiungskriegen verdient gemacht hatten.
104,4-6 mit Anno 6 anfingen [...] und der einsam blühenden Rose sangen]
Im Oktober 1806 erklärte der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III., unter anderem beeinflusst von seiner Gattin Luise, Frankreich den Krieg. Obwohl Preußen eine vernichtende Niederlage erlitt, wurde Luise – zumal wegen ihres frühen Todes –zur mythischen Figur der Patrioten, und der Krieg von 1806 galt als Auftakt zu den siegreichen Befreiungskriegen von 1813 und 1814. In dieser Hinsicht wird Luise mit Thusnelda, der Gemahlin des Cheruskerfürsten Hermann, in eine patriotische Traditionslinie gestellt. Diese wird explizit gemacht in dem burschenschaftlichen Lied des Schriftstellers Adolf Ludwig Follen, dessen zweite Strophe beginnt: „Kennst du die einsam glühende Rose? / Ach, vor der Freyheit Frühlingsgekose / Brach dich der Volksschmach herbstlicher Wind, / Treue Luise, Thusneldas Kind!“ (Freye Stimmen frischer Jugend. Hg. von Adolf Ludwig Follen. Jena: Kröker’sche Buchhandlung, 1819. S. 92) In Karl Gödekes Sammlung „Elf Bücher Deutscher Dichtung. Zweite Abtheilung“ (1849) ist das Adjektiv ,glühende‘ zu ,blühende‘ geändert oder korrigiert.
104,11 wie in einem alten Mährchen]
104,14 Fichte, deinen verklärten Geist anrufe]
Der ,Narr‘ kommt hier auf den Gedankengang zurück, der mit der Überlegung beginnt, [w]elche Stellung [...] Fichte zu den vaterländischen Erinnerungen, speziell des angepassten preußischen Beamtentums, einnimmt (S. 102). Damit wird die Reflexion zum Verhältnis zwischen Freiheitsphilosophie, burschenschaftlichem Nationalismus und preußischer Monarchie abgerundet. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (→ Erl. zu 100,21) entwickelte seinen Begriff persönlicher Freiheit auf der Grundlage der Französischen Revolution. Als erster Professor für Philosophie an der neu gegründeten Berliner Universität stand er einerseits zum preußischen Staat in einem Abhängigkeitsverhältnis; als Anhänger der Befreiungsbewegung gegen die napoleonische Herrschaft wurde er andererseits zum Nationalisten, der in seinen „Reden an die deutsche Nation“ (1807-08) auf die Abschaffung der Kleinstaaterei in einem deutschen Nationalstaat zielte. Als Gegner der Franzosen sympathisierte er mit den Burschenschaften und spielte in der kriegerischen Mobilisierung eine aktive Rolle (→ Erl. zu 103,1-4). Als ein solcher Verteidiger der Freiheit verteidigte er aber zugleich den preußischen Staat: Die Freiwilligen, die Lützow’schen, die Turnenthusiasten sind Preußens festeste Grundlage (103,22-24). Es ist also nur scheinbar paradox, dass ein purificirter preußischer Demagog es bis zu einem Oberlehrer etwa in Märkisch Friedland gebracht hat (103,26-27). Burschenschaftliche Anhänger Fichtes müssen Friedrich Wilhelm dem Gerechten (103,17) wie die Feinde des Sultans dem Sultan des Märchens huldigen, wenn sie ihn eigentlich schmähen sollten (104,10-13). Dem ,Narren‘ geht es mit Fichte selbst nicht anders. Elf Jahre später schrieb Gutzkow: Von allen Philosophieen, die je in Berlin gelehrt worden sind, war die fischte’sche die willkommenste, denn sie war die einzige, welche die Idee zum Hebel der Thatkraft machte. (Der Geist des Ortes, eGWB IV, Bd. 6.2., pdf 1.0, S. 8). Fichte starb zu früh, um die systemstabilisierende Funktion von Turnbewegungs- und Burschenschaftspatriotismus in Preußen erkennen zu können. Für die Illusion, Freiheitsidee und preußischen Staat vereinigen zu können, macht der ,Narr‘ den Philosophen als den Vater dieser Dinge verantwortlich, allerdings freundlich drohend (104,15-16).
104,17 Mainzer Centralkommission]
→ Erl. zu 28,26. Diese Untersuchungsbehörde, die im Jahr nach Fichtes Tod eingerichtet wurde, hätte eine solche ,Entlastung‘ des Philosophen, wie der ,Narr‘ sie soeben ausgesprochen hat, nicht anerkennen können. Schließlich hatte Fichte 1799 seine Professur in Jena wegen seiner freiheitlichen Ansichten verloren (→ Erl. zu 100,21).
104,18 Die zweite Classe]
Nach den drei Klassen, in die der ,Narr‘ den öffentliche[n] Geist in Preußen einteilt, sind hier die etwas vornehmeren, literarisch gebildeten Geistreichen oder die Cavaliere und Liebhaber des preußischen Staates gemeint (102,11-14).
104,22-23 Sollte Steffens wirklich den Hegelschen Lehrstuhl erhalten]
Der Naturphilosoph Henrik Steffens (→ Erl. zu 59,26-27) wurde nach Hegels Tod 1831 auf den anderen philosophischen Lehrstuhl der Universität Berlin berufen und 1832 neben Herbart und Troxler als Nachfolger Hegels in Erwägung gezogen (vgl. Iduna Belke: I.P.V. Troxler. Sein Leben und sein Denken. Berlin: Junker und Dünnhaupt, 1935. S. 45; auch → Erl. zu 17,4-5). Steffens war wie Fichte dezidierter Anhänger des deutschen Nationalismus und diente 1813 und 1814 in der preußischen Armee. „Ganz im schellingianischen Sinne zieht St[effens] Physik, Geologie, Physiologie herbei, um mit phantastischem Analogienspiel und willkürlicher Symbolik die teleologische Weltentwicklung von den anorganischen Naturfactoren an bis zu dem in freier Sittlichkeit und religiösem Bewußtsein sich entfaltenden Typus des Menschenthums vor Augen zu führen. Daß diese phantastische Anthropologie neben lautem Beifall auch heftige Angriffe erfuhr, ist kein Wunder.“ (ADB, Bd. 35, S. 556-557) Sollte also Steffens den Hegelschen Lehrstuhl erhalten, wäre damit der Sieg der romantisch-naturphilosophischen Denkweise über die vernunftgeleitete Systemphilosophie mit geradezu ,mathematischer Notwendigkeit‘ bewiesen (104,24).
105,3 Springruthen]
Aus dem Zusammenhang geht hervor, dass hier Wünschelruten gemeint sind, die seit frühgeschichtlicher Zeit dazu dienten, verborgene Gegenstände wie Erz- und Silberadern im Boden zu finden (die ,virgula divina‘ der Römer). Bis ins 20. Jahrhundert wurden Wünschelruten eingesetzt, um auf Grundstücken nach Quellen zu suchen, die auf eine erfolgreiche Brunnenbohrung hoffen ließen (die ,virgula furcata‘). An der Fundstelle machte die Rute einen Sprung: „Der Rutengänger faßt die Rute mit beiden Händen, daß die beiden Daumen aufwärts stehen und das zusammengewachsene Ende (der Stiel) oben steht. Sobald man an einen Ort kommt, wo das Gesuchte liegt, soll sich die Rute von selbst in der Hand des Rutengängers drehen und die Spitze schnell nach unten schlagen.“ (HDA, Bd. 9, S. 837).
105,9-10 Paul Gerhard’sche und Witschel’sche Gesangbücher]
Der Lutheraner Paul Gerhard (1607-1676) war als Dichter geistlicher Lieder berühmt. Johann Heinrich Wilhelm Witschel (1759-1847) wirkte als Pfarrer und Verfasser des Andachtsbuches „Morgen- und Abendopfer in Gesängen“, letzteres nach GE, Bd. 12, S. 355 „unglaublich seicht und höchst verbreitet“.
105,11 norwegischen Heimath unseres Ideenmentors]
Rückverweis auf Henrik Steffens (→ Erl. zu 104,22-23), der in Norwegen geboren wurde und dort die ersten vierzehn Jahre seines Lebens verbrachte.
105,16 Quadratur des Cirkels]
„(Fig.): unlösbare Aufgabe (da ein Kreis mit geometr[ischen] Mitteln nicht in ein Quadrat verwandelt werden kann).“ (Wahrig 1997, S. 1026). Die Unmöglichkeit der Quadratur des Zirkels konnte 1882 von dem deutschen Mathematiker Ferdinand Lindemann bewiesen werden (vgl. Meyer, Bd. 12, S. 567).
105,19-20 Mechanismus und Organismus in der Politik]
In dem Aufsatz Ueber die historischen Bedingungen einer preußischen Verfasssung, den Gutzkow parallel zur Arbeit an den ,Narrenbriefen‘ verfasste und im April 1832 in Rottecks „Allgemeinen politischen Annalen“ veröffentlichte, heißt es: Die Doktrin unterscheidet zwei Ansichten über den Staat. Nach einer ist er ein Kunstwerk, nach der andern ein Naturprodukt. Näher bezeichnet sich dieser Gegensatz als politischer Mechanismus und Organismus. [...] Die europäischen Staaten bieten Beispiele für die eine Ansicht so gut, wie für die andere. England, Frankreich, Spanien, selbst Rußland haben sich auf dem naturgemäßesten Wege entwickelt. Ihre politischen Institutionen sind nicht nur auf den Geist ihres Volkes berechnet, sondern auch durch diesen hervorgerufen. Deutschland bietet größtenteils das Gegenteil dar. Hier, wo man sich so sehr gewöhnt hat, immer auf die Eigentümlichkeit der Bewohner zu zeigen, wo man gern von Geistern der Vergangenheit spricht, die in die Gegenwart hineinragen, und noch immer nicht müde wird, Analogien zwischen sonst und jetzt aus unserm Gemüte, unsrer Geschichte zu suchen, hier ist gerade im Politischen ein toter Mechanismus aufgekommen. (RAB, S. 90-91).
105,24 Raumer]
Der Historiker Friedrich Ludwig Georg von Raumer (1781-1873) war ab 1819 Professor in Berlin und verfasste dort seine Hauptwerke „Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit“ (1823-25) und „Geschichte Europas seit Ende des 15. Jahrhunderts“ (1832-50). Bis 1832 war er Mitglied des preußischen Oberzensurkollegiums. Der in seinem „Historischen Taschenbuch von 1831“ enthaltene Aufsatz „Polens Untergang“ fand Missfallen beim König, und Raumer trat aus dem Oberzensurkollegium zurück. Vgl. Gutzkows Erinnerungen an die eigene Studienzeit, Das Kastanienwäldchen in Berlin (1869): Es war Raumer’s beste Zeit. [...] Was er schrieb oder vortrug, Alles hatte dabei eine Zuspitzung auf Preußen, wie es war, sein oder nicht sein sollte. [...] Bei alledem waren die liberalen Wünsche des bei Hofe angeschwärzten Demagogen doch so gemäßigt, die Zugeständnisse, die seine beredten Lippen dem Geist der neuen Zeit machten, an so viele Bedingungen geknüpft, daß ich bei ihm vom „Neuen“ viel zu wenig fand [...]. (GWB VII, Bd. 3, S. 109).
105,27 Gans]
Eduard Gans (1798-1839) war Hegelschüler, einer der wichtigsten deutschen Juristen (Begründer der Vergleichenden Rechtswissenschaft) und ein einflussreicher Verfechter der Judaistik. Nach seinem Übertritt zum Christentum im Jahr 1825 wurde er Professor an der Universität Berlin. Für seine gewandt vorgetragenen, politisch riskanten Vorlesungen fand er gelegentlich den Zulauf der ganzen Stadt, sogar der Beamten und Officiere (Kastanienwäldchen, GWB VII, Bd. 3, S. 109), sah sich aber auch der Zensur ausgesetzt. Seine „Vorlesungen über die Geschichte der letzten fünfzig Jahre“ (1833-34) wurden verboten. Er war Herausgeber von Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1833) und „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ (1837). Im Kastanienwäldchen in Berlin hebt Gutzkow rückblickend die Seite der Gansschen Rechtsphilosophie, die das Bestehende stützt, besonders hervor: Streiche ich achtunddreißig Jahre zwischen Sonst und Jetzt und das frühe, allgemein beklagte Grab des liebenswürdigen Mannes, so ist mir, als müßte ich ihn jetzt auf den Bänken des Reichstages in der Nähe einiger eleganten und zum sofortigen Eintritt in’s Ministerium oder zu einer Hofaudienz immer frisirten, gantirten und parfümirten Nationalliberalen suchen. (S. 111).
105,28 Fashionables]
„Fashionable scheint als schlagende Bezeichnung tonangebenden Modegeckentums seit der zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland in Aufnahme gekommen zu sein, wurde aber ziemlich rasch zum allgemeinen Modewort in mannigfacher Verwendung. Besonders Pückler liebt den Ausdruck sehr und zeigt zugleich nachdrücklich den englischen Ursprung. Vgl. Briefe eines Verstorbenen 3, 82.f (am Okt. 1826)... [...] Ebenso machen es sich Heine, Gaudy, Gutzkow, Auerbach u. a. gern zu eigen.“ (Otto Ladendorff: Historisches Schlagwörterbuch. Berlin: K. J. Trübner, 1906. S. 80-81) Wie früh sich Gutzkow des Schlagwortes bedient, zeigt dessen Eingang ins „Damen Conversations-Lexikon“, wo das Stichwort ,Fashionable‘ 1835 glossiert wird: „bei den Engländern so viel als modisch [...]. Als Beiwort gebraucht, bezeichnet man damit das, was elegant und nach dem neuesten Geschmacke ist; als Hauptwort geht es mit dem Dandy [...] Hand in Hand [...].“ (DCL, Bd. 4 [1835], S. 78) → Bilder: Fashionable Eisesser (1842).
105,29 Maltitzens Pfefferkörner]
Gotthilf August Freiherr von Maltitz (1794-1837), der 1830 ins revolutionäre Paris aufgebrochen war, doch bald enttäuscht nach Deutschland zurückkehrte, veröffentlichte unter dem Titel „Pfefferkörner“ (Hamburg 1831-34) vier Hefte mit Gedichten. Auch die „Blätter für literarische Unterhaltung“ begegnen Maltitzens „Pfefferkörnern“ 1833 mit Spott: „Der freie Freiherr hat nun einmal Passion für die Freiheit gefaßt, und wir müssen uns deshalb schon darüber zufrieden geben, daß er uns immer von Neuem wieder mit dem Pfefferkörnernieswurz seiner erstaunlichen Freiheitsliebe überschüttet. Man niest einmal und schneuzt sich und entledigt sich so des Freiherrn und seiner Pfefferkörnerprise wieder. Hr. v. Maltitz gehört leider zu Denen, welche in neuester Zeit den Liberalismus in Deutschland verdächtig und verächtlich gemacht haben. Er vertritt gewissermaßen als Stimmführer den ,gedankenlosen Liberalismus‘, wie man neuerdings eine gewisse Gattung des ausgearteten Zeitliberalismus charakteristisch genug bezeichnet hat.“ (Anon.: Politische Dichter, Nr. 43, 12. Februar 1833, S. 175).
157,17 Hekatombe]
„[B]ezeichnete bei den Griechen ursprünglich ein großes öffentliches Opfer von 100 Stieren, dann aber überhaupt von mehren gleichartigen Thieren.“ (Brockhaus 1833-37, Bd. 5, S. 189).
106,10 Gans ins Französische]
Zu Gans’ Redegewandtheit → Erl. zu 105,27. Im Kastanienwäldchen in Berlin liest man: Eduard Gans war Heinrich Heine, wenn Letzterer, um mit seinem Oheim Salomon Heine zu reden, „etwas gelernt gehabt hätte“. Er sprach ein Deutsch, das sich schon von Hause aus so einrichtete, bequem in’s Französische übersetzt zu werden. Auf der Straße sah man ihn nur im eleganten schwarzen Frack, immer bereit, wie die Professoren der Sorbonne, den Katheder zu besteigen. (GWB VII, Bd. 3, S. 110).
106,27 des Nachfolgers]
→ Erl. zu 17,4-5.
106,28 die ständischen Zuhörer aus Nro. 8]
Die Hörer aus der Berliner ,besseren Gesellschaft‘ in Hegels Auditorium. Nach Gutzkows ungenauer Erinnerung im Kastanienwäldchen in Berlin trug Hegels Hörsaal wahrscheinlich die Nummer 6 (vgl. GWB VII, Bd. 3, S. 121).
106,29 Wilhelm Beer]
Die Familie Beer, aus der auch der Komponist Giacomo Meyerbeer stammte, gehörte wie die Familie Mendelssohn zum jüdischen Establishment Berlins. Gutzkow scheint hier Wilhelm Beer mit seinem Bruder Heinrich (1794-1842) zu verwechseln. Die Anhänglichkeit des letzteren an Hegel ist durch Heines satirische Schilderung in den „Geständnissen“ bekannt (vgl. DHA, Bd. 15, S. 33-34). Wilhelm Beer (1795-1850) hingegen war ein Berliner Bankier, der in seiner Freizeit astronomische Studien betrieb.
106,30 von Henning]
Leopold von Henning (1791-1866), Heglianer und Professor in Berlin, redigierte 1827-47 die „Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik“. Zu seinen Schriften zählen „Das Verhältnis der Philosophie zu den exakten Wissenschaften“ (1821) und „Prinzipien der Ethik“ (1824).
106,31-32 Hermeneuten und Dolmetscher [...] militärischen Sauvegarde erstem Flügelmann]
Die Rolle von Hennings als Repräsentant der etablierten preußischen Ordnung wird im Kastanienwäldchen in Berlin noch deutlicher ausgedrückt. Hier berichtet Gutzkow von seiner Teilnahme an einem Disputatorium [...], das Leopold von Henning, ein ehemaliger Officier und auch noch damals Lehrer an der Kriegsschule, förmlich als eine Art Hegel’schen Exercierplatzes errichtet hatte. Der große, hagere Herr Baron konnte für unsern Flügelmann gelten. Wir waren einige Zwanzig und machten Rechts schwenkt! Augen links! In Zügen! In Colonnen! Alles mit ihm durch, legten Hinterhalt mit Trugschlüssen, schossen Beweisführungen, avancirten und retirirten, alles nach den Regeln der Dialectik (GWB VII, Bd. 3, S. 123).
106,32-33 Michelet]
Karl Ludwig Michelet (1801-1893), philosophischer Schriftsteller aus der Schule Hegels, war ebenfalls Professor in Berlin. Im Kastanienwäldchen in Berlin spricht Gutzkow vom braven Michelet, der sich aus Hegel’s Logik eine liberale Weltanschauung zu construiren im Begriff war (GWB VII, Bd. 3, S. 122).
107,2-3 Wanderlieder, unter dem Titel einer fahrenden Jungfer]
Wanderlieder waren seit der Romantik ein beliebtes Genre, das sich thematisch auf die Handwerker-Tradition der fahrenden Gesellen bezog. Unter dem Einfluss der Burschenschaften wurde das Genre auf das Studentenleben übertragen. Ein charakteristisches Beispiel dafür sind die „Gedichte eines fahrenden Schülers“ von Wilhelm Wackernagel, die 1828 in Berlin bei Laue veröffentlicht wurden. Der erfundene Titel der Wanderlieder einer fahrenden Jungfer ist mit dem Titel Wackernagels eng verwandt, so dass wohl auf ein parodistisches Zitat zu schließen ist. Die satirische Absicht des ,Narren‘ wird dadurch verdeutlicht, dass das wandernde Personal der zahlreichen Liedersammlungen ausschließlich männlichen Geschlechts war. Lieder einer fahrenden Jungfer konnte es demnach gar nicht geben. Der ,Narr‘, der mit vielen [s]einer Zeitgenossen die Abneigung gegen schreibende Damen teilt (109,13-14), rückt damit die geplanten Lieder einer fahrenden Jungfer in die Nachbarschaft zu den Versuchen, eine weibliche Version von Werthers Leiden zu erfinden (vgl. 109,7-8). Er wendet sich damit gegen das Projekt, das die ,Närrin‘ mit ihren noch nicht geschriebenen Werken nach dem Muster männlicher Autorschaft verfolgt (109,1).
109,7-8 wenn Dir einmal so ein Buch, wie Werthers Leiden, aus dem Kopfe flöge]
Früher Beleg für die vor allem 1834/35 forcierte Umwertung des ,Werthertums‘ zu einer weiblichen Rolle. Der entsprechend stilisierte Suizid von Charlotte Stieglitz (1834) sollte zahlreichen Autoren des Jungen Deutschland zum Anlass männlicher Phantasien werden, welche die weibliche Gefühlsgenialität als neues ,Werthertum‘ sahen. Bezeichnenderweise verhält sich der ,Narr‘ hier aber kritisch zu einer solchen ,Vermännlichung‘ des weiblichen Geistes (108,2). Siehe dazu Susanne Ledanff: „Rahel, Bettina, die Stieglitz“. Drei „Parzen“ der jungdeutschen Emanzipationsdiskurse – zur Problematik einer Theatralik des Unbewußten in weiblichen Textdenkmälern. In: Jahrbuch des Forums Vormärz Forschung. Jg. 5. Bielefeld: Aisthesis Verl., 1999. S. 261-293, hier besonders S. 265-273. Parallel zum Bild der Menschheit, die aus Adams Lende entspringt (109,2), könnte es sich hier um eine Anspielung auf die Geburt der Athene, Jungfrau und Göttin der Weisheit, handeln, die vollgeformt und vor allem vollbewaffnet der Stirn des Vaters Zeus entsteigt.
109,10 als Kritiker]
Verweis auf die zentrale Rolle des Kritikers im Selbstverständnis Gutzkows und anderer Autoren des Jungen Deutschland. Der ,Narr‘ will nicht Hebamme (109,9) sein. Der Priester in seiner traditionellen Rolle als Taufender macht das Kind zum Glied der christlichen Gemeinde; der moderne Kritiker führt das neue Buch in die literarische Welt ein. Die pointiert blasphemische Sakralisierung der Kritik führt Gutzkow 1835, im Artikel Theodor Mundt, Willibald Alexis und die Pommersche Dichterschule, oder über einige literar-historische Symptone, zu einer „travestierende[n] Nachahmung der ersten Glaubensartikel des christlichen Glaubensbekenntnisses“ (HU Mat, S. 119): ich [glaub’] an den heiligen Geist der Kritik, welchen die Zeit gesandt hat, zu richten die Lebendigen und die Todten. (eGWB IV, Bd. 6.2, pdf 1.0, S. 6).
109,13-14 Ich theile allerdings mit vielen meiner Zeitgenossen die Abneigung gegen schreibende Damen]
Es ist anzunehmen, dass Gutzkow bei diesen Zeitgenossen vor allem an Menzel denkt. 1829 z. B. hatte dieser in einer „Ankündigung“ des neuen Jahrgangs des „Literatur-Blatts“ „die geisttötende Trivialität der schriftstellerischen Damenwelt“ kritisiert (Literatur-Blatt. Stuttgart u. Tübingen. Nr. 29, 27. November 1829, S. 378; dazu → ). Eine kleine ,Vorgeschichte‘ dieser Abneigung wird von Judith Purver skizziert: Steps beyond the private sphere. Women writers of the Vormärz and the challenge to exclusion. In: Vormärzliteratur in europäischer Perspektive I: Öffentlichkeit und nationale Identität. Hg. von Helmut Koopmann und Martina Lauster. Bielefeld: Aisthesis Verl., 1996. S. 247-263, hier besonders S. 247-251.
109,24-25 zum Empfangen, nicht zum Schaffen sind die Weiber geboren]
Der ,Narr‘ scheint hier hinter sein eigenes Argument für die Frauenemanzipation, die nicht bloß in einer Aneignung kulturell vorgeprägter männlicher Rollenmodelle bestehen solle, zurückzufallen. Durch die Untermauerung der weiblichen ,Differenz‘ mit Hilfe eines biologischen Gemeinplatzes wird weibliches kreatives Schaffen kategorisch ausgeschlossen. Später brachte Gutzkow in einem nicht-fiktionalen Zusammenhang dasselbe Argument vor, aber kehrte die Kausalität um: Da der Geist der Frauen nie schöpferisch wird, so kann ihre höchste Bildung immer nur eine unglaubliche Steigerung der Empfänglichkeit sein. (Vergangenheit und Gegenwart, eGWB IV, Bd. 6.2, pdf 1.0, S. 24) Zu bedenken ist, dass die solchermaßen begrenzte Tätigkeit der schreibenden Frau genau auf das Gebiet festgelegt wird, das vom ,Narren‘ mit priesterlicher Weihe versehen worden ist, nämlich das der Kritik (vgl. 111,26-27).
109,26 Auf meinen Reisen durch Deutschland]
→ Globalkommentar.
109,29-30 solchen Autricen eclatante Sottisen zu sagen]
Die französierende Redeweise, die etwa bedeutet: ,solchen Autorinnen unverblümte Frechheiten zu sagen‘, verspottet nicht nur den ,vornehmen Ton‘ mancher weiblicher Literaturerzeugnisse, sondern allgemein die modische Geziertheit, die mit französischen Ausdrücken gespickte Unterhaltung im Salon. Das parodistische Element wird durch die Erfindung der Bezeichnung Autrice verstärkt. Sie folgt dem Vorbild der dem ,Acteur‘ entsprechenden ,Actrice‘, die schon Adelung für „zwey ohne Noth aus dem Französischen erborgte Wörter, einen Schauspieler und eine Schauspielerin zu bezeichnen“ erklärte (Adelung, Bd. 1, S. 163). Der ,vornehme Ton‘ hatte seinen Ursprung im literarischen Salon wie jenem der Rahel Varnhagen und trug auch zur Verfestigung jener Geschlechtsstereotypen bei, die der ,Narr‘ teils verurteilt, teils bestätigt (→ Erl. zu 109,24-25). Dieser ,vornehme Ton‘ wurde später auch an den Romanen der Gräfin Ida Hahn-Hahn kritisiert. Fanny Lewald parodierte ihn in ihrem Roman „Diogena“ (1847). Die Formel selbst stammt von Kant und seiner Schrift „Wider den neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ (1796); → .
109,34 Alte, zitternde Mütterchen]
→ Globalkommentar.
110,10 Pompadour]
Beutelartige Damenhandtasche (nach der Marquise de Pompadour, 1721-1764). Im 18. Jahrhundert noch meist als Handarbeitsbeutel verwendet, wird sie im 19. Jahrhundert allgemeiner zur Handtasche.
110,12 Gewiß, mein verehrter Menzel]
In der folgenden Passage widerspricht der ,Narr‘ dem Bild, das Menzel in seiner Kritik von den schriftstellernden Damen entwirft (→ Erl. zu 110,32), und damit widerspricht der junge Schriftsteller Gutzkow auch seiner eigenen, von Menzel geprägten Erwartung. Die Werke der kritisierten Autorinnen entstehen nämlich nicht im Salon, sondern unter Bedingungen der Armut und materiellen Entsagung (→ Erl. zu 111,3 und 112,18-19, sowie → ). Wolfgang Menzel (→ ) benutzte seine Stellung als ,Literaturpapst‘, um besonders auch Literatur von Frauen zu verreißen. Während Gutzkow die Auseinandersetzung mit der Frauenfeindlichkeit seines Mentors hier trotz dessen direkter Anrede noch mäßigt, lässt er ihr nach dem Zerwürfnis mit Menzel freien Lauf. In der Vorrede zu den Beiträgen zur Geschichte der neuesten Literatur (verfasst 1836) erscheint der Stuttgarter Kritiker als Vampyr in Gestalt eines Volksfreundes, der sich u. a. von dem Blut der weiblichen Opfer seiner Feder nährt: Wie sie zittern die armen schriftstellernden Damen! Wie er gräßlich sich an ihrem weißen Blute lechzt! (BnL, Bd. 1, S. XVI und LXXVI).
110,26 Literaturblatt]
Das ab 1825 von Wolfgang Menzel redigierte „Literatur-Blatt“ erschien seit 1817 als getrennt geführte Beilage zu Cottas „Morgenblatt für gebildete Stände“. Gutzkow arbeitete von 1831 bis 1834 unter Menzels Führung am „Literatur-Blatt“ mit.
110,32 Entsagung gerade in mitten in die Lorbeervignette]
Die Titelseite von Menzels „Literatur-Blatt“ wurde durch die Vignette eines Lorbeerkranzes geziert, wenn die Nummer eine positive Rezension präsentierte. Der Schriftzug Entsagung, von der verrissenen Autorin eingetragen in Menzels Ruhmeszeichen, illustriert den Kontrast zwischen der ökonomisch ungesicherten, für ihren Unterhalt schaffenden Schriftstellerin und dem Kritiker, der von der Ausbeutung weiblicher Arbeitskraft profitiert. In einer Artikelfolge im „Literatur-Blatt“ von 1831 (Nr. 40, 41 und 42), betitelt „Romane“, bespricht Menzel insbesondere eine Reihe von Werken, hauptsächlich von Frauen, in denen die Hauptperson sich nicht verehelichen will, und die er deshalb pauschal als „Entsagungsromane“ bezeichnet (keine dieser Rezensionen trägt den Lorbeerkranz). Während Menzel diese ideologisch bestimmte Form der ,Entsagung‘ bespricht, betont der ,Narr‘ die durch Armut bedingte ,Entsagung‘ von Thee und Kaffee, damit die Schriftstellerinnen sich das „Literatur-Blatt“ bzw. überhaupt ihr Schreibpapier leisten können (110,25-27). → .
111,3 literarische Wittwenkasse]
Witwen waren prinzipiell darauf angewiesen, dass der Ehemann testamentarisch für sie vorgesorgt hatte. Seit dem 18. Jahrhundert gab es dafür auch private Witwenkassen, die als Versicherung auf ökonomischer Grundlage funktionierten, allerdings häufig wegen Zahlungsunfähigkeit ausfielen. In Preußen wurde 1775 die „königliche Witwenverpflegungsanstalt“ unter Landesgarantie gegründet, die nicht nur Staatsbeamten, sondern auch Privatpersonen offen stand. 1831 wurde sie nach ihrem Zusammenbruch neu organisiert (vgl. Meyer, Bd. 20, S. 705). Hauptberuflichen Schriftstellerinnen, die im Alter, sei es wegen Arbeitsunfähigkeit oder Erfolg-losigkeit, mittellos geworden waren, nützte die Witwenkasse nichts: Jene, die zeitlebens in Geldnöten waren, konnten dafür keine Beiträge aufbringen, die Erfolgreichen konnten von ihren Büchern leben; durch eine Ehe versorgt war fast keine. Sie erscheinen deshalb dem ,Narren‘ als Witwen ihres eigenen erloschenen Werkes. Die Stelle könnte ein früher Hinweis auf das sein, was Gutzkow später mit der Schillerstiftung zur Unterstützung bedürftiger Autoren beabsichtigte.
111,27-28 die kritische Geißel schwingen, nur aber vom weiblichen Standpunkte aus]
Der weibliche Schriftstellerberuf liegt für den ,Narren‘ in der Kritik, d. h. der Verwendung reproduktiver (verstehend-empfangender) Intelligenz, da er Frauen für unfähig zum genuinen, ,zeugenden‘ Schaffen erklärt (→ Erl. zu 109,24-25). Bei der hohen Bewertung der Kritik unter den Jungdeutschen kommt diese Ermunterung der ,Närrin‘ allerdings einer feministischen Erklärung gleich (vgl. 112,3-4). Die wahre weibliche Kritik müsste vermutlich bei dem oben angesprochenen Unterdrückungsverhältnis (→ Erl. zu 110,31-32) ansetzen, statt sich als maskulin zu fingieren (vgl. 111,19-20).
112,18-19 gefragt, ob die Frauen Menschen sind]
Die Streitfrage, „Ob die Weiber Menschen seyn, oder nicht?“, geht auf eine 1595 anonym erschienene lateinische Schrift zurück: „Disputatia nova contra Mulieres, Qua probatur eas Homines non esse (Neue Disputation gegen die Frauen, in der bewiesen wird, dass sie keine Menschen sind)“. Vgl. Elisabeth Gössmann: Die Gelehrsamkeit der Frauen im Rahmen der europäischen Querelle des Femmes. In: Das wohlgelahrte Frauenzimmer. Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung. Bd. 1. Hg. von ders. München: iudicium, 1984. S. 8-20. Die wichtigsten Aktenstücke dieser ,Querelle‘ von der Mitte des 16. bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts bietet die Auswahl: Ob die Weiber Menschen seyn, oder nicht? Hg. von Elisabeth Gössmann. Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung. Bd. 4. 2., überarb. u. erw. Aufl. München: iudicium, 1996.
112,20-21 bei einer Unverheiratheten [...] schwer zu beantworten sei]
In der vorindustriellen Gesellschaft war die bürgerliche Existenz der Frauen in der Tat durch ihren Stand als Ehefrau definiert. Selbst der Titel ,Frau‘ wurde in den festen Stationen des weiblichen Lebenslaufes erst mit der Verehelichung erreicht: „jedes verheiratete mädchen empfängt den namen ,frau‘ und die witwe behält ihn: ,frau mutter‘, ,frau schwester‘ […], als theilnehmerin an den ehrenstellen des mannes ,frau burgermeisterin‘, ,frau amtmännin‘ […]“ (Grimm, Bd. 4, Sp. 73). Möglichkeiten zu einer Berufswahl außerhalb der Familie gab es nicht, es sei denn den Wechsel in einen fremden Haushalt als Gouvernante oder Erzieherin. Während im Adelsstand die unverheirateten Töchter in Klöstern untergebracht werden konnten, die häufig durch adelige Stiftungen unterstützt wurden, mussten die unverheirateten Frauen aus dem Bürgertum ,unversorgt‘ bleiben, da es für sie keine Aussichten gab, ihren Lebensunterhalt selbständig zu bestreiten. Die Berufswelt war ausschließlich männlich bestimmt, der Frauenberuf war der Haushalt des Ehemannes. Frauen aus den ärmeren Schichten wurden als Mägde oder Dienstmädchen ,versorgt‘. Erst im Zuge der Industrialisierung entstanden neue ,typische‘ Frauenberufe wie Telephonistin oder Modistin, die stärker verbreitet, allerdings auch deutlich minderwertig kodiert waren. Eine Altersversorgung konnte damit nicht erwirtschaftet werden (→ Erl. zu 111,3).
112,24 Union]
Frauenvereine entstanden in Deutschland zur Zeit der Befreiungskriege und dienten wohltätigen Zwecken wie der Pflege Verwundeter. Dieser Initiative, oft unter der Schirmherrschaft adliger Frauen, folgten erzieherische Vereinigungen, die dem Bild der Frau als aufopfernder Fürsorgerin entsprachen: „Sie sind eine der edelsten und ruhmwürdigsten Erscheinungen, ja Erfindungen unserer Zeit“, kommentiert das „Staats-Lexikon“ (Rotteck/Welcker, Art. ,Geschlechtsverhältnisse‘, Bd. 6 [1838], S. 657). Eine solche Frauenvereinigung schwebt dem ,Narren‘ allerdings nicht vor, sondern eine Union neuer Art, in der es den Frauen gelingt, die Macht der Gewohnheit zu brechen (112,8). Da die ,Närrin‘ in diesem Kontext als Schriftstellerin angesprochen wird, lässt sich an eine entsprechende professionelle Vereinigung denken, die tatsächlich im Vormärz zum ersten Mal in Erscheinung trat, zumindest in der Vorstellung eines zeitgenössischen Literaten bzw. einer Literatin. 1846 erschien nämlich ein satirischer „Actenmäßiger Bericht über die erste Versammlung deutscher Schriftstellerinnen, gehalten zu Weimar am 5., 6. und 7. October 1846“ (Leipzig: Wolfgang Gerhard, 1846), der belegt, wie plausibel die Möglichkeit einer solchen Zusammenkunft geworden war. Vgl. Judith Purver: Steps beyond the private sphere. Women writers of the Vormärz and the challenge to exclusion. In: Vormärzliteratur in europäischer Perspektive I: Öffentlichkeit und nationale Identität. Hg. von Helmut Koopmann und Martina Lauster. Bielefeld: Aisthesis Verl., 1996. S. 247-263. Wie radikal, ja ,feministisch‘ sich der ,Narr‘ eine solche Union denkt, wird unter den noch nie ausgesprochene[n] Gegenständen (112,1) zur Sprache gebracht.
113,9 Annihilirung des halben Menschengeschlechts]
In der Schrift Zur Philosophie der Geschichte (1836) baut Gutzkow diesen Gedanken weiter aus, bezeichnenderweise im Rahmen einer umfassenden Kritik der androzentrischen Hegelschen Geschichtsphilosophie: Schwebt über der Geschichte ein Plan, warum sind die Frauen nicht in ihn aufgenommen? Ist der absolute Mensch das Problem der Geschichte, warum ließ die Geschichte überall die zweite Person des absoluten Menschen fallen? Warum machten nur die Männer Geschichte? (HU, Bd. 1, S. 637-638).
113,22 gestern aus dem Theater]
Das Stuttgarter Hoftheater gab am 20. Januar 1832 das Stück „Familienleben Heinrichs IV.“ (vgl. Correspondenz und Notizen. Aus Stuttgart, im April: Theaterchronik: I. Neue Stücke. Zeitung für die elegante Welt. Leipzig. Nr. 108, 2. Juni 1832, S. 863). Es handelt sich um eine Übersetzung von: Henri IV. en famille. Comédie Vaudeville en un Acte par Mm. de Villeneuve, Emile van der Busch et Desforges. Deutsche Übersetzung: Familienleben Heinrichs IV. Lustspiel in Einem Akt. Frei nach dem Französischen von C. Stawinski. Both’s Bühnen-Repertoir. Berlin. Bd. 2, Nr. 9, 1831, S. 127-136. Laut Anmerkung des Übersetzers, datiert „Berlin, den 1. October 1830“, wurde das Stück „am 26. Juni 1825 zum erstenmale auf dem damals erst kurz eröffneten [Pariser] Theatre des Nouveautés gegeben. [...] In Berlin wurde es in den Königlichen Theatern zum erstenmale den 14. März 1829 gegeben und seitdem dauernd wiederholt.“ (S. 136).
113,23-24 Heinrich IV. feiert [...] das Bohnenfest]
„Bohnenfest (Bohnenkönigsfest), eine [...] Lustbarkeit, die am Abend vor Epiphania oder an diesem Tage (6. Jan.) selbst stattfindet und in Frankreich unter dem Namen ,le roi boit‘ (der König trinkt) bekannt ist. Durch [...] eine Bohne im sogen. Königskuchen (gâteau des rois) wird ein Bohnenkönig [...] gewählt, dem sämtliche Anwesende gehorchen und huldigen müssen.“ (Meyer, Bd. 3, S. 163) Im „Familienleben Heinrichs IV.“ (→ Erl. zu 113,22) bildet dieser Brauch das Herzstück der Komödie, da er innerhalb der wirklichen königlichen Familie ausgeübt wird. Das Kuchenstück mit der Bohne fällt dem Dauphin, dem fünfzehnjährigen Kronprinzen, zu, der daraufhin ,übungsweise‘ regieren darf und die komischen Verwicklungen dadurch in Gang bringt.
113,24 Polenfest?]
Die Frage des Sitznachbarn im Theater bezieht sich auf die Worte König Heinrichs IV. auf der Bühne (Szene VIII, → Erl. zu 113,23-24): „Liebe Kinder, heute ist der heilige drei Königstag und ich habe mir vorgenommen, mit euch das Bohnenfest zu feiern.“ Das akustische Missverständnis unterstreicht die Aktualität des Polenaufstands, der zur Zeit der Aufführung des Stücks in Stuttgart gerade zwei Monate her war (November 1831). Sehr deutlich macht der ,Narr‘ hier, wie das liberale Theaterpublikum auf versteckte politische Bezüge horcht (→ Erl. zu 33,25-26).
113,24-25 Ein Kuchen wird in fünf Theile zerschnitten]
Für den Leser dieses ,Narrenbriefes‘ drängt sich zunächst die Assoziation mit der Teilung Polens auf. Im Theaterstück schneidet der Vater, Heinrich IV., den Kuchen in fünf Stücke und fordert sein jüngstes Kind, Prinzessin Henriette, auf, diese unter den vier Personen zu verteilen. Das übrige fünfte Stück erklärt die Siebenjährige „für die Armen“, worauf der König sie lobt: „So ist es recht“: eine Satyre auf die Gouvernantenmoral prinzlicher Gemüther, wie der ,Narr‘ kommentiert: was sollen die Armen mit drei Löffeln Reispudding? (113,27-29).
113,31-32 einen zwiefachen Zehnten an die weibliche hohe Priesterschaft abzutragen]
Die Pointe dieses aus dem Theater mitgebrachten Gleichnisses von der Kuchenverteilung ist selbst eine Satyre (→ Erl. zu 113,24,25): So wie die Armen mit dem herablassenden Opfer, das ihnen vom Prinzentisch zuteil wird, gedemütigt werden, so würden auch die Frauen durch einen Obulus, den ihnen Männer ritusgemäß entrichten, auf ihre untergeordnete Stellung verwiesen: Dies bei politischen Festbanketten, von denen Frauen ohnehin ausgeschlossen sind (→ Erl. zu 114,11) und in denen Männer sie zur weibliche[n] hohe[n] Priesterschaft stilisieren. Diese Selbstironisierung des maskulinen Textduktus – der ,Narr‘ gibt der ,Närrin‘ Anweisungen, wie sie sich als Schriftstellerin äußern solle – führt zur schließlichen Übergabe der Rede an die imaginierte weibliche Stimme selbst.
113,32 Welche Dinge betreibt Ihr jetzt!]
Die ,Närrin‘ nimmt dem ,Narren‘ das Wort aus dem Mund und beschreibt, was die gegenwärtige Generation junger Männer wirklich betreibt: Auf derselben Ebene wie das idealisierende Frauenlob, das der ,Narr‘ ironisch als feministische Forderung vorschlägt (→ Erl. zu 113,31-32), das aber nur die maskuline Dominanz bestätigt, liegt das kriegerische Gebaren der freiheitlich, republikanisch, revolutionär auftretenden jungen Männer (113,34-114,13): Es sind Nachfahren der ,Helden‘ der Freiheitskriege.
114,11 Bankett]
Wegen der 1819 verschärften Unterdrückung öffentlicher Versammlungen boten Festbankette eine Möglichkeit, Politikern oder politischen Anlässen ein Forum zu geben. Im Vorlauf zum Hambacher Fest (→ 4.2. ) fanden im deutschen Südwesten vermehrt solche Feste statt, auf die Theodor Welcker im „Staats-Lexikon“ aus Zensurgründen nur sehr allgemein Bezug nimmt; interessant ist seine wiederholte Betonung der männlichen Teilnehmer und der ,Männlichkeit‘ der dort geäußerten Gesinnung: „[...] jedes gesunde und edle Gemüth fühlt sich erfrischt durch den Odem der Freiheit, der in diesen Festen weht; es fühlt sich erweitert durch die warme patriotische Theilnahme an höheren Interessen und erfreulich angeregt durch die kräftigen, geistreichen und kühnen Worte männlicher Beredtsamkeit.“ (Art. ,Feste‘, Rotteck/Welcker, Bd. 5 [1837], S. 499) Die ,Närrin‘ entlarvt den ,Radikalismus‘ dieser patriotischen Männer-Zusammenkünfte, der sich mit wachsendem Alkoholkonsum steigert. Über das Hambacher Fest schrieb Grabbe am 9. Juli 1832 an Georg Ferdinand Kettembeil, dieses sei „albernes Zeug“; die Teilnehmer hätten „gesoffen“ und seien „a manièra tedesca nach Haus gegangen“. (Christian Dietrich Grabbe: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden. Hg. von Alfred Bergmann. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1970. Bd. 5, S. 378) Heine hat in seinem Gedicht auf Georg Herwegh, das anlässlich der Ausweisung des Lyrikers aus Preußen Ende 1842 entstand, Ähnliches ausgedrückt: „Mein Deutschland trank sich einen Zopf, / Und du, du glaubtest den Toasten! / Du glaubtest jedem Pfeifenkopf / Und seinen schwarz-rot-goldnen Quasten. // Doch als der holde Rausch entwich, / Mein theurer Freund, du warst betroffen – / Das Volk wie katzenjämmerlich, / Das eben noch so schön besoffen!“ (DHA, Bd. 2, S. 118-119).
114,14-15 Bedeutung des Weibes, wie sie durch das Christenthum in die Welt eingeführt worden ist]
„Paulus zeigt, wie die Gemeinde Jesu Handeln verstehen soll und verstanden hat: ,Da ist nicht... Mann und F.[rau]‘ (Anspielung auf Gen 1, 27); ,denn alle seid ihr Einer in Christus Jesus‘ Gal 3, 28. Paulus handelt selbst danach, wenn er 1 Kor 7 sorgsam nach dem Manne fast immer auch die F.[rau] anredet. Die Grußlisten seiner Briefe beweisen, wie selbstverständlich ihm F.[rau]en als vollgültige Mitchristen gelten; Priska kann er Röm 16, 3 sogar seine ,Mitarbeiterin‘ nennen“ (RGG, Bd. 2, S. 1069).
114,17 Rabbuni]
Maria Magdalena erkennt den auferstandenen Christus, nachdem er sie angeredet hat, und zum Zeichen des Erkennens grüßt sie ihn als Rabbuni (Joh 20,1-18). Diese Bezeichnung ist gleichbedeutend mit ,Rabbi‘, dem Ehrentitel der jüdischen Gesetzeslehrer, und weist auf die Rolle des Lehrers hin, die Jesus in ihrem Leben gespielt hat.
114,18-19 Ritter die Farben unserer Wahl getragen]
Brauch bei mittelalterlichen Turnieren: „Die Damen erwarteten nichts so sehnlich, als eben diese Schauspiele [...], weil sie die Ehre genossen, den Vorsitz dabei zu führen. Denn sie theilten beständig den Preis aus; sie sahe man als die Seele und Zierde derselben an; und sie pflegten auch den Muth der Streiter dadurch zu erhöhen, daß sie ihnen vor dem Kampfe etwa einen Gürtel, einen Schleier, ein Stück von ihrem Kopfputze, einen Aermel, kleinen Mantel, oder Armband, eine Schleife, Schnalle, oder sonst ein Stück ihrer Kleidung, auch wol eine mit eigner Hand gewirkte Arbeit, womit der begünstigte Ritter die Spitze seines Helms, oder seiner Lanze, seinen Schild, sein Waffenkleid oder sonst ein Stück von seiner Kleidung oder sonst ein seiner Waffenrüstung auszierte, schenkten.“ ([Anon.:] Sitten, Gebräuche und Narrheiten alter und neuer Zeit. Berlin: Matzdow, 1806. S. 287-288).
114,23 Gynäceen]
Lat./griech.: Gynaeceum, meist im Obergeschoss und nach innen gelegener Frauentrakt im antik-griechischen Wohnhaus. Die ,Närrin‘ weist den Gedanken ab, dass Frauen wieder in die Unsichtbarkeit und Bedeutungslosigkeit zurückfallen sollten, die ihnen die androzentrische Kultur im klassischen Griechenland zuwies.
114,24-25 Wir sollen die Gräuel der französischen Revolution veranlaßt haben]
Zu den beliebtesten Topoi, auf die die Gegner der Französischen Revolution sich berufen haben, gehörte der der ,Tricoteuses‘ (Strickerinnen). Diesen Frauen wurde nachgesagt, sie hätten ihre häusliche Beschäftigung politisch umgewandelt, um ihren Blutdurst zu stillen, und seien zu den ,Furies de la guillotine‘ geworden. Die nachhaltige Wirkung dieses Topos zeigt Charles Dickens’ Schilderung der ständig strickenden Madame Thérèse Defarge in „A Tale of Two Cities“, erschienen 1859, also 70 Jahre nach dem Ausbruch der Revolution. Zur Rolle der Frauen während der Revolution vgl. Dominique Godineau: Citoyennes Tricoteuses. Les femmes du peuple à Paris pendant la Révolution française. Aix-en-Provence: Editions ALINEA, 1988. Bes. S. 13-14, 109-169, 221-237 und 287-294. Eine Quelle Gutzkows für die Aussage der ,Närrin‘ könnte Therese Hubers Roman „Die Familie Seldorf“ (1794) sein, der ausführlich auf die von den „Furien der Revolution“ verursachten Gräuel eingeht.
115,10 mein Entschluß steht fest]
Es folgt (bis 116,6) eine Parodie auf die „Lysistrata“ des Aristophanes, in der Lysistrata dem für beide Seiten vernichtenden Krieg zwischen Athen und Sparta ein Ende machen will, indem sie die Frauen aus beiden Lagern dazu bringt, ihren Männern die Gemeinsamkeit von Tisch und Bett aufzukündigen. Die ,Närrin‘ fordert ihre Geschlechtsgenossinnen auf, sich nach dem Vorbild Lysistratas nunmehr auch sexuell zu verweigern und der kriegerischen Rohheit der Männer ein Ende zu machen: Schon jetzt werden wir es mit unsern Männern so einzurichten wissen, daß eine junge Generation in funfzehn Jahren gar nicht vorhanden sein wird. (116,4-6) Diese Verbündung der Frauen miteinander dient dem Frieden (vgl. z. B. 114,32), statt immer nur Stufen und Fußböden von den schauderhaften Blutflecken zu säubern, (115,1-2), die von den Kriegen der Männer übrig bleiben. Das friedliche Mittel zur feministischen Kriegführung ist – wie vom ,Narren‘ empfohlen (→ Erl. zu 111,26-28) – ein Journal inklusiver Art, eine allgemeine Literatur- und Küchenzeitung von und für Frauen (115,27-28), die verschiedenen Bildungsstandards gerecht wird. So, meint sie, würden die Männer (als Gatten und Leser) ,gekirrt‘, d. h. gefangen, gezähmt, ,zivilisiert‘. Auch der ,Narr‘ wird, trotz seiner weiche[n] Seele (116,8), von dieser Verweigerungsstrategie getroffen, daher das traurige Lebewohl der ,Närrin‘ im letzten Abschnitt des Briefes (116,7-22).
116,5-6 eine junge Generation in funfzehn Jahren gar nicht vorhanden sein wird]
Zuvor war auf die funfzehn Jahre der Restaurationsperiode verwiesen worden (85,26-27; → Globalkommentar). Diese düstere Aussicht, dass es keine junge Generation mehr geben werde, die ähnlich der jungdeutschen einem veralteten System kämpferisch entgegentritt, wird durch die Perspektive der ,Närrin‘ relativiert, die ja allem Krieg ein Ende bereiten will. Vorerst gehört der Geschlechtsakt zum kriegerischen Arsenal der Männer, und die weibliche Verweigerung bedeutet, dass für die nächsten fünfzehn Jahre nur noch Minne praktiziert wird (116,17), d. h. eine vergeistigte Liebe zwischen Mann und Frau ohne sexuelle Erfüllung.
116,13 alten Liede]
Nicht ermittelt.
116,17-18 die Minne nicht mehr à l’ordre du jour sein wird]
Frz.: nicht mehr ,an der Tagesordnung‘ sein wird. Die quasi mittelalterliche Enthaltsamkeit, die die ,Närrin‘ als Regime zur Zivilisierung der Männer einführen will (→ Erl. zu ), wird hier mit dem modischen, französisch gefärbten Tagesdiskurs kontrastiert.
117,3-4 Geburtstag der badischen Preßfreiheit]
Das badische Pressegesetz trat am 1. März 1832 in Kraft und schaffte die Pressezensur ab (→ Erl. zu 117,6).
117,6 Oblate]
Oblaten sind papierdünne, „leicht zerbrechliche Scheiben, aus ungesäuertem Weizenmehle gebacken [...]. Vorzüglich [...] war ihr Gebrauch beim Abendmahle statt des Brotes in der röm.-katholischen und protestantischen Kirche, und daher kommt wahrscheinlich ihr Name, weil das Abendmahlsbrot und der Wein in den ersten Jahrh. der christlichen Kirche von den Oblationen, d. h. freiwilligen Geschenken an Brot und andern Lebensmitteln, welche die Glieder der Gemeinden darbrachten, genommen wurde.“ (Brockhaus 1833-1837, Bd. 8 [1835], S. 11) In einer kühnen metaphorischen Verbindung imaginiert der ,Narr‘ die Feier zum Geburtstag der badischen Preßfreiheit als Abendmahl mit bedruckter Oblate (der ersten Nummer des „Freisinnigen“) und Kelch (einem aus den Beständen des gefeierten badischen Liberalen Theodor v. Rotteck erhaltenen Ehrenpokal, → Erl. zu 117,7-8). Diese Zeremonie ist zugleich der vergeistigten Liebe gewidmet, die die ,Närrin‘ dem ,Narren‘ am Schluss des vorhergehenden Briefes abverlangt, und offensichtlich meint sie es ernst mit dem vorübergehenden Verzicht auf Begegnungen mit dem Geliebten.
117,6-7 erste Nummer des Freisinnigen]
Mit dem Datum des Inkrafttretens des Badischen Pressegesetzes, vom ,Narren‘ als ,Geburt‘ gefeiert, begann der von Johann Georg Duttlinger (1788-1841), Karl von Rotteck (→ Erl. zu 117,7-8) und Karl Theodor Welcker (1790-1869) redigierte „Freisinnige“ zu erscheinen, eines der wichtigsten Organe des süddeutschen, republikanisch ausgerichteten Liberalismus. Im Leitartikel der ersten Nummer, also dem ,Oblatentext‘ des ,Narren‘ (→ Erl. zu 117,6), begrüßt der „Freisinnige“ die Pressefreiheit in Baden als „das heilige Recht“, erstritten „im offnen und ehrlichen Rechtskampf als unser unantastbares Heiligthum“. (Der Freisinnige. Freiburg. Nr. 1, 1. März 1832, S. 1) Die sakralisierende Sprache passt zu der religiösen Weihe, die der ,Narr‘ seiner Feier der Pressefreiheit verleiht. Dem „Freisinnigen“ war aufgrund der verstärkten politischen Unterdrückung durch den Bund, die nach dem Hambacher Fest einsetzte, nur eine Lebensdauer von fünf Monaten beschieden. – Es ist denkbar, dass Gutzkow als Berliner Korrespondent für süddeutsche Blätter (außer der „Deutschen allgemeinen Zeitung“ versorgte er in dieser Eigenschaft das „Morgenblatt“) auch Korrespondenzen für den „Freisinnigen“ schrieb. Raschs Bibliographie führt ein halbes Dutzend ungesicherter Beiträge aus Berlin auf, die Gutzkow zu diesem wichtigsten Organ des badischen Liberalismus beigesteuert haben könnte (Rasch, Bd. 1, S. 146-150).
117,7-8 Einen von seinen vielen Ehrenpokalen hat mir Herr v. Rotteck abgetreten]
Karl von Rotteck (1775-1840), Historiker, Universitätsprofessor, Mitherausgeber des „Freisinningen“ und liberaler Politiker, war neben Karl Theodor Welcker und Johann Georg Duttlinger (→ Erl. zu 117,6-7) Mitglied der zweiten Kammer des überwiegend liberalen badischen Landtags. Als Vertreter der Universität wurde er in die erste badische Kammer gewählt und trat auf den Landtagen schon 1819/20 und 1822/23 auf. „Seit dem Landtag von 1831 wurde Rotteck mit Auszeichnungen, mit Pokalen und Bürgerkronen in einem Maße überhäuft, das bereits zu seinen Lebzeiten die Form eines Kultus annahm; schon 1833 besaß Rotteck eine so reichhaltige Pokalsammlung, daß Freiburger Bürger ihm zum Zeichen ihrer Verehrung statt eines weiteren Pokals einen Schrank zur Aufbewahrung seiner Ehrenpokale schenkten.“ (Paul Nolte: Gemeindebürgertum und Liberalismus in Baden, 1800-1850. Tradition – Radikalismus – Republik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011. S. 181) In Friedrich Leons „Dr. Karl von Rottecks Ehren-Tempel. Eine Skizze seiner Verdienste als Gelehrter und Volksvertreter [...]“ (Freiburg: Waizenegger, 1841) sind die Ehrengeschenke, Pokale, Becher, Bürgerkronen, die Toasts und Gedichte auf Rotteck aufgelistet und zum Teil illustriert.
117,16 Koloß von Rhodus]
„Eins der berühmtesten Kunstwerke des Alterthums war der zu den sieben Wundern der alten Welt gerechnete Koloß zu Rhodus, eine metallene Bildsäule des Helios Phöbus, welche der Bildhauer Chares aus 3000 Talenten Erz verfertigte; sie [...] stand als Leuchtthurm an dem Eingange des Hafens der Insel.“ (Brockhaus 1833-1837, Bd. 6 [1835], S. 271).
117,19-20 zu gleicher Zeit aus beiden Städten correspondiren]
Mit diesem frappanten Bild wird der spätere Bezug auf den Telegraphen vorweggenommen (→ Erl. zu 118,32-33). Die Hände der ,Närrin‘ sollen wie die ,Hände‘ des Flügeltelegraphen funktionieren (zur technischen Beschreibung dieses Telegraphentyps der Gebrüder Chappe vgl. Pierer, Bd. 17, S. 324-325). Die ,Närrin‘ erscheint hier zugleich als omnipräsente Hauptstadtkorrespondentin, also Journalistin (wie der Telegraph steht dieser Beruf für beschleunigte Kommunikation und eine Aufhebung von Orts- und Zeitdifferenz), und als ,typische‘ Vertreterin des neuen Prinzips der Synchronistik (118,3), das der ,Narr‘ in die Geschichtsschreibung einzuführen gedenkt (→ Erl. zu 117,30-31). Da dieses Prinzip so eng mit der Journalistik verknüpft ist, kommt ihm in Preußen geradezu von selbst eine subversive Funktion zu. Vgl. hierzu Wulf Wülfing: Die telegraphischen Depeschen als „Chronik des Jahrhunderts“. Karl Gutzkows „Ahnungen“ von einem Medium der Moderne. In: Jones / Lauster, S. 85-106, bes. 90-95.
117,22-23 kometenartige Erscheinung]
→ Erl. zu 66,32-33.
117,30-31 die Gleichzeitigkeit, das Nebeneinander muß das Hauptziel der Darstellung bleiben]
Hier entwirft Gutzkow das Darstellungsprinzip, das sowohl seinem erzählerischen Schaffen wie auch seinen historisch-soziologischen Schriften zugrunde liegen wird. In jedem Wort, in jeder That die Anno 1000 vorkam, muß Alles enthalten sein, was zur selben Zeit geschah, heißt es später (118,4-5). Nicht nur gegenwärtiges Geschehen wird dadurch - der Telegraphie entsprechend - als Parallelgeschichte beschreibbar, sondern auch vergangene Geschehnisse werden untereinander parallelsiert bzw. durch die Gegenwart sichtbar gemacht. Für diese Historiographie findet Gutzkow hier den visuellen Vergleich der ,lebenden Bilder‘ (118,1), während er einige Jahre später den des Palimpsests gebraucht, einer Schrift, deren unsichtbare Schichten mit sympathetischer Tinte ans Licht gebracht werden (Zur Philosophie der Geschichte, HU, Bd. 1, S. 567). Die visuell-synchron bzw. ,episch‘ ordnende historische Darstellung (vgl. 117,31-32) richtet sich gegen die ,nacheinander‘ ordnende, als ,dramatisch‘ bezeichnete Historiographie, für die vor allem die deutsche Geschichtsphilosophie mit ihrer zyklischen Geschichtsauffassung als typisch gesehen wird (vgl. 118,8-13).
118,6-7 norddeutsche Ansichten]
,Norddeutsch‘ verweist hier, wie oft bei Gutzkow, auf Berlin; gemeint sind Hegelsche Ansichten, wie aus dem Folgesatz klar wird.
119,11 die breite Straße]
Die Breite Straße führt in Berlin vom Schlossplatz zur Gertraudenstraße; ihren Namen verdankt sie der Tatsache, dass sie am Anfang des 18. Jahrhunderts die breiteste Straße im Stadtteil Cölln war.
118,8-9 Weltgeist, der eigentlich Niemand anders ist, als der liebe Herrgott selbst]
Polemik gegen Hegels Geschichtsphilosophie, in welcher der Weltgeist als weltbeherrschende Vernunft gesehen wird. Hegels geschichtsgestaltende Vernunft und die göttliche Vorsehung werden damit identisch, wie Hegel in „Der allgemeine Begriff der philosophischen Weltgeschichte“ darlegt.
118,10 wandert von Asien her]
Parodie auf Hegels Theorie von der stufenweisen Verwirklichung des Weltgeistes in der Geschichte: „Die Weltgeschichte stellt nun den Stufengang der Entwicklung des Princips, dessen Gehalt das Bewußtsein der Freiheit ist, dar“ (HWS, Bd. 12, S. 77). In diesem „Stufengang“, der hier von Altchina über Indien, Persien, Athen, die Reformation und die französische Revolution bis zur unmittelbaren Gegenwart verfolgt wird, erscheint die ,Närrin‘ als letzte Inkarnation des Weltgeistes.
118,15 Maulwurf]
Vgl. Shakespeares „Hamlet, Prinz von Dänemark“, 1. Akt, 5. Szene, wo Hamlet sagt: „Brav, alter Maulwurf! Wühlst so hurtig fort? / O trefflicher Minirer!“ (Shakespeare’s dramatische Werke übersetzt von August Wilhelm Schlegel. 3. Theil. Berlin: Unger, 1798. S. 185.)
118,20 Perier]
Casimir Périer (1777-1832) war einer der bedeutenden Politiker Frankreichs während der Restauration und der Julimonarchie und verkörperte ab 1831 als Innenminister das System des ,Juste Milieu‛ (→ ). Als Bankier und Deputierter vertrat er unter der Restauration einen liberalen Kurs, „warf [...] sich [...] seit 1817 mit Heftigkeit in die Opposition, um die Macht der Industrie und den Reichthum der Arbeit gegen die Ansprüche der Geburt und des Klerus, welche mit der Restauration wieder auftraten, geltend zu machen“. In der Julimonarchie dagegen trat er vehement als staatserhaltend auf; hierauf spielt auch 118,21 an: „Als die Juliusrevolution die Monarchie gerettet und die Orleans’sche Dynastie gegründet hatte, hemmte P[érier] kräftig und entschlossen ihren Schritt; sein System war Erhaltung durch Widerstand.“ Nach seiner Ernennung zum Innenminister durch Louis Philippe und bis zu seiner Erkrankung an der Cholera im Frühjahr 1832 „stand“ Périer „14 Monate hindurch, von der Opposition angegriffen, [...] vom Republikanismus gehaßt, mitten im Kampfe nach innen, wo Verschwörungen und Aufstände [...] ihn umringten“ (Brockhaus 1833-37, Bd. 8 [1835], S. 387-388).
118,22 seine Söhne]
Die Söhne Casimir Périers, Auguste (1811-1876) und Paul Casimir-Périer (1812-1897), waren im diplomatischen Dienst tätig (→ Erl. zu 118,23).
118,23 Courierstiefel]
Hier verbindet der ,Narr‘ zwei Bildbereiche: den der schnellen Beförderung von Nachrichten per Depesche und den der Diplomatie. Zum Stichwort ,Courier‘ kommentiert Pierer: „ein Eilbote, welcher Briefschaften von großer Eile od. Wichtigkeit befördert. Sie werden mit Courierpferden von der Post, reitend od. fahrend befördert. C[ourier]e, welche Depeschen zwischen einer Regierung u. ihren auswärtigen Agenden befördern, heißen Cabinetscouriere [...]. Der C[ourier] ist in Reitcostüm mit steifen Stiefeln (Courierstiefeln); er trägt seine Depeschen in einer ledernen, zugeschloßnen, an Riemen über die Schulter hängenden Tasche auf der Brust. [...] Die Benutzung der C[ourier]e [...] hat seit Einführung der elektromagnetischen Telegraphen [...] sehr abgenommen.“ (Pierer 1857-1865, Bd. 4 [1858], S. 489) Die telegraphisch korrespondierende ,Närrin‘ würde die Söhne Périers geradezu vom technischen Standpunkt der Zukunft aus entbehrlich machen. Zudem würde sie den Geheimverhandlungen zwischen europäischen Regierungen durch den immateriellen Charakter telegraphischer Übermittlung viel professioneller dienen. Im Jahre 1831 ging es wegen der brisanten politischen Lage in Europa genau darum, bei diplomatischen Verhandlungen nicht zu viel nach außen dringen zu lassen: „London, d. 18. August. Es scheint, daß zwischen dem franz. und englischen Kabinet dermalen Gegenstände von der zartesten Natur verhandelt werden, und am politischen Horizont thürmen sich trübe Wolken auf. Der Sohn des Ministers Perier ist gestern dahier angekommen; er brachte die amtliche Nachricht von der Zurückrufung einer französischen Abtheilung von 20,000 M[ann] aus Belgien. Dieses soll aber nicht seine einzige Bestimmung sein; man erfährt übrigens von den weitern Verhandlungen mit dem franz. Cabinet nichts. Alles ist in den tiefsten Schleier eingehüllt.“ (Der Bayerische Landbote. München. Nr. 230, 27. August 1831, S. 1124).
118,25 der Spenerschen Zeitung]
Die von Ambrosius Haude und Johannes Karl Spener 1740 begründeten „Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen“, kurz „Spenersche Zeitung“, waren neben der „Vossischen Zeitung“ die angesehenste Tageszeitung Berlins. Die „Spenersche Zeitung“ wurde im Berliner Volksmund „Onkel Spener“, die „Vossische“ „Tante Voß“ genannt. 1874 stellte die „Spenersche Zeitung“ ihr Erscheinen ein. Gutzkow widmete dem Blatt im selben Jahr einen ,Nekrolog‘ in der „Neuen Freien Presse“: Onkel Spener (GWB VII, Bd. 3, S. 245-252).
118,26 Spieker]
Samuel Heinrich Spiker (1786-1858), Übersetzer, Schriftsteller, Bibliothekar der Königlichen Bibliothek in Berlin und Journalist, hatte die „Spenersche Zeitung“ etwa 1828 erworben. Spiker hatte eine große Vorliebe für England (u. a. übersetzte er zahlreiche Werke aus dem Englischen und machte größere Reisen durch Großbritannien). Seine anglophile Neigung, liberale Tendenz und Aufgeschlossenheit allen technischen Neuerungen gegenüber wird von Gutzkow in seinem Beitrag Onkel Spener (→ Erl. zu 118,25) betont. Über den gewöhnlich „Lord Speiker“ genannten Redakteur heißt es dort: Seine Vorliebe für England stand einem damaligen Redacteur wohl an, da ihm lediglich die freien Verhandlungen des britischen Parlaments als die Abzugsquelle der in Europa gährenden Stimmungen und die Gelegenheit, ein freies Wort zu hören, erscheinen durften. (GWB VII, Bd. 3, S. 249).
118,32-33 verlangt eine Telegraphenlinie vom Rhein bis zum Memel]
Die Phantasievorstellung des Herrn Spiker wurde bereits im Jahr des Erscheinens der ,Narrenbriefe‛ wenigstens zum Teil verwirklicht. 1832 wurde in Preußen die erste Telegraphenlinie eingerichtet, die nach der von den Gebrüdern Chappe (1792-94) weiter entwickelten Methode der optischen Telegraphie durch sichtbare Signale funkionierte: Sie verband Berlin mit Magdeburg und wurde 1833 über Höxter nach Köln und Koblenz verlängert (vgl. Wulf Wülfing: Die telegraphischen Depeschen als „Chronik des Jahrhunderts“. Karl Gutzkows „Ahnungen“ von einem Medium der Moderne. In: Jones /Lauster, S. 85-106, hier; S. 92-94). Gutzkows ,Narr‘ macht (119,3-34) aus den Missverständnissen, die durch die Schnelligkeit der Übermittlung entstehen, eine Satire auf die Vorstellung eines großdeutschen Reiches vom Rhein bis zum Memel, in der die Hymne Heil dir im Siegerkranz unversehens zur Barcarole (→ Erl. zu 7,34) und zur Marseillaise, schließlich noch zur polnischen Hymne Noch ist Polen nicht verloren wird. Mit der Marseillaise zitiert er – Ironie der Geschichte – die tatsächliche Historie der Telegraphie: Die erste Chappe-Linie wurde 1794 im revolutionären Frankreich von Paris nach Lille errichtet (vgl. Meyer, Bd. 19, S. 382). Gutzkow berichtet über den Plan einer Telegraphenlinie vom Rhein in einer Korrespondenz aus Berlin (Deutsche allgemeine Zeitung. Stuttgart. Nr. 414, 13. August 1832; Rasch 3.32.08.13): Die Errichtung einer Telegraphenlinie vom Rheine ab scheint die vollkommene Absicht der Regierung zu seyn. Ein Offizier vom topographischen Büreau ist deßhalb bereits nach Trier abgegangen. Unserm Zeitungsredakteur, dem Bibliothekar Spieker, gebührt das Verdienst, diese Frage sehr oft in Anregung gebracht zu haben. In den Rückblicken auf mein Leben versetzt Gutzkow diese Einrichtung irrtümlich auf ein früheres Datum: Grade in den ersten Tagen des August [1830], als der Flügeltelegraph auf dem Kunstakademiegebäude in Berlin, in welchem ich geboren bin, unablässig „die Hände über’m Kopf zusammenschlug“, wie die Berliner von den hölzernen, sich in der Luft verschränkenden Armen der ersten Vermittelungsform von Telegrammen zu sagen pflegten, da sie eine Schreckensnachricht nach der andern aus Paris zu verkündigen hatten [...] (GWB VII, Bd. 2, S. 13). – Das maskuline Geschlecht für den Fluss Memel war im 19. Jahrhundert neben dem femininen gebräuchlich; gelegentlich findet sich dieser alternative Gebrauch sogar innerhalb desselben Textes. Vgl. z. B.: „Preußen sendet seine Gewässer vermittelst sechs großer Rinnsale ins Meer. Die Natur bildete eben so viel Stromgebiete; diese sind, [...] das Gebiet der Memel (Niemen), der Weichsel, Oder, Elbe, Weser, des Rheins. Der Memel betritt das preußische Gebiet als schiffbarer Strom bei Schmallenigken [...]. Er eilt an Ragnit und Tilsit [...] vorüber [...]." (Geographische Zeitung, 1825. Beilage zu: Hertha. Zeitschrift für Erd-, Völker- und Staatenkunde. Stuttgart u. Tübingen. Bd. 3, 1. Heft [1825]. S. 15) In der zweiten Auflage von Aus der Knabenzeit verwendet Gutzkow Memel ebenfalls wieder mit maskulinem Artikel: für den Vater war er [Napoleon], da ihn dieser in Tilsit auf dem Memel mit den von Gottes Gnaden eingesetzten Kaisern und Königen ganz vertraulich hatten verkehren sehen, beinahe schon eine Respektsperson geworden (GWII, Bd. 1, S. 41).
119,1-2 die Bandnatur seines Staatsverbandes]
Preußens langgestrecktes Staatsgebilde von der 1815 geschaffenen Rheinprovinz im Westen bis Ostpreußen um Königsberg.
119,12 das Königreich Westphalen]
Wie in 119,11 spielt der ,Narr‘ auf die politische Ost-West-Differenz im Königreich Preußen an. Während im Osten noch alles schläft, ist in Koblenz an der westlichen, Frankreich nahen Peripherie Preußens schon ein revolutionärer Akt geschehen. Napoleon gründete nach der Niederlage Preußens und dem Frieden von Tilsit 1807 das Königreich Westphalen, in dem eine Verfassung eingeführt wurde und sein Bruder Jérôme Bonaparte Staatsoberhaupt war. Koblenz war zu jener Zeit bereits – wie die anderen linksrheinischen deutschen Gebiete – von Frankreich annektiert worden.
119,15-16 der Kronprinz bereist den Rhein]
Schon als Kronprinz war Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (1795-1861) lebhaft an einer Fertigstellung des Kölner Doms interessiert, u. a. als nationales Signal gegen den Nachbarn Frankreich. 1814 und 1815 besuchte er den unvollendeten gotischen Bau (vgl. David E. Barclay: Anarchie und guter Wille. Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie. Berlin: Siedler, 1995. S. 60- 61). Das ,vaterländische‘ Projekt der Domvollendung wurde erst während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. ab 1840 verwirklicht. → Erl. zu 40,27-29.
119,16-17 sein Oncle]
Friedrich Wilhelm Ludwig, Prinz von Preußen (1794-1863), war kein Onkel, sondern ein Cousin des preußischen Kronprinzen (→ Erl. zu 119,15-16). Er teilte mit diesem die Begeisterung für romantisch-patriotische Projekte und wirkte ab 1820, als Kommandeur der 20. Division in Düsseldorf mit Residenz im Schloss Jägerhof, als künstlerischer Initiator.
119,21 „Heil dir im Siegerkranz“]
„Anfangsworte der preußischen Volkshymne, als deren eigentlicher Verfasser Heinrich Harries (1762-1802) zu betrachten ist. Letzterer veröffentlichte im ,Flensburger Wochenblatt‘ vom 27. Jan. 1790 ein ,Lied für den dänischen Untertan, an seines Königs Geburtstag‘ zu singen in der Melodie des englischen Volksliedes: ,God save great George the King‘ (auch in Harries’ ,Gedichten‘, Altona 1804, 2 Bde.), das mit den Worten beginnt: ,Heil dir, dem liebenden Herrscher des Vaterlands! Heil, Christian dir!‘ Das Lied wurde dann von B. G. Schumacher auf fünf Strophen verkürzt und entsprechend umgearbeitet und erschien in dieser Gestalt zuerst in der ,Spenerschen Zeitung‘ vom 17. Dez. 1793 als ,Berliner Volksgesang‘, der bald zur Nationalhymne werden sollte.“ (Meyer, Bd. 9, S. 67).
119,26 Barcarole]
→ Erl. zu 7,34.
119,34 noch ist Polen nicht verloren]
Die Polen antworteten auf den Tadeus Kosciusko zugeschriebenen Weheruf, „Finis Poloniae!“ nach der Schlacht bei Maciejowice am 10. Oktober 1794 mit dem Dombrowski-Marsch eines unbekannten Verfassers nach der Melodie eines Volkslieds: „Noch ist Polen nicht verloren!“ Dieser Marsch wurde zuerst von der polnischen Legion gesungen, die Dombrowski 1796 unter Bonaparte in Italien sammelte. Das Lied wurde 1830/31 beim Novemberaufstand in Polen als Lied auf die nationale Unabhängigkeit gesungen. Vgl. auch Büchmann 1957, S. 214-215.
120,15 In Wien gibt es ein Bild, wo der Wolf den Gänsen predigt]
In der Zeit der Reformation und Gegenreformation scheinen in Wien sinnbildliche Hausschilder besonders beliebt gewesen sein. „Das älteste und zugleich auch eines der witzigsten Schilder dieser Art befand sich am Haus in der Wallnerstraße 17: ,Wo der Wolf den Gänsen predigt‘ [ehem. an Nr. 17, dann am Haus Nr. 271, RJK]. In diesem Fall läßt sich der Sinn des Bildes leicht erklären: der schlaue protestantische Wolf predigt den braven gutgläubigen katholischen Gänsen. [...] Tatsächlich läßt sich an Hand von früheren Dokumenten nachweisen, daß in diesem Haus protestantische Versammlungen und Predigten gehalten wurden. Nachträglich hat dann ein späterer katholischer Besitzer das Haus durch dieses Schild auf seine Weise entsühnt.“ (Franz Gall: „Wo der Wolf den Gänsen predigt“. Historische Stätten und Zeichen, Sagenfiguren und Sinnbilder in Wien. Wien: Erste Österreichische Spar-Casse, 1972. S. 46-47) Laut Gall (S. 4) ist das Gebäude im 1. Wiener Bezirk nicht mehr erhalten, jedoch besitzt das Wien Museum eine Radierung von Emil Hüttner aus dem Jahre 1817, die dieses Schild abbildet und die Gutzkow gekannt haben wird (→ Bilder, Weiteres Bildmaterial zum Werk: Wo der Wolf den Gänsen predigt). Vgl. auch Johannes Bolte: Bilderbogen des 16. und 17. Jahrhunderts. Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. Berlin. Jg. 17 (1907), Heft 4, S. 425-441, bes. S. 429-431 (Abschnitt 3: Der Fuchs predigt den Gänsen) und S. 431-432 (Abschnitt 4: ,Der Wolff den Gänssen predigt‘). Hier wird nicht nur dieses Hausschild erwähnt, sondern auch auf die weite Verbreitung desselben Motivs hingewiesen.
120,17 Kupferstich von dem genialen Disteli]
Der Schweizer Martin Disteli war schon in den 1820er Jahren als Student an den Universitäten Freiburg i. Br. und Jena durch seine Karikaturen bekannt. In „Antiklerikale Karikaturen und Satiren XXXIV. Martin Disteli (1802-1844). Kompiliert und hg. von Alois Payer“ ist Distelis Illustration zum Gedicht „Die Fuchsbeichte“ von Abraham Emanuel Fröhlich (1796-1865) abgebildet (www.payer.de/religionskritik/karikaturen34.htm; Zugang 7. Februar 2021).
120,21-22 Homöopathie]
Samuel Hahnemanns „Organon der rationellen Heilkunst“ (1810) sorgte dafür, dass die Homöopathie als alternative Behandlungsmethode besonders in Deutschland praktiziert wurde. Gutzkow berichtet in seinen Berliner Korrespondenzen für das „Morgenblatt“ (Dezember 1833 und Mai 1834) von der homöopathischen Mode der Hauptstadt (Rasch 3.33.12.24 und 3.34.05.19, abgedruckt in RABS, bes. S. 82-86 und 104-108).
121,7 noch immer die Zulässigkeit der Nothlüge bezweifeln]
Nicht ermittelt.
121,7-8 die polnischen Unterofficiere im Beginn der Revolution]
Zu Beginn des polnischen Novemberaufstands von 1830 erhob sich nicht die politische Führungsschicht der Polen, sondern eine kleine Gruppe unter den Kadetten der Warschauer Fähnrichschule gegen die russische Herrschaft.
121,21-23 bei den Altären der Hausgötter gegen die Römer hast schwören müssen]
Sowohl Bild als auch Formulierung nehmen das Hannibal-Motiv (→ Erl. zu 54,27-28) auf und verbinden sich mit dem in 121,24-25 angedeuteten Brutus-Motiv.
121,24-25 rauchenden Stahle]
Hier wird das Brutus-Motiv des letzten Briefs (→ Erl. zu 203,2) schon angedeutet.
121,27-29 Dir, wie Virginia’s Vater, das [...] Haupt vom Rumpfe trennen]
Lessings „Emilia Galotti“ (1772) ist die berühmteste deutsche Behandlung des in der „Geschichte Roms“ von Titus Livius enthaltenen Stoffes (Buch 3, 40,1-58,6, wo auch das Schicksal Virginias mit dem der Lucretia ausdrücklich verglichen wird: 44,1). Der Zenturio Virginius kann die Ehre seiner Tochte Virginia vor den Machenschaften des Dezemvirs Appius Claudius nur dadurch retten, dass er sie tötet. Sowohl bei Livius als auch bei Lessing und in früheren Bühnenfassungen (Don Augustino de Montiano, 1750; Samuel Crisp, Uraufführung 1754) wird Virginia bzw. Emilia von ihrem Vater nicht geköpft, sondern erstochen.
122,1 Feuersäulen]
Anspielung auf den Exodus Israels: „Und der Herr zog vor ihnen her des Tages in einer Wolkensäule, daß er sie den rechten Weg führte, und des Nachts in einer Feuersäule, daß er ihnen leuchtete, zu reisen Tag und Nacht.“ (2 Mos 13,21).
122,28-29 Ein edler Dichter hat die Bundschmecker auf den [...] Bund der Sterne verwiesen]
Es handelt sich um Ludwig Uhland und sein Gedicht „An die Bundschmecker. 1816“: „Die Ihr mit scharfen Nasen ausgewittert / Viel höchst gefährlicher, geheimer Bünde, / Vergönnt mir, daß ich einen euch verkünde, / Vor dem ihr wohl bis heute nicht gezittert! // Ich kenne, was das Leben euch verbittert, / Die arge Pest, die weitvererbte Sünde: / Die Sehnsucht, daß ein Deutschland sich begründe, / Gesetzlich frei, volkskräftig, unzersplittert; // Doch andres weiß ich, und vernehmt ihr’s gerne, / So will ich einen mächt’gen Bund verraten, / Der sich in stillen Nächten angesponnen: // Es ist der große Bund zahlloser Sterne, / Und wie mir Späher jüngst zu wissen taten, / So steckt dahinter selbst das Licht der Sonnen.“ (Ludwig Uhland: Werke. Bd. 1. Sämtliche Gedichte. Hg. von Hartmut Fröschle u. Walter Scheffler. München: Winkler, 1980. S. 99.)
122,33-34 Der Ideenschmuggel wird die Poesie des Lebens werden]
Ideenschmuggel ist der Zentralbegriff von Gutzkows Strategie beim Komponieren der Briefe eines Narren; → . Der ,Narr‘ dehnt den Begriff hier über die literarische Sphäre aus und macht ihn zu einem Gesetz unaufhaltsamen politischen Wandels: Einmal in Bewegung gekommene Ideen werden unter der Hand zu einem mächtigen Strom (123,14-15) und setzen sich über jeden Widerstand hinweg. Diese Dynamik dient der Wahrheit bzw. Erkenntniß des Unendlichen und besitzt vermutlich daher Poesie.
123,6-7 in Lausau [...] in Kauzen]
Nicht ermittelt.
123,20-21 Mit Congressen, Protokollen und verschärften Maßregeln droht man die Völker zu beglücken]
Die Erwartung einer bald einsetzenden scharfen Reaktion des Bundestages und der Landesfürsten auf den politischen Aufbruch des Frühjahrs 1832 durchzieht die ,Narrenbriefe‘ und findet vor allem im 17. Brief Ausdruck. Aus der Fürstenperspektive nimmt sich eine solche Politik der Repression, beruhend auf der diplomatischen Verständigung der Regierenden mittels Congressen und Protokollen, als patriarchalische Fürsorge aus; vgl. 183,21-24. Ein halbes Jahr später beklagt Gutzkow die in den deutschen Staaten hergebrachte Nähe der ,landesväterlichen‘ Regierungen zu den Volksvertretern in den Ständekammern: Unsere Regierungen stehen den Vertretern noch immer zu nahe, sie können alle Augenblicke in ihr Fenster sehen. Es kostet ihnen wenig Mühe, ihren Gegnern auf den Zahn zu fühlen, weil eine vertrauliche Berührung soviel Eindruck auf schwache Gemüther macht. ([Karl Gutzkow]: Divination auf den nächsten württembergischen Landtag. Hanau: König, 1832. S. 22) Dieser Gedanke wird, anders formuliert, im 24. Brief vorweggenommen (183,21-24).
123,24-25 junge, frische Reiser, Liebe und Vertrauen, zu pflanzen]
In Preußen bestanden solche Versuche, die liberale Bewegung mit der bestehenden Ordnung zu versöhnen, in ,vaterländischen‘ Gesten der Monarchie (→ Erl. zu 103,1-4 und 119,15-16).
123,25 hieß es irgendwo]
Nicht ermittelt.
123,31 Hermelinmantel ihrer Fürstengerechtsame]
Das im übertragenen Sinne ,reine Weiß‘ des Hermelinfells galt als Symbol der Makellosigkeit und war ein Kennzeichen fürstlicher und richterlicher Gewalt. – Gerechtsame: bis ins 19. Jahrhundert gebräuchliches Wort für das Recht oder Vorrecht, mit der man etwas tat, besaß oder nutzte.
124,29-30 heiliger Christoph]
Der Legende nach war Christophorus (gr. / lat.: ,der Träger Christi‘) ein Riese, der nur dem – von ihm vergeblich gesuchten – gewaltigsten Herrscher dienen wollte. Ein Weiser riet ihm, Reisenden bei der Überquerung eines mächtigen Stromes zu helfen. Eines Tages trug er ein Kind, das während der Durchschreitung der Fluten immer schwerer wurde und sich als Christus entpuppte. Der Heilige Christoph wurde in Folge zum Schutzpatron aller Reisenden.
126,10 die entsetzlichsten Folgen stehen zu erwarten]
Der bizarre Kampf, der zwischen dem Reich der Farben und dem der Töne entgegen allen Gesetzen der Physik ausgebrochen sei, deutet das unsinnige und langfristig vergebliche Bestreben der Reaktion an (127,26-27), obwohl der ,Narr‘ kurzfristig brutale Rückschläge gegen die liberale Bewegung voraussieht. Diese setzten Ende Juni / Anfang Juli 1832 mit verschärften, durch neue Verfügungen des Bundestags initiierten Unterdrückungsmaßnahmen ein.
126,19 Crösus]
Der letzte König von Lydien, der 549 v. Chr. vom Perserkönig Kyros besiegt wurde. Trotz der reichen Goldopfer, die Krösus dem Gott Apollon in Delphi brachte, führte das dortige Orakel ein Doppelspiel mit ihm, indem es ihm verkündete, wenn er gegen die Perser kämpfe, würde ein großes Reich zum Sturz gebracht. Erst im Laufe der Schlacht wurde es ihm klar, dass damit sein eigenes Reich gemeint war.
127,1 Aeolsharfen]
Windharfen, deren Saiten durch Luftströme zum Klingen gebracht werden. Die Äolsharfe gilt als Sinnbild für den Poeten. Seit dem späten 18. Jahrhundert erlangte das Instrument neue Beliebtheit; als Symbol findet man die Äolsharfe häufig in literarischen und musikalischen Werken der Romantik.
127,12 Titanide]
Titaniden waren in der griechischen Mythologie die Töchter des Uranus und der Gäa sowie deren Töchter und Enkelinnen. Seit Ovid ist ,Titanide‘ auch der Beiname von Göttinnen und Heroinen (Meyer, Bd. 19, S. 575). Diese allgemeine Bezeichnung für eine heroische Frau wurde besonders von Jean Paul entwickelt, wie eine Stelle aus dem „Titan“ zeigt, auf die sich der ,Narr‘ zweifellos bezieht: „Albano – im stillen Lianen und Rabetten abwägend – beklagte selber das ungleiche Los seines übereilten Freundes, über dessen Sonnenpferde nur eine Amazone und Titanide, aber nicht ein gutes Landmädchen den Zügel werfen konnte und dessen Psyches- und Donnerwagen ihm zu gut schien zu einem bloßen ehelichen Post- oder Kinderwagen.“ (JPSW, 1. Abt., Bd. 3, S. 477).
127,14-15 der Rosenschein Deiner Purpurfinger]
In Homers „Odyssee“ (Buch 2, Z. 1) wird die Morgendämmerung als „rosenfingrig“ bezeichnet. Die Metapher war verbreitet: „Oder könnten sie nicht schon vom Homer lernen daß Juno weiße Arme, Thetis Silberfüße, und Aurora Rosenfinger hat?“ (Christoph Martin Wieland: Geschichte der Abderiten. In: Werke. Hg. von Fritz Martini und Hans Werner Seiffert. München: Hanser, 1964 ff. Bd. 2, S. 147). Der Zusammenhang zwischen der göttlichen Morgenröte und der irdischen Freundin findet sich bei Eichendorff, wo es über eine junge Dame heißt: „da war es, als zöge ihr Rosenfinger eben erst die silbernen Ströme, die duftigen Fernen und die blauen Berge dahinter, und vergolde Seen, Hügel und Wälder“ (Joseph von Eichendorff. Viel Lärmen um Nichts. In: Werke, 3 Bde. Hg. von Ansgar Hillach. München: Winkler, 1970 ff. Bd. 2, S. 704).
127,16 Memnon]
Der sagenhafte Äthiopierkönig Memnon, Sohn von Eos, der Göttin der Morgendämmerung, wurde von Achilles bei Troja getötet. Zwei 21m hohe Sitzfiguren Amenhoteps (Amenophis’) III. in der Nähe von Theben wurden früher für Darstellungen Memnons gehalten. 27 v. Chr. waren sie durch ein Erdbeben beschädigt worden. Die Wirkung der ersten Sonnenstrahlen auf die in den Rissen enthaltene Feuchtigkeit verursachte fortan einen harfenähnlichen Ton, den man als Gruß des Sohnes an die Mutter deutete. Mit der 170 n. Chr. vom römischen Kaiser Septimius Severus unternommenen Restaurierung hörte das Klingen auf.
47,34 droits réunis]
Indirekte Steuern; → Erl. zu 47,29.
127,26-27 von der kommenden Reaction]
→ Erl. zu 126,8-10. Schon im 6. Brief war von der Erwartung des kommenden preußischen Neumittelalters die Rede (39,23-24).
127,30-31 der neue Zollverein]
Nach 1830 intensivierten sich die zollpolitischen Verhandlungen unter den deutschen Staaten (→ Erl. zu 22,13-14) und kulminierten 1834 in der Gründung des Deutschen Zollvereins. Dieser hatte seinen Ursprung in den Staatsreformen Steins (→ Erl. zu 42,26). Die ohnehin schlechte finanzielle Lage Preußens hatte sich nach den Befreiungskriegen durch das Hungerjahr 1817 und die Überfüllung des Marktes mit wesentlich preiswerteren englischen Waren verschlimmert. Die Belebung des eigenen Handels wurde erschwert durch Binnenzölle, Ansprüche der Landesherren, Städte und Körperschaften im altpreußischen Gebiet, wo allein 67 Tarife mit 2776 Warenklassen verordnet waren. Eine Reihe von Zollgesetzen (11. Juni 1816, 20. Mai 1818) und die Einwirkung des preußischen Ministers Friedrich von Motz (1775-1830) führten zu Verträgen mit den zwischen den Teilen Preußens liegenden Ländern. 1828-1835 bestand ein Mitteldeutscher Handelsverein zwischen Braunschweig, Hannover, Oldenburg, Sachsen und anderen mitteldeutschen Staaten, seit 1828 ein Süddeutscher Zollverband zwischen Bayern und Württemberg. Als in der Folge der Revolutionsereignisse von 1830 die zollpolitische Debatte verstärkt wurde, gelang es der preußischen Regierung bei umfangreichen Verhandlungen innerhalb des Deutschen Bundes, den Widerstand zahlreicher deutscher Staaten gegen einen großen Zollverein zu überwinden. Mit dem Vertrag vom 22. März 1833 vereinigten sich der preußische und der süddeutsche Zollverbund. Sachsen und die thüringischen Staaten schlossen sich an, so dass am 1. Januar 1834 der vorerst auf acht Jahre angelegte Deutsche Zollverein in Kraft trat, der ganz im Sinne Steins wesentlich zur nationalen Einigung beitragen sollte. (Vgl. Th. Flathe und H. Prutz: Restauration und Revolution im neunzehnten Jahrhundert. Berlin: Historischer Verlag Baumgärtel, [1910]. S. 121-128).
127,32-33 zwei Officiere statt des gewöhnlichen einen]
Der ,Narr‘ deutet einen geheimen Zusammenhang an zwischen der zollpolitisch bedingten Verteuerung – die Tasse Kaffee kostet plötzlich zwei Kreuzer mehr (127,29) – und der verschärften reaktionären Überwachung des öffentlichen Raums – im Theaterparterre, wo sich die Zuschauer mit weniger teuren Eintrittskarten aufhalten, wird der gewöhnlich zu erwartende eine Offizier nun zur Aushorchung und Einschüchterung des Publikums einen Kollegen zur Seite haben (zur Funktion des Theaterraums als politischen Forums → Erl. zu 113,24 und 33,25-26). Der Zuwachs ökonomisch-politischer Staatsmacht geht spürbar auf Kosten des Individuums.
128,3-4 die ungeheuern Bärte seiner Russen zu stutzen]
Als Teil seiner Reform- und Europäisierungspläne verbot Zar Peter der Große (1682-1725) Bärte und russische Tracht. Er persönlich schnitt seinen Bojaren Bärte und die Schöße ihrer Kaftanmäntel ab. Wer nicht Bauer oder Mitglied des Orthodoxen Klerus war und einen Bart tragen wollte, wurde besteuert.
128,4-5 reagirt daher die Reaction die Stutzbärte ad nihilum]
Im Gegensatz zum feudalen Russland war der Bart im Deutschland des Vor- und unmittelbaren Nachmärz, und vor allem in der Revolution von 1848/49, Signal einer radikalen Gesinnung. 1831 wurde Beamten in Kurhessen das Tragen von Schnurrbärten verboten. Noch in den 1850er Jahren war dies ein Gegenstand der Karikatur, wie der „Kladderdatsch“ unter der Überschrift „Zur Bartfrage in Kurhessen“ belegt (vgl. Facsimile Querschnitt durch den Kladderdatsch. Hg. von Liesel Hartenstein. München, Bern, Wien: Scherz, 1965. S. 63). Vgl. auch die Stelle, wo von der Burschenschaftszeit des ,Narren‘ die Rede ist: wir ließen uns einen längern Bart stehen, als der militärisch gut gethan wurde. (103,18-19).
128,6-7 Das constitutionelle Deutschland [...] die deutsche Tribüne, der Westbote, die Zeitschwingen]
Titel von Zeitungen und Zeitschriften, die Ende 1831 / Anfang 1832 durch Bundesbeschlüsse unterdrückt wurden (vgl. Michael Kotulla: Deutsches Verfassungsrecht 1806-1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einführungen. Bd. 1: Gesamtdeutschland, Anhaltische Staaten und Baden. Berlin, Heidelberg: Springer, 2006. S. 75, Fußnote 183). „Das Constitutionelle Deutschland“ erschien seit Dezember 1830 als Beiblatt des „Courrier du Bas-Rhin“, dann als selbständige Zeitung in Straßburg und wurde seit November 1831 von dem radikalen Politiker und Dichter Harro Paul Harring (1798-1870) geleitet. Es war ein Organ deutscher Emigranten im Elsass und wurde am 19. November und am 7. Dezember 1831 in allen deutschen Bundesstaaten verboten. Die liberale Tageszeitung „Deutsche Tribüne“ erschien vom Juli 1831 bis März 1832 unter der Leitung von August Wirth (1798-1848) zuerst in München, dann im pfälzischen Homburg. Der radikal-liberale „Westbote“, redigiert von Philipp Jakob Siebenpfeiffer (1789-1845), erschien 1831/32 in Zweibrücken bzw. Oggersheim bei Frankenthal. Siebenpfeiffers und vor allem Wirths Blatt waren maßgebliche Organe in der Gründung des Deutschen Press- und Vaterlandsvereins und im Anlauf zum Hambacher Fest (27. Mai bis 1. Juni 1832). Die „Neuen Zeitschwingen“ (→ Erl. zu 80,8-9), benannt nach den von J. B. von Pfeilschifter bzw. Ludwig Börne 1817-1819 herausgegebenen „Zeitschwingen“, erschienen in Hanau. Die drei letztgenannten Blätter wurden zusammen auf der Sitzung des Bundestages vom 2. März 1832 verboten. Die noch tiefer greifende reaktionäre Revision der Karlsbader Beschlüsse nach dem Hambacher Fest, an dem Wirth und Siebenpfeiffer aktiv beteiligt waren, trat im Juli 1832 in Kraft (→ Erl. zu 117,6-7).
128,8-9 Die österreichischen Buchhändler verbitten sich die Zusendung deutscher Verlagsartikel]
Vgl. hierzu die späteren Wiener Eindrücke (1845; Rasch 1.2.3.4): Mit der vom Auslande kommenden Büchereinfuhr wird es so gehalten: Die Bücherballen, die von Leipzig kommen, werden nicht den Buchhändlern, sondern der Regierung ausgeliefert. Diese hat ein eignes Amt niedergesetzt, das Revisionsamt, welches jedes Packet öffnet und den Buchhändlern nur die völlig unverfänglichen Schriften ausliefert. Alle Schriften, die nicht auf die materielle Existenz berechnet sind, werden vorerst censirt und dann in drei Rubriken getheilt, solche die gänzlich verboten sind, solche, die man gegen eine persönlich von der Polizei einzuholende Erlaubniß kaufen kann, solche, die der Buchhändler verkaufen, aber in den Zeitungen nicht ankündigen darf. (HU, Bd. 2, S. 1497-1498).
128,18 die Legitimität]
→ Erl. zu 20,27.
128,29-30 reservatio mentalis]
Lat.: geheimer oder stiller Vorbehalt.
128,32 couleurs chéries]
Die ,geliebten und in Ehre gehaltenen Farben‘, also das Blau-Weiß-Rot der französischen Kokarde bzw. Flagge, die während der Revolution von 1789 in Umlauf kamen. Am Tag nach dem Fall der Bastille ließ Lafayette (→ Erl. zu 77,16) einen weißen Streifen an das blaurote, den Farben des Pariser Stadtwappens nachgebildete Abzeichen der Nationalgarde anbringen: So entstand die revolutionäre Kokarde, die 1830 wieder überall stolz getragen wurde, als auch Lafayette wiederum zum Kommandanten der Nationalgarde ernannt wurde. Das Bekenntnis des ,Bürgerkönigs‘ Louis Philippe, der dem Republikaner Lafayette nahe stand, zur Julirevolution, die ihn auf den Thron brachte, gilt gleichermaßen der Charte von 1830, die ihn – mit der Abschaffung der erblichen Monarchie – nicht zum ,König von Frankreich‘, sondern zum ,König der Franzosen‘ erklärte.
129,1-3 In Baiern hat die Camarilla des Hofes bis zum Ekel die Verfassung im Munde]
Das Königreich Bayern zählte zu jenen Staaten im Deutschen Bund, die bereits in der Folge des Wiener Kongresses (1814-15) durch königliches Dekret eine Verfassung oktroyierten (→ Erl. zu 129,10). Damit waren zwar die Bedingungen einer konstitutionellen Monarchie geschaffen, aber Obrigkeitsverhalten und Untertanenmentalität existierten ungebrochen weiter.
129,3-4 Wasserburger und Gautinger Adressen]
Der König von Bayern, Ludwig. I. (1786-1868), befolgte nach 1830 eine zunehmend reaktionäre Politik, gegen die sich fortschrittliche Landesteile wie die Pfalz (Region des Hambacher Festes) zur Wehr setzten. Dagegen erfuhr Ludwig von der loyalen Bevölkerung eine demonstrative, geradezu unterwürfige Verehrung. Er erhielt „von Städten, Märkten und Dörfern“ Sendschreiben, „in welchen von nichts als unverbrüchlicher Treue der Baiern gegen ihr angestammtes Regentenhaus die Rede war [...]. Mehrere servile Tagesblätter beeiferten sich nicht nur diese Opfer der Treue und Liebe, sondern auch die darauf erlassenen allerhöchsten Handschriften zur allgemeinsten öffentlichen Kunde zu bringen. Die devoteste jener Adressen, in welcher dem leisesten Winke des Monarchen Kraft genug zugeschrieben ward, selbst Eide zu brechen, war von Wasserburg datiert, aber durch einen vornehmen Staatsdiener nach jenen Städtchen gebracht, und dort auf sein Zureden mit zahlreichen Unterschriften versehen worden. Bemerkenswerth ist auch die Adresse der Bauern von Gauting, worin es hieß: ,Man sagt uns: daß einige alberne Pinsel, als: Tribune, Conversationsblatt, Landbötin, und andere Dreckschreiber und Stände sich erfrecht, die heilige Majestät unsers allgeliebten Königs zu beleidigen; wir bitten also Ew. Königl. Majestät und Bauern in Baiern – und wir denken Alle gleich – nur einen Wink zu geben, und in einer Sekunde haben Ew. Königl. Majestät keine lebenden Feinde mehr [...]. Also in versammelter Gemeinde ausgesprochen, vorgelesen und beschlossen. Gautingen 10ten Dezember.‘ [...] Die Stände wurden darin als unsaubere Revolutionsmänner dargestellt, und fast ungeachtet predigen die servilen Tagsblätter die Aufhebung der Verfassung, als den Wünschen des bairischen Volks entsprechend.“ (Carl Venturini: Chronik des 19. Jahrhundert. Leipzig: J. C. Hinrichsche Buchhandlung, 1833. Bd. 6, S. 213-214) Der Verfasser der Gautinger Adresse war Karl Theodor Maria Hubert, Freiherr von Hallberg-Broich (1768-1862), genannt ,Eremit von Gautingen‘.
129,4-5 Erklärung eines Münchner militärischen Diogenes]
Die Person ist nicht ermittelt. Die Bezeichnung ,Diogenes‛ (der griechische Philosoph, der ein einfaches Leben lehrte und ein Fass bewohnte) könnte auf den ,Eremiten von Gautingen‘ deuten, also Hallberg-Broich (→ Erl. zu 129,3-4). Dieser erhielt 1824 vom Vater Ludwigs II., Max I. Joseph, der ihn duzte, ein Landgut (heute ,Hallbergmoos‘) und stand dem Thron Bayerns weiterhin nahe. Vgl. Dietmar N. Schmidt: Hallberg-Broich, Theodor von. In: NDB 7 (1966), S. 538-539; http://www.deutsche-biographie.de/pnd118968556.html .
129,10 Landstand]
Bezeichnung für die ,Volksvertretung‘ mit vor allem bewilligender Funktion in den deutschen Staaten, die auf regional sehr unterschiedliche Traditionen, z. T. auf uralte Stammeskörperschaften zurückgeht. Ein Ergebnis der Neuorganisation Deutschlands auf dem Wiener Kongress war die Anweisung der Staaten des Deutschen Bundes, landständische Mitwirkung im modernen Sinne verfassungsmäßig zu garantieren, also das monarchische Prinzip konstitutionell zu modifizieren. Artikel 13 der Wiener Bundesakte lautete: „In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden.“ Zeit und Inhalt blieben dabei nicht näher definiert, so dass z. B. Preußen erst 1848 konstitutionell wurde. Der ,Narr‘ erwähnt die großen Unterschiede, die die verfassungsmäßig abgesicherten Landstände einiger Staaten vor den anderen auszeichnen, so dass z. B. der Konstitutionalismus Badens den meisten anderen Staaten geradezu umstürzlerisch erscheint, wobei die badischen Abgeordneten durchaus badisch-staatstreu denken und handeln (129,7-10). Was hier auch zur Sprache kommt, ist die unbequeme Lage, in die fürstliche Herrscher geraten, sobald sie ihre Machtansprüche an konstitutionelle Prinzipien binden: In der That, die deutschen Fürsten können uns doch auf keinem Wege, selbst auf dem langweiligsten, dem Weg des Rechtens nicht entgehen! Man wird sie zu vernichten drohen, und sie zittern. Man wird sie verehren wollen, und sie entsetzen sich. Überall sind ihnen die Hände gebunden (129,21-25). Der am meisten verehrte Fürst ist derjenige, der die meiste Macht abgibt und damit tendenziell seiner Abschaffung den Weg bahnt. In Deutschland wie auch in Frankreich (vgl. 128,31-129,1), so scheint es dem ,Narren‘, ist die politische Situation der Herrschenden wie eine Umkehrung des 104,11-13 erwähnten Mährchen[s], wobei es nun der Sultan ist, der verdammt ist zu loben, wo er eigentlich schmähen will.
129,21 Es gibt Höflichkeiten, die man nicht ertragen kann]
Wann und bei welcher Gelegenheit Lafayette das gesagt haben soll, ist nicht ermittelt. Es ist anzunehmen, dass hier auf eine Dankadresse der französischen Kammer angespielt wird, die der General nach seinem Rücktritt als Kommandant der Nationalgarde Ende 1830 / Anfang 1831 anhören musste: → Erl. zu 77,16.
129,30 scriptum manet]
Lat.: Geschriebenes hat Bestand. Nach dem lateinischen Sprichwort „vox audita perit, litera scripta manet“ (das gesprochene Wort verhallt, der geschriebene Buchstabe bleibt).
134,2 die Rosengärten Saadi’s]
„Der Rosengarten“ („Golestân“), eine Sammlung von Erzählungen in Reimprosa, wurde 1258 von dem persischen Dichter Sa‘di (Scheich Abu ‘Abdollâh Mošarraf o’d-Din ebn-e Mosleh o’d-Din Sa‘di, 1200?-1292?) verfasst.
129,30-31 Warum mußten wir vor zehen Jahren Concessionen geben]
Das Pronomen wir scheint mehrdeutig zu sein; es kann dem Staat Preußen bzw. den Preußen in den Mund gelegt sein, lässt sich allerdings auch als Plural der Majestät auf die Person des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. beziehen. Dreimal hatte dieser Verfassungungsversprechen verkünden lassen. Der ,Narr‘ erwähnt (130,1-2) das zeitlich letzte von 1820, das in der folgenden Aufzählung unter Nr. 3) angeführt wird: 1) Im „Edikt über die Finanzen des Staats und die neuen Einrichtungen wegen der Abgaben vom 27. Oktober 1810“ heißt es: „Wir werden übrigens Unsre stete und größte Sorgfalt darauf richten, durch jede nothwendige und heilsame Einrichtung in polizeilicher und finanzieller Hinsicht Unsern uns so sehr am Herzen liegenden Hauptzweck, das Wohl Unserer getreuen Unterthanen herzustellen, möglichst zu befördern. Zu dem Ende soll auch die nächste Möglichkeit ergriffen werden, das Münzwesen auf einen festen Fuß zu setzen, so wie Wir Uns vorbehalten, der Nation eine zweckmäßig eingerichtete Repräsentation, sowohl in den Provinzen als auch für das Ganze zu geben, deren Rath Wir gern benutzen und in der Wir nach unsern landesväterlichen Gesinnungen, gern Unsern getreuen Unterthanen die Ueberzeugung fortwährend geben werden, daß der Zustand des Staats und der Finanzen sich bessere“ (Preußische Gesetz-Sammlung 1810, S. 25). 2) In der „Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volks vom 22. Mai 1815“ steht: „[...] § I. Es soll eine Repräsentation des Volks gebildet werden. [...] § 5. Es ist ohne Zeitverlust eine Kommission in Berlin niederzusetzen, die aus einsichtsvollen Staatsbeamten und Eingesessenen der Provinzen bestehen soll. § 6. Diese Kommission soll sich beschäftigen: a) mit der Organisation der Provinzalstände; b) mit der Organisation der Landes-Repräsentanten [...]; c) mit der Ausbreitung einer „Verfassungs-Urkunde nach den aufgestellten Grundsätzen“. § 7. Sie soll am I. September dieses Jahres zusammentreten. § 8. Unser Staatskanzler ist mit der Vollziehung dieser Verordnung beauftragt und hat Uns die Arbeiten der Kommission demnächst vorzulegen? (Preußische Gesetz-Sammlung 1815. S. 103). 3) In der „Verordnung wegen der künftigen Behandlung des gesamten Staatsschuldenwesens vom 17. Januar 1820“ ist zu lesen: „Sollte der Staat künftighin zu seiner Erhaltung oder zur Förderung des allgemeinen Besten in Nothwendigkeit kommen, zur Aufnahme eines neuen Darlehns zu schreiten, so kann solches nur mit Zuziehung und unter Mitgarantie der künftigen reichsständischen Versammlung geschehen.“ (Preußische Gesetz-Sammlung 1820, S. 9. In: Sammlung der für die Königlich Preußischen Staaten erschienen Gesetze und Verordnungen. Berlin: Decker, 1822 und 1826).
130,1-2 Edict über die Feststellung der Reichsschuld nie von „künftigen Reichsständen“ gesprochen]
→ Erl. zu 129,30-32; dieses Edict wird dort unter Nr. 3) zitiert. Weil das Versprechen gegeben wurde, sollte es auch in eine wirkliche Verfassung umgesetzt werden, meint der ,Narr‘: Wir müssen einmal mit dem Papiere hervorrücken; denn Fürstenwort ist heilig. (130,9-10).
130,12-13 die weißen Stellen [...] Gedankenstriche]
Übliche Markierungen für Zensureingriffe. Berühmt ist Heinrich Heines Parodie auf Zensurstriche im „Buch Le Grand“ (1827): → Bilder. Handschriften und Drucke.
130,17-18 auf Sandhügel wieder schwache Hütten baut]
Vgl. Mt 7,26: „Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der ist einem törichten Mann gleich, der sein Haus auf den Sand baute.“
131,8-9 die lange Nacht von den Befreiungskriegen bis auf die beiden letzt verflossenen Jahre]
Ein weiterer Beleg (vgl. 85,26-27) für das Bewusstsein, dass 1830 eine Periode zu Ende gegangen sei: die der (durch die Nacht- und Wintermetapher dargestellten) ,Restauration‘. Die Versuche, sie gewaltsam fortdauern zu lassen, sind durch die Einsicht unserer Zeitgenossen, dass sie funfzehn Jahre hindurch in einer womöglich freiwillig getragenen ,Zwangsjacke‘ gesteckt haben, zum Scheitern verurteilt (129,12-23).
131,9-11 die in die Nacht ein Licht hätten heinstellen können [...] wie am Tage]
Wie in 130,17-18 wird die Restaurationsperiode durch biblische Anklänge mit einer Zeit der Verirrung und Verderbnis assoziiert. Dieser Passus erinnert nicht nur an die Finsternis über Ägypten (2 Mos 10,21-23), sondern weist auch auf Joh 3,19: „Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse.“
131,20-21 Riesenpopanz]
Hier wird der Bildbereich des moralischen Fehlgehens (131,9-11) mit dem des Aberglaubens verbunden: Ein Popanz ist „eine vermummte und dadurch (den kindern [...]) schrecken einjagende gestalt, dann allgemeiner [...] ein schreck-, trug-, scheinbild“ (Grimm, Bd. 13, Sp. 1999).
131,24 Man denke an Menzel, Heine, Börne!]
Schon frühzeitig werden hier die prominentesten Vertreter der ,neuen Literatur‘ benannt, die den Mut und die Klarsicht hatten, in die Nacht der Restauration ein Licht zu stellen bzw. den Kampf mit den Ungethümen jener argen Zeit aufzunehmen. Ihren weniger einsichtsvollen Zeitgenossen waren sie Vorkämpfer. Die Mutlosen oder damals Verblendeten schämen sich nun für ihr ,törichtes‘ Verhalten und weichen ihren heroischen Zuchtmeistern aus. Zu den drei ,heroischen‘ Autoren schreibt Gutzow später im Literaturblatt des „Phönix“ (1835), indem er die Metapher ihres Kampfes gegen Ungetüme wieder aufnimmt und diesen Kampf nun selbst als historisch überholt bezeichnet: Die große politische St. Georgszeit und kritische Drachenkampfperiode ist vorüber. Ein märchenhafter Sagenkreis hat sich schon gebildet von den Rittern mit flammenden Schwertern, von Börne, dem schwarzen Paladine auf dem Verzweiflung wiehernden Rosse Witz, von Heine, dem tapfern und galanten Chevalier, dem Paris, Perzival und Mürat unsres Kreises, von Menzel, dem wahrhaften Landsknechte und Condottiere des Feldzuges, der den Kern der Schlachtordnung bildete. (Theodor Mundt, Willibald Alexis und die Pommersche Dichterschule, oder über einige literar-historische Symptome. eGWB IV, Bd. 6.2, pdf 1.0, S. 1) Zu Menzel auch → Erl. zu 110,12 und 110,26.
131,25-26 Facta loquuntur]
Lat.: Die Tatsachen sprechen für sich.
132,2 Höhe des Kothurns]
,Kothurn‘ hieß der erhöhte Stiefel, der von Aischylos eingeführt wurde, um den Schauspieler in der Tragödie größer erscheinen zu lassen. Ganz allgemein gilt der Kothurn „als Symbol der Tragödie und ihres erhabenen Stils“ (Meyer, Bd. 11, S. 540).
132,2 Sokkus]
Als ,Soccus‘ bezeichneten die Römer einen leichten, flachen Schuh, der als Fußbekleidung des Narren „charakteristische Fußtracht der Komödie“ wurde (Meyer, Bd. 18, S. 561). Der Passus 131,33–132,10 handelt von einem zukünftigen Theater des ,höheren Narrentums‘: Entgegen der Hoffnung der Fürsten, das Volk werde sich durch triviale Bühnenwerke im politischen Narrenstadium des Ancien Regime halten lassen (in den Tagen von Versailles), wird das neue Drama, dem athenischen gleich, Tragödie und Komödie wieder in ihre Rechte einsetzen. Die erhabene Gestalt auf dem Kothurn scheint in dieser Vision jedoch zu verschmelzen mit der komischen Figur auf dem Soccus. Der moderne Narr wird nicht mehr die Figur im Flickengewand mit Pritsche abgeben, sondern mit heitere[m] Scherz sich den milden Sonnenblicken der Hoffnung widmen, die aus den bald lachenden, bald weinenden Auge leuchten. Die Distanz zum Erhabenen ist aufgehoben (→ Erl. zu ). Der Hanswurst soll zum Ideenhanswurst werden (→ Erl. zu ) und damit, wie im 27. Brief vorgestellt, zu einer ernsthaft handelnden Person.
132,29-30 unter jene Linde legt mich hin]
In dem Bild des frühzeitig gealterten, lebensmüden Wanderers findet sich ein Anklang an das romatische Motiv der verlorenen Heimat, symbolisiert durch Bach, Mühle, Brunnen und / oder Linde. Beispielhaft dafür steht Wilhelm Müllers Gedicht „Der Lindenbaum“ (zuerst in: Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1823. Leipzig: Brockhaus, 1823. S. 214-215). Dieses Gedicht wurde später unter den Worten des Eingangsverses bekannter: „Am Brunnen vor dem Tore“, das 5. Gedicht des Zyklus „Wanderlieder“, und gelangte durch Schuberts Vertonung von 1827 zu Berühmtheit. Die letzte Strophe lautet: „Nun bin ich manche Stunde / Entfernt von jenem Ort / Und immer hör ich’s rauschen / Du fändest Ruhe dort!“
134,17 Größe des Weltgeistes]
Der ,Weltgeist‘ ist ein zentraler Begriff der Hegelschen Geschichtsphilosophie, durch den die in der historischen Geschichte waltende Kontingenz überwunden wird. Denn „der an sich seiende Geist bringt sich in der Welt zur Wirklichkeit und wird zum Weltgeist“ (Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I. HWS, Bd. 10, S. 347). Damit erweist sich „Weltgeschichte als der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes“ (Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. HWS, Bd. 12, S. 23). In diesem geschichtsphilosophischen Konstrukt treten „die welthistorischen Individuen als die Geschäftsführer des Weltgeistes“ auf (ebd., S. 46). Gutzkow hat Hegel 1836 mit seiner Abhandlung „Zur Philosophie der Geschichte“ entschieden widersprochen.
134,18 Lorettohütten]
Das Heilige Haus in Loreto (Provinz Ancona, Italien) ist der Legende nach der Wohnsitz der Heiligen Familie und soll 1295 von Engeln an seinen jetzigen Standort gebracht worden sein, um der Zerstörung durch die Türken zu entgehen. Der Name leitet sich vom lat. ,laurentum‘ (Lorbeerhain) ab, wo das Haus einmal gestanden haben soll. Der ,Narr‘ verwendet diesen Ausdruck verallgemeinernd für ,Wallfahrtsziel‘.
134,30-31 der erste Bürger, was Friedrich II. nur sein wollte]
→ Erl. zu 66,7-8.
135,8 die Verfasser der positiven Wirklichkeit]
Der von Saint-Simon (→ Erl. zu 28,14 und 77,30) begründete und von Auguste Comte formulierte philosophische Positivismus geht von der Existenz einer positiven Wirklichkeit aus, die keine Metaphysik kennt. „Ihr Ziel ist: ,Sehen, um vorauszusehen, und forschen, was ist, um zu schließen, was sein wird.‘ “ (Kirchner’s Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe. 5. Aufl. Neu bearb. von Carl Michaëlis. Leipzig: Dürr, 1907. S. 450) Zu den Verfasser[n] der positiven Wirklichkeit gehören insbesondere die Naturwissenschaften, die der Philosophie die Grundlagen liefern.
135,20-21 Cato]
→ Erl. zu 52,31-33.
135,21-23 Robespierre und Danton küßten sich mit ihren wieder aufgefügten Köpfen]
Diese chirurgische Phantasie findet sich später, ebenfalls in Verbindung mit einer imaginierten Hinrichtung und einer Kuss-Szene, wieder in Wally, die Zweiflerin (eGWB I, Bd. 4, pdf 1.0, S. 130). Ähnlich in Büchners „Dantons Tod“, als Danton, den sein Gefährte Hérault auf dem Schafott umarmen will, den Henker fragt: „Kannst du verhindern, daß unsere Köpfe sich auf dem Boden des Korbes küssen?“ (BSWB, S. 150).
135,30 Timons]
Der Entschluss des ,Narren‘, Liebe durch Hass zu ersetzen, führt zur Erwähnung von Timon, Sohn des Echekratidas, der um 500 v. Chr. zur Zeit des Perikles in Athen lebte. Was von diesem überliefert ist – und die Grundlage zu Shakespeares „Timon of Athens“ bildet – findet sich in Kapitel 69 und 70 von Plutarchs „Leben des Antonius“. Bei Shakespeare ist Timon reich, von ,Freunden‘ umringt, die ihm schmeicheln und auf der Tasche liegen, ihn jedoch verlassen, sobald er verarmt. Der frühere Philanthrop wird zum großen Menschenhasser.
136,18 Oekonomiegebäuden]
,Ökonomie‘: eine „allgemein übliche Bezeichnung für Landgut und Landwirtschaft“ (Meyer, Bd. 15, S. 16).
136,19 Judensitzen]
,Judensitz‘ war ein Begriff für eine jüdische Ansiedlung und oft mit der langen Geschichte jüdischer Sesshaftigkeit im deutschen Kulturraum konnotiert. Vgl. z. B. folgenden Passus: „Schon in den frühesten Zeiten findet man Juden in Coburg, wo sie die Vorstadt vor dem Judenthor theilweise bewohnten [...]. Auch gab es auf dem Lande Judensitze, wie der Name Judenbach beweist, welches Dorf an den alten Handelsweg gebaut war.“ (Philipp Carl Gotthard Karche: Jahrbücher der Herzoglich Sächs. Residenzstadt und des Herzogthums Coburg. Bd. 3. Coburg: Riemann, 1853. S. 44-45) Der Begriff fehlt in A1.
136,28-29 Percival]
Auf Betreiben des englischen Abgeordneten Spencer Perceval (1795-1859) wurde in Großbritannien der 21. März 1832 zum nationalen Fast- und Bußtag („Day of Fasting and Humiliation“) erklärt. Sinnigerweise ist dies fast genau Goethes Todestag, der 22. März 1832, womit die Epochenwende, die durch den Anklang an das Harfnerlied in 136,28 angedeutet wird, sich noch stärker konturiert. Der Bezug auf ein aktuelles europäisches Geschehen liefert ein weiteres Beispiel für Gutzkows genaue Kenntnis politischer Themen des Auslands aus Korrespondenzberichten, ganz im Sinne der publizistischen Synchronistik (→ Erl. zu 117,19-20 und 117,30-31). Schon dem Setzer scheinen die mit Herr[n] Percival verbundenen Hintergründe unbekannt gewesen zu sein, denn statt Festtag hätte in 136,28 wohl ,Fasttag‘ stehen müssen. Diese religiöse Maßnahme durch das britische Parlament ist wiederum nur im Kontext der Industrialisierung und ihrer verheerenden sozialen Auswirkungen, der Cholera-Epidemie (→ : Cholera), der umstrittenen Parlamentsreform (→ Erl. zu 78,24) und der pietistischen Strömungen zu verstehen, deren Vertreter die Seuche als Geißel für den emanzipativen Zeitgeist auslegten. Besonders wurde die Cholera, die in den Elendsvierteln Londons und der nordenglischen Industriestädte wütete, als Strafe für die ,Sittenlosigkeit‘ der unteren Klassen angesehen. Gerade auf diese Teile der Bevölkerung zielte der Fasttag. Gutzkows (durch den vermutlichen Setzfehler verlorener) Hinweis darauf, dass beim Volk jeder Tag seit geraumer Zeit ohnehin als Fasttag ,abgehalten‘ werde und der nationale Buß- und Fasttag daher in diesen Schichten nicht verfange, soll verdeutlichen, dass die verarmten Massen durch das zunehmende Bewusstsein ihrer Lage für religiöse Erweckungsversuche unempfänglich werden. Im Zusammenhang mit der leisen Mahnung des ,Narren‘ an seine Briefempfängerin, sie möge von ihrer romantischen Verklärung des ,Volkes‘ Abstand nehmen, da dessen Lebenserfahrung säkular und nüchtern werde (136,20-137,2), gewinnt diese Stelle den Charakter einer Religionskritik. Dies umso mehr, als Perceval die Fasten des 21. März mittels königlicher Proklamation durchsetzen konnte, um einem weiteren Grassieren der Cholera durch Gottes Gnade Einhalt zu gebieten. Ein solcher reaktionärer Pietismus war dem in Gutzkows Preußen nicht unähnlich. Perceval verkörperte in geradezu perfekter Form die Gewalt der Reaktion im religiösen Gewand. Als ältester Sohn des Premierministers Spencer Perceval, der 1812 einem Attentat zum Opfer gefallen war, wurde ihm besondere Gunst zuteil: Lincoln’s Inn finanzierte ihm ein Jurastudium; das Parlament stiftete eine jährliche Rente von £1000. Darüber hinaus konnte er sich als politisches Sprachrohr einer ,Prophetenschule‘ betätigen. Unter der Führung von Edmund Irving (1799-1834), Herausgeber des „Morning Watch or Quarterly Journal of Prophecy“ (1829-1833) und später Gründer der „Catholic Apostolic Church“, weissagten diese ,Propheten‘ die Wiederkunft Christi im Jahre 1864. Irvings Anhänger wurden humoristisch und satirisch als ,Heilige‘ (,Saints‘) bezeichnet; daher die Voraussage des ,Narren‘, Perceval werde beim darbenden Volk nicht in den Geruch der Heiligkeit kommen (136,30). Als Abgeordneter im Unterhaus hielt Perceval genau zu der Zeit, als die Debatte um die Wahlrechtsreform alle Welt beschäftigte, eine Reihe von Reden, in denen er unter reichlicher Verwendung von Bibelzitaten u. a. die Franzosen für die ,Verworfenheit‘ des Zeitalters verantwortlich machte, da sie einen nicht von Gott, sondern von den Bürgern gewählten König auf den Thron gesetzt hätten (vgl. die Debatten vom 23. Dezember 1830, 7. Februar 1831 und vor allem 14. Februar 1831, in: Hansard’s Parliamentary Debates. Third Series. Bd. 2. Sp. 541-547 zur Debatte vom 14. Februar 1831). Die herannahende Cholera beflügelte Percevals apokalyptische Rhetorik, und am 26. Januar 1832 verlangte er wiederholt, dass ein nationaler Fasttag festgesetzt werde (Hansard’s Parliamentary Debates. Third Series. Bd. 9. Sp. 895-902). Gutzkows Anspielung könnte zusätzlich auf einer Kenntnis britischer Karikaturen beruhen. Diese griffen das Thema des Fasttags auf, indem sie den Kontrast zwischen der brotlosen arbeitenden Bevölkerung und der wohlgenährten, bigotten Geistlichkeit betonten, für die statt ,Fast‘-Tagen immer ,Fest‘-Tage angesagt seien. Die Setzung von Festtag statt ,Fasttag‘ in Gutzkows Text mag schließlich doch kein Fehler gewesen sein, sondern könnte eine sarkastische Weiterentwicklung des Wortspiels mit ,fast‘ und ,feast‘ darstellen, wie es in britischen Karikaturen zu finden war. Celina Fox’ Ausführungen zu satirischer Druckgraphik der frühen 30er Jahre belegen dies: „The suggestion made by Spencer Perceval in 1832 for a General Fast to be proclaimed for divine intercession on account of the cholera epidemic provided an opportunity to underline the contrast between a feasting clergy and a starving people. ‘GENERAL FAST DAY, REPLETION v. STARVATION’, which appeared in ‘A Slap at the Church’ [d. i. in einer der periodisch erscheinenden Karikatur-Publikationen] (No. 6, 25 February 1832) includes the caption, ‘You fast – I’ll pray: I’ll feast – you pay.’ [Fußnote: Also, ‘THE GENERAL FAST’ (Figaro in London, No. 14, 10 March 1832). ‘SAINT PRAISE GOD P…S…VAL’, lithograph by C. J. Grant. Picton Library, Liverpool, William Thelwall Thomas collection.]“ Celina Fox: Graphic Journalism in England During the 1830s and 40s. New York, London: Garland, 1988. S. 115-116.
136,28 Thränen ohne Brod]
Anspielung auf die Verse des Harfners in Goethes „Wilhelm Meister“: „Wer nie sein Brot mit Tränen aß, / Wer nie die kummervollen Nächte / Auf seinem Bette weinend saß, / Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte. // Ihr führt ins Leben uns hinein, / Ihr laßt den Armen schuldig werden, / Dann überlaßt ihr ihn der Pein, / Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.“ (HA, Bd. 7, S. 136) Dieser Verweis deutet an, dass sich die Lage der Armen seit der Goethezeit verschärft hat. Im Jahre 1832, Goethes Todesjahr, werden sie bei ihren vor Entbehrung und Erniedrigung vergossenen ,Tränen‘ auch noch um das ,Brot‘ betrogen. Der gesamte Satz 136,27-30 fehlt in A1, wohl wegen seiner facettenreichen Anspielungen auf die aktuelle Lage des Jahres 1832, speziell im Hinblick auf England.
136,28 Festtag]
Vermutlich recte: Fasttag; → Erl. zu 136,28-29 Percival.
138,1 Indifferentismus]
„Gleichgültigkeit, Lausinn (bes. in Glaubenssachen, doch auch auf den moralischen, politischen, wissenschaftlichen, ästhetischen etc. Gebieten)“ (Heyse 1879, S. 443).
140,19 der dritte Adam]
Die von der Gnosis entwickelte Vorstellung von einem in der Menschheitsgeschichte „übergreifenden Adam“ (RGG, Bd. 2, S. 1652) geht auf den Römerbrief (Röm 5,14 ff.) und den 1. Korintherbrief (1 Kor 15,22 f.) des Apostels Paulus zurück. Danach ist der erste Adam der von Gott erschaffene „höhere Mensch“, der „die ganze Menschheit vertritt“. Der zweite Adam ist „der irdische Mensch Adam, der der Sünde verfiel“ und zum „Stammvater der Menschheit wurde“ (RGG, Bd. 1, S. 1749). Durch die Menschwerdung Christi entsteht als dritter „der neue Mensch“ (RGG, Bd. 1, S. 1781). In den ,Narrenbriefen‘ wird das Zeitalter der Revolution als neue Schöpfung verstanden, in der wie einst in der Gestalt Jesu mit dem dritten Adam zugleich ein neuer Heiland erscheinen muss.
140,22-23 Wer da weiß [...] Heiland der Welt]
Hier „bezieht sich Gutzkow offensichtlich auf die Gedenkrede Börnes zum Tode Jean Pauls (1825)“ (Herbert Kaiser: Karl Gutzkow: Briefe eines Narren an eine Närrin. In: Literatur für Leser. Bern, Berlin, Frankfurt/M., New York: Peter Lang. Bd. 25, 2002, S. 79-90; Zit. S. 85) Diese Rede war für den jungen Gutzkow von zentraler Bedeutung, wie er in den Rückblicken auf mein Leben betont: Schon als Primaner abonnirte ich mich auf die erste, höchst elegant gedruckte Ausgabe von Börnes „Gesammelten Schriften“. Ich schwelgte in seiner Denkrede auf Jean Paul (GWB VII, Bd. 2, S. 58). In Börnes „Denkrede“ ist zu lesen: „Hinangezogen am Spalier der Staatsmauer, hinaufgerankt an der Stange des Herkommens“, habe es ,der deutsche Jüngling‘ „verlernt, seinen eignen Wurzeln zu trauen. Jean Paul munterte die blöden Herzen auf; er zuerst wagte das jedem Deutschen so grause Wort Ich auszusprechen, und wenn die Freiheit nicht darin besteht, daß man ohne Gesetze lebe, sondern daß jeder sein eigner Gesetzgeber sei, so war es Jean Paul, der für unsere Enkel die Saat der deutschen Freiheit ausgestreut.“ (BSSchr, Bd. 1, S. 793) Mit der Sakralisierung Jean Pauls als eines republikanischen Vorbilds für die deutsche Jugend tritt Gutzkows ,Narr‘ die Nachfolge Börnes an (vgl. Wulf Wülfing: „In weiten Bahnen zieht der leuchtende Genius“. Zur Rhetorik der Dichterverehrung im 19. Jahrhundert am Beispiel von Ludwig Börne und Berthold Auerbach. In: Verehrung, Kult, Distanz. Vom Umgang mit dem Dichter im 19. Jahrhundert. Hg. von Wolfgang Braungart. Tübingen: Niemeyer, 2004. S. 203-218, bes. S. 209). Außerdem wird hier auf eine der drei Hauptverwandlungen (144,25) in den literaturgeschichtlichen Mutationen des ,Narren‘ (144,29-148,16) vorausgedeutet. Nicht zuletzt bedeutet die Referenz auf Börne auch einen Wegstein für Gutzkows sowohl idealisierende als auch einfühlsame Börne-Biographie (GWB IV, Bd. 5, vgl. Nachwort, bes. S. 220-238).
142,2 der Schwätzer Plutarch]
Diese abschätzige Bezeichnung Plutarchs, der schon 54,29 als Anekdotenkrämer charakterisiert wurde, beruht auf Gutzkows Geschichtsauffassung, die eben nicht wie Plutarch den ,großen Männern‘ die geschichtliche Hauptrolle zuschreibt.
142,2 Parallelen]
Anspielung auf Plutarchs „Parallele Leben“; → Erl. zu 54,29.
54,13 Parallelen]
Nach der Darstellung Plutarchs finden sich Erklärungsmuster in den Parallelen im Leben ,großer Männer‛ der Geschichte; → Erl. zu 54,29.
143,4-6 Im dreizehnten Jahrhundert wollte man das Revolutionswerk [...] unmittelbar fortsetzen]
Nicht im dreizehnten, sondern im vierzehnten Jahrhundert errichtete Cola di Rienzi (um 1313-1354) als ,Volkstribun‘ eine Republik in Rom. Durch seine „klassischen Studien für die altrömische republikanische Staatsform begeistert“, hatte er versucht, „dem römischen Volke durch feurige Reden den Druck zum Bewußtsein zu bringen, unter dem es vom Adel gehalten wurde. Er wurde 1343 von den Römern an Papst Clemens VI. nach Avignon abgeschickt, um eine in der Verfassung der Stadt vorgenommene Änderung zu rechtfertigen, und gewann die Gunst des Papstes, der ihn zum Notar der städtischen Kammer ernannte. R. leitete nun eine Verschwörung gegen die Aristokratie ein, die am 20. Mai 1347 zum Ausbruch kam. An diesem Tage erschien er mit seinen Anhängern und dem päpstlichen Legaten auf dem Kapitol, kündigte die Gründung eines neuen Volksstaats an, erließ Gesetze für ihn und nahm einige Tage später den Titel eines Volkstribunen an. Mit Hilfe der städtischen Miliz zwang R. den Adel zur Flucht oder zur Unterwürfigkeit und führte strenge Gerechtigkeitspflege ein. Zugleich suchte er die alte Macht der römischen Republik herzustellen, indem er an alle Fürsten und Städte Italiens Einladungen zu einer Versammlung in der alten Hauptstadt Italiens und der Welt ergehen ließ. Das große italienische Verbrüderungsfest, das am 1. Aug. in Rom begann, bestand jedoch hauptsächlich aus prahlerischen Aufzügen und Schaustellungen; ein Zeichen lächerlicher Anmaßung und törichter Verkennung aller realen Verhältnisse war es, daß R. die Entscheidung über die Kaiserwürde beanspruchte und Ludwig den Bayer wie Karl IV. und die deutschen Kurfürsten nach Rom vorlud. Hierdurch entfremdete er sich den Papst, der noch mehr gereizt wurde, als R. 19. Sept. einen Termin zur Kaiserwahl durch Vertreter der italienischen Städte anberaumte. Indem nun aber R. durch den Prunk seines Auftretens und die behufs Erhaltung von Truppen auferlegten Steuern auch die Gunst des Volkes verloren hatte, war es um ihn geschehen. Noch erfocht er 20. Nov. einen Sieg über den Adel; aber dessen neue Erhebung, vom Papst geradezu befohlen, zwang 15. Dez. den Tribunen zur Flucht. Nachdem R. längere Zeit bei schwärmerischen Eremiten in den Abruzzen gelebt hatte, begab er sich 1350 zu Karl IV. nach Prag, um den König zum Römerzug aufzufordern, wurde aber als der Ketzerei verdächtig gefangen gesetzt [...] und 1352 dem Papst Clemens IV. ausgeliefert. Dessen Nachfolger Innozenz IV. suchte Rienzis Einfluß zur Unterwerfung des Adels zu benutzen und schickte ihn im Gefolge des Kardinals Albornoz mit dem Titel eines Senators nach Rom (1354). Er schritt nun aufs neue gegen die Barone ein, [...] umgab sich mit einer starken Leibwache, erhöhte die Steuern und schaltete mit tyrannischer Willkür. So ward er allgemein verhaßt; 8. Okt. brach ein neuer von den Colonna und Savelli angestifteter Aufstand aus; R. floh aus dem Kapitol, ward aber erkannt, festgehalten und grausam ermordet. Seinen Leichnam schleifte der Pöbel durch die Stadt, verbrannte ihn und streute die Asche in die Luft.“ (Meyer, Bd. 16, S. 922-923.) Bulwer-Lytton hat diesen Stoff umgearbeitet und veröffentlichte 1835 den dreibändigen Roman, „Rienzi, the last of the Roman Tribunes“, und die Uraufführung von Wagners Oper, „Rienzi, der Letzte der Tribunen“ (zuerst „Cola Rienzi“ genannt), fand am 20. Oktober 1862 in Dresden statt.
144,25 die drei Hauptverwandlungen meines Lebens]
Im Folgenden wird die Wandelbarkeit und dadurch Stabilität des ,Narren‘-Ich (vgl. 144,5-6) in drei literaturgeschichtlichen Metamorphosen, von Rousseau über Jean Paul bis zu Byron, beschrieben. Diesen Stationen der Verwandlung entsprechen die Symbole Oriflamme, Pritsche und Schwert. Vgl. → Globalkommentar.
144,27 Oriflamme]
Aus mlat. ,aurea flamma‘ (Goldbanner): mittelalterliches französisches Königsbanner (bis 1415), das in Schlachten geführt wurde und dem exponierten Träger, dem ,Porte Oriflamme‘, höchste Tapferkeit abverlangte. Dass der ,Narr‘ sich in der Gestalt Rousseaus mit dieser Fahne assoziiert, mag in Rousseaus avantgardistischer Position im Kampf für den ,Naturmenschen‘ begründet sein. Die rote Farbe der Oriflamme könnte zudem assoziativ mit der Schreckensherrschaft der Französischen Revolution verbunden sein, für die Rousseau als absichtsloser geistiger Mit-Urheber Verantwortung übernimmt (145,21-22).
144,27 Pritsche]
Die ,Brettchen‘, zu einem leichten Schlaginstrument zusammengebunden, mit denen der Hanswurst bzw. Narr die Menschen geräuschvoll zu Mit-Narren schlägt. Somit verweist die Pritsche auf die (Narren-)Würdigkeit alles Menschlichen und Gewöhnlichen, die aus Jean Pauls Werken spricht (vgl. 146,11-17), und auch auf die besondere Geistesverwandtschaft, die Gutzkows ,Narr‘ zu Jean Paul verspürt. Ähnlich verleiht Gutzkow als Dramatiker der poetologisch-ideologischen Affinität mit einer Figur im Drama Richard Savage (1839) Ausdruck. Hier tritt der Journalist Richard Steele in einer Maskenballszene als Harlekin mit Pritsche auf (GWB II, Bd. 2, S. 62-66).
144,27 Schwert]
Verweist auf das nicht nur literarische Rebellentum Byrons, der u. a. am griechischen Freiheitskampf teilnahm.
144,29-30 trug ich mich doch immer à l’enfant]
Rousseau entwickelte im „Émile“ (1762) die Vorstellung von einer ,natürlichen‘ Kindermode. Statt der Reifröcke und Perrücken des 18. Jahrhunderts sollte das Kind lose sitzende, bequeme Kleidung tragen. Die Kindermode änderte sich tatsächlich entsprechend, so dass die antiaristokratische Kleidung (vor allem der ,sansculottes‘) und die kurze Haartracht der Französischen Revolution zum Teil auf Kindermodelle zurückgreifen konnten (→ Erl. zu 7,3 und Alice Mackrell: An Illustrated History of Fashion. 500 Years of Fashion Illustration. London: Batsford, 1997. S. 108). Dass die Mode des revolutionären Zeitalters den Menschen durch Entblößung bzw. körperbetonten Sitz befreie, ist einer von Gutzkows kulturgeschichtlichen Grundgedanken (vgl. Die Zeitgenossen, GWB III, Bd. 3, Nachwort S. 689-690).
145,17 Cyane]
Kornblume.
145,18 Nebo]
Berg im Gebirge Abarim, von dem aus Moses das Gelobte Land sah. Vgl. 4 Mos 27,12; 5 Mos 32,49 und 34,1; vermutlich der heutige Nebo (802 m).
145,21-22 daß ich es war, der die Völker in die Thäler des Schreckens führen half]
Diese Sicht Rousseaus erläutert der Börne-Index: „Allgemein wurde Voltaire als Vorläufer der bürgerlichen Revolution von 1789, Rousseau als wegweisend für die zweite, radikalere republikanische Phase der Revolution von 1791 verstanden. Der persönliche Antagonismus der beiden Schriftsteller liess sie in der nachrevolutionären Retrospektive noch deutlicher als Parteiführer erscheinen [...].“ (2. Hbd., S. 667). → .
146,29 Thränen Christi]
Lacryma Christi, eine an den fruchtbaren Lavahängen des Vesuvs angebaute Rebsorte.
146,29 Biene]
Dieses Symbol Jean Pauls weist auf die Erzählung „Dr. Katzenbergers Badereise“ (1809): „Gönnt und gebt dem Dichter Freuden; er bringt sie euch verklärt als Gedichte zurück, und er genießt die Blumen, um sie fortzupflanzen; denn er ist der Biene ähnlich, die von den Blumen, aus denen sie Süßigkeit trinkt, den Blumenstaub weiterträgt und zu neuen jungen Blumen aussäet. Laßt ihn nach Italien fliegen, denn er bringt es auf seinen Flügeln als hängenden Garten der Dichtkunst mit.“ (JPSW, Bd. 6, S. 361-362) Die Jean-Paul-Passage insgesamt (145,26-146,34) wirkt in Motivik und Ton wie ein Pasticcio der 11. und/oder 14. Fahrt aus „Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch“ (1801) im „Komischen Anhang zum Titan“.
146,34 Jean Paul]
→ Globalkommentar.
147,27-28 einen Schädel als Pocal zurichten]
Auf Byrons Anwesen, Newstead Abbey, wurde ein Schädel gefunden, den der sich als romantischer ,Bürgerschreck‘ inszenierende Besitzer zum Trinkpokal mit silberner Fassung umarbeiten ließ.
147,34 Fackeln meiner Reue]
Diese Reue Byrons könnte auf die Prophezeiung Walter Scotts zurückverweisen, der dem romantischen Dichter eine (nicht erfolgte) Konversion zum Katholizismus voraussagte (→ Erl. zu ).
148,15 Lord Byron]
→ Globalkommentar.
148,32 meinen Schatten]
Die folgende Schilderung des Spiels mit dem eigenen Schatten, das etwas Tänzerisches und zugleich Bedrohliches an sich hat, ist eine Reminiszenz an Jean Pauls Schattenspiele, wie die folgende Stelle aus dem „Hesperus“ zeigt: „die gestrige Nacht trug […] sein brausendes Herz und Emanuels Schatten vorüber – er lief immer stärker und zwar in die Quere durchs Zimmer – strickte den Schlafrock knapper an – schüttelte etwas aus dem Auge – tat einen steilrechten Sprung“ (JPSW, Bd. 1, S. 585). Der ,Narr‘ parodiert mit dem Wunsch: ich wollte gern über ihn wegspringen, und versuchte dies mit den possirlichsten Biegungen und Wendungen (148,34-149,2) zugleich die Redensart: ,nicht über seinen Schatten springen können‘, d. h. „seine Natur, sein Wesen nicht ändern, nicht verleugnen können, trotz aller Anstrengung etwas nicht fertigbringen, was der eigenen Persönlichkeit nicht entspricht“ (Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Freiburg i. Br.: Herder, 1991. Bd. 4, S. 1304).
149,7-8 einen Mann, der mich freundlich über den Bach grüßte]
Mögliche Anspielung auf Cäsars Überschreitung des Rubikon. Nach Sueton soll dieser dabei eine übermenschliche Figur erblickt haben, die ihn herüberwinkte (vgl. „Vitae XII imperatorum“, Buch 1, Kap. 32). Bei Lucanus in der „Pharsalia“, einer Schilderung des Bürgerkriegs zwischen Pompejus und Cäsar, als Unheilsbringer dargestellt, wird diese Figur gegen Ende des ersten Buches zu einer Frau, die das zerstörte Vaterland des Dichters darstellt.
105,33 nicht der Inhalt, sondern nur die Form]
Mögliche Anspielung auf Menzels Rezension von Börnes „Briefen aus Paris“ (→ 4.2. ), deren am Inhalt orientierte Qualität im Vergleich mit den Äußerungen anderer zeitgenössischer Kritiker auch in Gutzkows Rückblicken auf mein Leben hervorgehoben wird (GWB VII, Bd. 2, S. 57).
150,27-28 ein blinder, enthaarter Simson]
Der alttestamentarische Simson ist von Jehova mit riesenhaften Kräften ausgestattet, solange er das Gelübde hält, unbeschnittenes Haupthaar zu tragen. Als seine Geliebte Delila ihm im Schlaf das Haar schneiden lässt, verliert er die Kraft, die Philister zu schlagen, und wird von diesen geblendet.
150,29 Ein weinender Hanswurst]
Ähnliches Bild wie 150,27-28. Der Hanswurst, die Narrenfigur im deutschen Fastnachtsspiel, verliert seine Kraft, durch Komik zu ,schlagen‘, sobald er weint.
151,2 Maskerade]
In der Beschreibung des Maskenballs im fürstlichen Schloss, der sogenannten ,Redoute‘ (150,2-151,28), werden die Auswirkungen des Metternichsystems durch die Figur des unverkleideten Polizeiofficiant[en] (150,21) unterstrichen. Denn die einzige hier erlaubte Freiheit ist die Maskenfreiheit (151,10 und 151,14), faktisch eine Sclaverei, die jährlich zur Carnevalszeit den Leuten viermal erlaubt, sich mit Vergnügen frei zu nennen (151,27-28). In dem darauffolgenden Passus (→ Erl. zu 152,7) wird die ,Umkehrung‘ dargestellt: Die wirkliche Freiheit einer Republik schließt Maskenfreiheit aus.
151,6 Freiredoute]
Ein Maskenfest, zu dem die sonst exklusive Hofgesellschaft ein weites Publikum einlädt, oft aus Anlass einer Hochzeit. Eine Parallelstelle findet sich in Gutzkows Studienerinnerungen: Ein Sohn des Königs vermählte sich. Im Opernhause gab es Freiredoute. Die Karten waren nur durch besondere Gunst zu erlangen. (Das Kastanienwäldchen in Berlin, GWB VII, Bd. 3, S. 90).
151,14-15 der muthwillige Spaß eines kleinen Essenkehrers]
Schornsteine wurden selbst nach der Einführung von Maschinen in den 1830er und 40er Jahren oft noch von Kindern gereinigt, die sich in die engen Schlote zwängten. Der großstädtische Gassenbubenwitz der kleinen Schornsteinfeger und ihre ,Anschwärzungen‘ von Passanten im wörtlichen und metaphorischen Sinn waren europaweit bekannt und gefürchtet. Charles Dickens z. B. hat sich mit dem Typus des „Chimney Sweep“ in den „Sketches by Boz“ (1839) beschäftigt, und Ernst Dronke schreibt in den 1840er Jahren über die Berliner Schornsteinfeger-Jungen: „[D]ie Ausgelassenheit dieser kleinen Bengel überschreitet alle Begriffe“. „[D]ie wirklich oft treffenden und derben Witze, mit denen sie ohne Unterschied der Person alle Vorübergehenden überberschütten“, stellen sie auf eine Stufe mit dem schlagenden Witz des Narren mit der Pritsche. (Ernst Dronke: Berlin. 2 Bde. Frankfurt/M.: Literarische Anstalt [J. Rütten], 1846. Bd. 1, S. 16-17. Vgl. auch Martina Lauster: Sketches of the Nineteenth Century. European Journalism and its ,Physiologies‘, 1830-50. Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2007. S. 198-201).
152,7 die Maskeraden hörten auf]
Karnevalstraditionen wie Maskierung, Tarnung oder Verkleidung, die in Frankreich im 16. und 17. Jahrhundert mehrmals zu Unruhen geführt hatten, waren in der Revolutionszeit streng verboten. Eine in Bordeaux erlassene Verfügung vom Januar 1797 lautet: „Arrêté de la Gironde, qui prohibe les Masques et les Travestissements: séance du 21 nivôse an V de la République française, une et indivisible“ (Archives Nationales, F7, 36772). Jede Art Verkleidung wurde also als Verstoß gegen die revolutionäre Vorstellung vom ,citoyen transparent‘ gesehen. Vgl. Lynn Avery Hunt: Politics, Culture and Class in the French Revolution. Berkeley, London: University of California Press, 1986. S. 66-67.
152,19 Rüttli]
Rütli: Bergwiese im schweizerischen Kanton Uri, wo der Sage nach in der Nacht vom 7. zum 8. November 1307 die Schweizer das Freiheitsbündnis schworen. Vgl. Schillers „Wilhelm Tell“, II,2.
152,22-23 wurde z. B. die Freimaurei von der Republik untersagt]
In der republikanischen Phase der Französischen Revolution verwandelten sich viele Logen in Jakobinerklubs. Neben Voltaire waren Mirabeau, Danton, Hébert wie auch der Marquis de Condorcet und Louis Philippe Joseph d’Orléans alle Freimaurer. Dass viele wichtige Freimaurer Adlige waren und auch deshalb guillotiniert wurden, bedeutete allerdings nicht, dass die Freimaurer damals förmlich verboten wurden. Der Jesuit Augustin Barruel (1741-1820) hat in „Mémoires pour servir à l’Histoire du Jacobinisme“ (Londres: P. le Bussorie, 1797) behauptet, die französische Revolution sei ein Komplott der Freimaurer gegen das Christentum. Er setzte die Freimaurer den ,Philosophes‘ und den Jakobinern gleich. Das Werk erschien sehr bald in mehreren übersetzten Fassungen und fand eine enorme europäische Verbreitung.
153,11 Casinos, Börsen, Admiralitäten]
Die Assoziation des Freimaurertums mit rationeller Konstruktion, besonders in der Architektur, wird von Gutzkow in der Charakterisierung seines ,Zweitvaters‘ Karl Friedrich Minter (alias ,Herr Cleanth‘), eines Lithographen und Mitglieds der Loge Royal York (→ Erl. zu 154,3-5), betont. Nach Cleanths Erziehungsmethode sollten Kinder z. B. eine Kirche als Bauwerk verstehen und sich im übrigen auf ihr materielles Fortkommen orientieren: Die Spiele, die er gestattete, waren solche, die entweder das Nachdenken oder den Fleiß anregten. Er gab Bauhölzer und ließ nach bestimmten Vorschriften bauen. Er gab Kirchen, die sehr prächtig durch gläserne Fenster und ein inwendig aufgestelltes Licht erleuchtet werden konnten, aber man mußte sie aus einzelnen Stücken erst selbst behutsam zusammensetzen. Er ließ aus Thon allerliebste Steine brennen, um der Bibernatur der Kinder noch gefälligere Nahrung zu geben. [...] Das grade damals [nach den Befreiungskriegen] erwachende Regen und Ringen für die materiellen Interessen, die Erfindungen, die vielen Bauten der Regierung, die neuen Anlehen, die Hoffnungen eines dauernd befestigten Friedens zeigten ihm überall Gewinne und Vortheile, die man durch Fleiß, Eifer und resolutes Zugreifen sich erobern könnte. (GWB VII, Bd. 1, S. 167-168).
153,22 Henrik Steffens]
→ Erl. zu 104,22-23. Die Sperrung des Vornamens verweist offenbar auf die norwegische Herkunft des 1773 in Stavanger geborenen Philosophen, der nach naturwissenschaftlichen Studien in Kopenhagen 1797 in Jena zum Anhänger von Schellings Naturphilosophie wurde und diese als Professor an deutschen Universitäten, schließlich in Berlin, vertrat. Sein Vorname wurde dabei eingedeutscht zu Henrich.
153,23 Rousseausinsel]
Der preußische Hofgärtner Justus Ehrenreich Sello d. J. hat bei der neuen Anlegung des westlichen Tiergartens in Berlin in den 1790er Jahren die kleine Insel ausgeformt. „Dieses Eiland wurde wenige Jahre später [1797/98] für eine Nachbildung der Ruhestätte Jean Jacques Rousseaus im Park von Ermenonville bei Paris herangezogen. Dort stand ein antiken Vorbildern nachempfundener [...] Sarkophag im Schatten hoher Pappeln auf einer Insel im See südlich des Schlosses. Den Anhängern seiner Ideen war es ein Bedürfnis, überall, wo es möglich erschien, diese ,Weihestätte einer ganzen Epoche‘ nachzubilden. So kam man auf die Idee, auf der Insel [im Tiergarten] eine Urne auf einem hohen Postament zu seinem Gedächtnis aufzustellen.“ Der See entwickelte sich im 19. Jahrhundert zum beliebten winterlichen Eislaufrevier der Berliner. (Folkwin Wendland: Der Große Tiergarten in Berlin. Seine Geschichte und Entwicklung in fünf Jahrhunderten. Berlin: Gebr. Mann, 1993. S. 72-73; Zit. S. 72) Bezeichnenderweise in der Nähe der Rousseauinsel (→ Erl. zu 144,27) erlebte Gutzkow als Student nach eigenen Erinnerungen ein Damascuswunder, bei dem ihm die Bedeutung des Christentums als Stufe auf dem Weg zur völligen Aufklärung der Menschheit über sich selbst aufging: Als ich die Materialien meiner Concurrenzschrift über die Schicksalsgottheiten beisammen hatte und an Sichtung und Gruppirung derselben ging, erlebte ich für mich selbst eine Art Damascuswunder solcher philosophirenden Verzückung. Es war ein schöner Wintertag. Der Thiergarten lag hart gefroren. Durch die kahlen Bäume schimmerte ein malerisches Abendroth. Um zu meditiren, streifte ich durch die Alleen über alle „Rondeels“ hinweg, an allen „Floraplätzen“ und „Rousseauinseln“ vorüber. Ein Lichtglanz umgab mich. (GWB VII, Bd. 3, S. 114).
153,24 die verschlungenen Buchstaben K und R]
Die Buchstaben bilden die Initialen der Vornamen Gutzkows und seiner Berliner Braut, Rosalie Scheidemantel (→ Lexikon).
153,30 die Maurer sind in ihrer Art auch poetisch]
Die ,poetische‘ Seite des Freimaurertums, assoziiert mit den Ritualen des Bundes, flößte Gutzkow als Jungen, der in der Nähe der Loge Royal York wohnte, wonniges Gruseln ein: Er [Minter bzw. Cleanth, → Erl. zu 153,11] war Freimaurer und reizte durch seine große Vorliebe für diesen Bund und die vertrauliche geheimnißvolle Freundschaft mit einem kleinen Kreise von engverbundenen Brüdern die Neugier der Knaben nicht wenig, die vor Royal York immer mit dem Schauer vorübergingen, daß sich hier in dem seltsamen Gebäude [...] Menschen versammelten, deren erstes Lernprobestück darin bestünde, in einen großen, ausgehöhlten, mit Spinnen und Würmern angefüllten Apfel zu beißen. (Aus der Knabenzeit, GWB VII, Bd. 1, S. 161).
154,3-5 so laß’ ich mich in Royal York oder in die große Landesmutterloge zu den drei Weltkugeln einschreiben]
Royal York lag in der Dorotheenstraße 24, ein barockes, von Andreas Schlüter (1664-1714) 1712 gebautes ursprüngliches Landhaus; die große Landesmutterloge zu den drei Weltkugeln war die National-Mutterloge der Freimaurer zu den drei Weltkugeln, seit 1772 unter diesem vollständigen Namen in Berlin etabliert, und hatte ihren Sitz in der Splittgerbergasse 3. In der Splittgerbergasse befand sich auch jenes Lokal, wo die „Societas bibatoria“ tagte, eine geheime burschenschaftliche Vereinigung, der Gutzkow als Student angehörte. 1831 löste sich die Verbindung auf, kurz bevor sie von der Polizei entdeckt werden konnte. Vgl. Rückblicke auf mein Leben (GWB VII, Bd. 2), S. 42-43, und Proelß, S. 245.
154,16 die Cortes]
Plural von span. ,corte‘: Hof, Gerichtshof; das spanische Parlament: → Erl. zu 35,13-14.
154,17-18 Jeremias Bentham]
Jeremy Bentham (1748-1832), englischer Jurist, Ökonom, Philosoph, wurde berühmt wegen seiner Bestrebungen um die Reform des englischen Rechts- und Staatswesens und als Begründer des Utilitarismus. Seine Formel vom ,größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl‘ (in „An Introduction to the Principles of Morals and Legislation“, 1789) machte ihn früh bekannt. Utilitaristischen Prinzipien bis in den Tod treu, hatte Bentham verfügt, dass seine Leiche anatomischen Zwecken dienen und in Anwesenheit von Freunden seziert werden solle. Das Skelett mit aus Wachs gebildetem Kopf wurde in Benthams Kleidung gesteckt und steht heute noch in einem Schaukasten des University College London.
155,7-8 Scheidekünstler]
Chemiker, Analytiker, Synthetiker. Die Naturwissenschaft, insbesonders die Chemie und die Alchemie als deren Vorläufer, beruhen auf der „Kunst, die natürlichen Körper durch Hülfe des Feuers oder anderer Auflösungsmittel von einander zu scheiden, sie in ihre Bestandtheile aufzulösen, und sie mit einander zu verbinden; die Chymie, oder wie andere lieber wollen, die Chemie.“ (Adelung, Bd. 3, S. 1396) Den Gebrauch des Begriffs ,Scheidekünstler‘ in Analogie zu geistiger und künstlerischer Produktion belegt Grimm mit einem Zitat aus Schiller: „wie der scheidekünstler so findet auch der philosoph nur durch auflösung die verbindung, und nur durch die marter der kunst das werk der freywilligen natur.“ (Grimm, Bd. 14, Sp. 2400).
157,26 Ecossaise]
„[U]rsprünglich schott. Tanz in 2/4 Takt u. in 2 Theilen; die Tänzer treten, den Tänzerinnen gegenüber, in einer Colonne an, der Vortanzende führt eine Tour [...] aus u. chassirt dann mit seiner Dame die Colonne hinauf u. herab. Die andern Paare folgen ihm hierin nach.“ (Pierer 1840-46, Bd. 9, S. 214).
158,1 Mazurka]
„Masurka, ein polnischer Nationaltanz im 3/4 Takt, heitern Charakters, dessen Musik einen leichten, scharf accentuirten Vortrag verlangt. Chopin hat dieser anspruchslosen Musikform die höchste Weihe gegeben. Seine Masurken sind Volkspoesien, es sind Scheidegrüße an das ferne Vaterland, dem Schatten der heimathlichen Eichen, der weinenden Geliebten geweiht, – es sind die zartesten, duftigsten Blüthen der Schwärmerei, mit schwarzem Trauerflor umwunden.“ (DCL, Bd. 7, S. 141-142).
158,2-3 Theseus, so holen Sie doch Ihre verlassene Ariadne]
„Ariadne, Tochter des Königs Minos von Kreta und der Pasiphaë, gab, in Liebe entbrannt, dem Theseus, als er den Minotauros zu töten kam, ein gefeites Schwert und einen Faden (daher Ariadnefaden), mittels dessen er sich nach vollbrachter Tat aus den Irrgängen des Labyrinths wieder herausfand, und entfloh mit ihm, der jedoch auf der Insel Naxos die Schlummernde verließ.“ (Meyer, Bd. 1, S. 755).
158,5 Charitinnen]
Richtiger: Chariten; Grazien.
159,7-8 auf die Ateliers derer, die mit Pinsel und Meißel umzugehen wissen]
Anspielung auf Ludwig I. von Bayern; → Erl. zu 14,14-16 und 40,11-12.
159,9 Orchestik]
Griech.: Tanzkunst.
159,32 lydischen Flöte]
Lydien war im Altertum als die Heimat von Erfindern mehrerer Künste bekannt. Die lydische Tonart ist von weichem, elegischem Charakter.
160,4 Ilissus]
Fluss außerhalb der südlichen Befestigungen des antiken Athen. Hier errichteten die Athener, nachdem 480 v. Chr. die persische Flotte durch einen Sturm vernichtet worden war, dem Gott des Nordwindes, Boreas, einen Schrein. Dort fand jährlich das ,Boreasmos‘-Fest statt.
161,8-9 Schlußgebet für das Wohl und die Fülle der königlichen Gesundheit]
→ Erl. zu 66,2-3.
160,29 Leviten]
Die Nachkommen Levis, zum Schutz des Heiligtums und zum Priesterdienst bestimmt, schließlich Tempeldiener. „Seit der Zeit Davids unterscheidet man folgende levitische Bedienstete: 1) Sänger und Musiker, 2) Priestergehilfen, 3) Torwärter, 4) Verwalter der Tempelschätze, 5) Schreiber und Registratoren. In der katholischen Kirche heißen L[eviten] die Kleriker, welche die den Gottesdienst verrichtenden Priester am Altar bedienen müssen.“ (Meyer, Bd. 12, S. 489).
161,13 im Campanerthale]
Diese Ortsangabe ist auf merkwüdige Weise verrätselt. Dem Kontext nach liegt das Tal in Italien und vermutlich, wenn man die von der Reisenden miterlebte Ballett-Aufführung (→ Erl. zu 161,17-18) hinzuzieht, irgendwo bei Neapel. Diese geographische Bestimmung wird durch Seume erhärtet. Nach seinen Angaben im „Spaziergang nach Syrakus“ liegt „zwischen dem Vesuv, dem Gaurus und den Apenninen […] das sogenannte Kampanertal“ (Johann Gottfried Seume: Prosaschriften. Hg. und mit einer Einleitung von Werner Kraft. Köln: Melzer, 1962. S. 326). Allerdings existiert noch ein zweites Kampanertal, das Jean Paul zum Schauplatz einer kurzen Erzählung gewählt hat: Es liegt im französischen Departement Oberpyrenäen, ist durchflossen vom Adour und benannt nach dem Marktflecken Campan (vgl. auch Pierer 1840-46, Bd. 3, S. 502). Jean Pauls Gesprächserzählung „Das Kampanertal oder über die Unsterblichkeit der Seele“ (JPSW, Bd. 4, S. 563-626) berührt ein Problem, das Gutzkow lebenslang, u. a. in mehreren Artikeln in den Unterhaltungen am häuslichen Herd, beschäftigt hat. Jean Paul verteidigt die Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele in Auseinandersetzung mit den neuen Naturwissenschaften und mit der kritischen Philosophie Fichtes mit Argumenten, die in den ,Narrenbriefen‘ auf der Grundlage der inzwischen fortgeschrittenen philosophischen und wissenschaftlichen Entwicklung erneuert werden: Der Ausbruch des allgemeinsten Fichtianismus könne, wie Gutzkows ,Narr‘ vermutet, auch jener Augenblick sein, wo alte gesellschaftliche Ordnung, Christenthum, wissenschaftliche Bildung nur wie ferne Erinnerung an die menschliche Seele klingen wird, wo man Nichts mehr findet, als die Sehnsucht nach einer neuen Erfüllung des ausgeleerten Bewußtseins? (140,25-30).
161,17-18 Eine Reisende]
Die englische Schriftstellerin Elizabeth Craven (1750-1828) war wegen ihrer Reiseberichte, Dramen und Kompositionen bekannt. Ihre Ehe mit William Craven, dem 6. Baron Craven, ging 1780 in die Brüche, wurde aber nicht geschieden. Sie lebte als Geliebte des Markgrafen Karl Alexander von Ansbach und Bayreuth von 1787 bis 1791 an dessen Hof. Die beiden heirateten nach dem Tod ihrer jeweiligen Ehepartner im Jahre 1791 und gingen nach England. Nach dem Tod des Markgrafen 1806 siedelte Elizabeth Craven nach Neapel über und schrieb dort ihre „Memoirs“ (1826), die zwei Jahre später – und noch vor dem Erscheinen der englischen Buchausgabe – ins Deutsche übersetzt wurden: Denkwürdigkeiten der Markgräfin von Anspach. Aus einer englischen Handschrift übersezt. 2 Bde. Stuttgart und Tübingen: Cotta, 1826. Dort wird die Ballettaufführung (→ Erl. zu 161,18-19) in Neapel geschildert.
161,18-19 in Neapel ein Ballet aufführen, das die Geschichte Heinrichs des Vierten vorstellte]
Das Ballett „Heinrich IV.“ datiert von 1779 und stammt von Peter (von) Winter (1754-1825). Cravens Beschreibung der neapolitanischen Aufführung wird vom ,Narren‘ verändert: Zu einem ,pas de deux‘ zwischen dem König und seinem Minister Sülly (161,21) kommt es im Bericht Elizabeth Cravens nicht, da der Ballettmeister den Minister als Figur gar nicht vorgesehen hat. Bei Craven heißt es: „Ich erwartete mit Begierde den Auftritt des Herzogs von Sülly, seines Ministers; und freute mich im Voraus, diesen ernsten und strengen Charakter in einem pas de deux mit Heinrich IV. bewundern zu können; ich freute mich um so mehr darauf, als ich wußte, daß er während seines Lebens in seiner Verwaltung nie einen faux pas gemacht hatte. Aber ich wurde getäuscht: der Balletmeister hatte diese Rolle vergessen, und so ging der Finanzminister frei aus, ohne genöthigt zu seyn, an der königlichen Pantomime Theil zu nehmen.“ (Markgräfin von Anspach [Elizabeth Craven], Denkwürdigkeiten, Bd. 1, S. 226-227).
161,21 Sülly]
Maximilien de Béthune, duc de Sully (1560-1641), war Finanzminister und intimer Berater von Heinrich IV. und half z. B., dessen Vermählung mit Marie de Médicis in die Wege zu leiten.
161,25-27 „Bei Gott [...] ein so großer Tänzer war!“]
Dieser Ausruf des jungen neapolitanischen Zuschauers wird in Cravens „Denkwürdigkeiten“ in italienischer Sprache wiedergegeben (Bd. 1, S. 227); der ,Narr‘ zitiert die dort in einer Anmerkung gelieferte deutsche Übersetzung wörtlich mit Ausnahme des Ausdrucks großer Tänzer, der im Original „guter Tänzer“ lautet.
161,28 Ein italienischer Balletmeister]
Möglicherweise Gasparo Angiolini (1731-1803), der die italienische Variante des in Frankreich entwickelten dramatischen Aktionsballetts (,ballet d'action‛) repräsentierte und mehrere poetologische Schriften zum Ballett-Tanz verfasste (vgl. Olivia Sabee: Ballet d'action to Ballet-Pantomime: Dance, Text, and Narrative in French Ballet, 1734-1841. Diss. Baltimore, 2015. S. 67-138; https://jscholarship.library.jhu.edu/bitstream/handle/1774.2/60523/SABEE-DISSERTATION-2015.pdf?sequence=1&isAllowed=n. Zugang 12. Februar 2021). Der französische Choreograph und Tänzer Charles Le Piq (1745-1806), der von 1769 bis 1782 in Italien wirkte, fand in Neapel Bedingungen vor, die eine Gleichwertigkeit des Tanzes mit der Oper als dramatischen Ausdrucksformen voraussetzten: „it was axiomatic in many people’s minds that it should be possible to integrate drama and dance as successfully as Metastasio integrated drama and music. Whatever opera can do, the ballet d’action can do, too.“ Im ,ballet d’action‛, das oft auf Stoffen der antiken Historiographie beruht, geht es um die Charakterzeichnung durch „psychological plausibility“ (Edward Nye: Mime, Music and Drama on the Eighteenth-Century Stage. The Ballet d’Action. Cambridge: University Press, 2011. S. 124).
162,2 Entrechat]
It. ,intrecciato salto‘, ,verflochtener Sprung‘: ein Tanzsprung in die Höhe, bei dem die Füße schnell mehrmals über- und aneinander geschlagen werden.
162,2 Säule des Pompejus]
→ Erl. zu 53,4-5.
162,3 Du weißt, Freundin]
Hier geht der Brief der ,Närrin‛ in den ,Narren‛-Diskurs über, um im Schluss-Bild des gemeinsamen Tanzes in freier Natur zu kulminieren; → .
162,31 Philadelphia]
Griech.: Geschwisterliebe, vgl. als seien wir Alle Brüder, 162,28; Name einer antiken Stadt in Syrien von frühchristlicher Bedeutung. Zum Spiel mit dem Wortsinn und den klassischen bzw. modernen Konnotationen des Ortsnamens → Erl. zu 196,4.
163,10 Taglioni]
Marie Taglioni (1804-1884), schwedisch-italienische Ballett-Tänzerin, Schwester des bekannten Ballettmeisters Paul Taglioni, war seit 1822 eine gefeierte Primaballerina auf europäischen Bühnen. Ihr klassisch-einfacher Stil, im Gegensatz zu ihrer Konkurrentin Fanny Elssler betont unerotisch, und ihre geradezu ätherische Erscheinung gaben ihr den Namen ihrer berühmtesten Rolle: „La Sylphide“ (1832). Der Auftritt ,der Taglioni‘ in Berlin hatte dort 1832 erhebliches Aufsehen gemacht: Gutzkow schreibt über ihre Anhänger und die ihrer Gegenspielerinnen Fanny und Therese Elssler ausführlich in einer Korrespondenz aus Berlin für das „Morgenblatt“ (Die Marianer und die Fannysten [1832], RABS, S. 49-51). Gutzkows späteres Lob der Tänzerin des Balletts „Satanella“ (Eine Woche in Berlin [1854], eGWB VI, Bd. 3, pdf 1.0, S. 15-17) bezieht sich auf Marie Taglioni die Jüngere (1833-1891), Tochter des Ballettmeisters Paul Taglioni.
163,13-14 der Coupé, [...] der Vestris]
Eine Mlle. Coupé oder Couppé, Schauspielerin und Sängerin, wird in François Joseph Fétis: Biographie universelle des musiciens, Paris 1881-89 (8 Bde, Supplément et complément, 2 Bde) erwähnt; die dort angegebenen Lebensdaten sind 1736-1756. Mit der Vestris ist entweder die Tänzer-Dynastie Vestris oder die Tänzerin Anna Friedrike Heinel-Vestris (1753-1808) gemeint. Gaëtano Apollino Baldassare Vestris (1728-1808) debütierte 1748 an der Opéra und wurde 1751 premier danseur. Mit Marie Allard (→ Erl. zu 163,15-16) hatte er einen Sohn, Marie Jean Augustin Vestris-Allard oder Vestr’Allard (1760-1842), der 1776 Solist und 1778 auf fünfunddreißig Jahre ,premier danseur‘ wurde. Als dieser und sein Vater 1781 in London gastierten, wurden die Sitzungen des Parlaments unterbrochen, damit die Unterhausabgeordneten alle Vorstellungen besuchen konnten. Vestris-Allard war auch ein berühmter Tanzlehrer; zu seinen Schülerinnen zählten die Elsslers (→ Erl. zu 163,10). Bei einer Benefizvorstellung 1835 tanzte er zum letzten Mal ein Menuett mit Marie Taglioni. Anna Friedrike Heinel (1753-1808), deutsche Tänzerin, debütierte 1767 in Stuttgart und 1768 in Paris, wo sie „la reine de la danse“ genannt wurde. Als heftige Rivalin von Gaëtano Vestris ging sie 1772 nach London, kehrte aber später nach Paris zurück, versöhnte sich mit Vestris und heiratete ihn 1792, ein Jahr nachdem ihr Sohn Adolphe geboren wurde.
163,15-16 Allart und Guiman]
Marie Allard (1742-1802), Mätresse von Gaëtano und Mutter von Augustin Vestris (→ Erl. zu 163,13-14), war vor allem für ihre Komiker- und Charakterrollen berühmt. Sie debütierte in Marseilles und war 1761-1782 bei der Pariser Opéra. Guiman: Hier könnte (Marie-)Madeleine Guimard (1743-1816) gemeint sein. Wegen ihrer auffallenden Dünnheit wurde sie „le squelette des Grâces“ genannt; Fragonards Porträt von ihr hängt im Louvre. Sie war „die berühmteste Tänzerin Frankreichs, die vielleicht nur der Taglioni [...] an die Seite gesetzt werden darf [...]. [...] Sie wurde die erklärte Geliebte des Prinzen Soubise, der ihr einen prächtigen Palast baute, welcher viele Jahre hindurch der Schauplatz der ausgesuchtesten und verworfensten Vergnügungen war, und wo von ihr und ihren Tänzerinnen unerhörte Summen verschwendet wurden. Der Uebermuth und die Frechheit der Guimard gingen so weit, daß sie eine Pension von 1500 Franks, die ihr der König aussetzte, da sie ein Mal bei der Dubarry getanzt hatte, als Gehalt ihrem Lichtputzer anwies. Eine zweite Aspasia [die Mätresse des Perikles], trieb sie die Feste des Vergnügens und der Wollust zu einem Grade der Verfeinerung, der allen Glauben übersteigt, und der nur dadurch möglich wurde, daß ihr Haus in der Chaussée d’Antin der Sammelplatz der höchsten Gesellschaften des Hofes, ja selbst der Prinzen des königlichen Hauses war.“ (DCL, Bd. 5, S. 75-76).
165,2 Karthaunen]
Schweres Geschütz, Kriegskanonen
165,7 Palmen und grüne Zweige]
Die hier imaginierte Szene (165,2-29) überträgt den Bibeltext (Joh 12,11-13) in säkulare Wirklichkeit, ohne jedoch die Ankunft eines Messias anzudeuten: „Des andern Tages, da viel Volk, das aufs Fest gekommen war, hörte, daß Jesu käme nach Jerusalem, nahmen sie Palmenzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrieen: ,Hosianna! / Gelobt sei, der da kommt in dem / Namen des Herrn, // der König von Israel!‘“
165,11 Zwing-Uris]
In Schillers „Wilhelm Tell“ (I,3, 371-372) wird die auf Gesslers Befehl zu errichtende Burg, die der weiteren Unterdrückung des Volkes dienen soll, vom Fronvogt so genannt: „Zwing Uri [...] / Denn unter dieses Joch wird man euch beugen.“
165,15-16 Nocturnus]
Frz. nocturne, ital. notturno: Nachtmusik, Ständchen. Nocturnus ist auch der Gott der Nacht.
165,21 Rostra]
Lat.: Vogelschnäbel; „insbes., der am Vorderteile der Kriegsschiffe der Alten angebrachte, mit Erz beschlagene Schnabel zur Abwehr u. zum Durchbohren feindlicher Schiffe [...]; die (mit den Schiffsschnäbeln der von Antiaten im J. 338 v. Chr. erbeuteten Schiffe gezierte) Rednerbühne und der sie umgebende Raum auf dem Forum.“ (Georges Lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. 2, S. 2411).
165,31 Archonten]
Im alten Athen waren Archonten nach der Abschaffung des Königtums die obersten Staatsbeamten. Seit 683 v. Chr. wurden neun auf ein Jahr gewählt; derjenige an der Spitze wurde als ,Archon Eponymos‘ bezeichnet, weil nach ihm das Jahr benannt wurde.
165,32-166,1 Consuln ohne Lictoren, die ihnen vorangingen]
Sowohl in der römischen Republik wie auch in der Kaiserzeit waren Konsuln die obersten Beamten, denen die Liktoren Bündel von Ruten oder Stäben (die ,Fasces‘) vorantrugen. Aus deren Mitte ragte als Zeichen der Gewalt über Leben und Tod ein Beil hervor. Der ,Narr‘ deutet hier, wie auch in 165,31-32, seine Berufung zum subversiven, demagogischen, d. h. ,volksführenden‘, Sprecher an (vgl. 167,16), der keiner äußeren Zeichen seines Amtes bedarf, ja dem solche Zeichen sogar hinderlich wären. Dieselbe Anspielung findet sich in Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“, Caput VI, 65-72. Hier wird die harmlose Erscheinung des lyrischen Sprechens mit ihrer gewaltsamen revolutionären Folgewirkung kontrastiert, und zwar in Form des träumenden Dichters, der von seinem handelnden und richtenden alter ego angeredet wird: „Dem Consul trug man ein Beil voran, / Zu Rom, in alten Tagen. / Auch du hast deinen Liktor, doch wird / Das Beil dir nachgetragen. // Ich bin dein Liktor, und ich geh’ / Beständig mit dem blanken / Richtbeile hinter dir – ich bin / Die That von deinem Gedanken.“ (DHA, Bd. 4, S. 105).
166,12 Pölitz]
Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772-1838), Publizist und Professor der Geschichte und ab 1820 der Staatswissenschaften in Leipzig, verfasste eine „Weltgeschichte für gebildete Leser und Studierende“ (1814; 6. Aufl. 1830), auf die hier wahrscheinlich Bezug genommen wird.
166,17 Perikles ein Mann des Volkes]
Perikles (493-429 v. Chr.) war von 444 bis 429 der wichtigste Staatsmann Athens und während des Peloponnesischen Krieges gegen Sparta, der ihm viele Feinde in der Stadt einbrachte, für die Führung verantwortlich. Seiner Beredsamkeit wegen berühmt, wurde er auch für den Ausbau des Piräus und der langen Mauern bekannt. Zudem schmückte er die Stadt, besonders die Akropolis, mit Prachtbauten. Mit seinem Namen ist besonders der klassische Begriff des ,Demagogen‘ verbunden, um den es in diesem Textzusammenhang geht: „Demagog (griech., ,Führer des Demos, Volksführer‘), im alten Griechenland derjenige, der durch persönliches Ansehen und Kraft der Rede das Volk beherrschte und daher dessen Berater und Leiter war. Jetzt hat das Wort D[emagog] meist eine üble Bedeutung, die ursprünglich nicht darin lag. [...] Beispiele sehr verschiedenartiger Demagogie bietet besonders die Geschichte Athens. So war Perikles mit seinen demokratischen Bestrebungen ein D[emagog].“ (Meyer, Bd. 4, S. 623).
166,31-32 weil ich gern bei Philippi gegen ihn gefochten hätte]
In der Schlacht von Philippi siegten 42 v. Chr. die Anhänger des ermordeten Cäsar, die Triumvirn, über dessen republikanische Mörder und ihr Heer. Der ,Narr‘ deutet also an, dass er in dieser Schlacht auf der Seite der Republikaner gestanden, mithin indirekt gegen Cäsar gefochten hätte.
167,5-6 von Augustus bis Franzerl]
Die witzige Unterschlagung der Tatsache, dass es sich bei Franz (Josef Karl) II. nicht um einen römischen, sondern um den letzten römisch-deutschen Kaiser handelt (ab 1804 als Franz I. nurmehr Kaiser von Österreich), wird durch den Diminutiv noch komisch erhöht.
167,7 tiers état]
Frz.: der dritte Stand. Historisch das Bürgertum, als Vertreter des ,Volkes‘, in den Generalständen der Französischen Revolution; hier das allgemeine Volk.
167,13-14 Friedrich der Große wird [...] in Spanien vom Volke auf die Bühne gebracht]
In der Periode der Französischen Revolution verfasste einer der führenden populären Dramatiker Spaniens, Luciano Francisco Comella, drei Stücke, die sich mit dem Preußenkönig beschäftigten: „Federico II, rey de Prusia“ (1788), „Federico II en el Campo de Torgau“ (uraufgeführt in Madrid am 25. Dezember 1789) und „Federico II en Glatz, o la humanidad“ (1792). Bei Theaterbesuchern sehr beliebt (das letzte Stück erschien in fünf aufeinander folgenden Editionen), stießen diese Dramen wegen ihrer Regellosigkeit und ihres äußerst freien Umgangs mit der Geschichte jedoch auf Kritik. Reformer wollten sie von der Bühne verbannt wissen. (Vgl. Francisco Aguilar Piñal: Bibliografia de autores españoles del siglo XVIII. Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Científícas, 1983. Bd. 2, S. 460-513; sowie Emilio Palacios Fernández: El teatro popular español del siglo XVIII. Lleida: Milenio, 1998. S. 308-323).
167,16 Doctrinär]
„Doktrinär (v. lat. doctrina, ,Wissenschaft‘), eigentlich einer, der seine Ansichten auf wissenschaftliche Prinzipien gründet, besonders aber jemand, der von der Wirklichkeit absieht und in unpraktischer Einseitigkeit die Konsequenzen der Theorie geltend zu machen sucht. Vorzüglich war der Ausdruck Doktrinäre in Frankreich während der Restauration die Bezeichnung einer Fraktion der parlamentarischen Opposition, die der Politik der Willkür gegenüber eine wissenschaftliche Staatslehre geltend machen wollte. Diese Fraktion war aus den Salons des Herzogs von Broglie hervorgegangen und ward in der Kammer vornehmlich durch Royer-Collard, in der Presse durch Guizot vertreten.“ (Meyer, Bd. 5, S. 86) Der vom ,Narren‘ mit Bezug auf Friedrich d. Gr. verwendete Begriff trägt also, ebenso wie die Erwähnung der demagogischen Gesinnungen des Preußenkönigs, eine deutliche zeitgenössische Ausrichtung.
167,16-17 demagogischen Gesinnungen]
→ Erl. zu 165,32-166,1 und 166,17.
167,27 man wolle sie in ihrer Nationalität verletzen]
Der italienische Minister von Carlos. III, der Marqués de Grimaldi, stellte 1765 eine Gesellschaft von italienischen Handwerkern auf neun Jahre zur Müllabfuhr an, um der notorischen Unreinheit der Madrider Straßen zu begegnen. Da die Karren auch Wasserbehälter führten, funktionierte der Dienst zugleich als primitive Feuerwehr (vgl. Conde de Fernán-Núñez: Vida de Carlos III. Hg. von A. Moriel-Fatio und A. Paz y Melia. Neuedierte Faksimileausgabe. Madrid: Fundación Universitaria Española, 1988. Teil 2, S. 63-64). Die Geschicklichkeit von Carlos III. als Drechsler, die der ,Narr‛ erwähnt (167,23), wird von Fernán-Núñez auch beschrieben (Teil 2, S. 52).
167,30 er sagte]
Was im folgenden (167,30-33) zitiert wird, stammt aus Friedrichs d. Gr. Erwähnung der Hinrichtung von Georg Heinrich, Freiherrn von Görtz (1669-1719), Premierminister von Karl XII. von Schweden. Görtz, den Friedrich d. Gr. als Helden bezeichnet, sei nach dem Tod des Königs (1718) ein Opfer des Volkshasses gewesen. In „Gesammelte Werke Friedrichs des Großen in Prosa“, hg. u. übersetzt von I. M. Most, Berlin: Lewent, 1837, S. 49, wird die zitierte Passage leicht anders wiedergegeben: „Allein das Volk ist ein aus Widersprüchen zusammengesetztes Ungeheuer, welches wild von einem Aeußersten zum andern übergeht, und in seiner Laune Laster oder Tugend ohne Unterschied beschützt oder unterdrückt.“
168,7 Nettelbeck in Colberg]
Joachim Nettelbeck (1738-1824), Schiffskapitän, dann Branntweinbrenner und Bürgerrepräsentant in Kolberg, galt als „Muster eines Patrioten von echtem Biedersinn und Bürgertugend“ vor allem durch sein Handeln während der Befreiungskriege: „[A]llgemeine Aufmerksamkeit erregte er seit 1807, wo Kolberg durch die Franzosen belagert wurde. Seine damaligen Anstrengungen in einem Alter von beinahe 70 Jahren, sein Muth, seine Erfahrung, seine Rathschläge und seine Aufopferungen an Leib, Gut und Vermögen geben ein herrliches Zeugniß dafür, was ein Privatmann zum allgemeinen Wohle zu leisten vermöge. Einverstanden mit der Bürgerschaft, hielt er, in Verbindung mit seinem Freunde Schill, vom Anfange der Belagerung an durch Vorstellungen, Warnungen und selbst Drohungen, der Geistesschwäche, Unentschlossenheit und dem vorurtheilsvollen Dünkel des Festungscommandanten, Obersten von Locadou, ein wirksames Gegengewicht [...]. N.’s schriftlichem Anhalten beim Könige [Friedrich Wilhelm III. von Preußen] verdankt Kolberg die Zusendung eines neuen Befehlshabers, des Obersten Gneisenau, dem N. sofort als Bürgeradjutant zur Seite trat. [...] Das schwed. Kriegsschiff, welches die Belagerer in der Flanke und im Rücken zu beschießen bestimmt war, führte er als Pilot [...] in die vortheilhafteste Stellung. [...] Mehr als ein Mal kaufte er allen Brot- und Fleischvorrath in der Stadt auf, um die Krieger zu sättigen; er begleitete sie auf die gefährlichsten Posten und stimmte patriotische Lieder an, um ihren Muth zu beleben. [...] So beharrliche Anstrengungen verdienten es, mit dem glücklichsten Erfolge gekrönt zu werden. In dem Augenblicke, wo am 2. Jul. die Belagerer [...] einen allgemeinen Angriff unternahmen, wo der überall auflodernden Flamme kein Einhalt mehr zu thun war und die physischen Kräfte der Vertheidiger erschöpft schienen, traf die officielle Nachricht von dem zu Tilsit abgeschlossenen Waffenstillstande ein. N.’s Name gehört zu den gefeiertsten seiner Tage. Der König von Preußen ertheilte ihm eine goldene Verdienstmedaille, gab ihm die Erlaubniß, die preuß. Admiralitätsuniform zu tragen, und bewilligte ihm 1817 [...] eine lebenslängliche Pension von 200 Thalern. Bis an seinen Tod durch seinen lebenskräftigen Geist, seinen hellen Blick und seinen Gemeinsinn ein ehrwürdiges Denkmal Dessen, was deutscher Geist und Gesinnung in schlichter, aber markiger Gestaltung vermögen, starb er zu Kolberg am 19. Jan. 1824. Vgl. N.’s ,Selbstbiographie‘ (3 Bde., Lpz. 1824) und die Schrift: ,Der alte Preuße‘ (Hamm 1824), welche zum Theil der Abdruck seiner Originalbiographie ist.“ (Brockhaus 1833-37, Bd. 7 [1835], S. 766-767) Die Aussage des ,Narren‘, die undankbaren Patrioten hätten Nettelbeck bald wieder vergessen, scheint dadurch bestätigt zu werden, dass erst 1903 in Kolberg ein Gneisenau-Nettelbeck-Denkmal errichtet wurde (vgl. Meyer, Bd. 14, S. 536).
168,8 Lafayette]
168,19-20 Helden vom weißen Pferde]
Lafayette war dafür bekannt, dass er gewöhnlich auf einem weißen Pferd ritt, was ihm bei der Schlacht von Monmouth (28. Juni 1778) während des amerikanischen Freiheitskrieges das Leben rettete. Der englische General, Sir Henry Clinton, hatte seinen Truppen in ritterlicher Manier befohlen, auf Lafayette, der bei dieser Schlacht, sichtbar wie immer auf einem Schimmel, nicht zu zielen.
169,2-3 nicht rauchen dürfe, wo er wolle]
Das für den öffentlichen Raum geltende Rauchverbot war Anlass zu – im Extremfall revolutionärem – Unmut (→ ). Dieser ganze Passus, 168,32-169,5, nimmt die Überlegungen zur Macht der kleinen Umstände (180,32) vorweg.
169,19-20 Versammlungen zusammengetreten sind]
→ Erl. zu 114,11.
169,25 gute Zubereitung der Speisen]
Was Manfred Meyer für Baden konstatiert, gilt sicher insgesamt für den ,liberalen‘ Südwesten des Deutschen Bundes vor und im Anschluss an das Hambacher Fest, als öffentliche Reden scharfen Restriktionen unterlagen: „Da die badische Regierung ,Reden an das Volk‘ verboten hatte, wich man auf ,Trinksprüche‘ aus. Die politischen Kundgebungen dieser Jahre waren ja wirklich Volksfeste, auf denen viel gegessen und getrunken wurde, oft schlossen sich auch Bälle an.“ (Manfred Meyer: Freiheit und Macht. Studien zum Nationalismus süddeutscher, insbesondere badischer Liberaler 1830-1848. Frankfurt/M., Berlin, New York: Lang, 1994. S. 148).
169,26-27 klagen die Gemäßigten über die ungewöhnlich kühne Sprache]
Was hier vom ,Narren‘ festgestellt wird, wurde später durch die Reaktionen auf das Hambacher Fest bestätigt. Die radikalen Tendenzen der dort gehaltenen Reden wurden z. B. von den Herausgebern des badischen „Freisinnigen“ abgelehnt: „Die Redaktion distanzierte sich von dem ,Mißfälligen‘ des Festes, insbesondere von den radikalen Tönen, die nur als Vorwand für neue Unterdrückung dienten. Dagegen betonte sie die Gesetzlichkeit der meisten Deutschen.“ (Meyer, Freiheit und Macht, S. 147) Gutzkow, der selbst zu dem nur wenige Monate bestehenden „Freisinnigen“ Rottecks, Welckers und Duttlingers beitrug (→ Erl. zu 117,6-7), präsentiert hier also durch den ,Narren‘ wiederum eine Kritik der Mäßigung (169,31) und Gesetzmäßigkeit (170,1-2).
170,10 Phantome von Oppositionen]
Hier macht sich der ,Narr‘ über den Kammerliberalismus in den süddeutschen Kleinstaaten lustig. Die einzige nennenswerte konstitutionelle ,Opposition‘ im Deutschen Bund existierte in Baden und in Württemberg auf der Grundlage von Verfassungen, die nach 1815 eingeführt worden waren. Doch in der Sicht des ,Narren‘ wirkt das Machtgefühl solcher Parlamente, die sich aufführen, als gält’ es dem Englischen Ministerium (170,11-12), im Vergleich zu Westeuropa tragikomisch, nicht nur wegen des Kleinformats der deutschen Staaten (→ Erl. zu 170,11), sondern auch wegen des zahmen, fürstentreuen Charakters der meisten deutschen Liberalen, der Patrioten der gesetzmäßigen Freiheit (170,5). Darüber können die wahren Freunde des Vaterlandes nur ein Klagelied anstimmen (170,13). Auf satirische Weise wird hier dieselbe Liberalismuskritik geäußert, wie Gutzkow sie unverblümt in seiner Divination auf den nächsten württembergischen Landtag (1832; RAB, S. 87-97) formuliert.
170,11 Duodezstaaten]
Duodez (lat. duodecim: zwölf) bezeichnet ein kleines „Buchformat, bei dem der Bogen 12 Blätter zählt. Als Bestimmungswort oft verächtliche Bezeichnung des Kleinen, z. B. Duodezstaat“ (Meyer, Bd. 5, S. 287). Die im 19. Jahrhundert gebräuchliche figurative Übertragung eines buchhändlerischen Begriffs lässt somit Rückschlüsse auf die zentrale kulturgeschichtliche Bedeutung verbilligter Druckerzeugnisse zu.
170,26 läßt sich das Schönste vom Bundestag erwarten]
Als Gegenreaktion zu den Versammlungen, die dann in der Massenkundgebung des Hambacher Festes gipfelten, war bundesweit eine verstärkte Repression liberaler Bewegungen zu erwarten. Diese trat mit den zehn Artikeln des Bundestags zur „Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe im Deutschen Bunde“ (Droß, S. 184-186; Wülfing, Jg. Dtld., S. 117) im Juli 1832 auch ein. Durch diese wurde die Presse- und Vereinsfreiheit stark beschnitten und die ,Demagogenverfolgung‘ weiter verschärft. In Baden wurde das am 1. März 1832 in Kraft getretene liberale Pressegesetz (→ Erl. zu 117,3-4) wieder aufgehoben (Droß, S. 186-187), eine Maßnahme, der auch der „Freisinnige“ (→ Erl. zu 117,6-7) zum Opfer fiel. Der ,Narr‘ spricht hier noch vor dem Hambacher Fest die Hoffnung auf eine scharfe Reaktion des Bundestages aus, da sie die Gemäßigten von ihrem versöhnlichen Kurs abbringen und mit den Stürmischen (170,22) zu einer einzigen, entschieden republikanischen Opposition vereinigen könnte.
170,29-31 ist es Niemanden so unter die Hand gegeben [...] Hoffen wir also auf Frankfurt!]
Die anspielungsreichen ,Zensurstriche‘ haben dieselbe Funktion wie in 37,9-10 (vgl. → Erl. zu 37,9-10). Die zensurbesessenen ,Dummköpfe‘ im Bundestag könnten sich, der ,närrischen‘ Logik dieser Stelle zufolge, jedoch als Instrumente der reaktionären ,Weisheit‘ herausstellen. Erzkonservative nämlich zählten insgeheim auf einen offenen Republikanismus der liberalen Bewegungen, um desto strengere Unterdrückungsmaßnahmen durchsetzen zu können; eine Aufwiegelungstaktik, auf die ja auch der ,Narr‘ von der gegnerischen Seite aus hofft. Fürst Wittgenstein z. B. schrieb am 20. Juni 1832 an Metternich: „Das Hambacher Fest und die damit in Verbindung stehenden Erscheinungen, befremden mich gar nicht, mir sind die Sachen noch nicht toll genug, und ich hätte gewünscht, daß von p. Wirth u. Consorten die Absetzung des Königs von Bayern förmlich decretirt, ein Protocol darüber aufgenommen und von allen Anwesenden unterzeichnet worden wäre.“ (Droß, S. 182).
170,34 haranguiren]
Von franz. ,haranguer‘ (feierlich anreden); „eine Rede halten, feierlich anreden; das große Wort führen; über eine Kleinigkeit viel Worte machen“ (Heyse 1848, S. 358). In Heyses Fremdwörterbuch von 1838 noch nicht verzeichnet.
171,3-4 aufgeschlagene Seite des Moniteur von 1793]
Der Pariser „Moniteur Universel“, zuerst „Gazette nationale ou le Moniteur universel“, 1789-1865, wurde von Charles-Joseph Panckouck, dem Verleger der Encyclopédie, gegründet. Ab dem 24. November 1789 erschien die Zeitung täglich. – Die Ansprache an das Volk, die der ,Narr‘ auf Drängen der ,Närrin‘ vom Balcone aus (171,5) halten wird, bleibt selbstverständlich ungedruckt. Ihren Inhalt soll sich der Leser mit Hilfe einer Andeutung vorstellen: Im Falle eines Steckenbleibens würde dem Redner eine bestimmte aufgeschlagene Seite des Moniteur von 1793 weiterhelfen. Der nicht genannte Tagesbericht des Jahres 1793 muss sich auf den 21. Januar beziehen, an dem Ludwig XVI. guillotiniert wurde. Als offener Befürworter des Königsmords würde der ,Narr‘ sich seinerseits dem preußischen Henker ausliefern (171,2). Jedoch war diese Art des verdeckten Schreibens deutlich genug, um die Briefe eines Narren in Preußen gleich nach Erscheinen mit Publikationsverbot zu belegen (→ Andere Dokumente zur Rezeptionsgeschichte sowie Globalkommentar).
172,23-24 westphälisch]
Dass der ,Närrin‘ diese Mundart assoziiert wird, könnte mit dem besonderen Status Westfalens in nationalen Befreiungsmythen des 19. Jahrhunderts zusammenhängen. In Heines „Wintermärchen“ z. B. nimmt der Mythos von Kaiser Friedrich Barbarossa als dem Befreier der Deutschen eine zentrale Stellung ein, und die Episode wird eingeleitet durch Erinnerungen des ,Ich‘ an Volkslieder und -märchen, die ihm eine westfälische Amme einst vorsang und erzählte. Die Evokation jener Volksdichtungen verbindet sich im „Wintermärchen“ mit Eindrücken der Reise durch Westfalen und mit dem satirischen Traum von der nationalen Erweckung der Deutschen aus ihrem Winterschlaf unter dem Banner des Kaisers (Caput XIV-XVI, DHA, Bd. 4, S. 119-129). Ähnlich verbindet Gutzkow die evokative ,westphälische Aeolssprache‘ der ,Närrin‘ mit der Vorstellung einer (nationalen) Wiedergeburt aus der Asche. Bezeichnenderweise handelt es sich hier jedoch um eine Anspielung auf die Ausgrabungen in Pompeji (172,25-173,19), also auf eine erhoffte römisch-republikanische Gestalt der deutschen Nation, die der ,Narr‘ aus dem calcinirten Gestein herausmeißeln wird (173,8), und nicht auf die Restitution des mittelalterlichen Kaisertums.
172,28 Herculanums Mauern]
Der Vesuv, von dem man glaubte, er sei erloschen, brach am 24. August des Jahres 79 n. Chr. aus. Pompeji und Herculaneum wurden unter Lava und Asche verschüttet.
173,8 Dich aus dem calcinirten Gestein herausmeißeln]
→ Erl. zu 172,28.
173,16-17 die Wißbegierde der Dilettanten in diesen Felsengesteinen gebrochen hat]
„Obgleich Nachgrabungen schon in antiker Zeit stattgefunden hatten, blieb P[ompeji] doch bis 1748 gänzlich verschollen.“ Die Ausgrabungen begannen „planmäßig erst unter Murat 1808-15“ (Meyer, Bd. 16, S. 139). Goethe vermerkt in der „Italienischen Reise“ unter dem 18. März 1787 über „Herkulanum“: „Jammerschade, daß die Ausgrabung nicht durch deutsche Bergleute recht planmäßig geschehen, denn gewiß ist bei einem zufällig räuberischen Nachwühlen manches edle Altertum vergeudet worden.“ (HA, Bd. 11, S. 211-212).
173,28 Bajä]
Das heutige Baia, 16 km östlich von Neapel. Einstiges Seebad der Römer, der Überlieferung zufolge nach Baios, dem Steuermann von Odysseus, benannt. Die Thermalquellen, das milde Klima und die üppige Vegetation veranlassten Cäsar und Nero, sich dort Villen bauen zu lassen.
173,32 Medius fidius!]
Elliptische Form von „me, dius (deus) fidius“: „so helfe mir Gott“. Fidius: Name für Jupiter (griech.: Zeus Pístios).
174,32 Histrionen]
„[B]ei den Römern ursprünglich etruskische Tänzer, die unter Flötenbegleitung mimische Tänze ausführten; später ging der Name auf die dramatischen Schauspieler über.“ (Meyer, Bd. 9, S. 385).
175,4-5 Elektren in der Urne die Asche des Bruders tragen]
In Sophokles’ Drama „Elektra“ täuscht Orest den eigenen Tod vor, damit er Zugang zum Hofe seiner Mutter Klytämnestra und ihres Liebhabers Aegisthus findet. Als Fremder verkleidet, übergibt er der Schwester Elektra eine Urne, die angeblich seine Asche enthält, und als er ihre Trauer bemerkt, gibt er sich ihr zu erkennen.
175,5 blinden Greis von Theben]
Der mythische König Ödipus, Hauptfigur zweier Tragödien von Sophokles, der sich in „König Ödipus“ blendet, als sich herausstellt, dass er das Orakel erfüllt, d. h. den eigenen Vater getötet und die eigene Mutter geheiratet hat. Sein Schicksal als Greis und sein Tod sind Gegenstand von „Ödipus auf Kolonos“.
175,8 Danaiden]
Die fünfzig Töchter des Danaus wurden gezwungen, die fünfzig Söhne ihres Onkels Aegyptus zu heiraten. Auf Befehl ihres Vaters brachten sie in der Hochzeitsnacht ihre Männer um, und als Strafe wurde ihnen im Hades aufgetragen, ein bodenloses Fass mit Wasser zu füllen.
175,19 Aorius Diomedes]
Die Villa des Diomedes lag unmittelbar vor dem Westtor von Pompeji, wo auch die sogenannte Villa dei Papyri entdeckt wurde. Deren Besitzer, L. Calpurnius Piso Caesonius, war Cäsars Schwiegervater. Dort wurden 1752 bei der Ausgrabung Plastiken aus Bronze und Marmor und eine große Sammlung von mehr als 1800 angebrannten, aber noch leserlichen Papyren gefunden, die jetzt in der Nationalbibliothek Neapel aufbewahrt werden (vgl. Pompeii AD 79. Katalog der Ausstellung in der Royal Academy of Arts, London, 20. Nov. 1976 - 27. Feb. 1977. Hg. von John Ward-Perkins und Amanda Claridge. Bristol: Imperial Tobacco, 1976. S. 79). Vielleicht erklären sich daraus die hier weiter angegebenen, frei erfundenen Details.
175,31-32 im Manuscript, weil damals die Buchdruckerkunst noch nicht erfunden war]
Dass die Werke von Schiller, Goethe und Alexis in einer pompejanischen Bibliothek der Römerzeit auftauchen, wird vom ,Narren‘ als selbstverständlich dargestellt. Im witzigen Kontrast dazu merkt er aber eigens an, dass sie dort nur im Manuscript vorhanden seien, weil damals die Buchdruckerkunst noch nicht erfunden war. Es handelt sich um einen ironischen Anachronismus, der die Maßstäbe relativiert, nach denen die gegenwärtige Literatur der 1830er Jahre, also die neuesten Erscheinungen inklusive der „Gesammelten Novellen“ von Willibald Alexis (4 Bde., 1830-31), gegenüber der Weimarer Klassik abgewertet wurde. Zugleich erscheint die Weltliteratur als ein ästhetisches Kontinuum, in dem die poetischen Werke über Jahrtausende hinweg miteinander korrespondieren.
175,33 Viridarium]
Lat. Lustgarten.
176,1 dazumal noch ohne Zucker]
Ähnlich wie in 175,28-32 stellt der ,närrische‘ Diskurs einen Anachronismus dar: Die männliche Zusammenkunft zum Rauchen und Kaffeetrinken ist ein Phänomen, das sich erst über die Wiener Kaffeehäuser im Laufe des 17. Jahrhunderts verbreitete. Allein das Detail, dass es zur Römerzeit noch keinen Zucker gab, wird vom ,Narren‘ (historisch nach heutigen Erkenntnissen nicht ganz korrekt) vermerkt. Aus Rohr hergestellter, von Indien und Persien importierter Zucker war in Europa von der römischen Antike bis zum Mittelalter ein sehr teures Luxusgut, blieb auch in der Kolonialzeit seit dem 16. Jahrhundert kostbar und wurde erst im 19. Jahrhundert mit dem Anbau von Zuckerrüben zur Massenware. Zum Tabakrauchen → Erl. zu 53,31-32.
176,5-6 königlich oder vielmehr prinzmitregentlich sächsische Sprichwort: Vertrauen erweckt wieder Vertrauen]
Auf ironische Weise wird hier die Stichhaltigkeit eines königlichen Diktums in Frage gestellt. „Im Jahre 217 v. Chr. sprach P. Scipio (nach Livius XXII, 22, 14) vor Sagunt zum Präfekten Bostar: ,habita fides ipsam plerumque obligat fidem‘, d. h. ,die, denen man Vertrauen zeigt, fühlen sich dadurch auch zum Vertrauen verpflichtet‘). Dieses Wort wurde in der Form Vertrauen erweckt Vertrauen [...] zu einem ,geflügelten‘. [...] Pastor Schmaltz sagte am 12. Sept. 1830 in der Kirche zu Neustadt-Dresden: ,Vertrauen erweckt Vertrauen‘; König Friedrich August II. v. Sachsen liess sich, als Prinzregent, das Manuskript der Schmaltzischen Predigt geben und sprach (laut der ,Dankadresse an S. Kgl. H. d. Prinz. Fried. Aug., Mitreg. d. Königr. Sachs.‘ Dresd. 22. Sept. 1830) zu den Anführern der Dresdener Kommunalgarde: ,Vertrauen erregt wieder Vertrauen, darum vertrauen Sie auch mir‘; die Überbringer der Adresse sagten darauf: ,Lassen Sie künftig das Wort ›Vertrauen erweckt wieder Vertrauen‹ als das Panier des sächsischen Volkes gelten.‘“ (Büchmann 1898, S. 455).
176,13-14 Eingang in Pompeji durch die Gräberstraße]
Wie zur Zeit von Goethes Besuch bildete auch 1832 das Westtor mit den nah gelegenen Gräbern den einzigen Eingang nach Pompeji. „Das Stadttor merkwürdig, mit Gräbern gleich daran. Das Grab einer Priesterin [= Mamia] als Bank im Halbzirkel mit steinerner Lehne, daran die Inschrift mit großen Buchstaben eingegraben.“ (Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise, 13. März 1787, HA, Bd. 11, S. 204).
176,23 Rufus]
Aus mehreren pompejanischen Inschriften ist ein Marcus Holconius Rufus (der Rothaarige) bekannt, einer der beiden gewählten ,duoviri‘ oder Magistrate (vgl. Pompeii AD 79. Katalog der Ausstellung in der Royal Academy of Arts, London, 20. Nov. 1976 - 27. Feb. 1977. Hg. von John Ward-Perkins und Amanda Claridge. Bristol: Imperial Tobacco Limited, 1976. S. 38-39. Zu Rufus vgl. auch Mary Beard: Pompeii. The Life of a Roman Town. London: Profile Books, 2010. S. 206-210). Die Statue des Rufus befindet sich im Museum von Neapel. Das Amt des Bademeisters Rufus scheint erfunden zu sein.
176,23 Gott in Pästum]
Vermutlich Poseidon bzw. römisch Neptun, der Gott des Meeres. Die griechische Kolonie Poseidonia, römisch Paestum, am Golf von Salerno, 524 v. Chr. von den Sybariten gegründet, ist wegen ihrer Tempel, darunter der sogenannte Poseidon-Tempel, bekannt. Aufgrund von Verschlammung, Malariaausbrüchen und Plünderung durch Sarazenen 871 n. Chr. verlassen, wurde Paestum erst Mitte des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt.
176,28 Graf Platen]
Auf die homoerotischen Neigungen in Leben und Werk von August Graf von Platen-Hallermünde (1796-1835) hatten besonders Heines Angriffe die Aufmerksamkeit gelenkt. In seinem Stück „Der romantische Oedipus“ (1829) hatte Platen Karl Immermann und Heine verspottet. Letzterer rächte sich mit der 1829 verfassten und Immermann gewidmeten Reisebeschreibung „Die Bäder von Lucca“, integriert in den dritten Teil der „Reisebilder“. In deren letztem Kapitel erreichen Heines Angriffe auf Platen ihren Höhepunkt. Um seine polemische Absicht zu bekunden, hatte Heine dem Werk ein Teilzitat aus Platens Ghasel VII der „Ghaselen. 2. Sammlung“ (1821) vorangestellt: „Ich bin wie Weib dem Manne – –“. Darauf folgt ein Zitat aus dem 1. Akt von Mozarts „Figaro“: „Will der Herr Graf ein Tänzchen wagen, / So mag ers sagen, / Ich spiel ihm auf“. Vgl. hierzu Paul Derks: Die Schande der heiligen Päderastie. Homosexualität und Öffentlichkeit in der deutschen Literatur 1750-1850. Berlin: Verlag rosa Winkel, 1990. Kapitel 21: Parodie eines antiken Übermuts. Platen und Heine oder Die Exekution des Problems und deren zeitgenössische Bestätigung (S. 479-613).
176,29 Johannes von Müller]
Der Schweizer Historiker (→ Erl. zu 55,15), der als deutscher Patriot galt und sich als Hofhistoriograph des Hauses Brandenburg auf die Seite der ,Kriegspartei‘ gegen Napoleon stellte, wurde nach der Niederlage Preußens 1806 zum Napoleon-Bewunderer. Ausdruck davon gab Müllers Rede vor der Akademie in Berlin im Januar 1807, in der er Friedrich den Großen und Napoleon auf eine Stufe stellte. Napoleon berief Müller 1807 ins Ministerium des neuen Königreichs Westphalen. Diese als Verrat wahrgenommene Entwicklung brachte Friedrich v. Gentz in einem Brief an Müller vom 27. Februar 1807, der weite Verbreitung fand (lange Auszüge bei Derks, S. 324-325), mit seiner Homosexualität in Verbindung. Dieser Brief scheint das Bild, das sich die Öffentlichkeit fortan von Müller machte, nachhaltig geprägt zu haben. Wolfgang Menzel behandelt Johannes Müller als den verachtenswertesten deutschen Schriftsteller, der unter „der Maske der Freiheit [...] stets ein Speichellecker“ gewesen sei. Er habe sowohl bei Aristokraten wie Demokraten seine Bücklinge gemacht, „sah nichts als freie Schweizer und biedere tapfere Eidgenossen hinten und vorn“, und seine unredliche „Gesinnung“ mache sich kenntlich „an der nassen Kothwärme des Styls“ (Wolfgang Menzel: Die deutsche Literatur. 4 Tle. 2., verm. Aufl. T. 2. Stuttgart: Hallberger, 1836. S. 109, S. 113). In Menzels „Geschichte der Deutschen bis auf die neuesten Tage“ (3 Bde., 6. umgearb. Aufl., Stuttgart: Kröner, 1872, S. 248-249) heißt es: „Stets voll sentimentaler Phrasen und hoher Worte gab er sich für den edelsten Menschen aus, während er dem Laster der Griechen ergeben war. Dieß zog ihm in der Schweiz Unannehmlichkeiten zu, und derselbe Mann, der ganz in die Liebe der republikanischen Freiheit aufgegangen schien, suchte jetzt sein Glück zu machen im fremden Fürstendienst.“ Derks, der sich auf diese Stellen bezieht, bemerkt abschließend: „Ab etwa 1830 ging der Fall Johannes Müller im Fall Platen auf“ (S. 369), wie der Passus in Gutzkows Text bezeugt.
176,32 Lullus]
Falls die Stelle auf den katalanischen Dichter, Philosophen und Missionar Raimundus Lullus (Raimon Lull, ca. 1234-1315) anspielt, handelt es sich um eine historische Übereinanderschichtung im Sinne der Synchronistik (→ Erl. zu 117,19-20). Lullus verfasste Gedichte in katalanischer Sprache („Obras rimadas“). Er sorgte u. a. auf dem Konzil von Wien (1311) dafür, dass an verschiedenen Universitäten, darunter Oxford, Lehrstühle für Griechisch, Hebräisch, Chaldäisch und Arabisch geschaffen wurden. Er starb mit achtzig Jahren an Wunden, die er als Missionar in Nordafrika erlitt.
176,32-33 von hinten dem Aesop, von vorn dem Thersites glich]
Die Koppelung der beiden Figuren hat einen ästhetischen und sozialen Sinn. Aesop, der phrygische Sklave, ist typisch für die ,socii‘ oder Sklaven der Helden und wird daher als ,hässlich‘ dargestellt, d. h. nicht im Besitz zivilisierter Schönheit, ,honestas‘. Thersites, der einzige Nichtadlige unter den von Homer erwähnten Kämpfern, die Troja umringten, galt als der Hässlichste; in Shakespeares „Troilus and Cressida“ schreitet er im griechischen Lager auf und ab und gibt einen äußerst groben Kommentar zu den Geschehnissen von sich.
176,33 Priapea]
Eine Sammlung von über 80 höchst erotischen Gedichten aus der Zeit 43 v. Chr. bis 18 n. Chr., dem Gott der Fruchtbarkeit, Priapus, gewidmet. Vgl. Betty Radice: Who’s Who in the Ancient World. Harmondsworth: Penguin, 1971. S. 204-205.
176,34 Milvius]
Eine historische Person, die mit dieser dem Diogenes ähnlichen Figur zu identifizieren wäre, ist nicht ermittelt.
177,3 Lautumien]
Die Lautumien von Syrakus (lat.: lutomiae) waren Steinbrüche, in denen Sklaven und Sträflinge arbeiten mussten; vor allem bekannt durch die brutale Behandlung der nach der Vernichtung der athenischen Flotte 413 v. Chr. verhafteten Athener. Vgl. Thukydides’ „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“, Buch VII, 42-87.
177,6 Capito]
Durch den indirekten Bezug auf Hegel in 177,10: daß alles Wirkliche auch vernünftig ist, überlagern sich Antike und unmittelbare Gegenwart in dieser Figur, die außerdem auf Wolfgang Fabricius Capito (Wolfgang Köpfel, 1478-1541), den Freund Martin Luthers, anspielen könnte. Die Hegel-Stelle lautet: „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts, HWS, Bd. 7, S. 24).
177,21 Seneca]
Lucius Annaeus Seneca (ca. 4 v. Chr. - 65 n.Chr.) war ein römischer Philosoph der stoischen Schule und wurde „wegen seiner vielfachen Bildung und Lebensweisheit zum Erzieher des jungen Nero berufen. Sein Leben war nicht ganz vorwurfsfrei. Man beschuldigte ihn [...] einer zu großen Nachgiebigkeit gegen seinen unwürdigen Zögling, den Kaiser Nero. Denn obgleich er anfangs einen wohlthätigen Einfluß auf die Regierung desselben hatte, so verlor sich doch derselbe nur zu bald. [...] Theils von Feinden verleumdet, theils dem argwöhnischen Fürsten verdächtig, vielleicht auch, weil des Philosophen ansehnliches Vermögen dessen Habsucht reizte, ward er endlich [...] zum Tode verurtheilt. Die einzige Vergünstigung, die man ihm gewährte, war, daß er sich selbst eine Todesart wählen konnte. S[eneca] ließ sich die Adern öffnen; da dieses Mittel aber nur langsam wirkte, so nahm er Gift, und endlich ward er noch in heißen Bädern erstickt. Er starb mit der eines stoischen Philosophen würdigen Ruhe [...].“ (Brockhaus 1833-37, Bd. 10 [1836], S. 145).
177,25 Man lese Tacitus]
In Tacitus’ „Annales“, vor allem Buch 12-14, wird Seneca allerdings nicht so hart kritisiert. Die Würde Senecas bei seinem Tod wird besonders betont (Buch 15). Der Grundgedanke des ,Narren‘ scheint hier, dass Monarchen bzw. Tyrannen trotz aller Erziehung unverbesserlich sind; der erhoffte heilsame Einfluss Senecas auf den Kaiser Nero bleibt aus. Vgl. die Ausführungen zu Plato im neunten Brief, wo der Misserfolg des Philosophen als möglicher Mentor des Dionys von Syracus erwähnt wird; dies gibt dem ,Narren‘ Anlass, sich über die Versuche von Kantianern des 18. Jahrhunderts lustig zu machen, die ihr Glück in der Beeinflussung verschiedener deutscher Kronprinzen versuchten (60,12-34).
177,31-32 die Todtenschädel will Niemand]
Indirekt bezieht sich der Text hier auf das Vorwort des Totengräbers (1,6-22), der die ,Narrenbriefe‘ in einem Totenschädel entdeckt. Diese Stelle wäre also als selbstreflexive poetische Aussage zu werten: Gerade das, was als wertlos und nicht museumswürdig (d. h. als ,unliterarisch‘) gilt, enthält die sprechendste, lebendigste Kunde von der Wirklichkeit. Diese Interpretation wird durch 177,33-34 und 178,7-9 bestärkt.
178,7-9 hatte blaue Augen, wie sein gegenwärtig noch lebender Bruder]
→ Erl. zu 20,1-2.
178,21 am Rande des Kraters]
Scherzhafte Anspielung (bis 178,31) auf den griechischen Philosophen Empedokles (um 500 – 430 v. Chr.), der in Agrigent die Demokratie einführte, hoch verehrt wurde und die ihm angetragene Herrscherwürde zurückwies. Er stürzte sich der Legende nach in den Krater des Ätna. Der ,Narr‘ spricht hier unvermittelt als das ,Ich‘ dieser vorbildhaften, aber ungenannten historischen Gestalt. In Hölderlins fragmentarischem Trauerspiel „Der Tod des Empedokles“ (erste Fassung), das Gutzkow in der Edition Gustav Schwabs (1826) sicher kannte, erscheint die Titelfigur als einsamer, von seinen Zeitgenossen unverstandener Aufklärer und Republikaner: „ZWEITER BÜRGER. [...] Lange dachten wirs, / Du solltest König seyn. O sei es! seis! / Ich grüße dich zuerst, und alle wollens. EMPEDOKLES. Diß ist die Zeit der Könige nicht mehr. DIE BÜRGER (erschrocken) Wer bist du, Mann? PAUSANIAS. So lehnt man Kronen ab, / Ihr Bürger. ERSTER BÜRGER. Unbegreiflich ist das Wort, / So du gesprochen, Empedokles. EMPEDOKLES. Hegt / Im Neste denn die Jungen immerdar / Der Adler? [...] Schämet euch, / Daß ihr noch einen König wollt; ihr seid / Zu alt; zu eurer Väter Zeiten wärs / Ein anderes gewesen. Euch ist nicht / Zu helfen, wenn ihr selber euch nicht helft.“ (Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Hg. von Friedrich Beißner. 8 Bde. Stuttgart: Kohlhammer, 1943-85. Bd. 4,1 [1961], S. 62-63).
179,15-16 jene Helden finden, an denen die Gegenwart freilich arm ist]
Ein Grundgedanke, der sich z. B. auch durch Gutzkows Zeitgenossen (1837) zieht. Die Beschäftigug mit zeitgenössischen Erscheinungen führt dort zur Identifizierung von sozialen Typen, die mit Helden bzw. ,großen Charakteren‘ nichts mehr zu tun haben. Vgl. die Zueignung An Sir Ralph (GWB III, Bd. 3, S. 14) und den Globalkommentar der Zeitgenossen, eGWB, Bd. 3, Apparat: Globalkommentar, pdf 1.1, S. VI-53 - VI,57).
179,18 Spaziergänger vorm Thor]
Anklang an die Szene „Vor dem Tor“ mit der Bühnenanweisung: „Spaziergänger aller Art ziehen hinaus“ in Goethes „Faust“, Teil I, 808-1177; → Erl. zu 96,5-6.
179,30-32 verglichst das Profil der Nase gegen den Vorstand des Mundes und die Rundung des Kinnes]
Die ,Närrin‘ wird hier als versiert in Lavaters Methode der Physiognomik vorgestellt. Diese beruhte auf der Annahme, dass Charakterzüge sich aus den Formen und Proportionen des Schädels ablesen ließen und war im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts sowie weit in das 19. Jahrhundert hinein höchst einflussreich (vgl. Physiognomy in Profile. Lavater’s Impact on European Culture. Hg. von Melissa Percival und Graeme Tytler. Newark: University of Delaware Press, 2005). Dass der ,Narr‘ sich für diese Art der Charakterforschung nicht erwärmen kann (180,4-6), hängt mit seiner egalitären Grundüberzeugung zusammen: Es geht im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr um herausragende individuelle ,Charaktere‘, sondern um das geistige Capital [...], das in den untersten Classen angelegt ist (180,12-13); dieses wird nicht charakterologisch ermittelt, sondern durch soziologisches Verstehen der Masse (180,21-22) und Einsicht in die Macht der kleinen Umstände (180,32).
180,12-13 dies geistige Capital [...], das in den untersten Classen angelegt ist]
Hier spricht Gutzkow als Sohn eines Bediensteten durch den ,Narren‘ in eigener Angelegenheit, sowie auch – noch unwissentlich – für die jungdeutsche Schriftstellergeneration, die aus dem Kleinbürger- bzw. Handwerkertum zur höheren Schul- und Universitätsausbildung ,aufgestiegen‘ war. Vgl. Wülfing, Jg. Dtld., S. 119-121 (Gutzkow), S. 130-133 (Mundt), S. 141-142 (Laube), S. 148-150 (Wienbarg).
180,32 die Macht der kleinen Umstände]
Diese zentrale Idee im historischen Denken des ,Narren‘ wird an verschiedenen Beispielen bis 184,32 ausgeführt; → .
181,1 Alexandria]
Gegründet 332 v. Chr. von Alexander d. Gr. und mit Museen und Bibliotheken ausgestattet, wurde die Stadt unter den Ptolemäern zum Zentrum des wissenschaftlichen und literarischen Lebens der Griechen.
181,1 tractiren]
Aus dem Lateinischen: behandeln, abhandeln.
181,8-9 Das große Gebiet der Geschichte ist nur ein falscher Schein der wahren Fortschritte der Gesellschaft]
Entsprechend dem Prinzip, die Macht der kleinen Umstände (180,32) zu berücksichtigen, wird hier implizit der Gedanke einer Historie als Sittengeschichte formuliert. Die Historie, so der ,Narr‘, habe sich bisher mit dem Augenfälligen der großen Gestalten und Ereignisse beschäftigt. Es komme aber darauf an, jene Mittelgegend (181,20) zu erforschen, die zwischen den bekannten individuellen Akteuren und den Massen liege, d. h. das Gebiet der Normen, Werte und Umgangsformen, aufgrund derer menschliche Geschichte – aufklärerisch gedacht als Vollendung des großen Planes der Menschenerziehung (181,19-20) – sich überhaupt erst zu ihren markanten Knoten- und Wendepunkten ,schürzen‘ könne (181,14-16).
181,23 eitler Gecken]
Hinweis auf Seneca, Neros Erzieher (→ Erl. zu 177,21).
181,28 im Gebiete der Wissenschaften]
Die folgenreichen kleinen Umstände in der Wissen(schaft)sgeschichte, die anschließend aufgezählt werden, bestehen aus Zufällen, wie sie in bekannten Anekdoten überliefert sind. Der Passus erinnert an ähnliche Vorstellungen bei Claude-Adrien Helvétius (1715-1771), vor allem in „De l’esprit“ von 1758.
181,30-31 die Gewächse fremder Zonen [...], ein Menschenleib]
An europäischen Atlantikstränden aufgefundene „Treibprodukte (ein geschnitztes Holz, Stämme fremdartiger Fichten, mächtiges Rohr, zwei Leichen einer unbekannten Menschenrasse, die von Westen her angeschwemmt worden sein sollten)“, bestärkten Columbus in seiner Überzeugung, dass es eine Westroute nach Indien und China geben müsse (Meyer, Bd. 11, S. 312). Nordamerika, das Land, das in der Geschichte jetzt schon die glänzendste Rolle spielt (181,31-33), hat er übrigens nie betreten. Der Topos erscheint in erweiterter Form in Zur Philosophie der Geschichte (1836) wieder: Diese schadenfrohe Natur springt unvermuthet über jeden Calcul, und zerstört den Schematismus der Geschichte, wenn er vorhanden ist. Sie treibt auf dem unruhigen Meere zu den Füßen des sinnenden Columbus Muscheln, Pflanzen, Baumrinden, ja selbst den Leichnam eines rothgezeichneten Menschen und lockt mit diesem verführerischen Wahrzeichen einer fremden Welt den ehrgeizigen Genuesen. (HU, Bd. 1, S. 615-616).
181,34-182,1 eine in der Luft schwebende Ampel]
„Durch die Schwingungen einer Lampe im Dom zu Pisa“ soll Galilei 1583 „auf die gleiche Dauer der Pendelschwingungen bei ungleicher Größe der Ablenkung aufmerksam gemacht worden sein“ (Meyer, Bd. 7, S. 268).
182,5-6 ein Apfel vom Baume]
Die weit verbreitete Anekdote vom fallenden Apfel, der Newton zum Nachdenken über die Schwerkraft veranlasst habe, entbehrt jeder historischen Grundlage. Nach „Brewer’s Dictionary of Phrase and Fable“ wurde sie von Voltaire ins Leben gerufen. Er behauptete, sie von der Nichte Newtons, einer gewissen Mrs. Conduit, gehört zu haben (Brewer’s Dictionary of Phrase and Fable. Millennium Edition. Revised by Adrian Room. London: Cassell, 1999. S. 820).
182,16 in der Geschichte]
Die Macht des Zufalls in der Humangeschichte ist wohl für das antikirchliche und antisystematische Denken des ,Narren‘ noch bedeutsamer als in der Wissenschaftsgeschichte. Daher seine politische Hoffnung, die unberechenbaren kleinen Umstände würden einer Revolutionirung Deutschlands zuarbeiten (184,3; 184,12).
182,19 einen nackten Jüngling]
Dem schönen Harmodius und seinem Liebhaber Aristogiton galt die Verehrung Athens als Befreier von der Herrschaft des Tyrannen Hipparch. Die beiden wurden in Trinkliedern gefeiert, und ihre Statuen standen auf der Agora. Nach Thukydides aber („Geschichte des Peleponnesischen Krieges“, Buch 1,20 und Buch 6,53-59) ist die Wahrheit weniger erbaulich. Die Verschwörung gegen die Tyrannei hatte ihre Ursache in Annäherungsversuchen eines Bruders des Tyrannen Hippias an Harmodius. Die Verschwörer überfielen Hippias und Hipparch beim Panathenischen Fest (514 v. Chr.); Hipparch wurde getötet, Harmodius kam ebenfalls ums Leben, Aristogiton wurde gefangen genommen und starb den Foltertod. Die Tyrannei des Hippias wurde noch ruchloser und dauerte vier weitere Jahre.
182,25 Gänse des Capitols]
Nach einer der vielen Legenden, die sich in Rom bildeten, um die durch die Gallier erlittenen Niederlagen zu verdrängen, soll 390 v. Chr. die Wache am Capitol durch das Geschnatter von Gänsen vor feindlichen Absichten rechtzeitig gewarnt worden sein. Livius bringt in seiner „Römischen Geschichte“ eine besonders anschauliche Beschreibung dieser Episode (5,47).
182,27 Mas Aniello]
Masaniello (Tommaso Aniello, 1620-1647) leitete einen Aufstand gegen die spanischen Habsburger; Stoff von Aubers Oper „Die Stumme von Portici“ (→ Erl. zu 16,29).
182,32-33 ein Gassenhauer]
Nicht ermittelt.
183,2 Anna Boleyn]
Anne Boleyn (1507?–1536) war die zweite Frau Heinrichs VIII. und Mutter von Elisabeth I. Da Papst Klemens VII. nicht bereit war, die kinderlose erste Ehe Heinrichs mit Katharina von Aragon zu annullieren, kam der Bruch mit Rom zu Stande.
183,4 ein berüchtigtes Halsband]
Die sogenannte ,Halsbandgeschichte‘ war „ein berüchtigter Skandal vor der französischen Revolution, der den französischen Hof aufs äußerste kompromittierte und die Autorität des Königtums mit untergraben half“. Die Macht der kleinen Umstände bestand hier in einer Betrugs-Intrige um einen exorbitant teuren Diamantenschmuck. Diesem Betrug fiel die Königin Marie Antoinette zwar unschuldig zum Opfer, er ließ sie aber vor der „gegen den Hof erbitterten, leichtgläubigen Menge“ als schuldig erscheinen (Meyer, Bd. 8, S. 667).
183,24 Martens Guide diplomatique]
Es handelt sich um den 1832 erschienenen Titel von Baron Karl von Martens (1781-1862): Guide Diplomatique. Contenant 1. Considérations sur l’étude de la diplomatie. 2. Précis des droits et des fonctions des agents diplomatiques. 3. Traité sur le style des compositions en matière politique. 4. Bibliothèque diplomatique choisie. 5. Receuil d’actes. Leipzig: Brockhaus, 1832.
183,26 einen Vetter in London]
Der ,Narr‘ ist Insasse des Irrenhauses Bedlam; Rückbezug auf den im Vorwort dargelegten fiktiven englischen Hintergrund der ,Narrenbriefe‘.
184,22-23 Kölner Bischof]
Erzbischof Hatto II. von Mainz (Amtszeit 968-970) soll bei einer Hungersnot „eine Menge armer Leute unter dem Vorwand, ihnen Nahrung geben zu wollen, in eine Scheune gesperrt, diese sodann angezündet und, als man das Klagegeschrei der Unglücklichen vernahm, die Umstehenden scherzend gefragt haben, ob sie seine Brotmäuse piepen hörten. Da überfielen ihn zahllose Mäuse und bedrängten ihn so, daß er, um sich vor ihnen zu retten, mitten im Rhein einen Turm (den Mäuseturm bei Bingen, der 1635 von den Schweden zerstört wurde) erbaute; aber auch hier fand er keine Ruhe und wurde endlich von ihnen aufgefressen. Die Sage findet sich auch bei andern Völkern [→ Erl. zu 184,28-29], und ihr liegt die Idee zugrunde, daß die Mäuse als Rächer begangener Frevel erscheinen.“ (Meyer, Bd. 8, S. 870).
184,28-29 Könige, Namens Popel]
Popiel war nach einer Legende im 9. Jahrhundert Herrscher Polens mit Sitz in Gniezno (Gnesen). Ein Chronist, Benediktiner unbekannten Ursprungs, der von Historikern Gallus Anonymus genannt wird, beschreibt in den 1116-1119 geschriebenen „Chronicae et gesta ducum sive principum Polonorum“, einer Geschichte Polens bis 1113, wie Popiel aus Gniezno ausgewiesen und von Mäusen gefressen wurde (Art. ,The Piast Dynasty‘, Encyclopædia Britannica, https://www.britannica.com/topic/Piast-dynasty; Zugang 17. Februar 2021). Gutzkow ändert den Namen zu Popel und kann auf diese Weise Zar Nikolaus und seine Behandlung Polens aufs Korn nehmen; → Erl. zu 184,30.
184,30 Der russische Nikolai]
Zar Nikolaus I. (1796-1855), verheiratet seit 1817 mit Charlotte, Tochter Friedrich Wilhelms III. von Preußen, führte eine Vergeltungsmission gegen die aufständischen Polen: „Die polnische Erhebung, die 1831 erst nach neunmonatigem verheerenden Kampf unterdrückt wurde, weckte die Rache des Zaren, der sich als den Hort der Legitimität gegen die Revolution betrachtete.“ (Meyer, Bd. 14, S. 696) In seinem Streben nach Rache sah sich Nikolaus, der ,verdüsterte Fanatiker‘ (184,33), durch Gott gerechtfertigt; → Erl. zu 15,33-34.
185,2-3 Rache und blutige Zeichen]
→ Erl. zu 184,30.
187,8-9 das Wunderbare]
Im 25. Brief entwickelt sich aus dem Gespräch der Spaziergänger eine Debatte […], die eine Ausgleichung der verschiedenen über diese Kategorie gefällten Urtheile bezwecken sollte (187, 7-9). Das ,Wunderbare‛ ist ein zentraler Begriff der romantischen Ästhetik und nahezu identisch mit dem ,Poetischen‛, so in Jean Pauls „Vorschule der Ästhetik“, wo es heißt: „Alles wahre Wunderbare ist für sich poetisch“ und damit Widerspruch gegenüber der Vorstellung von „einem hölzernen Leben voll Mechanik“(JPSW, 1. Abt., Bd. 5, S. 45). Während Jean Paul wie Novalis, entgegen der mechanischen Wirklichkeit der Naturwissenschaften und der positiven Philosophie Fichtes, an der Existenz des Wunderbaren festhielten (vgl. ÄGB, Bd. VI, S. 159-160), wurde die Frage, wie sich die Poesie ohne das Wunderbare begründen ließe, für die neue Generation nach dem Ende der ,Kunstperiode‘ zum ungelösten Problem. Ein Gesprächsteilnehmer des 25. Briefes gründet die Notwendigkeit des Wunderbaren auf eine doppelte Wirklichkeit: Das Wunder ist etwas Zwiefaches: eine verborgene Erkenntniß und ein unerklärtes Gefühl: Geist und Herz muß an ihm Nahrung haben. (188,31-33) Eine Gegenstimme widerspricht jenem mystischen Abrakadabra, das man Wunder nennt und beharrt auf einer neuen Begründung des Poetischen, denn die Völker und Zeiten selbst haben ein Anrecht auf gewisse Gattungen der Poesie (189,32-33). Der Sprecher nimmt damit die spätere Begründung Friedrich Theodor Vischers für eine neue Gattung des Romans vorweg: „Die Grundlage des modernen Epos, des Romans, ist die erfahrungsmäßig erkannte Wirklichkeit, also die schlechthin nicht mehr mythische, die wunderlose Welt.“ (Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen. Hg. von Robert Vischer. München: Meyer & Jessen, 1922. 6 Bde. Bd. 6 Kunstlehre: Die Dichtkunst, S. 176) Gutzkows ,Narr‘ wird dagegen selbst zum Romanschreiber, der sich mit dem Wunderbaren verbündet und der Gesellschaft von Fremden eine gemeinsame Vergangenheit und eine gemeinsame Zukunft erfindet.
185,7 ein deutscher Professor]
Möglicherweise Anspielung auf den aus Württemberg stammenden Georg Friedrich Parrot (1767-1852), der nach seiner Promotion an der Universität Königsberg (1801) maßgeblich an der Neugründung der Universität Dorpat (→ Erl. zu 185,6) beteiligt war, wo er eine Professur für Physik antrat und mehrfach als Rektor amtierte. Eine enge Freundschaft verband ihn mit Zar Alexander I., nachdem es bei einer Durchreise des Zaren in Dorpat am 22. Mai 1802 zu einer ersten Begegnung gekommen war. Das Vorlesungsverzeichnis der Universität Dorpat für Januar 1803 führt Parrot als Ritter der 4. Klasse des „Wladimir-Ordens“ auf (→ Erl. zu 185,6). Die freundschaftliche Beziehung Parrots zu Alexander I. war für das Gedeihen der Universität von großem Vorteil. Unter Zar Nikolaus I. (→ Erl. zu 184,30) wurde sie kulturell konsequent russifiziert und politisch dem absolutistischen Regime des Zaren unterstellt: „Auf den Universitäten Dorpat und Wilna, auf den polnischen und deutschen Schulanstalten ward die russische Sprache und mit ihr der militärisch-russische Organismus immer fester begründet und die einheimische Literatur, Lehrweise und Wissenschaft verdrängt. Alle Einrichtungen wurden nach Einer Form getroffen, das ganze geistige und religiöse Leben sollte sich in gleicher Richtung bewegen; eine militärische Uniformität mit soldatischer Unterordnung und Zucht sollte allenthalben herrschend sein.“ (Weber, Bd. 2, S. 730).
185,6 Dorpat]
Die im 17. Jahrhundert gegründete Universität Dorpat (heute Tartu) war 1801/02 von Zar Alexander I. als „Kaiserliche Universität“ und deutsch-russische Forschungsanstalt erneut ins Leben gerufen worden und genoss in den Naturwissenschaften, besonders in den anatomisch-medizinischen Forschungszweigen, höchstes Ansehen.
185,6 Wladimirritter]
Der „Wladimir-Orden“ war ein „russ[ischer] Zivilverdienstorden, 22. Sept. (4. Okt.) 1782 von Katharina II. zu Ehren des ,heiligen, apostelgleichen Wladimir‘ in vier Klassen gestiftet“ (Meyer, Bd. 20, S. 709).
187,14 Quarré]
„Karree (franz. Carré), quadratisch; Quadrat, auch Rechteck; taktisch eine Gefechtsform der Infanterie, mit nach vier Seiten geschlossener Front. Das K[arree] war früher hohl oder voll, je nach der Größe des innern Raumes. Die Karrees, meist bataillonsweise formiert, gaben ihr Feuer in gliederweisen Salven ab. Ihre Blütezeit sind die Napoleonischen Kriege (Austerlitz, Wagram, Leipzig etc.).“ (Meyer, Bd. 10, S. 677).
187,28 Oedipus]
Ödipus löst das Rätsel der Sphinx und erhält dafür die Herrschaft über Theben.
187,31 Synode]
Kirchliche Versammlung, die „entweder für kirchliche Gliederungen oder für politisch-national bestimmte Teile der Kirche gebraucht“ wird (Meyer, Bd. 19, S. 244).
188,14 „Der Mensch ist das Maß aller Dinge!“]
Der berühmte ,Homo-Mensura-Satz‘ des Protagoras lautet: „Omnium rerum mensura homo est“. Protagoras aus Abdera, geboren um 480 v. Chr., gilt als der bedeutendste der griechischen Sophisten (vgl. Rudolf Eisler: Philosophenlexikon. Leben und Werk der Denker. Berlin: Mittler, 1912. S. 573).
188,28 Wielicza]
Wieliczka, gelegen im seit dem Wiener Kongress zu Österreich gehörenden Galizien, hatte riesige Salzbergwerksanlagen.
190,2 Ginnistans]
„Dschinnistân (arab.-pers.), Land der Dschinn [Geister, Dämonen], Feenwelt“ (Meyer, Bd. 5, S. 234).
190,26 Invasionskriege Frankreichs gegen Spanien]
1823 marschierten französische Truppen unter dem Oberbefehl des Herzogs von Angoulême, Sohn des späteren Königs Karl X., in Spanien ein, um die dortige Revolution zu unterdrücken; → Erl. zu 14,32-33.
191,21 Cortes]
Plural von span. ,corte‘: Hof, Gerichtshof; das spanische Parlament: → Erl. zu 35,13-14.
191,22 Mina’s]
Franciso Espoz y Mina (1781-1836), Guerillaführer und Stratege, kämpfte 1810-14 in den spanischen Befreiungskriegen gegen die Franzosen. Er führte in Pamplona bei der Rückkehr Ferdinands VII. einen Aufstand, der scheiterte, und kämpfte auch 1823 gegen die eingedrungenen französischen Truppen. Sobald Ferdinand mit Hilfe Ludwigs XVIII. wieder auf dem Thron saß, musste Mina sich nach England retten.
192,4 Divinationen]
Ahnungen (vgl. 192,6): „die Erwartung künftiger Ereignisse, bei welcher mehr die begleitenden Gefühle als die Schlüsse, auf welche sie sich gründet, zum Bewußtsein kommen. Ahnungen im engern Sinne (Divination) nennen wir dergleichen Erwartungen, wenn wir uns bei ihnen der Gründe gar nicht bewußt sind und daher in ihnen das Künftige vorher zu empfinden scheinen.“ (Brockhaus 1833-37, Bd. 1, S. 132).
193,12-13 Eroberung von Constantine]
Constantine bzw. Konstantine, Stadt „439 km östlich von Algier“ (Meyer, Bd. 11, S. 420). Algerien wurde nach diplomatischen Provokationen der 1820er Jahre im Juni 1830 von den Franzosen angegriffen und, nachdem die Julirevolution eine Unterbrechung der militärischen Aktionen erfordert hatte, im Laufe der frühen 1830er Jahre unterworfen und kolonisiert.
194,3 Bengel]
Johann Albrecht Bengel (1687-1752), wichtigster Vertreter des schwäbischen Pietismus und Pionier der kritischen Exegese des Neuen Testaments („Gnomon Novi Testamenti“, 1742), berechnete das Weltende und den Anbruch des Tausendjährigen Reiches Christi auf den 18. Juni 1836. „Es geschah dies in der Schrift ,Erklärte Offenbarung St. Johannis‘ (Stuttg. 1740, zuletzt 1858) und in dem chronologischen Werk ,Ordo temporum a principio per periodos oeconomiae divinae historicas atque propheticas ad finem ... deductus etc.‘ (Tübing. 1741).“ (Meyer, Bd. 2, S. 633) Wie Gutzkow in Aus der Knabenzeit erzählt, nahm sein Onkel, ein Musselinweber, Bengels Lehre vollkommen ernst (GWB VII, Bd. 1, S. 51-52).
195,5-6 nicht hintereinander zu stellen]
Hier wird die Idee des ,Nebeneinander‘ statt eines ,Hintereinander‘ erneut zum methodischen Programm erklärt (→ Erl. zu 117,30-31 sowie ), jedoch auch virtuos in der folgenden Schriftauslegung (194,26) angewendet.
195,10-11 Was Johannes bei der fünften Posaune gesehen hat, das hat er auch bei Eröffnung des fünften Siegels gesehen]
Bezieht sich auf die Reihenfolge der apokalyptischen Visionen in der Johannesoffenbarung, die jeweils aus sieben Einzelvisionen bestehen: das Buch der sieben Siegel, die sieben Posaunen, die sieben Zornschalen.
195,19 Bibel aufzuschlagen]
Es folgt (bis 202,2) eine ,Exegese‘ der Offenbarung des Johannes, die Bengels Erwartung des 1836 erfolgenden Weltendes subversiv in eine Revolutionserwartung umkehrt – ganz im Sinne der Andeutung: Es wird aufgeräumt, alles Alte nicht nur an den alten Ort gestellt, sondern gänzlich weggeschafft werden (194,15-16).
195,24 Sechs oder Siebenzahl]
Bezieht sich auf die Zahlensymbolik der ersten 18 Kapitel in der Johannesoffenbarung, die den Untergang des ,babylonischen‘ Heidentums als Weltuntergang schildern. Im 19.-22. Kapitel entfaltet sich die Vision der Christusherrschaft; → Erl. zu 195,10-11.
195,27 mit 7 Leuchtern]
Vgl. Offb. 1,10-20. Johannes erhält hier durch eine posaunengleiche Stimme den Auftrag, seine gegenwärtigen und folgenden Visionen an sieben christliche Gemeinden (in Ephesus, Smyrna, Pergamus, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodicea) zu senden (die 7 Briefe, 195,30). „Und ich wandte mich um, die Stimme zu sehen, die mit mir redete. Und als ich mich umwandte, sah ich sieben goldene Leuchter und inmitten der sieben Leuchter einen, der einem Menschensohn ähnlich war [...]. Und er hatte in seiner rechten Hand sieben Sterne [...]. [...] Und er legte seine rechte Hand auf mich und sprach: [...] Schreibe nun, was du gesehen hast und was es bedeutet und was nachher geschehen soll, das Geheimnis der sieben Sterne, die du auf meiner Rechten gesehen hast, nebst den sieben goldenen Leuchtern: Die sieben Sterne sind die Engel der sieben Gemeinden, und die sieben Leuchter sind die sieben Gemeinden.“
195,34 Smyrna]
Smyrna ist auf zweifache Weise für die Frühgeschichte des Christentums bedeutsam; zum einen als Gemeinde, die Johannes in der Apokalypse anspricht, zum anderen als Ort, in dem Bischof Polykarp Mitte des 2. Jahrhunderts den Märtyrertod erlitt. Die Verbindung von ,Smyrna‘ und ,Myrrhe‘ (einem bitteren Harz, das zu Räucherstoff, Öl und Tinktur verarbeitet wird) ergibt sich durch eine mythische Figur, Myrrha (auch Myrrna oder Smyrna), Tochter des Cinyras, König von Zypern, und Mutter des Adonis. Sie wurde auch Myrrna oder Smyrna genannt. Dieses Wissen bezog Gutzkow wohl aus Buttmann (→ Erl. zu 196,3).
196,3 Buttmann]
Philipp Karl Buttmann (1764-1829), Altphilologe, bis 1808 Professor am Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin, danach Bibliothekar der königlichen Bibliothek, besonders bekannt durch seine „Griechische Grammatik“ (1792), die im 19. Jahrhundert in vielen neuen Auflagen erschien.
196,4 Der fünfte Brief ist nach Philadelphia geschrieben]
Nach Offb. 3,7 ist der Brief nach Philadelphia der sechste Brief. Mit den beiden Zitaten 196,8-9 (Offb. 3,8) und 196,13 (Offb. 3,11) wird der kommende Sturz der Königshäuser Europas anhand der nordamerikanischen Revolte gegen England vorausgesagt. Vgl. auch → Erl. zu 162,31.
196,20-21 Laodicäa]
Laodicea (Laodikeia) in Phrygien war „früh ein Hauptsitz des Christentums“ (Meyer, Bd. 12, S. 186). Das Sendschreiben an die christliche Gemeinde dieser Stadt ist das letzte der sieben in der Johannesapokalypse und befindet sich daher am Übergang zu deren nächstem Teil, der Eröffnung der sieben Siegel (d. h. in der Interpretation des ,Narren‘: der revolutionären Offenbarung über die eigene Zeit). Daher kommt die Sprache auf unser Zeitalter (196,20). Die Stadt Laodicea soll nach der Frau von Antiochos II., Laodike, benannt sein. Die ,Übersetzung‘ dieses Ortsnamens als Volksgericht (196,22) ist der Bedeutung von griechisch ,laos‛ (,Volk‘) und ,dike‛ (,Recht‘) zuzuschreiben.
196,30-31 als hätte Wolfgang Menzel jene Stelle geschrieben]
Verweis auf das politisch Aufrüttelnde an Menzels Literaturkritik. Durch ihn wird in der Sicht des ,Narren‘ das Geschäft der literarischen ,Exegese‘ genauso zum Politikum wie einst die Bibel-Exegese der Protestanten (→ Erl. zu 200,31-32).
197,2 Crösus]
→ Erl. zu 126,19.
197,9-10 Armes Irland]
Die Lage der meist nur Irisch sprechenden Bevölkerung Irlands blieb trotz der 1829 von Daniel O’Connell (1775-1847) erwirkten Katholikenemanzipation (→ Erl. zu 31,9) elend. Zur Kluft zwischen den wohlhabenden, zu Großbritannien haltenden protestantischen Loyalisten und der verarmten katholischen Mehrheit war es gekommen, seit der größte Teil der irischen Bevölkerung sich in der Zeit des Bruchs zwischen England und Rom unter Heinrich VIII. weigerte, zum protestantischen Glauben überzutreten und daher dem englischen Monarchen, dem Kirchenoberhaupt, als illoyal galt. Im 17. Jahrhundert wurde die katholische Mehrheit wegen der Pflanzungen durch Cromwell und Wilhelm von Oranien effektiv landlos. Das Strafrecht (Penal Code, 1694-1727) sorgte dafür, dass Katholiken der Zugang zu Bildung und öffentlichen Ämtern vorenthalten blieb. Da es ihnen zudem verboten war, Land zu kaufen oder zu erben, und da die Industrialisierung außer in wenigen Teilen des ,loyalen‘ Nordens ausblieb, war für viele Arme die Auswanderung fast die einzige Lebensmöglichkeit. Der Konflikt zwischen Loyalisten und katholischer Mehrheit verschärfte sich sogar nach der Katholikenemanzipation. „Es zeigte sich [...] bald, daß sie [die Katholikenemanzipation] allein nicht das Übel zu heilen vermochte, welches tiefere Wurzeln hatte. Das Land wurde bald der Schauplatz neuer Parteikämpfe, durch fanatische Katholiken und Protestanten erregt, und nur Waffengewalt konnte blutige Ausbrüche verhüten. Eine Misernte erhöhte 1831 das Elend der Landleute. [...] Die Regierung [in London] begünstigte keine der beiden streitenden Parteien in I[rland] und suchte nur den Sieg der gesetzlichen Ordnung zu sichern. So ungünstig es immer auf die Volksstimmung wirken mußte, daß der größte Theil des Grundeigenthums in den Händen der Protestanten sich befand, so war doch nicht Glaubenshaß, sondern ein Krieg der Armen gegen die Reichen, der Eigenthumslosen gegen die Grundbesitzer die wahre Quelle der Zwietracht.“ (Brockhaus 1833-37, Bd. 5 [1834], S. 600-601).
197,23 Das große Erdbeben in Lissabon]
Lissabon wurde am 1. November 1755 durch ein Erdbeben zerstört. Dieses Ereignis ist im 18. und 19. Jahrhundert ein wichtiger literarischer Topos, an den sich Gedanken über göttliche Vorsehung, Zufälligkeit und revolutionäre Umwälzung knüpfen. Gutzkow arbeitet den Topos hier ein, um einerseits die Untergangserwartungen der Pietisten aufs Korn zu nehmen, andererseits seine eigene Uminterpretation der Johannesapokalypse im Sinne einer bevorstehenden säkularen Revolution zu unterstreichen.
198,4 Stille]
Offb. 8,1: „Und als es [das Lamm] das siebente Siegel öffnete, entstand eine Stille im Himmel etwa eine halbe Stunde lang.“ Wie in 85,26-27 und 131,8-9 periodisiert der ,Narr‘ die Restauration als einen 15jährigen Zeitabschnitt, hier die apokalyptische Stille.
198,12 die Journalisten, die Männer sans loi et foi]
Frz.: Männer ohne Gesetz und Glauben. Gerade den Journalisten obliegt es, die Offenbarung im säkularen, nicht mehr heilsgeschichtlichen Sinne der Synchronistik (118,3) auszuposaunen; → Erl. zu 117,19-20.
198,17 Aranjuez]
Das spanische Königshaus hatte dort, am Ufer des Tagus ca. 50 km südlich von Madrid, seinen Sommersitz. Der prächtige Palast mit exotischen Gärten und Jagdschloss galt als das Nonplusultra an Luxus. Möglicherweise wird auch an die Anfangszeilen von Schillers „Don Carlos“ erinnert: „Die schönen Tage in Aranjuez / Sind nun zu Ende“, das zu den geflügelten Worten gehörte (Büchmann 1879, S. 106).
199,20 Dreizahl]
Anspielung auf die drei Mächte der soeben erwähnten Heiligen Allianz: Österreich, Preußen und Russland.
199,23 ab eventu]
Vermutlich geht die Formulierung auf Ovid, Fasti I, 59 zurück: „Omen ab eventu est“ (ein Vorzeichen, das man erst im Nachhinein als solches erkennt).
199,25 die große –]
Das ausgelassene Wort ist „Buhlerin“ oder „Hure“, „mit der die Könige der Erde Unzucht getrieben haben“: Offb 17,1-2. In der Johannesapokalypse ist diese Figur ein Sinnbild Babylons, der großen Stadt, „die die Herrschaft über die Könige der Erde hat“ (Offb 17,18). Die ,Zensurstrich-Technik‘ des ,Narren‘ (→ Erl. zu 170,29-31 und zu 37,9-10) dient hier dem Hinweis, dass selbst der Text der Bibel nach den Maßstäben der ,Heiligen‘ Allianz (also nicht nur nach dem sittlichen Empfinden der Briefpartnerin) zensurwürdig ist. Vgl. auch 200,20-21, wo die ,Scheinheiligkeit‘ weltlicher Mächte entlarvt wird, die sich mit sakraler Aura umgeben.
199,33 Das siebenköpfige Thier der Lästerung]
Beschrieben in Offb 13,1-10.
200,10 Das zweiköpfige Thier der Verführung]
Beschrieben in Offb 13,11-18, wo das Tier allerdings nicht zwei Köpfe, sondern zwei Hörner hat.
198,12 die Journalisten, die Männer sans loi et foi]
Frz.: Männer ohne Gesetz und Glauben. Gerade den Journalisten obliegt es, die Offenbarung im säkularen, nicht mehr heilsgeschichtlichen Sinne der Synchronistik (118,3) auszuposaunen; → Erl. zu 117,19-20.
200,20-21 die heilige Inquisition, die heilige Ligue, — — — — — das göttliche Recht]
Die ,Zensurstriche‘ ersetzen den Ausdruck „die Heilige Allianz“; → Erl. zu 199,25.
200,31-32 Sie denken vielleicht an Rom, wie die meisten Ausleger]
Das Sinnbild der ,Hure Babylon‘ (Offb 17-18), das für das Heidentum bzw. das römische Weltreich steht, wurde u. a. von Luther und von den Puritanern auf die zeitgenössische römisch-katholische Kirche übertragen. Vgl. Brewer’s Dictionary of Phrase & Fable. Millenium Edition. Hg. von Adrian Room. London: Cassell, 1999. S. 1268 (Whore of Babylon, The); S. 1048 (Scarlet woman).
200,33 Frankfurt am Main]
Sitz des Bundestages 1816-1866. Er tagte im Thurn und Taxisschen Palais in der Großen Eschenheimer Gasse. Die folgenden Zitate aus der Johannesoffenbarung entstammen Kap. 18 über den Untergang Babylons und gelten Frankfurts Tradition als Kaiserkrönungs- und Handelsstadt.
201,6 Falliment]
Zahlungsunfähigkeit, Konkurs.
201,18-19 in mir werden Sitzungen gehalten]
→ Erl. zu 200,33.
201,23 Preiscourant]
Preisverzeichnis.
201,27-28 nach der siebenten Zornschale]
Vgl. Offb 15-16. Sieben Engel ergießen sieben Schalen, gefüllt mit dem Zorn Gottes, über Land, Meer, Gewässer, Sonne und Luft, so dass alles Leben erlischt, die große Stadt Babylon zersprengt wird und Inseln und Berge verschwinden.
201,29 Grahamsinsel]
→ Erl. zu 8,5-6.
201,33 666sten Protokolle]
Nach Offb 13,18 ist 666 die Zahl des Tieres, dessen Anbetung den Zorn Gottes nach sich ziehen wird (Offb 14,9-11). Anspielung auf das 66. bzw. 67. Protokoll der Londoner Konferenz: In London trafen sich seit Oktober 1830 Vertreter der fünf Großmächte und der Niederlande, um eine friedliche Lösung der belgisch-niederländischen Frage herbeizuführen. Ein Vertrag, der aus 24 Artikeln bestand, wurde im November 1831 vom belgischen König angenommen, vom niederländischen jedoch abgelehnt. Da der Vertrag von England und Frankreich garantiert worden war, Österreich, Preußen und Russland aber die niederländische Ablehnung billigten, verschärfte sich der Konflikt zwischen Belgien und den Niederlanden erneut. Erst im Laufe des Jahres 1832 erklärten sich Österreich, Preußen und Russland bereit, den Vertrag zu unterzeichnen, und am 13. Juli 1832 erschien ein 67. Protokoll der Londoner Konferenz, in dem die 24 Artikel nebst vier Zusatzartikeln angenommen wurden. Der niederländische König akzeptierte die Selbständigkeit Belgiens allerdings erst 1839.
202,5 das große Halleluja]
Vgl. Offb 19, das Kapitel, in dem der Fall Babylons im Himmel mit einem „Halleluja“ („Lobet den Herrn“) gefeiert wird.
202,6-7 Te Deum laudamus]
„Dich, Herr, loben wir“: Einführungsworte des Tedeum, das im Gottesdienst außer der Lobpreisung Gottes auch Bitte und Dank ausdrückt. In musikalischer Form wurde das Tedeum oft bei weltlichen Anlässen wie Krönungs- und Siegesfeiern eingesetzt.
203,2 C. Junius Brutus wünscht seiner Schwester Lucretia Heil!]
Wiederum eine Anspielung auf den römischen Republikanismus. Lucius Junius Brutus tötete seinen Onkel Sextus, den Sohn des römischen Etruskerkönigs Tarquinius Superbus, und führte in Rom die Republik ein (allgemein wird dafür das Jahr 509 v. Chr. angenommen). Der Königsneffe Brutus rächte durch diesen Mord den Tod der Lucretia, der Frau von Lucius Tarquinius, die von seinem Onkel vergewaltigt worden war und sich das Leben nahm. Die schwesterliche Beziehung der Lucretia zu Brutus ist also im Sinne der Geistesverwandtschaft gemeint, und das C. statt des ‚L.‛ im Namen des Junius Brutus deutet möglicherweise auf Gutzkows eigenen Vornamen.
204,4 Manen]
Lat.: die Guten; bei den Römern und anderen italischen Völkern die Seelen der Verstorbenen.
204,6-7 ich schwöre Dir unerhörte Sühne]
Rückbezug auf den Eröffnungssatz dieses Briefes (→ Erl. zu 203,2). Hier wird die Assoziation des weiblichen ,Du‘ mit dem republikanischen Programm der ,Narrenbriefe‘ konzentriert ausgedrückt, wie auch die folgenden Ausführungen über das Narrentum programmatischen Charakter tragen.
204,14 Wer weise sein will, der werde ein Narr in dieser Welt!]
Der Kontext dieser Stelle (bis 204,26) scheint auf die Vorstellung vom ,Heiligen Narren‘ bzw. ,Narren in Christo‘ anzuspielen: Bewusst abweichendes, provokantes, schockierendes Verhalten signalisiert hier Gottesnähe und ist im Zusammenhang mit dem chiliastischen Diskurs besonders der letzten ,Narrenbriefe‘ als Indiz für den ,heiligen Geist‘ des Republikanismus zu deuten. Zur Tradition des ,Narren in Christo‘, die besonders im orthodoxen Christentum existiert, vgl. John Saward: Perfect Fools. Folly for Christ’s Sake in Catholic and Orthodox Spirituality. Oxford: Oxford University Press, 1980.
204,23-24 mit seinem weißen Barte [...] vor den Flammen seiner Blicke]
Anklang an das Bild des „Menschensohns“ in Offb 1,13 und 1,14: „Sein Haupt aber und seine Haare waren weiß wie Wolle, wie Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme [...].“ Infolge der im 26. Brief vollzogenen ,Exegese‘ der Offenbarung des Johannes werden im letzten Brief Anklänge an denselben Text dazu verwendet, die triumphale Verwandlung des ,Gauklers‘ (204,21) und ,Narren‘ (207,11-12) in den republikanischen ,Befreier‘ (207,8-10) zu suggerieren.
206,16-17 Schuppen werden von den blöden Augen fallen]
Hier wird die Heilung und Bekehrung des erblindeten Saulus als Folie verwendet: „Und alsbald fiel es von seinen Augen wie Schuppen, und er ward wieder sehend.“ (Apg 9,18).
206,21 Ostermesse 1832]
Bezieht sich auf die jährliche Leipziger Oster-Buchmesse. Der Ostersonntag fiel 1832 auf den 22. April, und die Messe endete vermutlich am 4. Sonntag nach Ostern, Kantate, dem 20. Mai 1832. Die Angabe Wie wir heute [...] zur Ostermesse 1832 schreiben, bezieht sich also auf diesen Zeitraum und stimmt mit der Vermutung überein, dass Gutzkow die Arbeit an den ,Narrenbriefen‛ gegen Ende Mai abschloss; → 4. Entstehungsgeschichte.
207,27 Schüttle die Loose]
Das Bild des Lose-Schüttelns zur Entscheidung über Krieg und Frieden schließt an die häufigen Anspielungen auf Cäsar an. Als dieser den Rubikon, den Grenzfluss zwischen Italien und dem Cisalpinischen Gallien, überschritt und damit den Bürgerkrieg eröffnete, soll er nach Sueton ausgerufen haben: „alea jacta est“, „der Würfel ist gefallen“ (vgl. auch Plutarch, „Parallele Leben“, Kapitel 60, Abschnitt 2). Diese Tat ist daher sprichwörtlich für einen unwiderruflichen Entschluss mit schwerwiegenden Konsequenzen geworden; → Erl. zu 149,7-8.
196,4 Der fünfte Brief ist nach Philadelphia geschrieben]
Nach Offb 3,7 ist der Brief nach Philadelphia der sechste Brief. Mit den beiden Zitaten 196,8-9 (Offb 3,8) und 196,13 (Offb 3,11) wird der kommende Sturz der Königshäuser Europas anhand der nordamerikanischen Revolte gegen England vorausgesagt. Vgl. auch → Erl. zu 162,31.
116,17-18 die Minne nicht mehr à l’ordre du jour sein wird]
Frz.: nicht mehr ,an der Tagesordnung‘ sein wird. Die quasi mittelalterliche Enthaltsamkeit, die die ,Närrin‘ als Regime zur Zivilisierung der Männer einführen will (→ Erl. zu 116,5-6), wird hier mit dem modischen, französisch gefärbten Tagesdiskurs kontrastiert.
3,3 Jonathan Kennedy]
Der Name ist in der Geschichte Bedlams nicht dokumentiert.
160,11 Roscius]
Quintus Roscius Gallus, gestorben 62 v. Chr., war der berühmteste römische Schauspieler seiner Zeit.
90,9 Säule des Pompejus]
→ Erl. zu 53,4-5.
193,11 Don Pedro]
Ähnlich wie im spanischen Konflikt zwischen den absolutistischen Karlisten und den konstitutionalistischen Christinos (→ Erl. zu 35,13-14) standen sich die Thronprätendenten Portugals gegenüber: der absolutistische Dom Miguel (1802-1866) und der konstitutionalistische Dom Pedro (1798-1834).