Aus der Knabenzeit (1873)#
Metadaten#
- Herausgeber / Herausgeberin
- Wolfgang Rasch
- Fassung
- 1.2: Stellenkommentare vervollständigt
- Letzte Bearbeitung
- 28.11.2024
Text#
195 1821–1829.#
197 I.#
Lehrer-Originale.#
Es giebt in Berlin eine Gegend, wohin vielleicht Friedrich Schiller gezogen sein würde, wenn jenes Berufungsproject, das ihn von den Ufern der Ilm an die der Spree entführen sollte, zu Stande gekommen wäre.
Eben an diesen Ufern der Spree, an jenen holländischen Grachten, die sich, ab und zu mit Bäumen besetzt, durch die innere Stadt ziehen, hätte er, des daselbst ständig verbreiteten – Aepfelgeruchs wegen, Gefallen gefunden zu wohnen. Denn man weiß (und wer es nicht wissen sollte, kann es vom Kastellan des Schillerhauses in Weimar versichert erhalten), daß Schiller, und vorzugsweise beim Arbeiten, den Duft von Aepfeln einzuathmen liebte, und zwar Aepfeln, die – um mit der Alexander Dumas’schen Vergleichung zu sprechen – schon im demi-mondischen Zustande, dem des Uebergangs, begriffen waren.
Von der Schleusen- bis zur Gertraudtenbrücke duftet es noch heute – doch lange nicht mehr so kräftig wie damals dem Kindergemüth – nach nichts als Birnen und Aepfeln. Der schmale, trübe, in der Farbe altem Kanonenerz ähnliche Spreearm war und ist noch jetzt ständig mit hochgezimmerten langen Kähnen bedeckt, die aus Potsdam, aus der Lausitz mit Obst anfahren, selten ihre Ladung vollständig löschen, sondern sich für den Winter und sogar die Zeit, wo die Aepfel- und Birnbäume schon wieder neue Blüthen ansetzen, zum Detailverkauf bequem vor Anker legen. Die säuerliche Beimischung 198 des süßen Apfelgeruchs, die Schiller wahrscheinlich deshalb so liebte, weil sie ihn an die Kelter- und Herbstfreuden seiner schwäbischen Heimath erinnerte, konnte im Laufe eines nur von den „Dreiern“ und „Sechsern“ der umwohnenden Schuljugend abhängigen Geschäftsverkehrs nicht ausbleiben. Verspeist wurden diese ungeheuern Vorräthe sämmtlich; doch langsam.
Hier nun, dicht an einer in der Mitte liegenden sogenannten „Jungfernbrücke“ – der Forscher steht sinnend und fragt den Verein für die Geschichte der Mark: Wieso „Jungfern“? – erhebt sich ein jetzt etwas modernisirtes Eckhaus, das vor einem halben Jahrhundert die Lehr- und Lernkräfte des Friedrich Werder’schen Gymnasiums beherbergte. Dem Styl nach war es einer jener Bauten, die den Charakter aller Kasernen-, Lazareth-, Militärmagazins-, Garnisonkirchen-, Schulbauten der Fridericianischen Zeit trugen. Die Außenseite hatte hier und da etwas Stuccaturschmuck. Die Fenster waren hoch, die Zimmer geräumig. Eine große Aufgangstreppe erlaubte die Massenentfaltung der Schuljugend. Der Hof eignete sich vorzugsweise für die Nachahmung der damals beliebten Kämpfe zwischen Türken und Hellenen. Denn Kanaris, Miaulis, Kolokotroni waren in den zwanziger Jahren die Helden des Tages, deren Abbildungen, grell mit Wasserfarben getuscht, neben Ludwig Sand’s Enthauptung an allen Buchbinderläden hingen.
Das Friedrich-Werder’sche Gymnasium befand sich 1822 nach längerer Blüthezeit ohne Zweifel schon im Verfall. Gegründet durch den Philanthropinismus der Nicolaischen Zeit, zuerst geleitet vom vielgerühmten Pädagogen Friedrich Gedike, konnte die Anstalt aus Mangel an Mitteln den Wettstreit mit den beiden älteren Gymnasien der Stadt, dem Grauen Kloster und dem Joachimsthal, nicht aushalten. Die Begründung eines neuen Gymnasiums auf der Friedrichsstadt, die Verwandlung des „Köllnischen“ Gymnasiums in eine Anstalt, die sich ausdrücklich für die Aufnahme der immer mehr vom Zeitgeist empfohlenen „Realien“ in ihren Plan bekannte, waren äußere Hemmnisse, zu denen sich noch innere gesellten, die durch den derzeitigen Rector, die vorhandenen Lehrkräfte nicht überwunden werden konnten.
199 Soweit sich eine reifere Erfahrung die Eindrücke des Knaben- und des ersten Jünglingsalters zurechtlegen und ordnen kann, litt die Anstalt an unvermittelten Gegensätzen. Sie war mehr als ihre ältern Schwestern jenseits der Spree vom Geiste der Zeit berührt gewesen. Während jene den gemessenen Schritt des alten gelehrten Wesens und Wissens innehielten, war das Friedrich-Werder’sche Gymnasium aus dem Geist seiner ersten Begründung, dem Geist Nicolai’s und seiner Umgebungen, zu jähe in die Romantik der Jahre 1800–1812 übergesprungen. Der letzte Rector war Tieck’s Schwager gewesen, Bernhardi, der erste Gatte jener mit dem Lebenslauf der beiden Schlegel vielfach verwickelten Sophia Tieck, die nach mancherlei Abenteuern „freier Liebe“ noch einmal in Rom wieder in den Ehehafen als eine Frau von Knorring einlief. Bernhardi’s einnehmende Persönlichkeit, sein Talent, sich durch die Rede geltend zu machen, der spätere Charakter seiner vorzugsweise auf die modisch gewordene Sprachwissenschaft und Grammatik gerichteten Studien, seine Beziehung zu Schleiermacher und anderen Parteigängern der bekehrten romantischen Schule hatten vergessen lassen, daß der gestrenge Gymnasiarch ehemals Theaterrecensionen und leichte „Bambocciaden“ geschrieben. Trotzdem, daß die Anstalt unter ihm blühte, blieb in den Traditionen derselben ein unvermittelter Zwiespalt, der nach seinem Abgang und baldigem Tode zum Ausbruch kommen sollte.
Man sah diesen Zwiespalt der Tendenz recht an der Bibliothek, die dem Schülergebrauch geöffnet war. Die Primaner wechselten im Amt, die Bücher zu verleihen. Manches Buch wurde dem Quintaner von dem später berühmten Wilhelm Wackernagel verabfolgt. Auch Hermann Ulrici, der fromme Shakspeare-Cultuspriester, verwaltete, glaube ich, eine Zeit lang das Amt des Bibliothekars. Vorzugsweise gewandt schien die Verwaltung eines späteren Breslauer Professors der Philologie Ambrosch. Als ich später dann selbst dies Ehrenamt bekleidete, fand ich die schöne Ansammlung im trostlosesten Zustand der Verwüstung. Sie war spoliirt wie eine deutsche Bibliothek im dreißigjährigen Kriege durch die Schweden. Kein mehrbändiges Werk war noch voll-200ständig vorhanden. Die Reisen des jungen Anacharsis hatten bandweise bei allen Antiquaren der Königsstraße Station gemacht. Die reichste Literatur aus den Zeiten der Aufklärungsperiode, die Schriften Iselin’s, Zöllner’s, Uebersetzungen Addison’s, Raynal’s, die Literatur der Erfahrungsseelenkunde, Garve und Andere wurden decimirt, wie der unmittelbare Gegensatz derselben, die Schriften der Romantiker, Achim von Arnim’s, Tieck’s (der ehebevor selbst ein Schüler der Anstalt gewesen), Brentanos. Daß aber Zweifel und Glaube, Thatsachensinn und Schwärmerei, Reisebeschreibung und bunte phantastische Ideenwelt in dieser Bibliothek so dicht nebeneinander stehen konnten, eben das war charakteristisch. Im Lehrerpersonal, in den Stimmungen und Richtungen des Unterrichts scheint mir die gleiche Dissonanz geherrscht zu haben.
Der Director, ein anerkannter Mathematiker, Lehrer seiner Wissenschaft auch an der Artillerieschule, war ein Mann in mittleren Jahren, eine kurze gedrungene, mehr durch Emphysem, als durch wirkliche Fettfülle beleibte Gestalt, immer im blauen Frack mit goldenen Knöpfen, immer mit einem zum Strafen bereiten Rohrstock in den hochschäftigen Stiefeln. Es scheint eine Folge seines längeren Hauslehrerns in Rußland gewesen zu sein, wenn der sonst so weiche und milde Mann unablässig eigenhändig gegen die Abschaffung der Prügelstrafe protestirte. Die noch höhere Instanz der körperlichen Züchtigung, das „Uebergelegtwerden“, war eine regelmäßig wiederkehrende, an bestimmte Revisionswochentage geknüpfte Erfahrung selbst bei hoffnungsvolleren Jünglingen. In solchen Fällen trat die muskulöse Hand des Calfactors in Mitaction, einer stämmigen Unterofficiersfigur, die selbst die besten Kunden beim Ankauf seiner „Schinkenbrote“ vor dem Director, dem pädagogischen Peter Arbues, der dem Züchtigungsacte zusah, nicht schonen durfte. Der wunderliche, unter vier Augen liebevolle Director Zimmermann wurde gefürchtet, wie die Mäuse die Katze fürchten. Das hinderte nicht, dem immer wie zum Empfang von Besuch gekleideten, mit einem sauber ausgelegten, sogenannten „gebrannten“ Jabot erscheinenden Schulmonarchen alle seine Schwächen ab-201zulauschen. Der spottsüchtigen Jugend entging nicht des Directors ständige Zerstreutheit. Anekdoten liefen über ihn um. „Ich sehe Viele, die – nicht da sind!“ hatte er beim Ueberblick einer Klasse gerufen. Oder er redete wol Jemand mit der Frage an: „Schmidt, wie heißen Sie?“
Einem Lehrer der Mathesis, der es oft hervorhob, daß von den Griechen diese Wissenschaft die erste genannt worden wäre, einem Vertreter derselben festen Gesinnung, die seinen wackern Sohn, den parlamentszeitberühmten „Bürgermeister von Spandau“ in eine mehr als zwölfjährige Verbannung führte, hätten sich, sollte man glauben, die mehr realistisch thätigen, in den untern Klassen wirkenden Kräfte vorzugsweise anschließen sollen. Dem schien aber nicht so. Selbst die Reallehrer, die Lehrer des Griechischen und Lateinischen ohnehin, gingen dem dirigirenden Sonderling aus dem Wege, ja es drang bis an’s Ohr der Schüler die Kunde von einem Kriegszustand, der in der Lehrerwelt selbst waltete. Eine Verschwörung organisirte sich, vorzugsweise geleitet durch einen Gesangslehrer, der neben seinem Hauptamt, die Singübungen zu leiten, auch in anderen Fächern, Geschichte und im Deutschen, unterrichten wollte. Die Energie, welche dieser Professor anwandte, um aus uns allen hervorragende Opern- oder wenigstens Kirchensänger zu machen, war anerkennenswerth. Der immer wie eben vom fröhlichen Mahle kommende Herr, ein Junggesell mit schon ergrautem Backenbart und Kopfhaar, Thüringer, gebürtig aus Bernburg, seine Vaterstadt in sächsischer Weise mit zwei harten B aussprechend, gehörte zu den Theilnehmern der damals durch Zelter, Rungenhagen, Reichardt schwunghaft betriebenen Liedertafeln, spielte eine hervorragende Rolle in der Freimaurerloge „Zu den drei Weltkugeln“ und wußte im Leben der Anstalt den Chorgesang in einer Weise als obligatorisch geltend zu machen, wie nur die Kreis-Ersatzcommissionen die allgemeine Wehrpflicht. Man wurde geprüft, nochmals geprüft, heute zugelassen, ein andermal zurückgestellt, wieder hervorgerufen – alle halbe Jahre wie bei einer Rekrutenaushebung. Als Discantist wurde auch ich aufgenommen und als Basso primo entlassen. Doch begnügte sich Professor X. nicht mit seinem 202 Ruhm als Gesangslehrer, sondern machte es, wie Lißzt und Wagner, die auch ihren Tactirstock gern über die Köpfe ihrer Sänger und Instrumentisten hinweg über andere Lebensgruppen und Zustände hinausragen lassen. Unser Professor war ehrgeizig. Er gab sich das Ansehen, die Anstalt auf seinen Schultern zu tragen. Im Conferenzzimmer der Lehrer, auf den Corridoren und Treppen war er der lauteste. Und wie gering war seine Berechtigung, weiter als im Musiksaal vorlaut zu sein! Selbst die schwache Einsicht eines Unter-Secundaners durchschaute des Mannes hohles Wissen. Sein Geschichtsunterricht, der sofort aufhörte, wenn sich seine Zettel in den Notenblättern verloren hatten, Zettel, die nur Auszüge aus den Geschichtswerken von Rühs und Luden enthielten (welche Quellen er denn auch im letzten Drittel der Stunde ganz offen vorlas), war nur mit unserem eigenen Wissen zu vergleichen, wenn wir uns – die Jahreszahlen auf die Nägel der Finger geschrieben hatten.
Der Zeichnenunterricht war in den Händen eines alten Professors K. Auch diese Reliquie aus den Zeiten der Nützlichkeitstheorie war ohne jeden idealen Aufschwung. Sowie der alte Graubart mit seiner großen Zeichnenmappe und einem Kasten voll Zeichnenmaterialien eintrat, verwandelte sich die Stunde in eine jener Schülerorgien, wo man die himmlische Geduld eines Lehrers bewundern muß. Jede Ordnung schien aufgelöst. Tollheit und Bosheit gingen durcheinander; denn von Gutmüthigkeit ist bei den Ostentationen der Skandalsucht der Jugend nie die Rede. Der alte K. theilte abgegriffene schmutzige Vorzeichnungen, Handzeichnungen, Kupferstiche, Nasen, Lippen, Augen in Aquatinta, Pferde, Hunde, alles durcheinander zum Copiren aus und sprach dabei mit den Quartanern ihren vaterstädtischen Dialekt. Rief einer: „Ach der dumme Kuhstall! Den hab’ ick ja schon zweemal gezeechnet!“ so antwortete K.: „Junge, det ist ’ne Landschaft nach ’m Niederländer!“ „Ach wat!“ lautete die Replik, „so sieht’s bei Moabit ooch aus!“ Jeder zankte um das ihm bestimmte Blatt. „Zerreißt mir meine Zeechnungen nicht! Verdammte Bengels! Wer sich untersteht hier in meine Mappe zu greifen!“ „Ach, Herr K., geben Sie mir da den Kopp! Der 203 ist schön!“ „Junge, der ist for Dir zu schwer!“ „Nee, ick werd’n schon fertig kriegen!“ Von den Köpfen war ihm besonders einer von Werth, der Kopf des Mörders Heinrich’s des Vierten von Frankreich, Ravaillac’s. Regelmäßig empfahl er gerade diese Vorzeichnung. Dauerte ihm das Suchen der ihn umlagernden Quartaner nach Vorzeichnungen in seiner Mappe zu lange, so rief er: „Na, nimm doch Ravaillac!“ Worauf er oft genug mit Indignation geantwortet bekam: „Herr Jeses! Ravaillakken hab’ ick ja schon dreimal gezeechnet! Lassen Sie sich doch Ihren Ravaillac sauer kochen!“ Die Möglichkeit, daß dieser alte Mann eine solche Behandlung aushielt, lag in seiner Gewinnsucht. In jenem Kasten mit Zeichnenmaterialien fand sich Alles, was die Schüler zur Zeichnenstunde nöthig und nicht von Sarre am Werder’schen Markte mitgebracht hatten, Papier, Lineale, Bleistifte, Reißfedern, schwarze Kreide u. s. w. Da gab es ein Feilschen und Schachern. „Ne, Sie sind ’mal wieder theuer!“ „Ick habe nur en Zweegroschenstück bei mir, Herr Professor!“ So ging es durcheinander. Als der Alte endlich pensionirt wurde, kam ein jugendlicher Ersatz. Dieser brachte eine Mappe voll sauberer kleiner Landschaften, erste Proben der damals neuen Lithographie. Es war der Vater Eduard Tempeltey’s in Coburg. Die Eleganz und Würde des neuen Lehrers brachte die böse Rotte zum Schweigen.
Zum höheren Schulamts-Candidaten-Examen gehört eine in einer Gymnasialklasse vor den Schulräthen abzuhaltende „Probelection“, hierauf nach erlangtem Zeugniß der Anstellungsfähigkeit als Lehrer ein sogenanntes „Probejahr“, die unentgeltliche Lehrhülfe an irgend einem zu wählenden oder zugewiesen bekommenen Gymnasium. So gab es denn zu gewissen Zeiten eine stete Abwechslung unter den Docenten, von denen die Mehrzahl schüchtern und überhöflich, einige determinirt oder gar malitiös auftraten. Jeden suchte der Uebermuth und die nicht ruhende Spottsucht der Flegeljahre zu Falle zu bringen. Es mußten schon ganz außergewöhnliche Erscheinungen sein, die uns imponirten und still und gläubig machten. Der Versuch zum „Austrommeln“ war immer rege. Wir hatten zwei Franzosen als Lehrer ihrer 204 Sprache, einen Vollblutfranzosen, ehemaligen Offizier der „großen Armee“ – nach dem Brande von Moskau in Berlin geblieben – und den vollsten Gegensatz dieses schöngewachsenen, formengewandten, aber vom frühen Morgen an schon eine Atmosphäre von Cognac verbreitenden Militairs, den reformirten Prediger N. N., ein verhutzeltes Männlein, kaum vier Fuß hoch, unschön bis zum Exceß. Warum der Schülerwitz diesen verkörperten Begriff der Theologie von Genf und Lausanne, diesen Boileau’schen Rigoristen in Sachen der Poesie, diesen Schwärmer für Bossuet und Fénélon – „Fisel“ nannte, ist mir unerfindlich geblieben. „Fusel“ hätte der Andre, der „Colonel“ ** heißen können, der zuweilen in seinem gebrochenen Deutsch – nicht mit einem stentorischen, sondern weichlich singenden, durchaus unmännlichen Tone ausrief: „Ich habe ein Regiment commandirt und sollte Euch nicht zur Raison bringen?“
In milderer Art gab sich von Seiten unsres verwilderten Schülerstaates die Ironie, die eines schon bis Prima reichenden Lehrers gesammte Thätigkeit begleitete, des Inspectors ***. Schlesier von Geburt, hatte der ärmste, im Antlitz von den Blattern zerrissene Mann sein schlesisches Gemüth, nicht aber die schlesische stramme Thatkraft in die Mark mitgebracht. Sein Wissen galt für außerordentlich, seine Lehrgabe war gering. Die Gewohnheit der Lehrer, sich die Exercitienhefte von einem der Schüler nach Hause bringen zu lassen, hatte Einblicke in die Häuslichkeit unserer Mentore geboten. Wie schnell orientirt sich ein schlaues Knabenauge trotz seines schüchternen Klingelns und Klopfens! Der Inspector war unverheirathet, wohnte bei einem Schlossermeister, der eine hübsche Frau und vier Kinder hatte. Sogleich wollte das nun schon des Lebens kundiger gewordene Schülerauge gesehen haben, daß die Physiognomie sämmtlicher Kinder des Schlossers mit der des Inspectors die nämliche war. Die erwiesenere Schwäche des Lehrers war die Neigung zum Privatgespräch während der Stunde. Man umstand seinen Katheder und forschte ihn nach seinen Ansichten über Griechenlands Wiedergeburt aus. Die olynthischen Reden des Demosthenes sollten übersetzt werden und wir ließen uns in die Stellung der Schiffe in 205 der Schlacht von Navarin ein. Wir erhoben künstliche Zweifel über die Stellung des türkischen Admiralsschiffes, spielten satyrische „Ach nein! Nein! Die Engländer standen ja hier!“ als Trumpf aus und zeichneten auf der Platte des vor dem Katheder stehenden Tisches die Stellung der Schiffe, alles nur, um die Sorglosigkeit des gutherzigen Inspectors, der auf jede Bemerkung einging, zum Scandal auszubeuten. Der Höhepunkt der Verkürzung der Lehrstunde auf manchmal kaum zwanzig Minuten wurde vollends erreicht, als die lebhafte, mit einer sprudelnden, heisern und unverständlichen Redeweise ausgestattete Phantasie unseres Erklärers des Sallust und Demosthenes auf den Gedanken gerathen war, daß die Römer ursprünglich Germanen gewesen und sich die lateinische Sprache vollkommen aus den Grundformen der gothischen und des Sanskrit herleiten lassen könnte. Einem Programm über diesen Gegenstand folgte bald eine ausführliche Schrift, die bei Korn in Breslau erschien: „Der germanische Ursprung des römischen Volkes und der lateinischen Sprache“. Jetzt waren alle Schleusen geöffnet. Wir umstanden den Katheder, wir bewunderten sein Buch, das wir uns anschafften, wir jagten nach Etymologieen, fragten nach Vermittelungen, wenn denn doch die Gegensätze für die nächsten Bedürfnisse: „Brot“ und „panis“, „Pflug“ und „aratrum“ zu schroff waren. Die olynthischen Reden des Demosthenes geriethen fast in Vergessenheit.
Draußen in der deutschen Welt wehte damals eine herbstlich rauhe Luft. Die Hoffnungen der Befreiungskriege, die Blüthenkränze, die einst um die Denkmäler unserer großen Siege gewunden wurden, hingen verwelkt. Die Karlsbader Beschlüsse hatten den Anfang gemacht zu einer immer enger und enger die natürlichen Athmungswerkzeuge einer Nation zusammenschnürenden Bevormundung. Die wissenschaftliche Forschung, die Hebung der Universitäten, die Nothwendigkeit, die den Franzosen wieder abgenommenen Lande am Rhein geistiger an uns zu fesseln, alles das bedingte zwar Schöpfungen im Dienste der Intelligenz, Schulen, Berufungen berühmter Namen – die Periode Altenstein verleugnete nicht die Verehrung vor Kunst und Wissenschaft, die an aller-206höchst maßgebender Stelle fehlte – aber die Weisungen aus dem Polizei- und auswärtigen Ministerium wurden immer dringender, unduldsamer und ablehnend. Zuletzt wurde das gute Verhalten in politischer und kirchlicher Hinsicht bei Belohnungen und Bevorzugungen maßgebender als das Verdienst.
Wir Scholaren glaubten, daß die plötzliche Entfernung unseres gefürchteten Rohrstockschwingers, des Rectors, eine Folge seines Alters war. In Wahrheit hatte die Pensionirung desselben ihren Grund in einer Verschwörung, die der edle Freimaurer hauptsächlich geleitet hatte, ein Theologe gesellte sich ihm zu und der Sohn eines Theologen. Die Denunciation ging auf die Religionsgesinnung, die bei Zimmermann dem Geiste derjenigen Parthie der sich immer mehr lichtenden Schülerbibliothek entsprach, die noch mit Gedike, Biester und Nicolai ging. Der strenge Lehrer der Mathesis war ein Schüler Kant’s. Waren ihm Aeußerungen über den Religionsunterricht entschlüpft, hatte er ihn in den untern Klassen ab und zu selbst gegeben, genug, das immer mehr von oben her sich steigernde Drängen nach Kirchlichkeit war schon so erstarkt, daß einer der Angeber, der zugleich in einer der nächsten Stadtkirchen predigte, provisorisch in des Angeschuldigten Stelle einrückte und bis auf Weiteres der Leiter der Anstalt wurde.
Dieser Professor und Prediger N. N. gehörte zu denjenigen unserer Lehrergestalten, die das Unglaubliche leisteten, zugleich, um gefürchtet und auf der andern Seite ein Gegenstand der Jugendsucht zu sein, Alles lächerlich zu finden. Die mit einem markanten, fast südlich zu nennenden Kopf ausgestattete Gestalt war nicht verwachsen, hielt sich aber mit emporgehobener linker Schulter und niedergebeugtem, blitzende Strahlen aus den schwarz umrandeten Augen entsendenden Haupte in manchen Augenblicken wie ein Aesop und erhob sich dann wieder strafend wie Moses der Prophet. Ein Schauspieler würde etwa Richard III. so spielen können wie dieser Professor über die große Treppe und in einem neuen Lokal, in welches später die Anstalt übersiedelte, über den Hof bald hüpfte und trippelte, bald drohend und wuchtig auftrat. Die Sprechweise des uns unheimlichen Mannes war die lauteste, 207 immer wie auf Echo berechnet, dabei singend im Ton und zuweilen fast mit wirklicher Absicht, statt zu sprechen, zu singen. Die Töne gingen dann wie im chromatischen Lauf die Scala durch. Das Liebliche erhielt die hohen, das Ernste die tiefen Noten. Ihm bewußt mußte diese Weise sein, denn zuweilen fiel der Sonderling plötzlich aus der Rolle und sprach mit vollkommener Natürlichkeit. Vom Herzen dieses Lehrers mochten die Schüler wenig Beweise haben. Aber sein Verstand war unstreitig eben so groß, wie seine Unwissenheit. Bitter war sein Spott. Aus seinem scheuen unheimlichen Auge, das Niemanden Stand hielt, zuckte es irrlichterhaft unter den schwarzen Wimpern, wenn er einmal ein Urtheil über allgemeine, weltliche oder geistliche Dinge fällte. Unvergeßlich ist mir ein mit Dringlichkeit und im Tone schmerzbewegter Mahnung gesprochenes Wort aus seiner bessern Stimmung: „Lesen Sie, ich beschwöre Sie, die Dichter in Ihren jetzigen jungen Jahren! Im Alter verliert sich dafür die Empfänglichkeit!“ Eine Mahnung, die mich in die größte Unruhe versetzte und augenblicklich bestimmte, zum Kaufmann Nätebus in der Friedrichsstraße zu laufen und auf „Shakspeare, übersetzt von Meyer“ zu subscribiren. Mit diesem Meyer, dem Begründer des Bibliographischen Instituts zu Hildburghausen, wollte damals der gesammte Berliner Buchhandel seiner „Miniatur-Bibliothek der deutschen Classiker“ wegen nichts zu thun haben, so daß der anschlägige Kopf, dessen Etablissement eine so großartige Zukunft haben sollte, sich eines Colonialwaarenhändlers, des Kaufmanns Nätebus in der Friedrichsstraße, zum Vertreiben seiner Artikel bediente. Dieser Lehrer erklärte uns die Iliade. Er hatte ständig Vossens Uebersetzung zur Seite und gerieth in Folge dessen noch mehr in jenen singenden Schwung der Rede, der ihn sogar in gewöhnlicher Rede hexametrisch sprechen und einen Schüler mit einem Distichon anreden ließ:
„Geiseler, merken Sie auf, man wird es Ihnen beweisen,
Wär’ der Beweis schon geführt, längst schon wären Sie fort!“
Die Beantwortung einer Frage durch die Schüler verstand der Unwissende so lange hinzuhalten, bis er sich in den Noten 208 seiner Ausgabe oder im Wörterverzeichniß orientirt hatte. Der Bruder Freimaurer K. las Rühs und Luden zumeist verstohlen ab, der neue Director ganz offen. Deutsche Literatur lehrte er nicht nach, sondern aus Franz Horn. Ganze Kapitel brachte er einfach zum Vortrag aus den bekannten Büchern des damals noch in Berlin für Goethe, Schiller und die classische Zeit in den Zeitschriften und kleinen Theeabenden den Ton angebenden schönseligen Kritikers. „Schöner, geistreicher, treffender kann man diese Periode der Literaturgeschichte, den Göttinger Dichterbund, nicht erzählen, als unser Meister Franz Horn gethan hat. Hören Sie!“ Eines Tages war der Vortrag bis zu Wieland gekommen. Wie groß war unser Erstaunen, als wir kaum den wie gesungen vorgetragenen Namen Wieland vernommen hatten und hören mußten: „Dieser Dichter hat in solchem Grade Sitte, Anstand und Religion mit Füßen getreten, daß er für uns nicht existirt. Er wird hiermit überschlagen. Franz Horn hat es auch gethan.“ Das Nonplusultra von Vorträgen, die uns alle bis zu einem Niederkämpfen der Lachmuskeln, das krampfhaft zu werden drohte – denn wehe dem, der sein Lachen verrathen hätte! – belustigte, war der Versuch, den die Begeisterung Altenstein’s und aller officiellen Kreise für Hegel’s Philosophie in den Schulen mit Einführung einer Lehrstunde machte: „Philosophische Propaedeutik“. Als provisorischer Director theilte sich der Professor diese bedeutungsvolle Lection, die eine wahre Feierstunde des Gymnasiums hätte werden können und es unter seinem Nachfolger auch wurde, selbst zu. Wir wußten Alle, daß uns von ihm Dictate aus „Matthiä’s Propaedeutik“ gemacht wurden. Diese Dictate erläuterte dann die „philosophische Vorschule“. Ein Satz, wie etwa der: „Die Logik ist die Anleitung zum Urtheilen und Schlüsse zu ziehen –“ wurde von diesem Lehrer, während sich auf jeder Bank die geweckteren Köpfe die Hand über die Oberlippe halten mußten zum Verbergen des Lachens, folgendermaßen erläutert: „Logik, Λογικη, also griechisches Wort, die Logik ist, d. h. stellt vor oder auch ist die Anleitung, sagen wir die Wissenschaft oder auch je nachdem eine Kunst, ist also sagen wir die Anleitung, zu urtheilen d. h. Urtheile zu fällen, auszusprechen und 209 Schlüsse, Schlußfolgerungen, conclusiones latine, zu ziehen, d. h. herzuleiten, abzuleiten, kurz logisch zu schließen und logisch zu denken.“ Nun folgte sogleich § 2. In dieser Weise ging es die Stunde fort, bis endlich der dröhnende Schlag der Uhr im Hofe Erlösung von einem solchen Mißbrauch der Zeit brachte, einer solchen Täuschung des wahrhaft nach Geistesbefruchtung schmachtenden Jünglingsgemüths.
Das Provisorium hörte endlich auf. Die Neubesetzung des Directorats führt die Erinnerung auf die Lichtseiten der Anstalt, die bei so vielem Schatten nicht fehlten.
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II.#
Ersatz und Aufschwung.#
Von manchen Menschen könnte man sagen, sie seien zum Geheimerathwerden geboren. Schon auf der Schule unterscheiden sie sich von den Andern. Sie schließen keine Freundschaften, sie gerathen nicht in die Lage, zu den Excessen ihrer Mitschüler gute Miene machen zu müssen, sie legen den Lehrern, was hinter dem Rücken derselben geschehen ist, sofort offen und klar zu Tage. Nicht gerade, daß sie angeben oder aus mißgünstigem, heimliche Schliche und Tücke liebendem Gemüthe heraus liebedienerische Gesinnung zeigen; nein, ihre Haltung ist eine ihnen angeborene, in der Regel durch die Erziehung vervollkommnete. Sie besitzen von Hause aus das Talent für eine sociale Tugend, die man das „correcte Denken“ nennt.
Der „correcte Denker“ tritt nur alle Jubeljahre einmal, wenn die Dinge und Personen etwa auch allzu arg werden sollten, in die Opposition. Seine Wahl ist bei jedem Dilemma bald getroffen. Wo die gebieterische Macht der Umstände steht, dahin tritt der „correcte Denker“. Werden Hypothesen erörtert, Meinungen durchgesprochen, selbst solche, die noch keineswegs im Partheienstreit auf’s Tapet gebracht worden sind, die also noch Links und Rechts offen lassen, immer wissen diese glücklichen Naturen des „correcten Denkens“ 210 die Auffassung zu finden und zu wahren, die, wenn die Frage parlamentarisch werden sollte, die Ansicht der Ministerbank ist.
Das Musterbild eines „correcten Denkers“ im Gegensatz zur fahrigen Leidenschaftlichkeit, zur Verkennung des geziemenden Bewußtseins seiner Lebensstellung, zur Geltendmachung seiner subjectiven Begriffe vom Zukömmlichen ist der Staatssekretär Antonio in Goethe’s Tasso. Da ist der Hofton nicht etwa verkörpert als die tyrannische Regel des Ceremoniells, als die gedankenlose Gesetzgebung einer willkürlichen Anordnung der Standesunterschiede, sondern als die reine Urweisheit und Goethe’s eigenstes Erfassen von Welt und Zeit überhaupt. Der Minister des Herzogs von Ferrara hat die gleich respectvollen Worte über den Papst, über die Nepoten, über Ariost, ohne sich für den einen oder den anderen dieser Namen ganz zu verbürgen. Er würde auch Tasso von einer gewissen Seite anerkannt und ihm das Seinige gelassen haben, wenn dieser die Schranke seines Standes innegehalten hätte. Der „correcte Denker“ weiß Jeden unterzubringen, wohin er gehört. Nicht, daß im innern Mechanismus seines Urtheils nicht Pro und Contra zu einem momentanen Anprall gekommen sein könnten, ein kurzer Kampf wird gekämpft und servil erscheint an ihm nichts. Bald aber hat er sich gefunden und dann wird die durchgängige Begleiterin seines Wesens, wie bei Antonio Montecatino, die immer triumphirende Ironie sein. Die „correcten Denker“ sind Ironiker. Ständig haben sie in ihren Mienen ein sardonisches Lächeln. Bei ihrem Zustimmen zur Macht der Verhältnisse, das manche Menschen so gewöhnlich erscheinen läßt, wissen sie immer die Grazie zu wahren. Wilibald Pirkheimer und Erasmus von Rotterdam waren solche „correcte Denker“ der Reformationszeit, während Hutten und Luther mit der Thür in’s Haus fielen.
Goethe’s Antonio im schwarzen Scholastergewande, Cicero’s Verrinen oder ein Packet durchcorrigirter Extemporalien unterm Arm, war August Ferdinand Ribbeck, der endliche Nachfolger des schwarzen Predigers und Professors N. N. Ein Sohn des ersten Geistlichen der Stadt, des Probstes, hatte er eine Erziehung genossen, die ihn vor allen Merkmalen eines plebe-211jischen Ursprungs bewahrte. Den Schliff des Vornehmen mehrte noch eine Beziehung zu einem Prinzensohne morganatischer Ehe, den er mit einem andern Lehrer der Anstalt, der sich sogar ein Reitpferd hielt und in die Klasse mit Sporen kam, unterrichtete. Der Eindruck dieses in seiner Art ausgezeichneten Mannes auf die Jugend, kam schon damals, als derselbe an dem Trifolium Theil nahm, das auf Zimmermann’s Pensionirung drang (worauf er für einige Zeit die Anstalt verließ, um als Director wiederzukehren), den Wirkungen der Antike gleich. Man stand vor einer erhabenen, vornehm lächelnd blickenden Gottheit und suchte sich, zuerst angefröstelt, das etwaige warme Leben derselben heraus. Das erste Urtheil, das in des Schülers lauschendes Ohr über diesen Mann, ehe er noch selbst bei ihm Unterricht hatte, gedrungen war, kam aus der Collegenwelt. Ein cynisch gekleideter, nur kurze Zeit an der Anstalt verweilender, doch für grundgelehrt ausgerufener alter Hülfslehrer hatte Ribbeck vor den Schülern selbst einen „Terroristen“ genannt. „Terrorist“, das Wort machte dem Untertertianer zu schaffen. Es blieb lange an seinem Vorstellungsvermögen unerklärt haften. Robespierre, lernte er endlich, war ein Terrorist. Aber jener cynische Hülfslehrer ähnelte selbst einem Robespierre. Vielleicht hatte dieser den Terrorismus der Eleganz bei den Girondisten gemeint, die triumphirenden Erfolge der honetten und wohlgekleideten Leute und der „correcten Denker“.
Bald erfuhr denn auch der höher hinaufrückende Schüler selbst Ribbeck’s kurzabtrumpfende, schneidige Schärfe, seinen markanten Witz, die vornehme Geringschätzung, die jedes Nichtwissen verwundete und beschämte. Aber allmälig gingen bei längerm Zusammenarbeiten dem Schüler auch die positiven Elemente dieses pädagogischen Antonio auf. Sie lagen in der Fülle und Vielseitigkeit seines Wissens, in seiner gewandten kunstvollen Rede, in seiner klaren Uebersicht der Lernthätigkeit einer ganzen Klasse, in dem schnellen Aufrufen, Fragen, der wunderbarsten Anwendung aller Künste der sokratischen Methode. In seinen späteren Jahren trat auch neben Ribbeck’s kaustischem Witz sein Gemüth, sein herablassendes Wohlwollen und durchweg eine große Abmilderung seiner früheren Schroffheit ein.
212 Zumpt gesteht in der ersten Vorrede zu seiner „Lateinischen Grammatik“, daß Ribbeck sein Mitarbeiter gewesen. Das Gefühl für Sprachrichtigkeit war bei diesem Lehrer ein außerordentliches. Nicht nur beruhte es auf seinen Studien, von denen einiges Gedruckte Zeugniß giebt, sondern mehr noch auf seinem Tact- und Schicklichkeitsgefühl. Die letzten Reste Berlinischen Jargons wurden den Schülern durch einen wahren Schauder ausgetrieben, der den Lehrer beim Anhören gewisser Worte, wie etwa „drängeln“ und dergl., überfiel. Er hielt sich beide Ohren zu, wenn man etwa übersetzte: „Es war dem Julius Cäsar zu Ohren gekommen!“ „Die Ohren wachsen Einem ja förmlich zu Eselsohren!“ rief er mit seiner schneidenden, in der Höhe durch die Nase gehenden Stimme. „Es war dem Julius Cäsar zu Ohr gekommen“, mußte man sagen. Zu figürlichem Gebrauch für „Wissenschaft“, „Kenntniß“ ist der Plural unpassend.
Zu beklagen war des Gestrengen Neigung für cursorische Lectüre. Die Alten ließ er förmlich durchjagen, ohne daß er die volle Reproduction dessen, was man las, in unserm Vorstellungsvermögen abwartete. In den Reden des Cicero z. B., in den Verrinen, trat kein Stillstand ein. Lexikographie und Grammatik boten ihm allein die Anhaltspunkte einer Erläuterung; für Zumpt und Buttmann that er Alles. Die Vertiefung in das Gelesene selbst jedoch, Archäologie und Geschichte, die gezogene Moral des Gelesenen kamen zu kurz. Glücklicherweise ging seine Vorliebe für Etymologie und Syntax nicht soweit, uns, wie künftigen Philologen, Parallelstellen zu dictiren, wie leider einige andere Lehrer thaten.
A. F. Ribbeck kam in späteren Jahren auch noch an die Direction des Grauen Klosters, fühlte sich brustleidend und ist auf einer Reise nach Italien in Venedig gestorben. Sein „Terrorismus“ war denn doch wol überwiegend nur sein organisatorisches Talent, das jede Unvollkommenheit durchschaute, nirgend etwas Halbes duldete. Gewiß war er eine ästhetische Natur, im Styl Platen’s und Rückert’s. Die Form ging ihm über den Inhalt. Damals war die Zeit des durch Zelter, Friedrich Förster u. A. ein- und mit einer gewissen aufdringlichen Absichtlichkeit durchgeführten Goethe-213Cultus. Es lag Methode in diesem oft überspannten Preisen eines Heroen, der den „correcten Denkern“ („Hofräthe“ hat sie Börne später genannt) gegen Schiller vernachlässigt erschien. Man ließ Preisausschreibungen ergehen für das beste Gedicht auf den „Alten in Weimar“. An einem Wettkampf zwischen mehreren bekannten Namen, zu denen auch Ribbeck gehörte, wer Manzoni’s berühmte Ode auf den Tod Napoleon’s am besten übersetzte, betheiligte sich damals das ganze gelehrte Berlin. Seltsam aber, daß von diesen und ähnlichen Neigungen (auch für Germanistik) nur äußerst wenig an dem praktischen Pädagogen in der Klasse sichtbar wurde. Die größte Feinfühligkeit für dichterische Schönheit konnte von Ribbeck vorausgesetzt werden, ebenso ein verächtliches Ablehnen dessen, was seinen Neigungen und demjenigen widersprach, wofür sich sein persönlicher Geschmack gelegentlich entschieden hatte. Aber bei Alledem erlebte man in seinen Lectionen nie eine Abschweifung auf die Gegenwart, nie einen Fingerzeig für ein Unterrichtsgebiet, das vielleicht einem Andern gehörte. Und doch – wie würden den Primaner, der sich schon von draußen her seine innere Welt bestimmen ließ, einige Winke ergriffen haben über die Zeit und ihre Erscheinungen, und wenn es nur ein Wort über Goethe’s Faust gewesen wäre! Solche Offenbarungen existirten nicht. Ich gestehe, daß ich zu Ribbeck’s Lieblingsschülern gehörte, wenn ich auch wohl am schroffsten die guten Erwartungen täuschte, die seine Vorliebe hegte. Seine Religiosität war die Schleiermacher’sche, damals die maßgebende für all’ diese Ausläufe der Romantik, die sich noch ab und zu wieder zu erheben versuchte. Auch auf diesem Gebiet hatte man die „correcten Gläubigen“. Was man bekannte, war selbstredend nicht das Christenthum des Pastors Jänicke in der böhmischen Kirche, aber man würde sich doch noch eher zu diesem bekannt haben, wenn man zwischen ihm und Röhr-Wegscheider hätte wählen sollen. Ich erinnere mich nicht, ob auch Strauß in seiner Schrift: „Die Ganzen und die Halben“ auf den Schein einer größeren geistigen und gesellschaftlichen Vornehmheit im Bekennen auf Schleiermacher Nachdruck gelegt hat.
Die Romantik hatte sich überlebt. Im Verse durch ihr 214 Auslaufen in langathmige Epen, wie Schulze’s „bezauberte Rose“, in der Prosa durch ihr Auslaufen in Tieck’s Novellen, meist capriciöse Einfälle, die mit dem Aufgebot seines gewandten Dialogs und manches erheiternden, aus dem Leben gegriffenen Charakters auf Augenblicke eine gefällige Wirkung zurückließen. Neue Schößlinge trieben aus dem alten Stamm des poetisch-nationalen Dranges zur Poesie, vor dem ja alle „Schule“ zur Nebensache werden muß. Uhland war seines Ursprungs Romantiker. Mit seinem Freunde Justinus Kerner wurzelte er tief in den Anschauungen von Kunst und Leben, die sich, den Paragraphen der Lehrbücher unserer Literaturgeschichte zufolge, damals schon als überlebt hätten bekennen sollen. Zum Glück war die Triebkraft seines an Goethe’s bestes Theil wieder anknüpfenden Talentes eine freie, individuell gestaltende. So brach denn ein neues Zeitalter an, ein positivschaffendes, dessen Kundgebungen vorzugsweise in der Lyrik und lokal in der Sphäre des Stuttgarter „Morgenblatts“ auftraten. Unvergeßlich ist mir das erste Hereinfallen des Namens Uhland in unsere lateinische Welt. Es war ein Eindruck auf uns Secundaner, wie wenn sich ein Schmetterling in ein Zimmer voll werkeltägiger Arbeit verirrt hätte, ein Sonnenstrahl in eine düstere Kammer, eine Blume geworfen worden wäre auf unsern von schweinsledernen Büchern beschwerten Schreibtisch. Die Nennung war nur vorübergehend, beinahe sogar scheu, als hätte der Name Heinrich Heine gelautet. Und mit der Empfehlung war zugleich eine Warnung verbunden, die so seltsam klang, als wäre sie aus dem Schall des Namens hergeleitet gewesen. „Ein Dichter“, hieß es, „der die Sage meisterlich zu behandeln versteht, ist jetzt Uhland. Er hat nur den Fehler, nicht immer das Düstere und Unheimliche zu vermeiden.“ Oder waren das trauernde Königspaar, des Sängers Fluch gemeint? Die Zeit reifte, wo die Düsseldorfer einen Dichter illustriren sollten, der immer mehr anfing, Liebling der Nation zu werden.
Der kühne Neuerer, der in die abgelesene Franz Horn’sche Literaturgeschichtenweisheit, in dies ewige Einerlei von Bodmer und Gottsched, Klopstock, Voß, Lessing, Schiller und 215 Goethe, den Namen Uhland warf, war ein schlanker, magerer junger Lehrer, der noch etwas vom Studenten hatte, ein Angehöriger der vielverzweigten Schulfamilie Passow, Karl Passow. Sein Vortrag fesselte so lange durch eine frische Anregung, die den Reiz eines wie eingeschmuggelten geistigen Lebens von draußen her für uns hatte, bis die scharfe Beobachtung der Jugend auch ihm seine Schwächen abgesehen hatte. Seine Einleitungen der ersten Lectionen im neuen Lehrcursus waren überaus fesselnd. Sie versprachen alle Herrlichkeiten des „Fortsetzung folgt“. Plötzlich trat aber auch bei ihm Erschlaffung, Zerstreutheit, Mangel an Präparation ein. Die Stunde bekam den Charakter eines Stegreifvortrags. Erst da, als sich die Ursachen dieses Nichtworthaltens nach so viel verheißendem Anfang zu lichten anfingen, ging das Schifflein wieder mit vollern Segeln. Es war die Aufgabe des jungen Philologenehrgeizes gewesen, die Episteln und Satiren des Horaz in’s Deutsche zu übertragen. Nun wurde der bald zum Joachimsthal versetzte Lehrer fast wieder zu voll des Stoffes, so daß wir uns in der Lectüre des Horaz nur schneckenartig fortbewegten und für eine einzige Epistel fast ein Vierteljahr brauchten.
Den Preis des anregenden Lehrvermögens erwarb sich ein Angehöriger der ebenfalls weitverzweigten Lehrerfamilie Giesebrecht. Von diesem hieß es, er wäre Rector einer mecklenburgischen Stadtschule gewesen. Sein Erscheinen war ein vorübergehendes und hatte etwas von einer Probezeit oder Aushülfe. Bei diesem trefflichen Manne, der die Historien des Tacitus mit uns las, kam all’ die Anregung zur Geltung, die nur im vielseitigen Wissen eines Lehrers, in seiner eigenen Ergriffenheit vom behandelten Stoff liegen kann. Giesebrecht hatte einen nicht starken, aber eindringlichen, etwas provinziell gefärbten, doch immer männlichen Ton, den Ton einer reifen, fast hätte man sagen mögen, schmerzlich geprüften Lebenserfahrung, einen Ton, der so ganz im Einklang mit dem düsteren Colorit in den Erzählungen des Tacitus stand, mit den elegischen Betrachtungen, dem Schmerz über Zeitenlauf und Schicksal und die Seltenheit der redlichen Charaktere. Dabei bot die Erläuterung dieses Lehrers nach einer seither 216 gründlich bei uns vernachlässigten Seite hin, der archäologischen, eine Unterhaltung, die schon allein gefesselt haben würde ohne das Werk des großen Historikers selbst, das dann auch um so schärfer und klarer zu Tage trat. Wir lasen bei Andern Sophokles und selbst Aeschylus. Wir traten an die Tafel und gaben mit Kreide den Bau der Chöre an. Das metrische System Gottfried Herrmann’s war durch die Schüler August Böckh’s noch nicht verdrängt. Schlesien schien ein Privilegium zu haben, die Zöglinge des Breslauer Seminars auf die berlinischen Schulen zu schicken. Auch den Sophokles erläuterte ein Schlesier, sogar ein damals mit Achtung genannter Editor der Tragiker. Aber das Ganze seiner Leistung verlief in Mittelmäßigkeit. Der selbstgefällige Ton des Erklärers konnte nicht fortreißen, auf die Länge nicht über die Tagelöhnerei erheben. Wann wird man endlich anfangen, in den Lehrplan der obersten Klasse eines Gymnasiums eine oder zwei Stunden für die Lectüre und Erläuterung guter Uebersetzungen der Alten aufzunehmen! Der Vossische Homer gilt für verpönt in des Schülers Hand und an welcher Quelle anders gewann er denn die Totalübersicht über den großen Sänger von Chios? Im Urtext geht der Inhalt über dem ewigen philologischen Knaupeln am Worte dahin. War im griechischen Text einer Göttin ein Beiname gegeben, sogleich folgte ein langer Excurs über den Ursprung desselben. Oder eine seltene Wortformation brachte wieder ein ganzes Kapitel der Grammatik in Mitleidenschaft. Das Lesen anerkannt gelungener Uebersetzungen wird manche Erläuterung nicht ausschließen, aber ein Gedicht wird nur allein auf diese Art objectiv erfaßbar, die Schönheiten desselben werden nur so dem Verständniß und Genuß zugänglich. Was ein Primaner an griechischem Wortwissen schon aus Secunda mitbringt, ist wahrlich für jeden gelehrten Lebensberuf, den philologischen mag man ausnehmen, ausreichend.
Schlesier und kein Ende! Eine Zeitlang war auch der Physiker ein Schlesier. Diesmal nicht nur in seinem Fache der Sattelfestesten Einer, sondern auch ein mit Lehrgabe und liebenswürdiger Bonhommie ausgestatteter Docent. Niemand anders als der berühmte Dove. Obschon in diesem Fach 217 verhältnißmäßig selbst einer der ungenügendsten Schüler, begriff ich doch die Klarheit der Demonstration, die Leichtigkeit im Herbeiführen des gelungenen Experiments, des Lehrers Schöpfen aus einem beinahe für uns zu reichen Wissen. Denn hemmend war den Zurückgebliebenen allerwege die leichte Handhabung von Begriffen, die für sie noch auf der Liste des Unerklärten standen. Mit „Kali“ und „Natron“ warf der Lehrer um sich, wie mit selbstverständlichen, mit uns auf die Welt gekommenen Begriffen. Oft hätte ich den anmuthig Plaudernden, der die Hörer wie mit Sirenenton zu fesseln verstand und schon damals auf seinen Ehrensitz in der Akademie der Wissenschaften loszusteuern schien, unterbrechen mögen mit der Bitte, über unsere Sphäre nicht hinauszufliegen und uns gefälligst erst an – Sauer-Stickstoff, Oxyd und ähnliches A B C seines Wissens gewöhnen zu wollen –! Aber ein junger Docent umfängt seine Wissenschaft wie der Jüngling seine Braut. Er möchte ihr alle Schätze zu Füßen legen, alle Herzen gewinnen, jedes Ohr zum Vertrauten seines beneidenswerthen Glückes machen.
Als flüchtige Erscheinung tauchte schon früher ein anderes, spätres „Mitglied der Akademie der Wissenschaften“ auf, der Mathematiker Steiner, seines Ursprungs ein Schweizer Hirtenknabe, der von seiner Heerde zu Pestalozzi nach Iferten gelaufen kam und unterrichtet sein wollte. Den Aermsten machte sein Schweizerdialekt zur vollständigen pädagogischen Unmöglichkeit für Norddeutschland. Einen Commilitonen Namens Isleib nannte er zum Jubel der Klasse regelmäßig „Iselebbe“, welcher Name ihm denn selbst verblieb. Der Versuch mit ihm währte kaum länger als ein halbes Jahr.
Das Chaos der Anstalt hatte sich durch Ribbeck’s Directorat etwas gelichtet. Ganz beseitigen ließen sich die alten Elemente nicht. Professor N. N., der Bewunderer Franz Horn’s, behielt den deutschen Unterricht bis in die obersten Klassen und ging in seinen Vorträgen nur rückwärts, vom Göttinger Dichterbund und übersprungenen Wieland auf die schlesische Dichterschule, die frommen Liedersänger Dach, Weckherlin, Paul Flemming, deren Lieder uns vorgelesen, deren Lebensumstände breit und umständlich erzählt wurden. 218 Es ist die größte Thorheit, unsere Jugend mit Perioden unserer Literaturgeschichte zu unterhalten, die nur noch höchstens durch das Gesangbuch mit unserm Jahrhundert und der Bewährung unsrer Bildung im Zusammenhang stehen. Nur die „philosophische Propaedeutik“ eignete sich der neue Director selbst an. Das war denn allerdings eine wahre Luftreinigung der alten Atmosphäre der Anstalt, ein Bad, ein Strudelbad, Douche und Sturzwelle zugleich für uns. Ein Lehrsystem zu geben, schien dem Docenten mit Recht nicht am Orte; uns historisch von Kant’s Ding an sich und Fichte’s Ich gleich Ich zu unterhalten, wohl nicht minder. Ribbeck’s Methode war die, einige Begriffe, meist synonymische, zu wählen und diese von allen Seiten mit Schnellfragen zu vorausgesetzten Schnellantworten zu betrachten. Die ganze Klasse schien in die Denkoperation eines Einzigen verwandelt. Einer dachte mit dem Andern dasselbe, sollte es wenigstens denken, Pausen und Stockungen wurden nicht zugelassen; wer nicht unmittelbar antwortete, wurde durch den Aufruf derer beschämt, die zumeist sicher am Platze waren. Der Eindruck am Schluß dieser katechetischen Stunde war regelmäßig der, daß sich Lehrer und Schüler wie nach einer gelungenen Kunstleistung gegenseitig hätten Glück wünschen können. Drei der Primaner wurden damals von den Anderen ehrenvoll als eine „Selekta“ abgesondert. Ein späterer, schon verstorbener Pfarrer Hermann Böttcher, der jetzige Professor der Philosophie in Greifswalde George und meine Wenigkeit.
In den letzten Zeiten des höheren Schullebens tritt eine Erschlaffung, eine wahre Sehnsucht nach endlicher Erlösung vom Schulzwange ein. Immer derselbe regelmäßige Gang der Beschäftigung, immer die gleiche Verpflichtung zur Arbeit, die Abhängigkeit vom Stundenschlag bis zur Minute –! Und dabei doch so viel Reiz schon zur Freiheit, so viel Verlockung durch den Anblick des ungebundenen Studententhums, das in jener blühenden Zeit der Berliner Universität und bei den noch kleinen Verhältnissen einer damals wenig über 200,000 Einwohner zählenden, geographisch auffallend isolirten Stadt weit mehr hervortrat als jetzt. Welche Anstrengung schon der täglich viermalige weite Weg zur und von der 219 Schule! Die Anstalt wurde verlegt, doch den in der Friedrichsstadt Wohnenden nicht näher. Das sogenannte alte „Fürstenhaus“ beherbergte damals in seinen vorderen Räumen das „Intelligenzcomtoir“, in seinen hinteren, an die königliche Münze grenzenden, kurz vorher ein Gefängniß für „Demagogen“. Ein Zufall hatte mich vor Umwandlung in unsere Gymnasialansiedlung in diese vergitterten Corridore geführt, die von Wärtern mit schweren Schlüsselbunden durchschritten, von Soldaten bewacht wurden. Die einzelnen Kammern hatten Doppelthüren. Hinter ihnen schmachteten Jünglinge aus Thüringen, Westfalen, Pommern, Schlesien. Die schönste Jugendzeit ging ihnen dahin. Darunter mancher Name, der später gefeiert wurde. Die nahe „Hausvoigtei“ war überfüllt von den Opfern der Centraluntersuchungscommission in Mainz, den Vorläufern und Anbahnern von Ideen, die gegenwärtig Fürsten und Minister zu Vertretern haben. Später wurden die Gefangenen zumeist nach Köpenick in jenes Schloß abgeführt, an welchem wir jetzt zur Sommerlust so vergnügt vorüberfahren, um in Grünau Aale zu essen und die Müggelseewarte zu ersteigen. Als unser Gymnasium einzog, war jene Kerkerwelt höchstens noch am Carcer erkennbar. Die Kammern waren zu Sälen durchbrochen; Thüre, Fensterladen, Tische, Bänke bekamen einen Anstrich von grüngrauer Oelfarbe. Wir klebten noch fest auf den frischgestrichenen Bänken.
Wie gründlich damals die Universitäten purificirt wurden, wie nachdrücklich die Griffe gewirkt hatten, die Kamptz in die deutsche Studenten- und Professorenwelt gethan, diese traurige Erfahrung, die Jahrzehnte lang nachhielt und selbst durch die Julirevolution von 1830 noch nicht umgestoßen wurde, ersah sich aus dem Umstand, daß von unseren sämmtlichen Lehrern kaum Einer, vielleicht Karl Passow ausgenommen, eine Berührung mit demjenigen Geist entweder vertrat oder allenfalls ahnen ließ, der kurz zuvor in diesen Räumen so schwer hatte büßen müssen. Das mit dem Wesen der „Burschenschaften“ so nahe verbundene Turnen existirte nicht mehr. Das noch vor wenig Jahren so vielerörterte „Turnziel“ war in den Augen der Staatslenker nur der Fürsten- und Ministermord. Selbst das Feuer der Befreiungskriege, das in den 220 Schulen durch Geschichtsunterricht und deutsche Lehrstunde hätte fortlodern sollen, wurde wie ein allzu gefährlicher Brand zugeworfen und erstickt. Die Flammen brachen nur etwa in der Singstunde aus, wenn Theodor Körner’s „Schwert zu meiner Linken“ in der Hand des Jünglings „winken“ und der Tod für’s Vaterland als ein der Nacheiferung würdiges Bild in die Herzen dringen konnte. Aber Stellung zu nehmen gegen Napoleon oder Frankreich, das blieb Privatsache des Schülers. Aufklärungen über die Geschichte unsres Jahrhunderts gab es nicht, selbst nicht einmal über unsere Siege.
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III.#
Hinter die Schule gehen.#
Es giebt auch ein geistiges Hinter die Schule gehen. Ohne die Wirkungen desselben stellt sich keine wahre Freiheit im Gebrauch der von den Lehrern aufgenommenen Bildung ein. Kenntnisse, Anschauungen, die dem nächsten Schulleben fremd geblieben, muß man gewonnen haben, um die wahre „Reife“, nicht für die Universität, sondern für’s Leben zu gewinnen.
Es giebt Lehrer, die auch für dies „Außerhalb der Schule“ höchst liebevoll anzuregen, auch da, auf einem allerdings dunkeln, an Irrwegen und Klippen reichen Gebiete, Führer zu sein verstehen. In großen zerstreuenden Städten allerdings wird einem Schüler diese Wohlthat selten zu Theil. An unserm Gymnasium fehlte sie gänzlich.
Aber erst noch sei von einem wirklichen, frevelhaften Hinter die Schule gehen berichtet und eingestanden, daß dem Erzähler das Jahr 1823 verhängnißvoll wurde. Die Sonne zur Hundstagszeit brannte in diesem Jahre so heiß! Die Poesie des „Schafgrabens“, der jetzt unter den Neubauten am Tempelhofer und Hallischen Ufer, höher hinauf an den Gasanstalten begraben liegt, lockte so verführerisch in’s dunkel-221blaue, hier und da schlammige und nur nabeltiefe, aber wonnigkühle Gewässer! Dem „Wassernix“ wurde noch gründlicher gehuldigt jenseits der Linden. Zum Oranienburger Thor hinaus war die Panke nicht überall zur „Bassermann’schen Gestalt“ geworden, wie sie etwa an der Nachtconditorei der Karlstraße, einer nächtlichen Eimerfrau nicht unähnlich, an’s Tageslicht schießt – nein, bei den „Invaliden“ war sie noch ein klarer, unter jungen und alten Weiden munter dahinhüpfender und seine „Ikleye“ treibender Bach, militairblau wie alles märkische Gewässer, und des Preises würdig, das ihr Schmidt von Werneuchen gewidmet. In der Nähe des Invalidenhauses lag ein wie im hohen Schilf begrabener Pfuhl, wir nannten ihn Teich. Wie mit Polypenfangarmen griff eine unheimliche Vegetation, die auf seinem Grunde wucherte, nach unsern Lenden und Waden, wenn wir dort, ohne Schwimmhosen, hinter die Schule gegangene Jünglinge, badeten. Jetzt rauchen hier Schornsteine und erheben sich Siegesdenkmäler und neue Kasernen, wo sich so träumerisch beobachten ließ, wie die Distel ihr wolliges Blüthenhaupt auf die Schultern höchst gefährlicher Brennnesseln legte und die „Kalitte“ von einer Kartoffelblüthe auf die andre flog. Infandum scelus infanda poena piandum – und „Fordre Niemand, mein Schicksal zu hören –!“ Unter den Frevlern, die für ihren Schul-Strike, den großartigsten, der vielleicht je durchgeführt wurde, von beinahe einem Vierteljahre, zu büßen hatten, befand sich auch der Sänger des „Neuen Reineke Fuchs“, der schon auf der Schule durch eine immer flügge Lebendigkeit im Räthselaufgeben und Charadenlösen ausgezeichnete Adolph Glaßbrenner.
Das geistige „Hinter die Schule gehen“ ist beim Kinde zuerst ein neugieriges Aufschlagen alles Dessen, was der Zufall an Büchern in die Hand giebt. Sinnend, wie in ein fernes Eden verloren, steht der durch Kameradenbeispiel verführte, aber reuevoll jetzt wieder von den besten Vorsätzen erfüllte Quartaner an einem Buchladen und spinnt sich Märchen aus und lange Zukunftsahnungen von diesem und von jenem Werke, während die Wagen um ihn her rasseln, der Verkehr der Straße donnert – er könnte am Niagarafall 222 stehen und in seinem Grübeln über diesen oder jenen Titel stört ihn nichts.
In jenen Zeiten gab es noch weit mehr antiquarische Bücherstände auf offener Straße als jetzt. Am rechten Flügel der Universität, am Schloß, in der Jägerstraße, als diese noch mit „Colonnaden“ geschmückt war, hielt man im Wandern inne, um Büchertitel zu lesen. Der alte Mann, der am Schloß einen Abhub alter Bücher feilbot, hätte in einer Erzählung von E. T. A. Hoffmann figuriren können neben seinen Nußknacker-Menschen. Schräg dem jetzigen „rothen Schloß“ gegenüber, wo oft der Sturmwind Hüte und Mäntel fortzureißen droht, hielt dieser alte, wie vom Jahre 1770 vergessene und zurückgebliebene graubärtige Mann Stand. Sein nach der Mode des vorigen Jahrhunderts geschnittener Rock hatte zwei lange Seitenschöße, wie der Frack des Doctors Dulcamara auf der Bühne. Zwei Uhrketten hingen über eine bis an die Lenden gehende Weste heraus. Für den Schüler bot sein Kram nichts Brauchbares, ja, man fürchtete sich, den unheimlichen Automaten-Menschen anzureden. Coulanter war ein kleiner rundlicher, rothwangiger Mann, der ein Häuschen dicht an der Schleusenbrücke bewohnte und die Jugend Berlins vorzugsweise anzulocken verstand, Gsellius, der Begründer der großen, so blühenden Buchverkaufsfirma. Seine Ehehälfte, Frau Gsellius, kletterte wol selbst auf die Leiter, um von den oberen Fächern noch einige ihr näher bekannte Xenophons und Neposse herunter zu holen. Aber die Preise bestimmte der Gatte.
Eine Quelle mancher Heimlichkeit, doch zu fruchttragender Lectüre anregend, wurde das Erscheinen zweier Uebersetzungsbibliotheken der alten Classiker, einer, die von Stuttgart, und einer concurrirenden, die von Prenzlau in der Ukermark ausging. Die letztere, in blauem Umschlag, heimelte sich mehr an als jene in braunem, trotzdem diese als Bürgen ihrer Vortrefflichkeit die Namen Schwab, Tafel und Osiander auf dem Titel trug. Cicero’s Briefe, im Prenzlauer Sammelwerk übersetzt und erläutert von einem sonst unbekannt gebliebenen Rector Thospann, wurden eine Fundgrube für jene Thatsachenfülle, nach welcher sich der Jüngling sehnt. 223 Das abscheuliche Wortgeklaube hörte in diesen Uebersetzungen auf. Der Pragmatismus, der die Sachlagen, die Nebenumstände, die besonderen Bedingungen und nächsten Bezüge der Facten in’s Licht stellte, ergriff den Leser. Diese Sammlungen, auf welche – und auf beide zugleich – mit den größten Opfern der Sparsamkeit und Entbehrung abonnirt wurde, brachten Einleitungen in jedes Werk, die mehr enthielten, als wir in der Klasse erfuhren. Leider hatten es die Herausgeber so einzurichten gewußt, daß die Werke, die in den Schulplänen vorkamen, nicht so früh erschienen, daß sie die damals lebende junge Generation noch brauchen konnte.
Die Mahnung des Professors N. N., die Dichter in der Jugend zu lesen, wirkte nach. Der defecte Zustand der Schülerbibliothek zwang, die Leihbibliothek statt ihrer eintreten zu lassen. Unterm Tisch und sogar während der Klasse kam jene Mahnung den Uebersetzungen Walter Scott’s zu Gute, der Zwickauer kleinen Ausgabe mit lateinischen Lettern. Wenn je ein Dichter sein Zeitalter ergriffen hat, so war es der „große Unbekannte“, der „Verfasser des Waverley“, wie lange Jahre der bezaubernde Dichter genannt wurde. Raupach’s „Schleichhändler“ geben einen ungefähren Begriff von dem damals hervorgebrachten Begeisterungsgrade. Die allgemeine Reaction der europäischen Zustände, die Rückkehr und Vertiefung in die Ideen des Mittelalters erleichterten die Aufnahme dieser Arbeiten eines sinnigen Genius, gegen dessen phantasiebeschwingten Flug der gegenwärtige Gouvernanten-Roman Englands nur zu ärmlich absticht. Wie wurde ein Selbstbesitzer der Zwickauer Ausgabe umschmeichelt von den leselüsternen Kameraden! Förmliche Anwartschaften nach der Anciennität der Meldungen wurden eröffnet, wer daran käme, endlich den „Quentin Durward“ zu bekommen! Wie wurde geschwelgt in den Schrecken, die Ludwig XI. um sich verbreitete! Wie unheimlich beängstigend und zuletzt doch so rührend wirkte ein reicher Zwerg – wo kommt er vor? Im „Herzen von Midlothian“? Die Hexen Hochschottlands, die Norne von Faithful Head waren Gestalten, die für unser Bedürfniß nach drastischem Schauer nicht grotesker erfunden werden konnten. Im Zauberbann der Nachtseiten des Lebens, 224 unter den Macbethhexen, wie einst bei den Geisterbeschwörungen der Hexenküche im Faust, war dem Erzähler ästhetisch am wohlsten. Die Angst der meisten Kinder vor Geschichten, die übel enden, hatte er nicht.
Es ist ein Verlust zu nennen, wenn eine seit Generationen bestehende gute Bibliothek einer großen Stadt später zerstückelt wird. Die Petri’sche Leihbibliothek führte ihre Kataloge bis in die Literatur des vorigen Jahrhunderts zurück. Während die Königliche Bibliothek aus dem belletristischen Gebiet entweder gar nichts anschafft oder nichts verleiht, konnte sich der Liebhaber und Forscher auf dem Culturgebiet älterer Epochen in solchen und ähnlichen Bibliotheken, deren Bestandtheile jetzt vielleicht in des Stuttgarter Scheible Curiositätencatalogen zu finden sind, Raths erholen. Bei Petri war die ganze Nicolaizeit vertreten, die spätere romantische, wenigstens in ihrem polemischen Zusammenprall mit Kotzebue und Merkel, die erste „Bonaparte“-Literatur, die Erniedrigungszeit, als die „Löschbrände“, „Fackeln“, „Silhouetten Berliner Charaktere“, die Werke der Firma Peter Hammer in Köln und Amsterdam erschienen, später die Restaurationszeit, wo die „Satyriker“ Friedrich und Julius von Voß die Sittengeißler sein wollten – doch nur zu sehr verriethen, wie alles, was damals zu schreiben und zu drucken erlaubt wurde, von der Misère des öffentlichen Lebens, nebenbei auch von Pensionen und Subventionen, die man erbettelte, abhängig war. Für die damals modische schöne Literatur, für Clauren, Van der Velde, Tromlitz und Aehnliches fehlte dem Erzähler jede Neigung; nur die alte echte Romantik wurde aufgesucht, Novalis, Achim von Arnim, Brentano. Die „Hymnen an die Nacht“ begeisterten den Erzähler selbst zu einer Apostrophe an die Sterne, die er schon als Primaner dem Dr. W. Häring für sein „Conversationsblatt“ einschickte, der sie auch abdruckte. Schon vorher hatten Veit Weber’s „Sagen der Vorzeit“ um so mehr auf die Phantasie gewirkt, als die Schauplätze derselben, die alten epheuumwundenen Mauerbögen und zerfallenen Thürme der Rheinburgen, die sie wie im magischen Mondlicht neuerstehen, sich von Rittern und Reisigen, holden Frauen und deren Liebesleid beleben ließen, für den 225 auf die Kiefern der Mark angewiesenen Knaben einen erhöhten Reiz ausübten. Selbstverständlich wurde Schiller gelesen, Goethe im Faust, Götz und Wilhelm Meister, vorzugsweise Jean Paul. Letzterer wurde ein Liebling des Jünglings, der allmälig die Zeit des sonntäglichen Kirchenbesuchs zu opfern und mit dem Verweilen auf einer Bank im stillen Thiergarten zu vertauschen anfing. Jean Paul hatte damals die gläubigsten Leser. Kanzelt ihn herab, ihr Literarhistoriker, nennt ihn mit Goethe einen „Tragelaphen“ – er versetzte beim Lesen den ganzen Menschen in Mitthätigkeit! Seine Bilder- und Witzsprache griff bald in dies, bald in jenes Gebiet des Wissens über, wo wir zugleich, während nur die Unterhaltung, die Befriedigung des Herzens gesucht wurde, Belehrung fanden. Brauchte der Dichter Vergleiche mit den Erfahrungen der Alltäglichkeit, die Jedermann selbst macht, wie erging sich da die noch nicht blasirte Jugend im gesundesten Lachen! Wie gerne hätten wir uns ganz in Titan – Liane – Roquairol vertieft –! Aber die Griechen und Römer ließen uns nicht los. Zum Ueberfluß mußte noch Hebräisch gelernt werden. Eine alte hebräische Bibel wurde an derselben Stelle am Schauspielhause erhandelt, wo später der Generalintendant der Königlichen Schauspiele sein Empfangscabinet hatte. An der Ecke der Jäger- und Charlottenstraße befand sich ein Antiquar.
Das Theater befördert das geistige „Hinter die Schule gehen“ in einem solchen Grade – zunächst negativ –, daß ich kaum fassen kann, wie sich die jetzige Ueberfülle von Theatern in Berlin zur stillen Clausur des Schullebens, zur träumerischen Brütestimmung im Gemüth des Knaben verhalten mag. Ueberredet die Reclame von dieser „zwerchfellerschütternden“ Posse, von jenem „genußreichen“ Lebensbilde, diesem „durchschlagenden“ neuen Werke des Herrn N. N. auch die aufstrebende lateinische Jugend oder hat sie noch den aesthetischen Rigorismus, der wenigstens den Erzähler in seiner Jugend geringschätzend blicken ließ auf literarische Erscheinungen, Blätter, Bücher, die den Charakter des Unmusischen, Banausischen, Unstudirten an sich trugen? In meine Gymnasialzeit fiel das erste Auftreten M. G. Saphir’s und seiner 226 Nachahmer in Berlin. Komus und Jocus, der Witz und wieder nur der Witz, sollten herrschen. Die Königliche Bühne hatte eine Rivalin bekommen, die Königstädtische am Alexanderplatz. Aber in unsere heiligen Schulhallen drang von diesem Tagesflitter wenig. Erst einigen entschieden zum Belletristischen neigenden Köpfen der Prima gelang es, die stolze Ablehnung dieser flüchtigen und leichten Musenspiele des Tages zu mildern. Da wurde dann ein kleiner Theil der Klasse (durch ein unter uns handschriftlich erscheinendes Journal und einen Sonnabendclub hervorgebracht) so für „Belletristik“ gewonnen, daß meine Feder an einer Uebersetzung der Oden der Sappho feilte, ja zu einem förmlichen Buche über die öffentlichen Spiele der Römer und zuletzt zu einer Novelle ansetzte für Saphir’s „Schnellpost“, die dort auch abgedruckt ist.
Die lateinische Welt vergißt sich am ehesten im Kaffeehause. Berlin hat noch bis zum heutigen Tage keine eigentlichen Kaffeehäuser wie Paris, München, Wien. Die ungemeine Theuerung des baulichen Terrains hat eine Menge kleiner Lokale geschaffen, wo man den oft unausstehlichen Geruch altgewordener Backwaaren miteinathmen muß, um mit knapper Noth an einer Tischkante seine Tasse Kaffee zu trinken. Zum Bleiben wird man durch die Fülle der vorhandenen Journale und den Mangel an andern Lesecabinetten genöthigt. Wurden nun die Blätter oder die „Baisers“ der Conditoreien das Anziehendere –? Eines ging mit dem Andern. Doch der Sonnabend gehörte ganz der Literatur. Sonnabend Nachmittag hatten sich alle Wochenjournale eingefunden; der „Gesellschafter“, der „Freimüthige“, die aus Leipzig gekommenen „Kometen“ und „Planeten“, vor allen das damals tonangebende Stuttgarter „Morgenblatt“. Es währte nicht lange, so war der Primaner in alle schwebenden Streitfragen, in die Personalverhältnisse der zeitgenössischen Literatur, die Production des Büchermarkts eingeweiht. In Berlins belletristischer Sphäre tobte damals der helle Krieg. Saphir forderte alle Welt zum Kampfe heraus. Eine Zeitlang schützte ihn der Beifall des mittleren Publikums, sogar des Königs, der Ministerien, ja des damals Alles vermögenden Hegel. 227 Man glaubte eine Macht gewonnen zu haben, die dem für unbestechlich geltenden Kritiker Rellstab gewachsen war. Diesem verbündeten sich jedoch die alten literarischen Kräfte Berlins. Die Zahl derer, die darunter für die Bühne geschrieben hatten, stieg auf dreizehn. Saphir sagte: Ich bin dem Taschenspieler Bosko ähnlich, lasse von dreizehn auf mich schießen und ziehe dreizehn Kugeln aus der Rocktasche! Er schien unverwundbar. Eine Brochüre folgte auf die andre. Die Offizin des auf der Straße durch seinen schlanken hohen Wuchs und die abschreckendste Häßlichkeit seiner Gesichtszüge aller Welt auffallenden Mannes war die gegenwärtige der Litfaßsäulen. Aus jenem kleinen Winkel, wo einst Berlins alte Kalandsbrüder gehaust haben, kamen seine „Schnellpost“, sein „Courier“, „Staffette“ und manche spätere Nachahmung.
Das Königliche Theater bot damals in Oper und Schauspiel denkwürdige Leistungen. Die erhabenen Rollen Gluck’s und Spontini’s gab Frau Milder-Hauptmann, in dem jetzigen Fache Lucca glänzte die liebenswürdige Seidler-Wranitzki. Bader, Blume waren auf ihrer Höhe. Die Theaterzettel wechselten nur mit Olympia, Nurmahal, Vestalin, Alcidor, Iphigenie, bis der „Freischütz“ die Alleinherrschaft Spontini’s brach. Im Schauspiel herrschte die durch P. A. Wolf eingeführte weimarische Schule, die später durch die jüngeren Brüder Devrient nach Dresden übersiedelte, während in Berlin der Naturalismus zurückblieb. Frau Stich war die weibliche Zugkraft. Die schöne Frau alarmirte damals die Welt durch ihren Liebeshandel mit dem jungen Grafen Blücher, der ihrem Manne in einem Hause der Mohrenstraße, dem jetzigen Hotel Magdeburg gegenüber, einen Dolchstich versetzte. Damals begann Raupach, während noch Albini, Frau von Weißenthurn, Houwald, Clauren, Karl Blum die Lieblingsstücke des Königs lieferten. Eine allzu scharfe Beurtheilung derselben in den censurirten Blättern veranlaßte „Cabinets-Ordres“ mit weithintreffender Wirkung. Einmal wurde sogar befohlen, daß jedes neue Stück erst nach der dritten Vorstellung recensirt werden durfte. Für den Erzähler dieser Erinnerungen existirte leider diese Kunstsphäre nicht. Sein pietistischer Vater sprach 228 die Verdammungsurtheile über Theater in immer heftiger gewordenen Ausdrücken aus, so daß die Frage, ob die Mittel zum Besuch vorhanden gewesen wären, nicht erst nöthig hatte aufgeworfen zu werden. „Nur der Satan hat seine Freude an diesen Possen! Unser Heiland hat nichts vom Theater gelehrt. Sie werden’s wohl einst am jüngsten Tage spüren, ob sie lieber in’s Komödienhaus oder in die Kirche gegangen sind!“ Das wurde nicht so hingemurmelt und als die schüchterne Privatmeinung eines sich in der Minorität Fühlenden ausgesprochen, sondern stand als christlicher Glaubensartikel an der Haustafel und wurde auch von den überfüllten Kirchen bestätigt, wo die Strauß, Couard, Jänike, Goßner in jenen Tagen gegen den Geist der Zeit predigten. So konnte an andere Theatereindrücke nicht gedacht werden als an solche, wofür einmal der Zufall ein Billet auf den Tisch warf. Zuweilen war dies beim Königstädter Theater der Fall. Das denn doch augenscheinlich und ersichtlich daliegende Parterre-Billet schien schon dem exacten Sinne des Beamten seine Erledigung zu verlangen. Die mütterliche Liebe predigte Toleranz und berief sich auf die Thatsache, daß ja doch auch der König in’s Theater ginge. So sind dem Erzähler wenigstens von den Schauspielern der jungen aufstrebenden, leider in ihrer Verwaltung aus einer Krise in die andre geschleuderten Königstädter Bühne einige Erinnerungen geblieben, darunter die besten von Schmelka und Beckmann, deren Komik mit dem jetzt üblichen, sich selbst und die Welt parodirenden Ton nichts gemein hatte. Von Paris kam damals der gesungene Refrain, den Holtei im deutschen „Liederspiel“ (Vaudeville) einführen wollte, von Wien kam das schon ausgebildetere Couplet. Noch mit schwacher Wirkung, da die Mitgabe die Zauberposse war, ein Genre, das in Berlin von je nur für die Kinder existirte. Wer sich damals schon hätte hinstellen wollen und als Hausknecht oder Dienstmagd dem Publikum dummdreistaufdringlich die neusten Zeitereignisse, die Themata der Leitartikel erörtern – die Ablehnung solcher Zumuthungen würde vom Publikum selbst gekommen sein. Die Censur wäre nicht nöthig gewesen. Der Janhagel gab nicht wie jetzt den Ton an.
229 Eine breitspurige Wirksamkeit übten die Uebersetzer Louis Angely und Kurländer in Wien. Beide sind die Begründer des „Frei nach dem Französischen“. Der Erstere war auch Schauspieler und hatte eine etwas forcirte Komik. Als Ferdinand Raimund nach Berlin kam, 1832 – wo der Erzähler schon Student war – fand sich nur ein Häuflein Zuschauer im Königstädter Theater ein. Der Beklagenswerthe spielte seinen eigenen „Menschenfeind“ vor leeren Bänken. Man konnte annehmen, daß ihm die bitteren Verwünschungen des Schicksals, von denen Rappelkopf, der wienerisirte Timon, durch den „Alpenkönig“, der niemand anders als Kaiser Franzel im Incognito sein sollte, geheilt wird, recht von Herzen kamen.
Theatereindrücke, denen regelmäßig, wenn der Erzähler bald nach zehn Uhr, wo die Hausthür geschlossen wurde, heimkehrte, die Erklärung des Vaters, der jene erst zu öffnen hatte, folgte: „An Dir wird Satan seine Freude haben! Du gehst den graden Weg zur Hölle!“ konnten keine dauernde Lust daran erwecken. Die Bühne blieb mir eine Liebe aus der Ferne, die es zu keiner Erklärung kommen läßt. Mochte ich doch auch kaum voraussetzen, daß Shakspeare und Calderon, die ich für mich und mit lautem Recitiren allein las, im Schauspielhause anders erscheinen würden, als sie vor meinen Augen standen. Oft hatte ich Regungen, selbst Schauspieler zu werden. Aber die Idealität, in deren Verklärung mir alle Kunst lebte, fehlte zu sehr dem ganzen Theatergebiet. Das Ideal der griechischen Bühne wurde uns in der Klasse täglich vorgeführt, jener unter dem offenen blauen Himmel Griechenlands geführte Kampf heroischer Gestalten mit dem großen erhabenen Schicksal – wo war davon etwas in Schinkel’s neugebautem „Komödienhause“ zu suchen, wo man bei spärlichster Oelbeleuchtung durch ein Gewinde von kellerartigen Gängen und Treppen hindurch mußte, um endlich im zweiten Rang oder auf der Galerie fast immer – allein zu sitzen! Denn der Zuspruch zum Theater war damals in hohem Grade gering, trotzdem daß Friedrich Wilhelm III., wenn nicht grade im Opernhause Ballet angesetzt war, jeder Schauspielvorstellung anwohnte.
230 Einen wie andern Blick gab, statt auf den Theaterzettel mit: „Der Galeerensklave“, „Preziosa“, „Künstlers Erdenwallen“, die Welt des Geistes und der Forschung! Die Nachtstunde mit „unnützerweise verbrauchtem Oel“ ließ schönere Gebilde aufsteigen, als sie der an sich nicht mehr gefürchtete „Satan“ im Theater zauberte! Die „Prolegomena“ F. A. Wolf’s, von dessen Geist die ganze damalige Alterthumswissenschaft durchdrungen war, blieben unserm Kreise nicht fremd und wurden zu häuslichem, privaten Studium erworben. Die kühne Hypothese, daß es keinen Homer gegeben hätte, sondern nur ein homeridisches Zeitalter, eine Alluvion von Dichtungen, die sich durch die Zeiten, durch eine Schule gebildet hätten und daß zuletzt in Athen, theilweis auf Staatsbefehl, dies große Material geordnet, überarbeitet, ergänzt worden wäre – sie warf – mit Begeisterungsschwingen – den Zweifel in die Brust als Führer für’s ganze Leben. Die gläubige Natur, die angeborene oder anerzogene Verehrung der Tradition, war dahin. Alles in dem jungen Mann stockte und staunte ob dieser Enthüllung eines verführerischen Scharfsinns. Hier gab es keinen Glauben an die Unmöglichkeit, daß eine Dichtung wie durch generatio aequivoqua in’s Leben gerufen werden konnte. Die Bahn war gebrochen, sich gegenüber allen Anfängen der Geschichte, jedem mythischen, über das Maaß der Gegenwart hinausragenden Begriffe, am meisten der Bibel selbst, nur prüfend zu verhalten und alles Ungeheuerliche, Unverhältnißmäßige, Wunderbare natürlich zu erklären. Die Teufel kamen immer näher – aber von einer andern Seite! Von der Studirlampe! Diese wandernden Homeriden waren es. Diese tanzten nicht im Ballet vor dem frommen Agenden-König. Im Geiste sah ich’s: Erzogen und gebildet auf einer Sängerschule (vielleicht lag sie in Chios), hinauswandernd, erst zu Schiff und wie Arion die Geister der See beschwörend mit dem Saitenklang goldner Harfen, dann das feste Land betretend in Kleinasien, auf Trojas Trümmern oder in Argolis, wo sie die Löwenburg der Atriden aufnahm! Alle zerstreut, Jeder singend, Jeder allein bildend an seinem besondern Stoff, Der geschult auf diese Mythe, Der auf jene und dann alle vier Jahre zu Olympia sich vereinigend, 231 dort nichts begehrend, nichts sich mühend zu erringen als den Kranz vom wilden Oelbaum auf das lockenumwallte Haupt –! Die Gegenwart hat die Hypothese der Prolegomenen und ihre spätere Anwendung auch auf die Nibelungen verworfen, sie hat wieder für einen wirklich dagewesenen großen Dichter Homer plaidirt. Ich kann an diesen nicht glauben. Wer die Schwierigkeiten des Schreibens in den alten grauen Tagen erwägt, wer an die Unmöglichkeit denkt, das Material für weitschichtige Aufzeichnungen aufzutreiben, wer da weiß, daß nur eine Staats- oder Cultushülfe, ein gleichsam gesetzgeberischer Act die Mittel bot, um lange Bücherrollen zu führen, der wird sich das Bild eines sich schon damals à la Goethe mit ruhiger Federführung hinsetzenden und seine Iliade und Odyssee dichtenden Homer niemals vorstellen können.
Das entschiedenste geistige „Hinter die Schule gehen“ wurde mit den Büchern getrieben, die sich einige stimmungsverwandte Schüler zusteckten, mit verbotenen. Sie betrafen die damalige Lebensfrage der akademischen Jugend, ob Landsmannschaft, ob Burschenschaft. Von Schulgenossen, die ihre Eltern am Orte hatten, konnte solche eingeschmuggelte Lectüre nicht kommen, obschon die sich zuweilen in die Klassen verlierenden Spoliationen der väterlichen Bibliotheken, ja selbst der Kupferstichsammlungen merkwürdige Untersuchungen hätten bringen können. Ein Commilitone „schenkte“ mir z. B. mit voller Treuherzigkeit einen Müller’schen Stich des Evangelisten Johannes, der später zu hohen Preisen gesucht wurde. Haupt’s „Burschenschaften und Landsmannschaften“ und Herbst’s „Ideale und Irrthümer“ brachte der schon genannte spätere Pfarrer Böttcher in unsern Kreis. Selbst der Sohn eines Landpfarrers bei Züllichau, wohnte er selbstständig. Eine Zeitlang da, wo vielleicht gegenwärtig in der Jägerstraße bei Beyer einer der Leser dieser Zeilen nach dem Theater sein Beefsteak zu verzehren pflegt. Welche Umkehr durch die Zeit! Dieser jetzige Restaurations-Garten war pedantisch gepflegt, an den Beeten rings mit Buchsbaum umfriedigt, die Gänge waren mit gelbem Kieselsand beschüttet; das Haus war eines jener wenigen alten „vornehmen“ Berliner Häuser, die ständig geschlossen 232 blieben. Alles ringsum war klösterlich. Bei jedem lautgesprochenen Worte guckten alte Demoisellen mit langen Locken (aus Seide, wie sie damals üblich) entrüstet zum Fenster heraus. An den unheimlichen schwarzgeräucherten Brandmauern, die in ganzer Länge das Gärtchen einschlossen, schlichen die den Damen wahrscheinlich einzig sympathischen Katzen dahin. Man sollte am Berliner, wenn man seinen Urtypus schildert, seine Pedanterie, eine gewisse mißgünstige Peinlichkeit, die Wahrung des Kleinlichen und die nur langsam kommende Regung zum Leichtnehmen, Generosen und Coulanten nicht verschweigen. Die meisten Physiologen unserer socialen Zustände, Skizzen- und Bildermaler über Berlin und die Berliner, vergreifen sich, wenn sie nicht von einer gewissen hypochondrischen, griesgrämlichen, kalt ablehnenden Neigung im Charakter des Märkers überhaupt ausgehen, woraus auch andrerseits die eigenthümlichen Tugenden dieses Stammes, das feste Beharren, Muth und Entschlossenheit, herzuleiten sind.
„Haupt“ und „Herbst“ hatten einen kleinen Kreis, der sich schon durch Studenten rekrutirte, auf dem Gewissen, wenn wir beim „Heil dir im Siegerkranz“ uns schon lange das Ohr zuhielten und nur über Barbarossa’s Erwachen im Kyffhäuser, über die wiederherzustellende Kaiserkrone träumten. Die alten spitznasigen Demoisellen, bei welchen Böttcher von seinem Vater einquartirt worden war, kündigten ihm sogleich nach einem unsrer Nachmittags-Kaffees, bei denen „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“ entsprechend intonirt wurde. Trotzig zog der Ausgewiesene in die Scharrn-, die Kur-, die französische Straße. Ueberall vertrieb ihn unser Lärm. Der Aermste war krank am Fuß und hinkte. Oft, wenn ich die wilden Ausbrüche seines Zornes sah, mußte ich denken: Wie der Schöpfer so weise voraussorgt! Jedem, der in seiner Art für Andere gefährlich werden könnte, legt er einen Dämpfer auf –! Wir folgten diesem Rattenfänger, einer idealen, schwunghaften Natur, mit seiner feurigen Rede, seinen langen, hellblonden, ungelockt auf die Schultern fallenden Haaren, seinen sprühenden Augen von Hausnummer zu Hausnummer seiner Wohnungen, bis er nach seinem rühmlichst bestandenen Abiturientenexamen auf ein halbes Jahr nach Halle ging, dann 233 zurückkehrte und unsern inzwischen umgestalteten Bund mit seinen „Haupt“- und „Herbst“-Ideen beinahe nach – Köpenick geführt hätte. Denn wir hatten trotz unsres „an Eides Statt“ gegebenen Gelöbnisses und der drohenden Gefahren durch Pedell, Universitätsrichter und Minister von Kamptz, in gewissen Formen eine Burschenschaft errichtet.
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IV.#
Abschluß.#
Es wurde nun mit der Zeit fast unmöglich, die Welt der Schule und des gesteigerten inneren Lebens mit der des Hauses, mit der Welt der täglichen Umgebungen, der herabziehenden Gewöhnlichkeit im Einklang zu erhalten. Die classischen Ideale im Kopfe, die endlich gewonnene sichere Gewißheit, daß es eine Welt des Schönen, Hochherrlichen, über diesen gemeinen Erdenbedingungen Erhabenen giebt, an welcher die Sterblichen hienieden mitzugenießen, für das Hereinragen derselben in’s Erdenleben mitzuleiden und mitzuschaffen berufen sind – und dem dann gegenüber die immer anspruchsvollere, wilde, ja trotzige Durchkreuzung durch eine von Armuth, Unwissenheit und fanatischem Wahn bedingte Lebensexistenz – es wurde zuletzt eine Qual, unerträglich, obschon – sie ertragen werden mußte. Sie hatte den immer mehr sich entwickelnden Bruch mit allem im damaligen Berlin Gegebenen im Gefolge.
Die Mittel fehlten, Berlin zu verlassen und etwa dem Beispiel mancher Kameraden zu folgen, die auf die Gymnasien kleinerer Städte gehen durften, wo sie eine beneidenswerthe Freiheit gewannen. Konnten doch selbst die Hülfsquellen, die ein Fortwandern auf dem Wege zu dem noch hochliegenden Tempel Minerva’s ermöglichten, nur dadurch erworben werden, daß zu einigen Stiftungs-Vergünstigungen, 234 deren Verleihung dem Gemüth des bald wieder mit dem ausgearteten Quartaner versöhnten Zimmermann zu danken war, sich die Erträgnisse einer schon zu lehren anfangenden Laufbahn gesellten.
„Stundengeben –“! Du inhaltschweres, Bilder der Mühe, der in die Ewigkeit hinein erneuerten Sisyphusarbeit weckendes Wort! Prüfungsreicher Currendedienst! In sommerlicher Nachmittagshitze die lange Friedrichsstraße von ihrem einen Ende bis an’s andre keuchen, im Wintersturm, Abends wenn der Schnee alle Straßen unwegsam machte oder der Frost die Fenster der Häuser undurchsichtig, pünktlich an Ort und Stelle eintreffen, um einen faulen, hinter seinen Mitschülern zurückgebliebenen Unter-Tertianer vorwärts zu bringen – gewiß zum „europäischen Sklavenleben“ eine Vorstufe, wenn man die geringe Entgeltung hinzunimmt und die gewaltige Fülle von Pflichten, die sich der junge Lehrer aufbürdet, der doch noch selbst ein Schüler ist und seinen Vorgesetzten gegenüber in der Klasse seinen Mann zu stehen hat. Nach diesen Lectionen begannen erst die eigenen Arbeiten, Präparationen, Uebersetzungen, Ausarbeitungen und die mit gesteigertem Eifer betriebenen eigenen philologischen Studien.
Zum Glück gefällt sich der Rigorismus der Jugend in solchen Kraftproben. Noch ist man Anachoret in der Kunst des Abschließens und der Entbehrungen. Am Wintermorgen schon um sechs Uhr, erwärmt nur durch die nachhaltende Bettwärme, noch lange vor dem Frühstück schon in einer Kammer ohne Ofen hinter dem grünen Blechlampenschirm zu sitzen und Meierotto über Roms Sitten und Gebräuche zu excerpiren, den alten Niewport über die Feste der Römer, die Gedichte der Sappho, die Fragmente des Alcäus zu übersetzen, das war ein selbstauferlegtes Martyrium, nie mit Klage und Mißmuth erfüllend. Abends aber kam so manche Störung. Zum Lernen sollten sich sogar Musikübungen gesellen. Die Uebungen im Flötenspiel – „unglückselige“ Erinnerung – erschienen den Eltern wichtiger als die Lectüre von Raumer’s „Vorlesungen über die alte Geschichte“. Der Unterricht im Fingergriff und Mundansatz der Flöte war die Folge des sonderbaren Schauspiels, daß sich eine Zeitlang regelmäßig drei 235 Bewerber um die Gunst der Schwester, Rivale, die sich bitter haßten und auszustechen suchten, einfanden. Einer derselben, Militair mit silbernem Porteépée, eine nicht gewöhnliche Natur, die es später bis zum Rechnungsrath beim Steuerwesen brachte, war zugleich musikalischer Dilettant. Der abendliche Unterricht im Flötenspiel, den er gab, machte ihn zum umgekehrten Pendant für Schiller’s Major Walter. Dieser nahm nur Flötenstunde, um seiner Liebe nahe zu sein, jener gab welche. Herb löste sich auch hier der Conflict. Der Flötenspieler hatte Gelegenheit, wöchentlich zweimal zu kommen, und sein Schüler blies schon Berbiguier und Fürstenau mit ihm, aber die Schwester wählte einen Andern. Bei ihrer Hochzeit wurde getanzt, ohne daß, wie auf der Hochzeit des Bruders geschehen, der Hauswirth auf die nächste Wache lief und Beistand gegen einen von ihm behaupteten Einbruch der Decke begehrte. Der Berliner ist, wie schon oben gesagt, von Natur nergelnd und mißgünstig.
Beim Stundengeben eröffneten sich wieder allerlei interessante Fernsichten in die Verschiedenheiten der Existenzen. Mit unbefangenem, reinen Sinn wurde in eine wunderlich geartete Welt geblickt, wo die Nähe einer Fürstlichkeit waltete, des freilich schon verstorbenen Staatskanzlers Hardenberg. Bekannt ist des weichlichen und in Allem die Signatur des 18. Jahrhunderts tragenden Staatsmannes zerrüttete Häuslichkeit. Hier gerieth der junge Stundengeber in die Existenz eines der Schwiegersöhne des Fürsten. Es war ein Witwer, der sich fast im Geiste des Herrn Cleanth gab, nur daß die Veranlassungen zum Podagra, das im Leben des Herrn Legationsrathes eine Hauptrolle spielte, bei Cleanth zurücktraten. Die Freimaurerei jedoch, das enge Zusammenhalten geheimnißvoll verbundener Brüder, dabei in Mittagsgesprächen, denen der Primaner nicht selten als à la fortune du pot Geladener anwohnen durfte, die ganze Zeit der Haugwitz in den Auffassungen der Politik, Friedrich Nicolai’s in Sachen der schönen Literatur und Kunst, das war die nämliche Welt wie auf dem Leipziger Platz. Nach Tisch vereinigten sich die maurerischen Freunde zum Quartettspiel. So lernte ich früh jene unverwüstlichen Haydn- und Mozart-236Schwelger kennen, mit welchen im Bunde die Zelter und die Begründer der Liedertafeln, auch einige Orgelspieler in den Kirchen Berlins, in Tonsachen ein Regiment führten, das sich noch jetzt bei einem kleinen, doch kräftigen Häuflein regt, so oft es gilt, die Anmuthungen unsrer musikalischen „Zukunft“ abzuwehren. Einer der Hausfreunde war ein Original. In alten Tagen Militair, dann zum Civilfach übergegangen, hatte er sich auf abstracte Philosophie geworfen. Auf eigene Kosten ließ er mehr als ein Dutzend kleiner blaubrochirter Hefte drucken, in denen er nach Kantischen Principien der damals in allen Köpfen rumorenden Hegel’schen Philosophie eine andere Metaphysik, Logik, Anthropologie u. s. w. gegenüberstellte. Schon wagte der Primaner mit dem immer freundlichen und sich wegen seiner kostspieligen Thorheit zuweilen selbst ironisirenden Mann zu streiten. Wenn er dann seinen Gegner nicht zu überzeugen vermochte, so zog er wieder ein paar neue Hefte einer Onto- oder Teleologie aus der Tasche und empfahl sie zu gelegentlichem Studium. Der Sohn des wackern Mannes war der später bekannt gewordene Schulrath Bormann.
Ein Sohn des damals berühmten Kartographen Engelhardt war ebenfalls mein Schüler und lohnte mir, wie die Enkel Hardenberg’s, nicht nur durch treue Folgsamkeit, sondern auch durch den Zauber weiblicher Nachbarschaft beim Dociren. Holde Schwestern, in der Leipzigerstraße (jetzt „Leipziger-Garten“) eine braune, in der Friedrichsstraße (jetzt „Concert-Garten“ – allerwärts verwandelt sich Berlin in Wirthshäuser!) eine hochblonde, kredenzten Früchte, Wein, Kaffee. Schon zitterte die Hand, die dargereichte Tasse zu empfangen, die Wange glühte. Der Anrede folgte mit Verlegenheit die Antwort. Nach dem Verschwinden der ach! so flüchtig gewesenen Erscheinungen wurde erst die Toilette geordnet. Xenophon’s Rückzug der 10,000 Griechen, der eben tractirt wurde, konnte als Sinnbild dienen für den schwierigen Rückzug des siebzehnjährigen Lehrers selbst in die wirkliche Welt. Die Russen sollen ein Wort für die ersten Liebesschauer der Jugend haben, Sasnoba. Gewiß ist damit beim Anblick seiner Schönen Gesichtskrampf, Stocken der Rede-237werkzeuge und das Gefühl urplötzlicher Verdummung verbunden. Schneide doch nicht so schreckliche Gesichter! hatte die Hofrathstochter von früher, die halb und halb vergessene, gesagt, als ich eines Tages einen Rückfall in „Sasnoba“ bekam, weil ich sie auf der Hochzeit der Schwester mit entblößten Armen erscheinen sah. Bei jenem Hardenbergschwiegersohn trat unter unbestimmter Angabe ihrer Familienstellung eine junge Dame nicht nur von blendender Schönheit auf, sondern auch in einem Costüm, wie dem Jüngling dergleichen nur vom Theater her bekannt war. Das langfluthende Kleid war gelber Atlas, roth und schwarz bildete den Besatz, das in Locken frisirte schwarze Haar war mit Perlen geschmückt, die Ohrringe blitzten. Aus einem Garten unter ein Rebendach schlüpfend, (die Jetztzeit hat diese Gärten eingerissen bis auf einige Bäume, um den Biertrinkern noch einigen Schatten zu lassen) einen Korb voll Aepfel, Birnen und Trauben unter dem halbnackten bräunlichen Arm erschien mir die ausnehmend wohlwollende Dame, die nur zu bald im Hause wieder verschwand, wie eine vom Fest des Dionysos verirrte Bacchantin.
Die Liebesflammen der Schulbank erlöschen glücklicherweise nur zu bald. Amor und Passow’s Griechisches Lexikon reimen sich nicht zusammen. Und doch wurden die Intervalle vom Erlöschen einer Flamme zum Entzünden einer andern immer länger, die Triebe demnach stärker, nachhaltiger. An Erhörung war nirgends zu denken. Vor der „Einsegnung“ trug die Hofrathstochter kein Bedenken, ihre Auszeichnungen, ihre Neckereien fortzusetzen. Aber vom Confirmandenfrack an trat Reserve ein und sogar Grobheit auf die Kundgebungen des Sasnoba. Eine sehr unglückliche Liebeswahl traf eine blasse schlanke Morgenbegleiterin beim Schulbesuch, die regelmäßig um denselben Glockenschlag irgendwo aus einem der Häuser der Mohrenstraße schlüpfte, sofort vor den stechenden Augen des Secundaners die andre Seite der Straße suchte, Mittags aber doch auf dem Heimwege wieder dieselbe Parallele mit ihm machen mußte. Ihr jedesmaliges Erröthen beim Begegnen war ohne Zweifel Indignation. Der ganze Himmel auf Erden, den ein Secundaner in seiner Brust zum Angebot auf Lager hält, blieb unabgegeben. Eines Tages 238 ließ sich die blasse Spröde „unter den Palmen nicht mehr sehen“.
Ja, unter den Palmen! Im damaligen „Schulgarten“, dem jetzigen Dreistraßendreieck (Lenné-Bellevue-Königgrätzerstraße), grünten zwar keine Palmen, aber Hollunderbüsche, Akazien und Aepfelbäume. Militairische Concerte führten fast immer dieselben Familien mit ihren Angehörigen an dieselben Kaffeetische. Man machte hier Bekanntschaften durch einen Fehltritt auf ein fremdes Hühnerauge und die Bitte um Entschuldigung, oder durch die wacklige Lehne eines Stuhls, für welchen man sich einen weniger defecten und „vielleicht vacanten“ vom Nachbartisch ausbat. Hier war es sogar eine Jüdin aus der Spandauerstraße geworden, die jene ganz verzehrende Kraft des Mondes zu besitzen schien, die Attraction, die einen Abends ohnehin präparationsmüden Primaner rein zum leblosen Schatten machte. Es waren doch etwa sechzig Kaffeetische zugegen und überall saß jugendlicher Nachwuchs, und grade diese sechzehnjährige schlanke Brünette aus der Spandauerstraße mußte es sein, diese unter Onkeln und Tanten mit dem Bewußtsein, als die erste im Aufgehen begriffene Blüthe ihres Familienstammes zu gelten, diese prangende blaßrothe Rose, der schon bis zur Kurfürstenbrücke entgegengegangen und nach stummem Gruß ein toggenburgartiges Geleit bis zum Schulgarten gegeben wurde! Ach, wol sah das Auge, himmeltrunken, die abendliche Heimbegleitung der Familie aus dem Concert durch eine Cohorte von Referendarien, Auskultatoren, Assessoren und Lieutenants. Aber hatte man denn nicht schon Fälle erlebt von Brautständen, die zehn Jahre gedauert? War nicht jede Candidatenbraut selbstredend auf sieben gefaßt? Die gesunde Vernunft schwand dahin vor diesem schlanken Wuchs, diesen schönen Augen, dieser sich bald spöttisch, bald im englischen languish ergehenden Koketterie. Verse und die damalige Neuerung der Stadtpost wurden gewagt, Verse, die von einem Thal sangen und von einem einsamen Wandrer darin und von einem Murmelquell, der des Wandrers Geständniß hörte und davon dem Monde Mittheilung machte, aber unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Diese Verse wurden erneuert, bis ein an die Schwester 239 des leichterrathenen Dichters gelangter Entrüstungsschrei der Mutter, der sich in die Form einer ästhetischen Kritik kleidete, dem Schwindel des an jedem Dienstag und Freitag, wo die Sommerconcerte im „Schulgarten“ stattfanden, unzurechnungsfähigen Primaners ein jähes Ende bereitete. Eine Douche auf die erste schriftstellerische Eitelkeit verfehlte ihre Wirkung nicht.
Aus diesen Träumereien für Idole, mit denen niemals auch nur eine Silbe gewechselt wurde, weckte immer noch die strenge Schulordnung und das Uebermaß häuslicher Arbeiten und die Revolution, die jedes neugelesene tiefer gehende Buch hervorbrachte. Besonders erkräftigend war der Stolz, der im Staat und den Zuständen ringsum nur die Gegenstände burschenschaftlich vorgeschriebener Verachtung sah. Hatte schon die Hinrichtung Ludwig Sand’s den Grund zu einer Lebensanschauung gelegt, die mit wohlgemuther Ergebung auf eine Laufbahn der Märtyrerschaft hinausgehen wollte, hatte der Knabe in seiner Kammer – wie oft! – die Situation nachgeahmt, sich auf einen Stuhl zu setzen, den Hals zu entblößen und den tödtlichen Streich grade wie auf dem Wiesenrain bei Mannheim zu empfangen, so wurden, wie wol auch junge katholische Kleriker im Seminar mit Versen, Exaltationen, Nachahmungen der Märtyrerleiden ihre Laufbahn zu beginnen pflegen, durch die glühendste Freundschaft für jenen Hermann Böttcher und einige Gleichgestimmte (mit denen die „correcten“ Gemüther der Beamten-, reichen Kaufmanns- und Bürgersöhne in diametralem Gegensatz standen) die Wirrsale des Kopfes immer heißer und bedenklicher. Der einzige Dämpfer, der die Anschauungen nicht über das Maß gehen ließ, war die Rücksicht auf die Eltern. Und hier entschied mehr die Pietät als die Furcht. Das Unvermögen ihrer Bildung, sich zu den Gesichtspunkten des Sohnes, der ihrer Sphäre immer mehr entrückte, aufzuschwingen, entwaffnete diesen, rührte ihn. Manche Unterwerfung kam nach stürmischen Scenen mit dem schmerzlich nachgesprochenen Worte: „Vater, vergieb ihnen, sie wissen nicht, was sie thun!“
Der Leseeifer ging vorzugsweise auf das Romantische. Nicht etwa auf Romane; seit Walter Scott’s farbenreichen 240 Gemälden sprach nichts mehr an. Die Periode Cooper-Irving, der sich wiederum einige Mitschüler unter den Klassenpulten während der Stunde mit Leidenschaft hingaben, ging an dem Erzähler vorüber, wie fast Alles, was in gleicher Art die Abendzeitungsnovellisten schrieben, van der Velde, Tromlitz, Wachsmann u. A. Selbst Tieck’s Novellen standen noch zurück gegen dessen Octavian, Blaubart, Gestiefelten Kater. Achim von Arnim wurde in Allem, was an ihm faustisch, mittelalterlich, abstrus polemisch war, insoweit genossen, als wenigstens einiger Sinn und Verstand aus seiner forcirten Weise heraus zu erkennen war. Und E. T. A. Hoffmann, der Matador des Tages, der Gefeierte bei allen Hofräthen, allen Stammgästen bei Sala Tarone, war dem Jüngling zu mitternächtlich blasirt. Nur das „Fräulein von Scudery“ fesselte durch Grauen. Jean Paul’s Charaktere waren es, denen die ganze Hingebung eines gläubigen, noch unkritischen Gemüths gehörte, ein Lesen voll Liebe und Bewunderung. An Jean Paul war so wohlthuend, daß der Umgang mit ihm auch die Verbindung mit jener vornehm geistigen Welt erhielt, in der sich der erste wissenschaftliche Eifer der Jugend und so hochmüthig bewegt. Jean Paul war gelehrt; er vergaß nie über seinen Helden, und wenn sie den untersten Lebensstufen angehörten, die Quellen seiner eigenen Bildung. Bald giebt er ein Citat aus den Alten, bald eine Vergleichung mit einem kürzlich erst entdeckten Vorkommniß des chemischen Laboratoriums. Dann wieder bringt er nichtsdestoweniger wieder das der Jugend so wohlbekannte Platteste aus der Werkstatt des Schusters und Schneiders, des Schmieds und des Schlossers und bringt es in eine Beziehung zu den Aeonen der Geisterwelt. Den Jugendsinn reizt nichts so sehr als der Contrast. Er wird immer lachen über die Unterbrechung alles Steifen, Feierlichen und Eingelernten durch die Bedingungen der Natur. Jean Paul wies auf Herder hin, und auch dessen Werke wurden erworben, zum Buchbinder gegeben und wenigstens theilweise von der Verklebung des Blätterschnittes durch Lectüre befreit, schon um Fühlung mit der Theologie zu behalten. Denn die Theologie sollte und mußte es werden. Ein geringes Stipendium stand (unter der „Gerichtslaube“ des Rathhauses, 241 wo sich die Kasse der Stiftungen befand) in Aussicht, aber nur für einen Theologen.
Der regelmäßig eingehaltene Sonnabend-Nachmittag bei Giovanoly, die dann frisch und neu angekommenen, mit unsrer gegenwärtigen Zeit verglichen so dürftigen, sämmtlich streng censurirten Morgen-, Mittag-, Abend- und Mitternachtszeitungen brachten die laufende Chronik der zeitgenössischen Belletristik, Berichte über Schauspieler und neue Stücke, Kritiken und Antikritiken, Correspondenzen. Der Werth der Leistungen ging weit auseinander. Von Altenburg, das den Ruhm genoß, die einzige Stadt zu sein, wo die Censur milde geübt wurde, kamen Zeitbetrachtungen; von Leipzig verbreitete sich die dilettantische Novellenschreiberei und bei literarischen Klopffechtereien eine banausische Sprache. Die Frauennamen fingen an, eine Rolle zu spielen. Anfangs mehr in der Lyrik als im Roman. Wien vertrat ganz nur die Interessen der Bühne. Alledem, verflachend, wie es wirkte, hielt den Widerpart theils die schwäbische Lyrik, theils die im Norden immer mehr aufkommende literargeschichtliche Philologie, wie man die nicht endenden Rückblicke auf Weimar und die Dichterheroen (die hinterlassenen „Briefwechsel“ fingen an eine Rolle zu spielen) nennen möchte. Zwischendurch ertönten schon immer mehr die Zerrissenheitsaccorde, Spuren der ersten Einwirkung Lord Byron’s auch auf Deutschland. Wer sich wie der Erzähler in Ludwig Uhland vertiefen, diesen geliebten Sänger der Naturschönheit und der Ritterzeit in den Park von „Bellevue“ mitnehmen, ihn dort auf einer Bank oder am „Schaafgraben“ auf einem Rasenfleck mit romantischer Schwelgerei genießen konnte, war unfähig, an Heinrich Heine Gefallen zu finden. Die „Reisebilder“, so manche Heine’sche Mittheilung im „Gesellschafter“ widerstanden. Die Empfindung, die in dem einen seiner mir viel zu „loddrig“ gearbeiteten Gedichte herrschte, (der Philologe hielt auf Reim und Rhythmus), wurde im andern wieder aufgehoben, ja oft am Schluß der Gedichte selbst schon. Die französelnde Spitze mit „Madame“ und ähnlich, erschien dem jungen Kritiker albern, nur für Commis voyageurs berechnet, denen er überließ, darüber zu lachen. Dazu wurde die ganze Haltung des Heine’schen Liedes von ihm für ein Plagiat erklärt. 242 Des „Knaben Wunderhorn“ war eines der Bücher, die sich auf unsrer defecten Bibliothek aus der Bernhardi-Zeit des Gymnasiums erhalten hatten. Darin standen ja alle diese Rosen und Lilien und blitzten alle diese Thautropfen und waren auch all’ diese Balladenwendungen zu lesen: „In Straßburg auf der Schanz“ – und auch sonst schien das Gehabe und Gethue vom Tannhäuser und von der Frau Minne u. s. w. nur erborgt. Heine’s Judenthum ergänzte das Bild von alten erborgten Kleidern. Noch drei Jahre später nannte ich seine Blumen in einer meiner ersten Kritiken gemachte und sprach von Tafft, aus dem sie gefertigt, und von Odeur, den sie verbreiteten aus darauf getröpfelten Essenzen. Im Wesentlichen ist das meine Meinung immer geblieben, ungeachtet der Compositionen von Schumann und Mendelssohn, deren Schönheit dem Dichter zu Gute gekommen. Ich zog mir freilich damit den Haß und die Verfolgung des Mannes bis an sein Ende, ja noch bis über sein Grab hinaus zu. Denn die Herren Herausgeber seines Nachlasses nahmen keinen Anstand, nur um Bücher zu machen, all’ die Unfläthereien drucken zu lassen, die sich Heine zu gelegentlicher Einschaltung in seine Schriften notirt hatte.
Das „Morgenblatt“ wurde damals in seinem poetischen Theil von dem Professor Gustav Schwab, in seinem kritischen von Dr. Wolfgang Menzel redigirt. An das letztere, dies Bekenntniß bin ich schuldig, schoß Alles, was in mir nach Licht und Gestaltung rang, wie mit organischer Nothwendigkeit und Zugehörigkeit an. Der Redacteur des „Tübinger“ Literaturblattes, wie es genannt wurde, hatte zwar Gegner wo man hinblickte; die von ihm Getadelten rächten sich in Prosa und Versen; die bekannte Polemik Menzel’s gegen Goethe, die auf einigen weiter von ihm ausgeführten Sätzen des vom Erzähler schon leidenschaftlich geliebten, oft laut recitirten Novalis beruhte, hatte ihn vorzugsweise verhaßt gemacht in Berlin, wo grade damals auf Zelter’s Betrieb der Goethecultus (halb dem großen Genius, halb dem Minister geltend) in vollster Blüthe stand; aber ich stand unentwegt zu dem damals patriotisch, deutsch und natürlich urtheilenden Manne.
243 Rathlos noch über die Wahl, die in jenem Conflict gegen oder für den Dichter des Faust, Götz, Egmont, Werther getroffen werden sollte, hielt sich der junge Literaturadept an die wenigstens für ihn bezaubernde Wirkung der W. Menzel’schen Begründung seines kritisch-literarischen Urtheils durch die Interessen der Nation im Großen und Ganzen. Deutschlands tiefster Verfall im 18. Jahrhundert, die Wiedergeburt des Vaterlandes zunächst durch die Belebung unserer geistigen Spannkraft, aber auch da noch selbst in dem Leben der Heroen der idealen Revolution, die wir durchmachten, so vielfach vorkommende Charakterlosigkeit in politischen Dingen, Kriecherei und Schmeichelei gegen Große, alles das hat W. Menzel meisterhaft geschildert. Er zeigte, wie trotz all’ unsrer Philosophie und Poesie das Reich in Stücke ging und die Trümmer zum Spielball der Brutalität des Corsen wurden. Er schilderte die Keime neuer Hoffnungen, die Gedanken des Tugendbundes, wie sie genährt und verbreitet wurden während des Drucks, die Thaten Stein’s, die Aufrufe Jahn’s, Arndt’s, Görres’ an ein neues Geschlecht von antiker Bürgertugend und spartanischer Sittenstrenge, den Kampf um die Erhaltung dessen, was aus dem Zusammensturz des Alten noch mit den Erkennungszeichen ehemaliger schönerer Bewährung zu retten war, die Enthüllungen und Neu-Verklärungen altgermanischer Gedanken und Institutionen, ohne darüber den Rechten der Gegenwart, selbst der Ironie, dem Witze, sogar dem vollsten Gepräge des Modernen, dem Wohlgefallen am Esprit selbst eines Voltaire etwas zu vergeben. Das war die damalige eigenthümliche Anschauung Wolfgang Menzel’s, die in jener dumpfen Zeit ihre vollkommene Würdigung nur in dem politisch vorgeschritteneren Süddeutschland fand. In einem eigenen Buche: „Die deutsche Literatur“ (erschienen bei den Gebrüdern Franckh in Stuttgart, die damals die gesammte deutsche Buchhändlerwelt mit ihren Verlagsunternehmungen überraschten) wurde der Statusquo des geistigen Schaffens der Deutschen, von der Lyrik an bis in die Naturwissenschaften, mit schlagendem Witz und dem vielseitigsten Wissen festgestellt. Erst spätere Einsicht entdeckte Lücken und Irrthümer, wie sie sich aus dem leichten desultorischen Gange der Behandlung doch nicht entschuldigen 244 ließen. Doch der erste Eindruck war für ein Jugendgemüth überwältigend. Für jede Form der Dichtkunst, für jede Disciplin der Wissenschaft suchte Menzel die Verbindung mit den theuersten Gütern der Nation herzustellen, mit dem verlorenen und zurückzuerobernden Palladium der Nationalgröße, mit ständischer Freiheit, mit öffentlicher Jugenderziehung, mit Reform nach allen Seiten hin. Das blendende Buch wurde von dem Siebzehnjährigen sofort käuflich erworben und verschlungen.
Die „correcte Denkerschaft“ der Schulkameraden steuerte nur dem Examen zu. Selbst der geniale Hermann Böttcher hatte keinen andern Mittheilungsdrang und keine andre Empfänglichkeit für Poesie als wenn ihm diese entgegentrat aus den patriotischen Liedern des neuen Leipziger Commersbuches, Vossens Luise, Kosegarten’s Jucunde. Tiedge’s „Urania“, Schulze’s „Bezauberte Rose“ wurden genannt, Werke, die für mich schon Menzel’s Negation, wie die Kritiker zu thun pflegen, in ein eigenes Schubfach gelegt und „abgethan“ hatte. Der Versuch, eine sich wöchentlich einmal versammelnde Gesellschaft zu gründen und aus den „Verhandlungen“ derselben eine (geschriebene) Zeitschrift hervortreten zu lassen, gelang für einige Zeit. Die „Blätter für Poesie und Prosa“ brachten es auf einige Nummern. Der darin am häufigsten aufgetretene Mitarbeiter war der Sohn des damals in voller Machtblüthe stehenden Demagogenverfolgers von Kamptz.
Jünglingsfreundschaften sind gewiß ein erquickender Thau für eine Jugend, die zuletzt unter ihren Büchern und vollzuschreibenden Heften verschmachtet. Wie aber die stille Widerspiegelung gegebener Zustände überhaupt nicht die Art der Jugend ist, sondern ihr Alles, was sie unternimmt und erlebt, einen Treffer, einen Zielpunkt haben muß, so verlangt auch jede Jugendfreundschaft eine Nahrung, ein besonderes Band des Interesses. Entweder kletten sich die jungen Herzen aneinander an zum Erproben ihrer Kraft, wo es dann zu Excessen kommt, worüber die meisten Eltern die Jugendkameradschaften verwünschen – oder es muß eine gleiche Stimmung und Richtung im wissenschaftlichen Streben vorhanden sein, eine liebevolle gegenseitige Förderung und die Anerkennung 245 des gegenseitig erkannten Werthes. Die letztere ist höchst selten. Der Neid, die Mißgunst stellen sich nur allzu früh in Seelen ein, die aus ihren Familien oft in der That auch nichts als ein dumpfes, vegetativ-egoistisches Leben mitbringen. Kalt und gleichgültig trottet da das eine dünkelhafte, hoffnungsvolle Muttersöhnchen neben dem andern. Die große Stadt, die weiten Entfernungen, die verschiedenen Lebensweisen der Familien thun für die Isolirung noch das Uebrige.
Im Ganzen hatte der demnächstige Abiturient über den Mangel an Beziehungen nicht zu klagen. Sein eignes Gefühl für Freundschaft ging bis zu Anwandlungen platonischer Leidenschaft. Ihm konnte geschehen, daß er auf den nackten Arm eines im heißen Sommer in Hemdärmeln mit ihm zugleich zu Hause übersetzenden Commilitonen mit förmlichem Liebesschauer einen Kuß drückte. Aber volle Vertraute des Herzens und der keimenden exclusiveren Bildung gab es nicht. Abgesehen von dem politischen Schwärmen für Jahn, Sand, Herbst, Haupt mit einigen Gesinnungsverwandten, lagerte sich um den romantischen Träumer zuletzt völlige Einsamkeit. Bibliothekar des Gymnasiums geworden, hatte er nach und nach zum Lesen alles mitgenommen, was einen besonderen Reiz an sich zu tragen schien, sowol aus der rationalistischen Zeit Nicolai’s, Reisebeschreibungen und die gesammte Berliner Monatsschrift Gedicke’s und Biester’s, die treffliche, belehrende Aufsätze enthielt, wie aus der romantischen Epoche Alles, was noch nicht an die Antiquare der Königsstraße verhandelt war, z. B. sechs Bände „Studien“ von Creuzer und Daub, eine Fundgrube für die Geschichte der wissenschaftlichen Forschung seit 1806. Die mythologische Frage, über welche der alte Voß und Creuzer in Streit geriethen, führte wieder auf Wolfgang Menzel zurück. Denn dieser hatte sich in diesen, ganz Deutschland (schon des Krypto-Katholicismus wegen, den Voß in den Beschäftigungen mit Indiens Götterlehre sehen wollte) aufregenden Streit gemischt und war auf die Seite Creuzer’s getreten. Die jugendliche Hingebung faßte Alles nach den Gesichtspunkten ihres Führers. Das Herz des Jünglings marktet und dingt nicht. Ist es für eine Frage, für einen Charakter einmal gewonnen, was kann die 246 Liebe wankend machen! Mittelstraßen werden erst in späteren Jahren gefunden.
„Alles Wissen bläht auf“. Hochgemuthet, wenn nicht hochmüthig wurde die Stimmung, die sich einst bei einem abendlichen Spaziergange mit einem Kameraden, dem spätern Prediger Hache, Unter den Linden sich fast wie im Pharisäergeist an die Brust schlagend, mit dem gemeinen Mann ringsum in Vergleichung bringen und die unermeßliche Vornehmheit, Größe und schon auf Erden verbürgte Unsterblichkeit rühmen konnte, die eine musische Lebensbestimmung dem Menschen gäbe, der Umgang mit der Welt des Großen und Schönen! Glaubten wir nicht Beide, wie unter den Säulen des Parthenon, auf der Akropolis zu Athen zu stehen! Wir waren den Menschen um uns her wahre Vollblutjunker des lateinischen und griechischen Selbstgefühls. Glücklicherweise ging der Hochmuth auf Gutes und Schönes. Der Vetter Apokalyptiker mußte zuerst daran glauben. „Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Vetter!“ hieß es, wenn sich dieser jeden Sonntag nach der Kirche zum bescheidenen Mittagsmahl des Hauses, dessen Regeln die alten blieben, einstellte, am Büchergestell des in einer Kammer hausenden Neffen eine Lectüre ausgesucht hatte und darin mit kritischem Kopfschütteln und jeweiligen Interjectionen bis zum „Gott sei Dank, der Tisch ist gedeckt!“ sich vertiefte. Kant, Jakobi, Fichte und Schleiermacher liefen schon unter – die Bücherstände der Antiquare in den Straßen kannten den eifrigen Rückentitelleser und Käufer. Wurde der Vetter gefragt: „Nun Vetter, wie steht’s wieder?“ Irrlehren! hieß es. Jedes Raisonnement, wo nicht sofort Christus in’s Treffen rückte, schien ihm auf den Weg gefallen. Die liebste Lectüre blieb ihm die Becker’sche Weltgeschichte, die Herr Cleanth nicht hatte mit nach Polen nehmen wollen.
Die alle Vierteljahre einmal anlangenden „Briefe aus Warschau“ fielen in ein, nach den Außeneindrücken beurtheilt, freudlos und völlig düster gewordenes Jugendleben wie Sonnenstrahlen in einen Regentag. Die Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung mit dem fernen Freunde wurde nicht erfüllt, auch nicht mehr genährt. Die Familie wurde ostensibel russisch, im Stillen polnisch.
247 Das Abiturientenexamen brachte das möglich beste Zeugniß, das gegeben werden konnte. Zum Programm der feierlichen Entlassung gehörte eine lateinische Rede über eine übliche Actusphrase: Das Studium des Alterthums in seinem wohlthuenden Einfluß auf die Sitten. Wie viel Beispiele hätten dem pathetischen Redner entgegengehalten werden können vom absoluten Gegentheil, vom erbärmlichsten Charakter der größten Alterthumsforscher! Nur allein der dem gefeierten Cicero fast gleichgeachtete Muretus, der Verherrlicher der Bartholomäusnacht, brauchte genannt zu werden und die vielen Schwächlinge, Abenteurer, Betrüger unter den späteren Humanisten! Aber die Suada floß und die Perioden hatten ihr ciceronianisches esse videatur. Der Singchor unsres großen Freimaurer- und Liedertafel-Meisters gab vor- und nachher Sätze aus Cherubini’s Requiem mit einer Präcision, an welcher der Engere Rath der Singakademie seine Freude gehabt haben würde. Auch einige Prämien wurden ausgetheilt. Schließlich trat die hagere Gestalt des Rectors auf und gab mit dem ihm eigenen hochliegenden Nasalton seiner Rede das Bouquet des Frühlings-Vormittags, wo schon draußen die an den Straßenecken ausgebotenen Veilchen dufteten und auf dem Gens’darmenmarkt die Hyacinthentöpfe blühten. Der Sprecher gab Paränesen an die aus der Anstalt Scheidenden, Danksagungen an die hohen Behörden, sowol an die der Stadt, wie an die des Ministeriums, unter denen Johannes Schulze, Süvern, Nicolovius nicht fehlten.
„Frei ist der Bursch! Halle soll leben!“ Ach, wie so gern hätte der junge Fuchs, der am Tage darauf seinen ersten Commers feierte, den Vers des Rundgesanges wahrmachen mögen. Aber die Losung blieb Berlin, die Fortsetzung der Abhängigkeit von einer immer mehr gesteigerten Reizbarkeit des Hauses, die Fortsetzung jenes Wegwanderns, um lateinische und griechische Elemente zu lehren, deren immer präcise Beherrschung schon in den Hintergrund treten mußte im Gemüth des jungen Lehrers, der für den Zwiespalt seiner Stimmungen, die ihn halb zur schönen Literatur, halb zur Philologie zogen, vergebens nach Vermittelung rang. Vorläufig bot die alte Götterlehre und deren neuere wissenschaftliche Behandlung eine 248 solche. Die Berliner philosophische Facultät hatte eine Abhandlung über die Schicksalsgottheiten der Alten verlangt. Mit Eifer fiel der Neuling auf das nach allen Seiten hin anregende Thema, dem dann die erste akademische Sommerlust und die Wintermorgenstunden von 6–8, die Abendstunden von 9–12 geopfert wurden. In diesem Thema trafen beide Interessen, die im Gemüth lebten, der künftige Lehrberuf und die gesteigerte Leidenschaft für Dichten und Denken wie in einem Brennpunkte zusammen. Die anregendsten Werke mußten studirt werden, Schlegel’s „Weisheit der Indier“, Windischmann, viele Ausläufer der Naturphilosophie. Mit Schelling war man immer wieder dem „Alarcos“ und „Ion“ und den weimarer Classikern nahe. Den Alten, Sophokles, Aeschylos ohnehin. Das Nächste war, des „unerbittlichen Schicksals“ wegen, dem selbst die Götter sich zu beugen hatten, gleich den ganzen Homer mit der Feder in der Hand durchzulesen. Die Theologie schien zu kurz zu kommen. Aber der Muß-Theologe belegte auch seine theologischen Collegia. Ueberraschend war ihm, als ihm Schleiermacher seine Nummer für die „Einleitung in’s Neue Testament“ gab, die lange, brennende Tabackspfeife, fast so lang wie der kleine große Mann selbst, die er am Stehpult arbeitend rauchte. Ein näheres Fragen: Wer oder Woher? Wohin? Wie und wodurch? wurde nicht gestellt, nur die Nummer im Auditorium gegeben und der Termin angezeigt. Mehr gesprochen als: „Am 28. fange ich an!“ hätte die Pfeife ausgehen lassen.
Woher und Wohin? Im Innern sah es chaotisch genug aus. Die Zeit war hochtheologisch. „Wissen und Glaube“ – darüber drängte sich Buch auf Buch. Homer und die Parzen und Wolfgang Menzel’s Literaturblatt hinderten nicht, daß der theologische Noviz sich sogar auf die Kanzel schwang und predigte. Das geschah schon im Herbst 1829 im Dorfe Weißensee bei Berlin. Was an dieser Begebenheit komisch war – und dessen war genug – findet sich in meinem Roman „Blasedow und seine Söhne“, Bd. I, Capitel 8, wiedererzählt. (Gesammelte Werke Bd. VI.)
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Apparat#
Bearbeitung: Wolfgang Rasch, Berlin#
1. Textüberlieferung#
1.1. Handschriften#
1.1.1. Übersicht#
Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.
1.2. Drucke#
Diese druckgeschichtlichen Notizen beziehen sich zunächst nur auf die Fortsetzung zur zweiten Ausgabe von Aus der Knabenzeit. 1821-1829:
Die beiden ersten der vier Fortsetzungskapitel erschienen schon Ende Dezember 1871 in der Berliner „National-Zeitung“, wo sie durch eine redaktionelle Fußnote mit den Worten angekündigt wurden: „Der Verfasser giebt hiermit die Fortsetzung seines vor längerer Zeit erschienenen anmuthig trefflichen Buches ‚Aus der Knabenzeit.‘ Die Red.“
Gutzkow übernahm diese zwei Folgen für die Buchausgabe 1873, überarbeitete stellenweise den Text stilistisch, nahm einige kleinere Streichungen und einige Hinzufügungen vor und änderte die Absatzgestaltung (die Buchausgabe hat 34, der Zeitungserstdruck 26 Absätze). Substantielle Modifikationen erfolgten nicht, sieht man von dem Umstand ab, dass er im Zeitungstext die Namen derjenigen Lehrer, die er in der Buchausgabe durch N.N. oder eine Sternchenchiffre gänzlich verschleiert, 1871 noch mit dem Anfangsbuchstaben ihres Nachnamens signiert: Der Schulinspektor Ernst Gottlob Jaeckel wird in der Zeitungsfassung noch mit Inspectors J. angedeutet, in der Buchfassung stehen anstelle des Anfangsbuchstabens drei Sternchen (216,18); Gutzkows Deutschlehrer Carl Heinrich Brunnemann kommt in der Zeitungsfassung noch als Professor und Prediger B. vor, in der Buchausgabe lediglich als Professor und Prediger N. N. (218,25). An einer Stelle hat Gutzkow 1873 einen Personen- durch einem Vereinsnamen ersetzt, den Hofrath Schneider (J) durch den Verein für die Geschichte der Mark (210,2-3).
Die Sigle ›Rasch‹ verweist auf Wolfgang Rasch: Bibliographie Karl Gutzkow. (1829-1880.) Bd. 1: Primärliteratur. Bielefeld: Aisthesis Verl., 1998. Eine bibliographische Kennziffer mit dem Zusatz N bezieht sich auf die „Nachträge zur Bibliographie“.
- A2 Aus der Knabenzeit. 1821-1829. In: Karl Gutzkow: Gesammelte Werke. Erste vollständige Gesammt-Ausgabe. Erste Serie. Bd. 1. Jena: Costenoble, [1873]. S. 195-248. (Rasch 1.5.1.1.4)
- J Karl Gutzkow: Jugend-Erinnerungen. I. Lehrer-Originale. II. Ersatz und Aufschwung. In: National-Zeitung. Berlin. Morgen-Ausgabe. Nr. 604, 25. Dezember 1871, [S. 1-3]; Nr. 606, 28. Dezember 1871, [S. 1-3]. (Rasch 3.71.12.25)
2. Textdarbietung#
2.1. Edierter Text#
A2. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem Erstdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche (=) werden durch - wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit eckigen Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.
Die Liste der Texteingriffe nennt die von den Herausgebern berichtigten Druckfehler sowie die Emendationen. Fehlende oder überzählige Spatien im Erstdruck wurden stillschweigend korrigiert.
Die Seiten- und Zeilenangaben im Apparat beziehen sich auf die Druckausgabe des Bandes: Aus der Knabenzeit. Mit der Fortsetzung zur zweiten Ausgabe von 1873 hg. von Wolfgang Rasch. Münster: Oktober Verlag, 2023. (Gutzkows Werke und Briefe. Abt. VII: Autobiographische Schriften, Bd. 1.)
2.1.1. Texteingriffe#
210,6 einer eine
215,1 for vor
224,3 erfuhr befuhr
225,7 Lehrer Lehren
237,7 belletristischen belletristischem
241,26 parodirenden parodirendem
245,31 los“ los“,
258,4 Kosegarten’s Kosengarten’s
4. Entstehung#
4.1. Dokumente zur Entstehungsgeschichte#
4.2. Entstehungsgeschichte#
5. Rezeption#
5.1. Dokumente zur Rezeptionsgeschichte#
5.2. Rezeptionsgeschichte#
Der weitere wissenschaftliche Apparat wird hier sukzessive zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.
Stellenerläuterungen#
207,1 1821-1829]
Dieser Zeitraum ist nicht ganz korrekt wiedergegeben, denn Gutzkow kam erst Ostern 1822 auf das Gymnasium und war sieben Jahre auf der Schule. Das belegt auch die Angabe, die im Schulprogramm Ostern 1829 bei seiner Entlassung gemacht wird: „Carl Ferdinand Gutzkow aus Berlin, 18 Jahre alt“ sei „7 Jahre auf dem Gymnasium“ gewesen, davon „1½ Jahr in Prima“ (Programm womit zu der öffentlichen Prüfung der Zöglinge des Friedrichswerderschen Gymnasiums, welche Mittwochs, den 15. April 1829 […] Statt finden soll […] ergebenst einladet August Ferdinand Ribbeck. Berlin: Nauk, 1829. S. 56). Vgl. auch die → Erl. zu 210,18 sowie die Stellenkommentare zu 11,1 und 203,2-3 der Knabenzeit von 1852.
209,4 jenes Berufungsproject]
Schiller besuchte 1804 Berlin, um dort einer Aufführung seines „Wilhelm Tell“ beizuwohnen. Von der höheren Gesellschaft sehr gefeiert, erwog er kurzzeitig, sich in Berlin um ein (besser bezahltes) Amt zu bewerben und von Weimar in die preußische Hauptstadt zu ziehen. Dieses Berufungsproject wurde jedoch von ihm bald wieder aufgegeben. (Vgl. Adolph Stölzel: Die Verhandlungen über Schillers Berufung nach Berlin. Geschichtlich und rechtlich untersucht. Berlin: Vahlen, 1905.)
209,13 Duft von Aepfeln einzuathmen liebte]
Diese Behauptung von Schillers Vorliebe geht wohl auf Johann Peter Eckermann zurück, dem Goethe erzählt haben soll, er habe einst an Schillers Schreibtisch auf seinen Gefährten gewartet: „Ich hatte aber nicht lange gesessen, als ich von einem heimlichen Uebelbefinden mich überschlichen fühlte […]. Ich wußte anfänglich nicht, welcher Ursache ich diesen elenden, mir ganz ungewöhnlichen Zustand zuschreiben sollte, bis ich endlich bemerkte, daß aus einer Schieblade neben mir ein sehr fataler Geruch strömte. Als ich sie öffnete, fand ich zu meinem Erstaunen, daß sie voll fauler Aepfel war. Ich trat sogleich an ein Fenster und schöpfte frische Luft, worauf ich mich denn augenblicklich wieder hergestellt fühlte. Indeß war seine Frau wieder herein getreten, die mir sagte, daß die Schieblade immer mit faulen Aepfeln gefüllt seyn müsse, indem dieser Geruch Schillern wohlthue und er ohne ihn nicht leben und arbeiten könne.“ (Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 3. Theil. Magdeburg: Heinrichshofen, 1848. S. 196-197.)
209,15 demi-mondischen]
Hier im Sinne von: in den Zustand der Fäulnis übergehend. Mit dem Fremdwort ›Demimonde‹ wurde „die halb-feine od. halb-vornehme Welt“ bezeichnet (Heyse 1859, 249). Der Ausdruck gehörte im 19. Jahrhundert nach dem 1855 veröffentlichten Lustspiel von Alexandre Dumas dem Jüngeren (1824-1895) „Le Demi-Monde“ („Halbwelt“) zu den geflügelten Worten (vgl. Büchmann 1879, S. 77).
210,29 derzeitigen Rector]
Christian Gottlieb Zimmermann (1766-1841), von 1820 bis 1827 Schulleiter, vgl. → Erl. zu 212,11.
210,18 1822]
An dieser Stelle wird das Jahr genannt, in dem Gutzkow auf das Gymnasium kam.
209,17 Schleusen- bis zur Gertraudtenbrücke]
Beide Brücken überspannen den Spreekanal, der in diesem Abschnitt auch Schleusengraben genannt wurde: Die nördlich gelegene Schleusenbrücke verband den Werderschen Markt mit dem Schlossplatz, die südlich gelegene Gertraudenbrücke den Spittelmarkt mit der Gertraudenstraße auf der Spreeinsel. Auf der westlichen Seite des Spreekanals verliefen die Oberwasser- und Unterwasserstraße und begrenzten den Stadtteil Friedrichswerder, auf der östlichen Seite (Spreeinsel) lauteten die Straßennamen An der Schleuse und Friedrichsgracht. Die Obstkähne, die in diesem Bereich des Spreekanals auf dem Wasser lagen, waren in Berlin berühmt; es gab sie dort noch bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
209,29 „Dreiern“ und „Sechsern“]
Berliner Bezeichnungen für Geldstücke von sehr geringem Wert: Der Dreier repräsentierte drei, der Sechser sechs Pfennige bzw. nach Einführung der Markwährung 1871 ein Fünfpfennigstück (Der Richtige Berliner 1921, S. 40-41 u. S. 160).
210,2 „Jungfernbrücke“]
Die aus dem späten 17. Jahrhundert stammende Zugbrücke nach holländischem Vorbild, zwischen Schleusen- und Gertraudenbrücke gelegen und 1798 grundlegend erneuert, verband die Friedrichsgracht und Spreegasse auf der östlichen Seite (Spreeinsel) mit der Oberwasserstraße und der Alten Leipziger Straße auf der westlichen. Ihre Namensherkunft ist bis heute ungeklärt.
210,2-3 Verein für die Geschichte der Mark]
Der 1865 gegründete ›Verein für die Geschichte Berlins‹. Zu den Mitbegründern gehörte auch der konservative Schriftsteller Louis Schneider (1805-1878). In der Zeitungsfassung lautet die Stelle: und frägt den Hofrath Schneider (J).
210,4 Eckhaus]
Das Haus mit der Adresse Oberwasserstraße 10 lag an der Ecke zur Alten Leipziger Straße, schräg gegenüber der Jungfernbrücke.
210,5-6 Friedrich Werder’schen Gymnasiums]
Es war 1681 unter dem Großen Kurfürsten als dritte höhere Schule Berlins gegründet und nach dem Stadtteil Friedrichswerder benannt worden. Die Anstalt, altsprachlich-humanistisch ausgerichtet, gehörte 1822 zu den sechs Gymnasien der Stadt, befand sich nach mancherlei Ortswechseln seit 1800 in der Oberwasserstraße 10 und zog 1825 ins sogenannte Fürstenhaus (Kurstraße 52-53). Die Zahl der Schüler schwankte in den 1820er Jahren zwischen 250 und 300. Die Zöglinge konnten bis zum Abitur acht Klassen durchlaufen (Sexta, Quinta, Quarta, Unter- und Obertertia, Unter- und Obersekunda, Prima), die sie zum Teil unterschiedlich lange besuchten. Der Unterricht umfasste drei Lernbereiche: 1. Sprachunterricht (Latein, Griechisch, Deutsch, Französisch, Hebräisch), 2. Wissenschaftlicher Unterricht (Religion, Mathematik, Geschichte, Physik, Geographie, für höhere Klassen philosophische Propädeutik), 3. Technische Fähigkeiten (nur in den unteren Klassen: Schreiben, Kalligraphie, Zeichnen). Dazu kam der Gesangsunterricht, der für eine erste (höhere) und zweite Singeklasse gegeben wurde. Das Abiturexamen schloss die Schulausbildung ab. In der Öffentlichkeit genoss die Schule ein hohes Ansehen als eine Anstalt, „an welcher eine lange Reihe von ausgezeichneten Gelehrten seit ihrer Gründung angestellt und aus der eine große Anzahl hochverdienter Männer in allen Zweigen der Staatsverwaltung, für den Lehrstuhl und für das Predigeramt hervorgegangen sind.“ (Zedlitz, S. 224.) Das Gymnasium bereitete seine Schüler also vornehmlich für den späteren Beruf des höheren Beamten oder Theologen vor. – Gutzkow kam bei seiner Aufnahme 1822 in die Quinta (vgl. Rasch, Gutzkow-Doku., S. 15: „Ich bin Quintaner geworden […] und war bei Schubert.“). Von der Pflicht, vierteljährlich für den Besuch der Schule Geld zu zahlen sowie im Winter Holzgeld für das Heizen zu entrichten, war Gutzkow befreit; vermutlich übernahm eine wohltätige Stiftung die Kosten für seinen Schulbesuch.
210,13-14 Kanaris, Miaulis, Kolokotroni]
Namen griechischer Freiheitskämpfer im Unabhängigkeitskrieg gegen das osmanische Reich, der Admiräle Konstantinos Kanaris (1790-1877) und Andreas Vokos Miaulis (1769-1835) sowie des Generals und Partisanenführers Theodōros Kolokotrōnēs (1770-1843). Den damals mit großen Emotionen begleiteten Kampf der Griechen und Türken, nachgeahmt in allen Kinder-Spielen, wo Jeder Grieche, Niemand Türke sein wollte (GWB VII, Bd. 1, S. 134) erwähnt Gutzkow auch in der Knabenzeit 1852 .
210,16 Ludwig Sand’s Enthauptung]
Der Student und radikale Burschenschafter Karl Ludwig Sand hatte 1819 August von Kotzebue als angeblichen Verräter und russischen Spion in Mannheim erdolcht. Zum Tode durch das Schwert verurteilt, wurde Sand am 20. Mai 1820 in Mannheim öffentlich hingerichtet, ein Ereignis, das im Deutschen Bund hohe Wellen schlug und auch den erst neunjährigen Gutzkow tief beeindruckte. Über die Flut an Bildern aus Anlass des aufwühlenden Geschehens berichtet er auch in der Knabenzeit 1852 (GWB VII, Bd. 1, S. 135).
210,20 Nicolaischen Zeit]
Die Periode der Berliner Aufklärung, benannt nach einem ihrer prominentesten Vertreter, dem Berliner Buchhändler, Verleger und Schriftsteller Friedrich Nicolai (1733-1811).
210,21 Friedrich Gedike]
Friedrich Gedike (1754-1803), Philologe, Pädagoge und Schriftsteller, ein Vertreter der Berliner Aufklärung und Mitherausgeber der „Berlinischen Monatsschrift“, war seit 1776 Lehrer des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums, das er als Rektor von 1779 bis 1793 leitete. 1793 übernahm er die Direktion des Köllnischen Gymnasiums. Gedike trug entscheidend zur Reorganisation der Schule bei. Unter seiner Leitung erhöhte sich die Frequenz von 94 auf 311 Schüler. Er führte das Abiturientenexamen (Reifeprüfung) ein, das erstmals Ostern 1789 an der Schule stattfand, er rief 1779 die jährlich feierlich begangene öffentliche Schulprüfung ins Leben, gründete 1782 eine Schulbibliothek, schuf 1787 ein Lehrerseminar, die erste säkulare Ausbildungsstätte für Schulamtskandidaten in Berlin. Über Gedikes förderliches, aus dem Geist der Berliner Aufklärung hervorgegangenes Wirken für die Schule vgl. ausführlich A(ugust) C(arl) Müllers „Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin“ (Berlin: Weidmann, 1881, S. 54-73).
210,23-24 dem Grauen Kloster und dem Joachimsthal]
Das Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster in der Klosterstraße war 1574 ins Leben gerufen worden und die älteste höhere Schule Berlins. Das Joachimthalsche Gymnasium, 1607 als Fürstenschule im brandenburgischen Joachimsthal gegründet, war nach Zerstörungen im Dreißigjährigen Krieg 1636 nach Berlin verlegt worden und befand sich zu Gutzkows Pennälerzeit in der Burgstraße 12.
210,24-25 Begründung eines neuen Gymnasiums auf der Friedrichsstadt]
Das 1797 eröffnete Friedrich Wilhelms-Gymnasium in der Friedrichstraße 41, dem die schon fünfzig Jahre früher begründete Königliche Realschule angegliedert war.
210,25-26 Verwandlung des „Köllnischen“ Gymnasiums]
Das aus einer Lateinschule des 15. Jahrhunderts hervorgegangene Köllnische Gymnasium war 1766 im Oberstufenteil mit dem Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster zusammengelegt, 1824 jedoch wieder abgetrennt worden. Es wurde als Köllnisches-Real-Gymnasium (mit Sitz im Köllnischen Rathaus) zum ersten Realgymnasium Berlins, dessen Lehrschwerpunkte auf dem neusprachlichen Teil, auf naturwissenschaftlichen Fächern und Mathematik beruhte.
211,6 Bernhardi]
Der Berliner Sprachwissenschaftler und -philosoph, Dichter und Pädagoge August Ferdinand Bernhardi (1769-1820) war seit 1791 Lehrer am Friedrichs-Werderschen Gymnasium und von 1808 bis zu seinem Tod 1820 Direktor der Schule. Sie war unter seinem Vorgänger Friedrich Ludwig Plesmann (1758–1807) sehr heruntergekommen. Unter Bernhardi erlebte sie eine neue Blüte. (Vgl. über seine ersprießliche Amtsführung A. C. Müller: Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin. Berlin: Weidmann, 1881, S. 92-107.) Bernhardi war seit 1791 mit Ludwig Tieck befreundet, mit dem er auch literarisch zusammenarbeitete und der ihn in Romantikerkreise einführte; 1804 wurde Bernhardi Mitglied des von Chamisso und Varnhagen von Ense gegründeten ›Nordsternbundes‹. 1799 heiratete er Tiecks jüngere Schwester Sophie (vgl. → Erl. zu 211,7-8). Die Ehe wurde 1807 geschieden.
211,7-8 Sophia Tieck]
Sophie Tieck (1775-1833), Schriftstellerin der Romantik und jüngere Schwester von Ludwig Tieck, heiratete 1799 August Ferdinand Bernhardi, den sie 1802 verließ und von dem sie 1807 geschieden wurde. Seit 1801 unterhielt sie eine Liebesbeziehung zu August Wilhelm Schlegel und ging 1810 eine Ehe mit dem estländischen Gutsbesitzer Karl Gregor von Knorring (1769-1837) ein.
211,16 Theaterrecensionen]
Bernhardi schrieb seit 1798 unter dem Titel „Deutsches Theater. Tagebuch des Berliner Nationaltheaters“ Kritiken für das „Berlinische Archiv der Zeit und ihres Geschmackes“ (Berlin, 1795-1800), das zeitweise von dem Schriftsteller Friedrich Eberhard Rambach (1767-1826) herausgegeben wurde, der in den 1790er Jahren Prorektor des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums war.
211,16 „Bambocciaden“]
Bernhardi veröffentlichte 1797/98 bei Friedrich Maurer in Berlin drei Bände „Bambocciaden“, eine Sammlung von Erzähltexten, an der sich auch Ludwig und Sophie Tieck beteiligt hatten. Gutzkow griff 1833 und 1834 die Bezeichnung Bambocciade als Titelzusatz für zwei Berliner Stadtskizzen (Die Sterbecassirer und Die Singekränzchen) auf (vgl. Gert Vonhoffs → Erl. zu 75,2 Bambocciade im ersten Band der Novellen.)
211,20 Bibliothek]
Diese „Lesebibliothek für Schüler“ war 1782 vom Rektor der Schule Friedrich Gedike gegründet worden. Ein Katalog der Bücher aus dem Jahr 1790 liegt gedruckt vor: „Verzeichnis der zur Lesebibliothek des Friedrichswerderschen Gymnasiums gehörigen Bücher.“ (Berlin 1790, 22 Seiten.) Verzeichnet werden 271 z. T. mehrbändige Werke, Anthologien, Zeitschriften. Die Büchersammlung erfuhr in den folgenden Jahren durch Ankäufe und Geschenke erhebliche Zuwächse.
211,23 Wilhelm Wackernagel]
Der Berliner Wilhelm Wackernagel (1806-1868) war zuerst Schüler des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster, wurde 1819 der Schule verwiesen, nachdem entdeckt worden war, dass der dreizehnjährige Anhänger des ›Turnvaters‹ Jahn in einem privaten Brief den Plan einer Neugestaltung und Verfassung für Deutschland entwickelt hatte. An Stelle von körperlichen Züchtigungen wurde der vermeintliche ›Demagoge‹ drei Tage in die Berliner Stadtvoigtei (städtisches Gefängnis) eingesperrt; zudem erhielt er ein lebenslanges Einstellungsverbot für den preußischen Staatsdienst. 1820 durfte er den Schulbesuch auf dem Friedrichs-Werderschen Gymnasium fortsetzen und machte Ende September (Michaelis) 1824 das Abitur. Wackernagel studierte an der Berliner Universität bei August Boeckh, Karl Lachmann und Friedrich von der Hagen Philologie, wurde nach beschwerlichen Jahren als Privatgelehrter 1833 Privatdozent, dann Professor der deutschen Sprache und Literatur in Basel, wo er zu einem der prominentesten Vertreter seines Fachs avancierte. – Als Primaner hat er vermutlich 1823/24 die Schulbibliothek verwaltet. – Über Wackernagel schreibt Gutzkow auch in seinen Universitätserinnerungen Das Kastanienwäldchen in Berlin (GWB VII, Bd. 3, S. 102).
211,24 Hermann Ulrici]
Hermann Ulrici (1806-1884) besuchte das Friedrichs-Werdersche Gymnasium, machte Ostern 1824 Abitur, studierte anschließend in Halle und Berlin Jura, brach nach dem Tod seines Vaters 1829 die juristische Laufbahn ab und widmete sich philosophischen und philologischen Studien. Nach seiner Habilitation 1834 wurde er Professor in Halle. Er verfasste neben philosophischen Werken auch zahlreiche Arbeiten über Shakespeare und galt als ausgewiesener Shakespeare-Experte. Sein jüngerer Bruder Bernhard Ulrici war ein Klassenkamerad Gutzkows. Hermann Ulrici dürfte etwa 1822/23 die Schulbibliothek verwaltet haben. Gutzkow erwähnt ihn auch in seinen Universitätserinnerungen Das Kastanienwäldchen in Berlin (GWB VII, Bd. 3, S. 102-103). Die ehemaligen Schulkameraden hatten in der Hochphase des Jungen Deutschland noch einmal Kontakt: Ulrici, von Gutzkow und Wienbarg im Herbst 1835 zur Mitarbeit an ihrer projektierten „Deutschen Revue“ eingeladen, war der erste, der sich von diesem Zeitschriftenprojekt und seinen Herausgebern öffentlich distanzierte (vgl. Rasch, Gutzkow-Doku., S. 59, Anm. S. 457).
211,27 Ambrosch]
Der Berliner Julius Ambrosch (1804-1856) besuchte erst das Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster, wechselte 1819 oder 1820 auf das Friedrichs-Werdersche Gymnasium, das er Ostern 1825 mit einem sehr guten Abiturzeugnis verließ. Er studierte an der Berliner Universität Philologie (u. a. bei August Boeckh), promovierte 1829 und wurde 1834 Professor für Philologie und Archäologie in Breslau. Er verwaltete vermutlich von Herbst 1824 bis Anfang 1825 die Schulbibliothek. (Zur Schulentlassung von Ambrosch vgl.: Zu der öffentlichen Prüfung der Zöglinge des Friedrichswerderschen Gymnasiums [...] ladet [...] ehrerbietigst ein [...]C[hristoph] G[ottlieb] Zimmermann. [Schulprogramm 1825.] Berlin: Quien, 1825. S. 42.)
211,29 spoliirt]
Geplündert; vgl. „spoliiren (lat. spoliare), berauben, plündern, gewaltsam nehmen“, Heyse 1859, S. 869.
211,32 Reisen des jungen Anacharsis]
Das Werk des französischen Altertumsforschers, Numismatikers und Schriftstellers Jean Jacques Barthélemy (1716-1795) „Voyage du jeune Anacharsis en Grèce“ (1788) erschien, übersetzt von Johann Erich Biester, zwischen 1789 und 1792 unter dem Titel „Reise des jüngern Anacharsis durch Griechenland viertehalbhundert Jahr vor der gewöhnlichen Zeitrechnung“ siebenbändig in Berlin. Barthélemy greift in seinem Reiseroman die sagenumwobene Figur des Skythen Anacharsis auf, der um 600 v. u. Z. eine Entdeckungsreise durch Griechenland gemacht haben soll. Gutzkow muss die Lektüre nachhaltig beeindruckt haben, denn er verfasste 1832 für Cottas „Morgenblatt“ eine satirische Reiseerzählung unter dem Titel Aus dem Reisetagebuche des jüngsten Anacharsis. Briefe an zwei Freundinnen in Stuttgart (Rasch 3.32.05.01).
211,33 Antiquaren der Königsstraße]
Die Königstraße (heute Rathausstraße, Bezirk Mitte) verlief von der Burgstraße im Westen bis zu den Königskolonnaden knapp vor dem Alexanderplatz im Osten. An der Ecke zur Spandauerstraße führte sie am alten Berliner Rathaus vorüber. In der belebten Geschäftsstraße mit ihren 60 Hausnummern gab es um 1820 neben zwei Buchhandlungen auffallend viele Antiquare, so das Antiquariat von Lüderitz (Nr. 37), von Franz (Nr. 45), von S. Joel (Nr. 18); auch der Bücherhändler Isaac Moses (Nr. 19) scheint gebrauchte Bücher verkauft und gekauft zu haben.
212,1 Iselin’s, Zöllner’s]
Schriftsteller der Aufklärungsepoche: der Schweizer Geschichtsphilosoph, Publizist und Ratsschreiber in Basel Isaak Iselin (1728-1782) sowie Johann Friedrich Zöllner (1753-1804), Oberkonsistorialrat und Probst in Berlin, ein Polyhistor, Pädagoge und Publizist der Berliner Aufklärung.
212,1 Uebersetzungen Addison’s, Raynal’s]
Werke des englischen Philosophen, Politikers, Schriftstellers und Journalisten Joseph Addison (1672-1719) sowie des französischen Historikers, Philosophen und Schriftstellers der Aufklärung Guillaume Thomas François Raynal (1713-1796).
212,26 Peter Arbues]
Peter de Arbues (1441-1485), berüchtigter spanischer Inquisitor. Durch Wilhelm von Kaulbachs Gemälde „Peter Arbues von Epila verurteilt eine Ketzerfamilie zum Tode“ (1870) wurde der wenige Jahre zuvor von Papst Pius IX. heilig gesprochene Arbues wieder einer größeren Öffentlichkeit präsent.
212,2 Erfahrungsseelenkunde]
Der Begriff wurde von Karl Philipp Moritz (1756-1793) geprägt, der von 1783 bis 1793 in Berlin das „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte“ herausgab. Auch seinen psychologischen Roman „Anton Reiser“ (1785/86) könnte man im weiteren Sinne zur Literatur der Erfahrungsseelenkunde zählen.
212,2 Garve]
Christian Garve (1742-1798), philosophischer Schriftsteller der Spätaufklärung.
212,5 ein Schüler der Anstalt]
Ludwig Tieck (1773-1853) besuchte seit 1782 das Friedrichs-Werdersche Gymnasium, das er „erst Ostern 1792 […] verließ, um in Halle Theologie zu studieren.“ (A. C. Müller: Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin. Berlin: Weidmann, 1881. S. 93.) Über Tiecks Gymnasialzeit unter dem Rektorat Friedrich Gedikes vgl. auch Rudolf Köpke: Ludwig Tieck. Erinnerungen aus dem Leben des Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen Mittheilungen. Erster Theil. Leipzig: Brockhaus, 1855. S. 16-25, 46-56, 124-126.
212,11 Der Director]
Christian Gottlieb Zimmermann (1766-1841). Der Königsberger studierte in seiner Heimatstadt zunächst Philologie und Theologie, widmete sich, gefördert von Immanuel Kant und dem Mathematiker Johann Friedrich Schultz (auch: Schulz) mit großer Hingabe mathematischen und philosophischen Studien. Seit 1789 war er in Königsberg Lehrer am Collegium Fridericianum, ging 1793 als Hofmeister nach Berlin und wurde Michaelis (September) 1794 Hilfslehrer am Friedrichs-Werderschen Gymnasium. Er wurde 1802 zum Sub-, 1803 zum Konrektor und Professor befördert. Als Nachfolger Bernhardis war er von 1820 bis zu seiner Pensionierung 1827 Direktor der Schule. Von 1804 bis 1819 gab er nebenher an der Bauakademie, von 1816 bis 1832 auch an der Artillerieschule Mathematikunterricht. Zimmermann war seit 1795 Freimaurer in der Berliner Großen National-Mutterloge ›Zu den drei Weltkugeln‹. Er hat umfangreiche Bücher zur Mathematik verfasst, ebenfalls einige didaktische Werke und Schriften zum Bildungswesen. Für den Schulchronisten August Carl Müller begann mit Zimmermanns Amtseinführung als Direktor „eine trübe Zeit für das Gymnasium, eine Periode der Unordnung und des Verfalles, den die Unfähigkeit des Direktors wesentlich mit verschuldete.“ (A. C. Müller: Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin. Berlin: Weidmann, 1881. S. 108; über Zimmermann und sein Rektorat S. 107-116.) – Vgl. über Zimmermann auch den Artikel in: Neuer Nekrolog der Deutschen. 19. Jg, 1841. 2. Theil. Weimar: Voigt, 1843. S. 821-823. Hier sind auch Zimmermanns Buchpublikationen verzeichnet.
212,13 Emphysem]
„Wind- oder Luftgeschwulst“ (Heyse 1859, S. 304), pathologische Aufblähung von Körpergewebe und Organen durch Luft.
212,17 Hauslehrerns in Rußland]
Offenbar ein Irrtum Gutzkows, denn Zimmermann war nie Hauslehrer in Russland. Lediglich 1793 bekleidete er für einige Monate eine Hofmeisterstelle bei der Baronesse Caroline von Labes und unterrichtete in Berlin die Brüder Carl Otto (1779-1861) und Ludwig Achim von Arnim (1781-1831).
212,19 Prügelstrafe]
Strafe durch körperliche Züchtigung war an Schulen im 19. Jahrhundert (und darüber hinaus) weit verbreitet und weithin akzeptiert. Neben Arreststrafen im Schulkarzer arbeitete Zimmermanns Vorgänger Bernhardi eine Schulordnung mit einem regelrechten „Prügelsystem“ aus, das „mit eiserner Strenge gehandhabt“ wurde (A. C. Müller: Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin. Berlin: Weidmann, 1881. S. 100). Jede Klasse musste ein Verzeichnis von Schülern anlegen, die sich schlecht betragen hatten. Diese Verzeichnisse wurden dem Direktor vorgelegt, bei dem sich die getadelten Schüler „um 7 Uhr morgens, eine Stunde vor Beginn der Lektionen“ einzufinden hatten, „wo Bernhardi pünktlich mit dem Rohrstock erschien“. Bei wiederholtem Antreten wurden die Schüler „vom Direktor eigenhändig gezüchtigt.“ (Müller, a. a. O., S. 100.) In den höheren Klassen waren Prügelstrafen schwierig. „Der Stock verschwand hier, und wenn einer oder der andere der Lehrer einmal einem ungezogenen Knaben eine Ohrfeige gab, erfolgte in der Regel ein gewaltiger Sturm; als z. B. Ribbeck einmal einem Primaner eine Ohrfeige verabfolgte, lief sofort ganz Prima davon“ (Müller, a.a.O., S. 101). Über Arreststrafen für „unfleißige und ungezogene Schüler“ im Schulkarzer vgl. Müller S. 96.
212,20 „Uebergelegtwerden“]
Jemanden „übers Knie legen und prügeln“ (Küpper, Bd. 8, S. 2925, Stichwort ‚überlegen‘). Die Schüler wurden bedarfsweise auch über die Schulbank oder einen Stuhl gelegt; eine nicht nur schmerzhafte, sondern auch besonders demütigende Prügelprozedur.
212,23 Calfactors]
Bezeichnung für eine Hilfskraft, die einfache Arbeiten verrichtet, nach dem neulateinischen ›Calefactor‹ für „Einheizer, Stubenheizer, Aufwärter“ (Heyse 1859, S. 138). An Schulen übernahm er zum Teil Hausmeisteraufgaben. Vgl. auch im ersten Band des Zauberer von Rom die ausführlichen Erklärungen und Phantasien des etwas debilen Kammerherrn zum Thema „Calfacter“ in der Schule (GWB I, Bd. 11/I, S. 129,30–135,5).
212,24 stämmigen Unterofficiersfigur]
Der Kalefaktor des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums hieß zu Gutzkows Schulzeit Kemmenberg; im „Adreß-Kalender für die Königlichen Haupt- und Residenz-Städte Berlin und Potsdam auf das Jahr 1826“ (Berlin: Rücker, 1826. S. 169) wird er mit dem Zeichen für das Eiserne Kreuz zweiter Klasse aufgeführt, was ihn als ehemaligen Soldaten ausweist.
212,31 „gebrannten“ Jabot]
Das Jabot bezeichnet „die Brustkrause, Hemdkrause“ (Heyse 1859, S. 474), die den Brustschlitz eines Männerhemdes überdeckt und am Hemd angenäht wurde. Das Adjektiv ›gebrannt‹ ist vermutlich auf die Bedeutung von ›brennen‹ im Sinne von „eine intensive, hell-leuchtende Farbe zeigen, strahlen, glänzen“ (Sanders, Bd. 1, S. 210) zurückzuführen, demnach Ausdruck für ein farbig leuchtendes, auffallendes Jabot. Jabots waren vornehmlich eine Männermode des 17. und 18. Jahrhunderts.
213,6 „Bürgermeister von Spandau“]
Eduard Zimmermann (1811-1880). Er studierte in Berlin Rechts- und Staatswissenschaft, wurde 1839 Bürgermeister von Spandau, war 1848/49 linksliberaler Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung und anschließend des Stuttgarter Rumpfparlaments und wurde 1850 wegen angeblichen Hochverrats von einem preußischen Gericht zu einer 12-jährigen Festungshaft verurteilt. Zimmermann floh nach London, kehrte 1861 infolge einer Amnestie nach Berlin zurück und schloss sich hier der Fortschrittspartei an. Zeitweise war er auch auf dem Friedrichs-Werderschen Gymnasium und gehörte hier zu Gutzkows Mitschülern.
213,13 Kriegszustand, der in der Lehrerwelt]
Zimmermanns Rektorat war von Anfang an durch innerschulische Konflikte, Unregelmäßigkeiten in der Amtsführung des Rektors, der etwa weiterhin Lehrer an der Artillerieschule blieb, obwohl ihm das untersagt worden war, vor allem aber durch dauerhafte Querelen des Rektors mit Kollegen, Vorgesetzten und seiner vorgesetzten Behörde, dem Berliner Magistrat, geprägt. Diese Konflikte lassen sich im Detail ebensowenig aufklären, wie Gutzkows Behauptung, einzelne Lehrer hätten ein Komplott geschmiedet, um Zimmermann aus dem Amt zu bringen. Das Lehrerkollegium war allerdings mehrheitlich gegen den Rektor gestimmt und richtete wiederholt Beschwerden an den Magistrat. Während Gutzkow in seinen Erinnerungen erkennbar Sympathien für seinen alten Lehrer hegt, lässt der Schulchronist Müller in seiner Darstellung der Vorkommnisse kein gutes Haar an Zimmermann (vgl. A. C. Müller: Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin. Berlin: Weidmann, 1881. S. 108-111). Vgl. auch → Erl. zu 218,11-12.
213,14-15 durch einen Gesangslehrer]
Der Pädagoge, Musiker und Freimaurer Theodor Kanzler (1779-1845). Er war zunächst Lehrer in Küstrin und Lissa (Posen), ging nach Berlin und wurde unter Bernhardi 1812 als Hilfslehrer am Friedrichs-Werderschen Gymnasium angestellt, wo er zum Subrektor aufstieg, 1829 den Titel Professor erhielt und bis zu seiner Pensionierung 1845 wirkte (vgl. A. C. Müller: Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin. Berlin: Weidmann, 1881. S. 105). Kanzler war für den Musik- bzw. Gesangsunterricht an der Anstalt verantwortlich, leitete mit großem Eifer den Schulchor und die beiden Singeklassen, die zu feierlichen Anlässen öffentlich auftraten. Kanzler unterrichtete zeitweise auch Deutsch und Geschichte.
213,23-25 durch Zelter, Rungenhagen, Reichardt schwunghaft betriebenen Liedertafeln]
Der Musiker, Komponist und Direktor der Berliner Sing-Akademie Carl Friedrich Zelter (1758-1832) gründete 1808 die Berliner Liedertafel, der auch der Berliner Komponist und Musikpädagoge Carl Friedrich Rungenhagen (1778-1851) angehörte. Er wurde 1833 Nachfolger Zelters an der Sing-Akademie. Auch der Musiker Gustav Reichardt (1797-1884) war seit 1819 Mitglied der Sing-Akademie und nahm an der Liedertafel teil.
213,25-26 Freimaurerloge „Zu den drei Weltkugeln“]
Die im September 1740 unter dem Protektorat von König Friedrich II. gegründete Große National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ war die älteste Freimaurerloge Berlins und hatte ihren Sitz in der Splittgerbergasse. Zur Loge gehörten „fürstliche Mitglieder, hohe Staatsbeamte und Männer aus allen Klassen des Lehr-, Wehr- und Nährstandes“ (Zedlitz, S. 211). Auch Kanzlers zeitweiliger Vorgesetzter und innerschulischer Gegner Christian Gottlieb Zimmermann gehörte der Loge von 1795 bis zu seinem Tod 1841 an (vgl. die Mitgliederliste in: Uta Motschmann (Hg.): Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften 1786-1815. Berlin, München, Boston: de Gruyter, 2015. S. 314). Kanzlers Engagement für seine Loge wird belegt durch eine Sammlung von Freimaurerliedern, die er 1834 zusammenstellte und die auch gedruckt erschien: „Maurerische Lieder als Anhang zum neuen Gesangbuch für die große National-Mutterloge zu den drei Weltkugeln. Gesammelt von Br. Theodor Kanzler.“ (Berlin: Jonas, 1834.)
213,31 Discantist]
Einer, der „Discant, […] die höchste Stimme in der Musik, s[o] v[iel] w[ie] Sopran“ singt. (Heyse 1859, S. 273.) Das Fremdwort ist heute nicht mehr gebräuchlich. – Gutzkow, „mit voller, sonorer Stimme“, galt den Erinnerungen seines Mitschülers Schlemüller zufolge als guter Sänger und gehörte zur ersten Singeklasse (vgl. Rasch, Gutzkow-Doku., S. 16-17).
213,32 Basso primo]
Erster Bass(sänger).
214,7 Unter-Secundaners]
Nach heutiger Klassenordnung Schüler der zehnten Klasse.
214,11 Rühs und Luden]
Zwei Historiker, die im Geist der national-völkischen Aufbruchstimmung der Befreiungskriege wirkten: Christian Friedrich Rühs (1781-1820) wurde 1810 an die neu gegründete Berliner Universität berufen, wo er bis zu seinem Tod lehrte; Heinrich Luden (1778-1847) war Professor in Jena und übte mit seinen Vorlesungen über Politik und Zeitgeschichte großen Einfluss auf Burschenschafter aus.
214,15-16 alten Professors K.]
Johann Krüger (geb. 1752 oder 1753 in Berlin, gest. 1826) war seit 1776 Zeichenlehrer am Friedrichs-Werderschen Gymnasium, trug den Titel Professor und war zu Gutzkows Zeit dienstältester Lehrer der Schule. Ostern 1824 wurde er nach 48 Dienstjahren pensioniert, zwei Jahre später starb er. Das Schulprogramm von 1827 widmet ihm in der Schulchronik einen kurzen Nachruf, in dem es heißt: „Er war ein freundlicher und gewissenhafter Lehrer, welcher sich die Liebe seiner Schüler zu erwerben und zu erhalten wusste. In seinen amtlichen Verhältnissen war er offen, gefällig und dienstfertig. Dieser Grundsätze und Gesinnungen wegen wurde er von allen seinen Collegen geschätzt und diese Empfindungen wahrer Hochachtung folgen ihn in sein Grab.“ (Zu den öffentlichen Prüfung der Zöglinge des Friedrichswerderschen […] ladet ehrerbietigst ein [...]C[hristoph] G[ottlieb] Zimmermann. [Schulprogramm 1827.] Berlin: Gädicke, 1827. S. 49.)
214,21 Jede Ordnung schien aufgelöst]
Professor Krüger wusste sich angesichts des zügellosen Benehmens seiner Schüler durchaus zu helfen, wie der Chronist der Schule Müller berichtet: „Bei dem sonst sehr beliebten Zeichenlehrer, einem gutmütigen, geduldigen, alten Manne, wurden von den Schülern während der Lehrstunden ganz laute Unterhaltungen geführt, die oft sogar in Schlägereien ausarteten. Dann sprang, die Geduld verlierend, der alte Herr auf die Bank, schlug mit seinem Rohrstock nach allen Seiten um sich, wohin er traf, auf Kopf und Rücken, so daß die Umhersitzenden sich nur durch die Flucht unter Tische und Bänke retten konnten.“ (A. C. Müller: Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin. Berlin: Weidmann, 1881. S. 100.)
214,27 Quartanern]
Wörtlich „Schüler der vierten Classe“ (Heyse 1859, S. 761). Die Quarta war nach Sexta und Quinta aber die dritte Klasse auf dem Gymnasium, der Quartaner nach heutigem Ordnungsschema ein Schüler der siebenten Klasse. Gutzkow saß vermutlich 1823/24 in Quarta.
215,3 Ravaillac’s]
François Ravaillac (1578-1610), ein religiöser Schwärmer mit Hang zu Visionen und Zwangsvorstellungen, erdolchte 1610 in Paris König Heinrich IV. von Frankreich und wurde kurze Zeit darauf öffentlich hingerichtet.
216,12 stentorischen]
„(Ü)berlaut, mächtig schreiend“ (Heyse 1859, S. 874), nach dem griechischen Krieger Stentor, der Homer zufolge vor Troja 50 Männer überschreien konnte.
215,10-11 in seiner Gewinnsucht]
Das Motiv Gewinnsucht wird möglicherweise etwas relativiert, wenn man sich vor Augen hält, dass Krüger trotz seiner Dienstjahre der am schlechtesten besoldete Lehrer des Gymnasiums war, auch wenn er weniger Stunden gab als andere. Direktor Zimmermann erhielt 1.200 Taler jährlich, sein Stellvertreter Brunnemann 1.000 Taler, Krüger musste sich mit 230 Talern begnügen. (Vgl. A. C. Müller: Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin. Berlin: Weidmann, 1881. S. 109.) Krüger hatte offenbar aber auch Nebeneinkünfte und gab zeitweise Unterricht an der Kriegsschule und dem Berliner Cadetten-Corps.
215,13 Sarre am Werder’schen Markte]
Eduard Sarre unterhielt eine in Berlin bekannte Papier- und Kunsthandlung am Werderschen Markt Nr. 4.
215,20 Vater Eduard Tempeltey’s]
Im Erstdruck der „National-Zeitung“ lautet die Stelle etwas vertraulicher: Vater unsres Tempeltey (J). Eduard von Tempeltey (1832-1919) war ein bekannter Journalist, liberaler Politiker und Schriftsteller, der seit 1862 als Kabinettsrat am Hofe Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha, zeitweilig dort auch für das Hoftheater tätig war. Sein Vater, der Maler und Lithograph Friedrich Julius Tempeltey (auch Tempeltei, 1802-1870), wurde 1823 als sehr junger Zeichenlehrer am Friedrichs-Werderschen Gymnasium angestellt und blieb hier bis 1835 tätig.
215,29 determinirt]
„(B)estimmt, entschieden, entschlossen“ (Heyse 1859, S. 259).
215,33 „Austrommeln“]
Nach Küpper „sich gegen einen Redner (o. ä.) mit Poltern empören“ (Bd. 1, S. 251).
216,1 Vollblutfranzosen]
Er hieß J. L. Matthieu (Lebensdaten unbekannt) und wurde im November 1822 am Friedrichs-Werderschen Gymnasium angestellt, wo er bis Anfang 1832 blieb. (Vgl.: A. C. Müller: Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin. Berlin: Weidmann, 1881. S. 115.)
216,2 Brande von Moskau]
Im September 1812 während der Besetzung Moskaus durch französische Truppen. Nach der verheerenden Brandkatastrophe verließ im Oktober Napoleon das zum größten Teil zerstörte Moskau, und der verlustreiche Rückzug der Grande Armée nach Westen begann.
216,5 Prediger N. N.]
Karl Ludwig St. Martin (Lebensdaten unbekannt) war Prediger an der französisch-reformierten Kirche in der Berliner Luisenstadt und kam wie Matthieu im November 1822 als Französischlehrer an das Friedrichs-Werdersche Gymnasium. Wann er die Schule verließ, konnte nicht ermittelt werden. Bei Gutzkows Schulentlassung 1829 gehörte er noch zum Lehrerkollegium.
216,7-8 Theologie von Genf und Lausanne]
Die von Johannes Calvin vertretene kirchliche Lehre (Calvinismus).
216,8 Boileau’schen]
Nach dem französischen Dichter und Kritiker Nicolas Boileau-Despréaux (1636-1711), einem Vertreter der französischen Klassik, deren poetologische Maximen er in seinem Lehrgedicht „L’Art Poétique“ (1674) formvollendet zum Ausdruck brachte.
216,9 Bossuet und Fénélon]
Zwei französische Schriftsteller und berühmte Kanzelredner des späten 17. Jahrhunderts: der Theologe, Historiker und katholische Bischof Jacques Bénigne Bossuet (1627-1704), seit 1681 Bischof von Meaux, sowie François de Salignac de la Mothe Fénelon (1651-1715), der seit 1695 Erzbischof von Cambrai war.
216,18 Inspectors ***]
Gutzkows Latein- und Griechischlehrer Ernst Gottlob Jäkel (1788-1840). Jäkel stammte aus Ohlau (Niederschlesien), studierte Theologie und Philologie an den Universitäten Breslau und Berlin, bestand in Berlin das Oberlehrerexamen und wurde 1817 am Joachimsthalschen Gymnasium einer der Inspektoren (Aufseher) der Alumnen (Schüler, die neben dem Unterricht auch mit Wohnung und Verpflegung versorgt wurden). 1821 kam er als Lehrer für Latein und Griechisch ans Friedrichs-Werdersche Gymnasium, erhielt 1828 den Titel Professor, war bis zu seinem Tod 1840 Lehrer an der Schule, zuletzt im Rang eines Prorektors. - Gutzkow hat schon 1837, inkognito und an sehr versteckter Stelle, über seine Erfahrungen auf dem Gymnasium geschrieben und dabei auch (allerdings ohne jede Namensnennung) über seinen Lehrer Jäkel berichtet. In Die Zeitgenossen (Kapitel Die Erziehung) charakterisiert er die pädagogischen Qualitäten des ungenannten Paukers und spielt auch hier auf dessen uneheliche Verhältnisse an: Ich beklage […], daß mir besonders Demosthenes ganz und gar verleidet wurde. Diesen Redner erklärte uns eine sehr zerstreute Persönlichkeit, die gewöhnlich erst über Politik mit den Scholaren verhandelte, ehe der Unterricht begann. Der Mann trug jedenfalls sein Lehrerjoch mit Verzweiflung, er hätte sich weit mehr zum Journalisten gepaßt, oder wenigstens zu einem beschäftigten Ehemann, indeß er unverheirathet blieb und, wie man sagte, viel Verdrießlichkeiten mit seinen Haushälterinnen hatte. […] Wir wußten, daß dieser Mann von der Frau eines Schmieds, die aber keine Venus war, in allen seinen Verhältnissen abhing. Wir wußten, daß die Kinder des Schmieds alle unserm Demostheneserklärer glichen: wir wußten, daß er sich plötzlich mit dem rohen aber üppigen Weibe überwarf und den heldenmüthigen Entschluß faßte, aus dem Netze dieser Circe, das ihr Mann als Vulkan eher trennte, wie spann, sich zu befreien. Auf alle diese Dinge war dieser junge Mann (von einigen und dreißig Jahren) mehr bedacht, als auf den Demosthenes, den er nichtsdestoweniger zu lieben schien, wenn auch nicht mit der verliebten Leidenschaft, die einmal sein Temperament war und ihn hinderte, Andere etwas von seinem Gegenstande abbekommen zu lassen. Wir sprachen viel mit ihm über den Riß in der ersten Olynthischen Rede, ob sie nicht vielleicht aus zwei heterogenen Theilen bestände; allein mir ist nie ein Verhältniß klar geworden, das Demosthenes betraf, kaum die Disposition seiner Reden, viel weniger die Absicht derselben. (GWB III, Bd. 3, S. 275-276.)
216,23 Exercitienhefte]
Hefte mit Übungs- bzw. Hausaufgaben (vgl. Heyse 1859, S. 335, Stichwort ›Exercitien‹).
216,27 wohnte bei einem Schlossermeister]
Anhand der Berliner Adressbücher nicht nachweisbar. Da Jäkel zwischen 1820 und 1826 im Berliner Adressbuch nicht zu finden ist, dürfte er in dieser Zeit zur Untermiete gewohnt haben.
216,34-217,1 olynthischen Reden des Demosthenes]
Im Zweiten Olynthischen Krieg (349 bis 348/47 v. u. Z.) wurde die Stadt Olynth auf der griechischen Halbinsel Chalkidike durch Philipp II., König von Makedonien, angegriffen, erobert und zerstört. Der griechische Staatsmann und Rhetor Demosthenes (384-322 v. u. Z.) hielt wegen des ungehinderten Expansionsdrangs Philipps II. im Jahr 349 v. u. Z. drei „Olynthische Reden“, in denen er die Athener zur Unterstützung Olynths aufrief. Athen zögerte jedoch, Olynth militärischen Beistand zu leisten. – Der Schulchronik zufolge behandelte Jäkel mit Gutzkows Klasse im ersten Semester des Schuljahrs 1828/29, also im Frühjahr und Sommer 1828, die erste und zweite „Olynthische Rede“ (vgl.: Programm womit zu der öffentlichen Prüfung der Zöglinge des Friedrichswerderschen-Gymnasiums, welche Mittwochs, den 15. April 1829 […] Statt finden soll […] ergebenst einladet August Ferdinand Ribbeck. Berlin: Nauk, 1829. S. 41-42).
217,2-3 Schlacht von Navarin]
In der Seeschlacht von Navarino (gr. Pylos) am 27. Oktober 1827, an der britische, französische und russische Schiffe auf der einen, osmanische und ägyptische auf der anderen Seite teilnahmen, erlitten die Osmanen eine entscheidende Niederlage, die schließlich auch zur lange umkämpften Unabhängigkeit Griechenlands vom Osmanischen Reich führte.
217,12 Sallust]
Eigentlich Gaius Sallustius Crispus (86-35 v. u. Z.), römischer Politiker, Historiker, Schriftsteller. – Was von Sallust in welcher Klasse gelesen wurde, ließ sich nicht ermitteln.
217,16 Programm]
Das Schulprogramm des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums für 1830 (ein Exemplar davon war für mich nicht erreichbar). Es erschien also erst nach Gutzkows Pennälerzeit und brachte eine „Abhandlung vom Prof. Ernst Jäkel […]: De diis domesticis priscorum Italorum, worin nachgewiesen werden soll, dass die alten Italischen Götter von den Griechischen gänzlich verschieden, überhaupt der Röm. Götterdienst ganz anders als der Griechische sey, und dass man Götter und Cultus vielmehr von den Germanen ableiten müsse. Sie steht demnach in naher Verwandtschaft mit desselben Gelehrten Schrift: der Germanische Ursprung der Lateinischen Sprache und des Röm. Volks.“ (Vgl. die anonyme Rezension des Schulprogramms in: Jahrbücher für Philologie und Pädagogik. Leipzig. 5. Jg., 2. Bd., 1. Heft, 1830, S. 108.) - Gutzkow besprach die auch separat erschienene Schrift Jäkels am 8. August 1832 in Menzels „Literatur-Blatt“ unter der Sparte „Alterthumskunde“ (Rasch 3.32.08.08).
217,17 folgte bald eine ausführliche Schrift]
Auch diese kam erst nach Gutzkows Schulzeit heraus und umfasste knapp über 250 Seiten. Gutzkow zitiert den Titel nicht ganz genau. Er lautet: „Der germanische Ursprung der lateinischen Sprache und des römischen Volkes. Nachgewiesen von Ernst Jäkel, Professor am Friedrichswerder’schen Gymnasium in Berlin.“ (Breslau: Korn, 1830.)
217,29 Karlsbader Beschlüsse]
Im August 1819 vereinbarten Vertreter des Deutschen Bundes auf Betreiben Metternichs in Karlsbad ein umfassendes staatliches Repressionssystem gegen nationale und liberale Bestrebungen für die mehr als dreißig Staaten des Deutschen Bundes. Die Maßnahmen intensivierten die in einzelnen Ländern schon begonnene Demagogenverfolgungen, verschärften drastisch die Zensur, sahen eine strenge Überwachung der Universitäten vor und verboten das Turnen und studentische Verbindungen. Ein System von Verdächtigungen, Bespitzelungen und geheimer Überwachung etablierte sich und brachte in den kommenden Jahren zahllose politisch Oppositionelle ins Gefängnis oder zu Tode. Auch Lehrverbote, Berufsverbote oder Ausweisungen gehörten zum Repertoire der Einschüchterung und Unterdrückung. Die Karlsbader Beschlüsse waren bis zur Revolution 1848 gültig.
218,2 Periode Altenstein]
Der preußische Staatsmann Karl Freiherr von Stein zum Altenstein (1770-1840) wurde noch unter dem Reformkanzler Karl August von Hardenberg 1817 Minister des neu gebildeten Ministeriums für Kultus, Unterricht und Medizinalwesen und blieb in diesem Amt bis zu seiner Entlassung 1838. In seiner Amtszeit trug er entscheidend zur Erneuerung des preußischen Schul- und Bildungswesens bei. Gutzkow schrieb 1840 einen Nachruf auf Altenstein, der sich in der zweiten Ausgabe seiner Oeffentlichen Charaktere von 1845 findet (GWI, Bd. 2, S. 244-254).
218,11-12 ihren Grund in einer Verschwörung]
Ob und inwieweit ein Komplott von drei Lehrerkollegen die Entlassung Zimmermanns bewirkte, wie Gutzkow annimmt, muss offen bleiben. Möglicherweise hat aber der Prediger und Deutschlehrer Carl Heinrich Brunnemann (→ Erl. zu 218,25) den Stein mit ins Rollen gebracht. In Müllers Schulchronik heißt es: „1824 sah sich der Prorektor Brunnemann genötigt, die ihm von Zimmermann gemachten Vorwürfe der Arbeitsscheu, des ‚für einen Prediger sehr unrühmlichen Geschäftes der Opposition, da der Direktor an den ältesten Lehrern eine Stütze in seiner Amtsführung haben sollte‘, ferner, daß er ‚der letzte wäre, der in die Klasse ginge‘ u. dgl. m., in einer Eingabe an den Magistrat energisch zurückzuweisen, in welcher die Worte vorkommen: ‚Der Herr Direktor betrachtet die Lehrer nur als seine Untergebenen. Wo ist hier die Widerrechtlichkeit? Gewiß nur bei dem, der ohne Liebe und Vertrauen in der Behauptung eines kalten und feindseligen Wesens seine Würde sucht.‘ Der Magistrat scheint es endlich aufgegeben zu haben, einen Ausgleich zwischen den Streitenden herbeizuführen, denn er sah bald von allen weiteren Verhandlungen in dieser Sache ab. […] Die Stimmung im Magistrate sowohl als bei den anderen Behörden wurde gegen Zimmermann immer ungünstiger. Das Konsistorium bezeichnete seine Wahl als einen Mißgriff und sagte geradezu: ‚Daß die Lehranstalt soviel von ihrem vormaligen Ansehen verloren, liegt wohl lediglich am Direktor‘. Den Ephoren Küster und Marot wurde aufgetragen, den Schulkonferenzen beizuwohnen, und dem Direktor wurde Mangel an Takt und wissenschaftlicher Bildung vorgeworfen. Endlich kam die Behörde zu der Ansicht, daß Zimmermanns Entfernung von der Anstalt wünschenswert wäre. […] Im Herbste [1827] erklärte sich Zimmermann endlich zum Rücktritt bereit und wurde mit einer Pension von jährlich 900 Thalern in den Ruhestand versetzt.“ (A. C. Müller: Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin. Berlin: Weidmann, 1881. S. 110-111.) Vgl. auch → Erl. zu 213,13.
218,12 der edle Freimaurer]
Der Musiklehrer Theodor Kanzler (→ Erl. zu 213,14-15), der der Freimaurerloge „Zu den drei Weltkugeln“ angehörte (→ Erl. zu 213,25-26).
218,13 ein Theologe]
Carl Heinrich Brunnemann (→ Erl. zu 218,25).
218,13-14 der Sohn eines Theologen]
Der auf Zimmermann folgende Rektor der Schule, August Ferdinand Ribbeck (1792-1847). Sein Vater Konrad Gottlieb Ribbeck (1759-1826) war Probst an der Berliner Nicolai- und der Marienkirche, königlicher Oberkonsistorialrat, Beichtvater von Mitgliedern des königlichen Hauses und gelegentlich Berater des Königs in kirchlichen Fragen. Vgl. auch → Erl. zu 223,10.
218,18 ein Schüler Kant’s]
Zimmermann war in Königsberg ein Lieblingsschüler des berühmten Philosophen und Aufklärers, der ihm ganz besondere Aufmerksamkeit und Förderung widmete: „Er eröffnete ihm seinen Hörsaal für alle seine Lehrstunden, gestattete ihm jederzeit freien Zutritt und ließ ihm später noch in Berlin sein Wohlwollen zu Statten kommen, daher er [Zimmermann] sich dieses seines großen Lehrers stets mit lebhafter Dankbarkeit und hoher Verehrung erinnerte.“ (Neuer Nekrolog der Deutschen. 19. Jg, 1841. 2. Theil. Weimar: Voigt, 1843. S. 822.)
218,17 Mathesis]
Ältere Bezeichnung für Mathematik.
218,22 einer der Angeber]
Carl Heinrich Brunnemann, → Erl. zu 218,25.
218,25 Dieser Professor und Prediger N. N.]
Carl Heinrich Brunnemann (1786-1858). Er studierte in Halle, wurde zum Dr. phil. promoviert, kam im September (Michaelis) 1810 an das Friedrichs-Werdersche Gymnasium, wurde 1819 Professor und war vom 1. Oktober 1827 bis 1. Oktober 1828 interimistischer Direktor der Anstalt. Brunnemann gab Deutsch- und Religionsunterricht, Geschichte und philosophische Propädeutik. Neben der Schule war er auch als Prediger in Berliner Kirchen aktiv. 1831 wurde er fest angestellter dritter Prediger an der Friedrichs-Werderschen und der Dorotheenstädtischen Kirche und schied aus dem Schuldienst aus. (A. C. Müller: Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin. Berlin, Weidmann, 1881. S. 105, 116.)
218,33 Aesop]
Mythischer Fabeldichter des Altertums (Äsopische Fabeln), der um 550 v. u. Z. gelebt haben soll und später selbst Gegenstand literarischer Werke wurde. Die Nachwelt hat ihm „Häßlichkeit und Eulenspiegelhaftigkeit“ angedichtet (Meyer, Bd. 1, S. 879), Eigenschaften, auf die Gutzkow hier offenbar anspielt.
218,34 Richard III.]
Titelfigur in Shakespeares Historiendrama „König Richard III.“
219,2 neuen Lokal]
Das Fürstenhaus in der Kurstraße 52-53, das die Schule 1825 bezog (→ Erl. zu 231,28).
219,18 Wort aus seiner bessern Stimmung]
Darauf kommt Gutzkow wiederholt zurück, vgl. auch → Erl. zu 236,12-13.
219,22 Kaufmann Nätebus]
Der Berliner Kaufmann D. F. Nätebus hatte in der Friedrichstraße Nr. 87 (zwischen Unter den Linden und der Mittelstraße) ein Materialwarengeschäft (vgl. u. a. Berliner Adressbücher, Jg. 1827, [S. 231]). In diesen Läden wurde mit Lebensmitteln wie Heringen und Butter, „Gewürzen, Kaffee, Zucker, Taback, Farben u. a. nicht sehr künstlich bereiteten Producten“ (Pierer 1840-46, Bd. 19, S. 42) gehandelt. In Berlin hießen diese Geschäfte auch „Material- und Colonial-Waaren-Handlungen“.
219,23 „Shakspeare, übersetzt von Meyer“]
Carl Joseph Meyer (1796-1856) gab diese Übersetzung seit Sommer 1824 im Verlag von Hennings in Gotha unter dem Titel „Shakspeare’s Sämmtliche Schauspiele; frey bearbeitet von Meyer“ heraus. Er übertrug aber nur zehn Stücke. Die Übersetzung soll nach Aussage eines Zeitgenossen „schauderhaft“ gewesen sein, fand aber reißenden Absatz. „Von den ersten Bändchen waren schon nach drei Jahren 21 000 Exemplare verkauft.“ (Heinz Sarkowski: Das Bibliographische Institut. Verlagsgeschichte u. Bibliographie. 1826-1976. Mannheim, Wien, Zürich: Bibliogr. Inst., 1976. S. 14.) Insgesamt erschienen bis 1834 von dieser Gesamtausgabe 52 Bändchen.
219,24 Meyer, dem Begründer des Bibliographischen Instituts]
Der Kaufmann und liberale Publizist Carl Joseph Meyer (1796-1856) gründete das Bibliographische Institut am 1. August 1826 in Gotha, verlegte die Firma Ende 1828 nach Hildburghausen, 1874 nach Leipzig. Durch kleinformatige, preiswerte Klassikerserien und popularwissenschaftliche Reihen, mit denen er nach dem Motto „Bildung macht frei“ auch untere Volksschichten erreichen wollte, vor allem aber mit seinem seit 1840 erschienenen Konversationslexikon machte Meyer das Bibliographische Institut in den kommenden Jahrzehnten zu einem der größten und bedeutendsten Verlage Deutschlands.
219,26 „Miniatur-Bibliothek der deutschen Classiker“]
Mit dieser, seit Juli 1827 in wöchentlichen Lieferungen erscheinenden Serie (Format 7 x 11,5 cm) begründete Meyer sein Geschäft. „Von 1827 bis 1834 erschienen 187 Bändchen und zusätzlich 17 Supplemente“, jedes Bändchen „kostete 2 Groschen sächsisch oder 2 ½ (preußische) Silbergroschen.“ (Heinz Sarkowski: Das Bibliographische Institut. Verlagsgeschichte u. Bibliographie. 1826-1976. Mannheim, Wien, Zürich: Bibliogr. Inst., 1976. S. 202.) Die Bibliothek bot neben einem Porträtfrontispiz und einer biographischen Einleitung jeweils eine Auswahl aus den Schriften bekannter Dichter des 18. und frühen 19. Jahrhunderts von Gellert, Gleim, Garve, Musäus bis zu Tieck, Hoffmann, Hauff, den Brüdern Schlegel und war gegenüber den Originalausgaben dieser Autoren unschlagbar preiswert.
219,34 Distichon]
Griech. ›Doppelvers‹, ein Verspaar mit zwei unterschiedlichen Versmaßen, meist Hexameter und Pentameter.
220,6 Freimaurer K.]
Der Musiklehrer Theodor Kanzler (→ Erl. zu 213,15) erteilte in mehreren Klassen auch Geschichtsunterricht.
220,6 Rühs und Luden]
Vgl. → Erl. zu 214,11.
220,8 Franz Horn]
Der vielseitige Schriftsteller, Literaturhistoriker und Kritiker Franz Horn (1781-1837), ein ehemaliger Lehrer am Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin und am Lyceum in Bremen, seit 1809 dort Privatgelehrter. Er veröffentlichte neben Romanen und Erzählungen mehrere umfangreiche Werke und Aufsatzsammlungen zur Ästhetik und Literaturgeschichte. Brunnemann dürfte sich im Unterricht vor allem auf ein aktuelles Literaturgeschichtswerk Horns bezogen haben, „Die Poesie und Beredsamkeit der Deutschen, von Luthers Zeit bis zur Gegenwart“, das in vier Bänden zwischen 1822 bis 1829 erschien. (Über Franz Horn vgl. Goedeke, Bd. 6 (18), S. 388-389 u. Bd. 14 (1956), S. 493-500). – Gutzkow hat sich einige Male mit Franz Horn auseinandergesetzt, satirisch schon im „Forum der Journal-Literatur“ 1831; im „Telegraph für Deutschland“ besprach er 1839 ein postumes Werk von Horn und widmete ihm dabei einen mit Wärme geschriebenen Nachruf (Rasch 3.39.04.30.1), den er schließlich 1875 in die letzte Ausgabe seiner Oeffentlichen Charaktere aufnahm (GWII, Bd. 9, S. 361-365).
220,13 Göttinger Dichterbund]
Passagen über den Göttinger Hain finden sich in den ersten Paragraphen des 6. Buches von Franz Horns „Die Poesie und Beredsamkeit der Deutschen, von Luthers Zeit bis zur Gegenwart“ (Berlin: Enslin, 1824. Bd. 3, S. 195-197). Im Inhaltsverzeichnis zum dritten Band angekündigt unter der Überschrift: „Zur Charakteristik des in Göttingen gestifteten neuen Dichtervereins. § 1. 2.“
220,25 Hegel’s Philosophie]
Georg Wilhelm Friederich Hegel (1770-1831) folgte 1818 einem Ruf des preußischen Kulusminister Altenstein an die Berliner Universität. Hegels Popularität, sein Einfluss auf das geistige, wissenschaftliche und kulturelle Leben Berlins und Preußens wuchs von Jahr zu Jahr. Vor allem die Protektion durch Altenstein, die Unterstützung von Hegel-Schülern und Bevorzugung von Hegelianern bei Stellenbesetzungen durch den Minister, verstärkten Hegels Vormachtstellung in Preußen. Seine Philosophie blieb bis zum Ende der Vormärzepoche in Berlin und Preußen vorherrschend. Über seinen einstigen Lehrer Hegel, von dem er sich in den 1830er Jahren emanzipierte, erzählt Gutzkow ausführlich in seinen Universitätserinnerungen Das Kastanienwäldchen in Berlin (GWB VII, Bd. 3, S. 117-126).
220,26 „Philosophische Propaedeutik“]
Das Fach war „durch Verfügung vom 26. Mai 1825, auf Hegels Veranlassung hin“ als einführender Unterricht in die Grundlagen der Philosophie „dringend empfohlen“ (Eduard Stemplinger) und schließlich in die preußischen Lehrpläne aufgenommen worden, wurde aber nur in den beiden höheren Klassen Sekunda und Prima erteilt. „Wie so häufig fehlte es bei solchen Neuerungen an geeigneten Lehrkräften, und das Gegenteil des gewollten Zweckes trat ein: durch den trockenen Unterricht wurden die abgehenden Schüler vom Studium der Logik und Philosophie auch weiterhin abgestoßen.“ (Eduard Stemplinger: Gutzkows Stellung zum neuhumanistischen Gymnasium. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik. Bd. 52. Berlin: Teubner, 1923. S. 109.) Für die Prima, in der sich Gutzkow befand, wird in der Schulchronik 1828/29 das inhaltlich Profil dieser Lehrstunde so festgehalten: „Eine Stunde wöchentlich ward im 1sten Semester von Professor Brunnemann zum Vortrag der empirischen Psychologie verwendet; im 2ten benutzte der Director Ribbeck diese Lection zu möglichst übenden Unterredungen über die Nothwendigkeit des philosophischen Studiums, über den Zusammenhang desselben mit den übrigen Wissenschaften und über die wichtigsten Termini der Elementar Logik.“ (Programm womit zu der öffentlichen Prüfung der Zöglinge des Friedrichswerderschen Gymnasiums, welche Mittwochs, den 15. April 1829 […] Statt finden soll […] ergebenst einladet August Ferdinand Ribbeck. [Schulprogramm 1829.] Berlin: Nauk, 1829. S. 42-43.)
220,29 seinem Nachfolger]
August Ferdinand Ribbeck, vgl. → Erl. zu 223,10.
220,30-31 „Matthiä’s Propaedeutik“]
Der Philologe und Lehrer August Matthiae (1769-1835) hatte 1823 ein „Lehrbuch für den ersten Unterricht in der Philosophie“ herausgebracht, das Brunnemann vermutlich als einführenden Leitfaden für den Unterricht nutzte. Gutzkow konnte sich 1873 offenbar nicht mehr an den genauen Titel erinnern.
222,3 Der „correkte Denker“]
Ähnlich, aber etwas schärfer und abwertender spricht Gutzkow in den Rückblicken auf mein Leben einmal vom Typus vollkommene Menschen (GWB VII, Bd. 2, S. 8) als stromlinienförmige Streber und konformistische Karrieristen.
222,17-18 Staatssekretär Antonio in Goethe’s Tasso]
Antonio Montecatino, Staatssekretär und Diplomat am Hofe des Herzogs von Ferrara, Figur in Goethes Schauspiel „Torquato Tasso“ (1790). Als realistischer, weltkluger und gewandter Höfling bildet er im Stück eine Kontrastfigur zum Titelhelden, dem idealistisch disponierten Poeten Torquato Tasso.
222,24 Nepoten]
Durch Vetternwirtschaft (Nepotismus) begünstigte Personen; „ursprüngl. die Neigung regierender Päpste etc., ihre Nepoten, Neffen oder Vettern, zum Nachtheil andrer verdienterer Männer zu erheben und zu bereichern“ (Heyse 1859, S. 608).
222,24 Ariost]
Deutscher Name für den italienischen Dichter Ludovico Ariosto (1474-1533), der mit seinem Versepos „Orlando furioso“ (1516-32 , dt. „Der rasende Roland“) berühmt wurde. Wie Torquato Tasso etwa dreißig Jahre später lebte auch er lange am Hofe von Ferrara. In Goethes Schauspiel widmet Antonio Montecatino (offenbar als kränkenden Seitenhieb auf Tasso) Ariost als vollendetem Dichter eine längere Lobeshymne.
223,2 sardonisches Lächeln]
Ein höhnisches Lächeln; „als sardonisches Lachen“ wurde ein „gezwungenes, gräßliches, krampfhaftes, bitteres Lachen, Hohnlachen“ bezeichnet, „auch ein dem Lachen ähnliches krampfhaftes Verziehen der Gesichtsmuskeln“ (Heyse 1859, S. 826).
223,4-5 Wilibald Pirkheimer und Erasmus von Rotterdam]
Bedeutende Gelehrte des Humanismus: Willibald Pirkheimer (1470-1530) und Erasmus von Rotterdam (geb. 1466 oder 1469, gest. 1536).
223,6 Hutten]
Ulrich von Hutten (1488-1523), Reichsritter, Humanist, Kirchenkritiker und Publizist der Reformationszeit.
223,8-9 Cicero’s Verrinen]
Anklagereden Ciceros (vgl. → Erl. zu 261,4) aus dem Jahr 70 v. u. Z. in einem Prozess gegen den korrupten römischen Politiker, Statthalter und Unterdrücker Siziliens Gaius Verres (115-43 v. u. Z.). Diese „Orationes in Verrem“ werden kurz auch Verrinen genannt.
223,9 Extemporalien]
Klassenarbeiten, die unangekündigt geschrieben werden mussten und daher bei Schülern nicht beliebt waren. „Extemporale, […], eine aus dem Stegreif d. i. unvorbereitet gefertigte Sprach- oder Schreib-Übung“ (Heyse 1859, S. 340).
223,10 August Ferdinand Ribbeck]
August Ferdinand Ribbeck (1792-1847), Sohn des 1826 verstorbenen Propstes von Berlin ( → Erl. zu 218,13-14), studierte in Frankfurt/Oder und Berlin und wurde 1813 als Hilfslehrer an das Friedrichs-Werdersche Gymnasium berufen. 1820 zum Professor ernannt, wechselte er 1826 an das Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster. Am 1. Oktober 1828 wurde er Direktor der Friedrichs-Werderschen Gymnasiums, am 18. Oktober feierlich in sein Amt eingeführt. Der Schulchronist A. C. Müller zitiert aus einem zeitgenössischen Gutachten, das Ribbeck ausdrücklich als Rektor empfiehlt: „Ribbeck wird von allen […] als ein gründlich gelehrter Mann geschätzt, der, wenn er gleich nicht als Schriftsteller berühmt ist, doch in seiner ganzen Amtsthätigkeit ein tiefes und umfassendes Wissen an den Tag gelegt hat.“ (A. C. Müller: Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin. Berlin: Weidmann, 1881. S. 117; über Ribbeck und sein Rektorat S. 116-121). Müller resümiert: „War Ribbeck […] als Schriftsteller weniger fruchtbar, so entfaltete er eine desto größere Thätigkeit auf pädagogischem Gebiet, wo er mit unermüdlicher Hingebung seines Amtes waltete. Er selber unterrichtete in Prima, Sekunda und Tertia in der Religion und lehrte die philosophische Propädeutik, ganz besonders aber Cicero, Tacitus und Horaz in Prima, wo er auch lateinische Grammatik und Stilistik übte. Seine dichterische Begabung und die ihm eigene feine Ironie wie die Gewandtheit im Gebrauche der Muttersprache, durch welche er die lateinischen Verse ebenso treffend als geschmackvoll zu übersetzen wußte, wirkten nicht minder anregend auf die Schüler, als die Fülle seiner Kenntnisse in römischen und griechischen Altertümern, die er ihnen in fesselnder Weise mitzuteilen verstand.“ (Müller, a. a. O., S. 118.) Ribbeck blieb bis 1837 Direktor des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums und wurde dann Leiter des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster, erkrankte in seinen letzten Lebensjahren an einem Brustübel und verstarb auf einer Erholungsreise Anfang 1847 in Venedig. – Ribbeck gab in Gutzkows Klasse Latein und philosophische Propädeutik und war zuletzt sein Klassenlehrer in der Prima. Vgl. auch → Erl. zu 226,4-5. – Vgl. zu Ribbeck und seinen Publikationen auch Goedeke, Bd. 17 (1990), S. 1153-1154.) – Schon 1837 in Die Zeitgenossen (Kapitel Die Erziehung) charakterisiert Gutzkow den hier ungenannten Ribbeck als Rector des Collegs kurz (GWB III, Bd. 3, S. 273,13-24).
223,15 Beziehung zu einem Prinzensohne]
Nicht ermittelt.
223,15 morganatischer Ehe]
Nicht standesgemäße Ehe, wobei oft „ein Fürst, Graf etc. einem nicht ebenbürtigen Frauenzimmer“ die Hand reicht und „die Kinder einer solchen Ehe nur Namen und Vermögen der Mutter erben“ (Heyse 1859, S. 592).
223,16 andern Lehrer der Anstalt]
Nicht ermittelt. Gutzkow schreibt 1837 über den namenlosen Pädagogen ausführlicher in seinen Zeitgenossen (Kapitel Die Erziehung): Den Plato erklärte uns ein junger Mann, der kränklich war, aber, was unter Philologen so selten ist, gern den Fashionable gespielt hätte. Er ritt seiner schwachen Brust wegen und kam fast immer mit Sporen in die Klasse. Oft war sein Hals so angegriffen, daß er nicht sprechen [363] konnte und sich alle unnütze Fragen verbat; mitten im Sommer hüllte er sich in seinen Mantel ein und rief, wenn er in die Klasse trat und die Fenster geöffnet fand, mit einer ersterbenden Fistelstimme: „Sämmtliche Fenster zu!“ Das Sprechen kostete ihn so viel Anstrengung, daß er sich nicht einmal die Mühe gab, die Zeitwörter, die er doch brauchte, um sich verständlich zu machen, zu flektiren. Er gebrauchte zwar nicht den historischen Infinitiv der Alten, der in Beschreibung von Schlachten und schnellen Ereignissen eine so große Wirkung macht, wohl aber drückte er den Imperativ nie anders als durch den Infinitiv aus: „ruhig seyn, stillschweigen, fortfahren!“ waren die stöhnenden und ermatteten Befehle, welche er ertheilte. Genug, dieser etwas frauenzimmerliche Gentleman besaß gediegene Kenntnisse, aber wiederum nur formelle. Er hatte sich ein gewisses Feld von Bemerkungen abgesteckt und jagte gern nach Anakoluthien, rhetorischen Figuren, regulären Ausnahmen von den irregulären Regeln und dergleichen. Ja er besaß sogar die Eitelkeit oder vielmehr Entsagung, da er sie doch hätte besser benutzen können, uns die ganze Stunde hindurch aus seinen Studienbüchern Parallelstellen zu diktiren, die zu vergleichen mir und keinem meiner Mitschüler jemals eingefallen ist. Von der kunstvollen Anlegung eines platonischen Dialogs bekamen wir wenig Einsicht; er erklärte wohl das Einzelne, aber nicht das Ganze; unser Gedächtniß nahm er nur in Anspruch für die Anknüpfungen, die er an Plato machte, für Plato selbst am wenigsten. (GWB III, Bd. 3, S. 274,2-31.)
223,19 Trifolium]
(Lat.) Dreiblatt, Kleeblatt (Heyse 1859, S. 933). Es hatte sich aus Theodor Kanzler, Brunnemann und Ribbeck zusammengesetzt (vgl. → Erl. zu 218,12, 218,13, 218,13-14).
223,20-21 für einige Zeit die Anstalt verließ]
Ribbeck war von Oktober 1826 bis Oktober 1828 Lehrer am Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster.
223,28 alter Hülfslehrer]
Nicht ermittelt.
223,31-32 Robespierre]
Der französische Jurist, Politiker, radikale Jakobiner und Revolutionär Maximilien de Robespierre (1758-1794), der während der Französischen Revolution als Mitglied des Wohlfahrtsausschusses 1793 die ›Schreckensherrschaft‹ („la terreur“) durchsetzte.
223,34 Girondisten]
Während der Französischen Revolution Name für eine Gruppe gemäßigter Republikaner in der Nationalversammlung 1791/93. Sie wurde im Jahr 1793 offiziell vom französischen Konvent geächtet, viele ihrer Abgeordneten wurden hingerichtet.
224,12 der sokratischen Methode]
Der griechische Philosoph Sokrates (469-399 v. u. Z.) gilt als Urheber der nach ihm benannten Methode, durch gezieltes Fragen das Nachdenken zu aktivieren, passende Antworten anzuregen und den Erkenntnisgewinn zu fördern. Die Fragekunst (Sokrates selbst sprach von „Hebammenkunst“) wurde als didaktisches Verfahren vor allem im 18. Jahrhundert von den Sokratikern weiter ausgebildet.
224,16 Zumpt]
Der Berliner Altphilologe Karl Gottlob Zumpt (1792-1849) war seit 1812 Lehrer des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums, wechselte 1821 zum Joachimsthalschen Gymnasium und wurde 1827 Professor der römischen Literatur an der Berliner Universität. Berühmt machte ihn seine 1818 erstmals erschienene, mit Merkversen gespickte „Lateinische Grammatik“, die lange Zeit als unentbehrliches Hilfsmittel für den Lateinunterricht an Schulen genutzt wurde. Bis 1874 erschienen 13 Auflagen.
224,16-17 Vorrede zu seiner „Lateinischen Grammatik“]
Ribbeck, der zwischen 1813 und 1821 Zumpts Kollege am Friedrichs-Werderschen Gymnasium war, hatte für die dritte Auflage der Grammatik eine Reihe von Zusätzen und Korrekturen beigesteuert, wofür sich Zumpt in der „Vorrede“ bedankt: „Ich statte hiebei einigen gelehrten Freunden, nahmentlich den Herren Prof. Ribbeck und Dr. Krarup, meinen Dank für ihre Beiträge und Berichtigungen ab; sie werden sie entweder, wenn ich mich überzeugen konnte, angewandt, oder zugleich den Grund ausgedrückt finden, weshalb ich nicht ihrer Ansicht sein konnte.“ (C[arl] G[ottlob] Zumpt: Lateinische Grammatik. Dritte, vermehrte u. berichtigte Ausgabe. Berlin: Dümmler, 1823. S. IV-V.)
224,21-23 letzten Reste Berlinischen Jargons […] ausgetrieben]
Daraus lässt sich folgern, dass Gutzkows Aversion gegen den scheußlichsten aller deutschen Dialekte, […] auf dessen […] Ausrottung eine Regierung […] Prämien setzen sollte, wie er 1852 in Aus der Knabenzeit hervorhebt (GWB VII, Bd. 1, S. 133-134), auch ein Ergebnis seiner schulischen Sozialisation war.
225,2 Buttmann]
Der Altphilologe, Pädagoge und Bibliothekar Philipp Karl Buttmann (1764-1829) unterrichtete seit 1800 Latein und Griechisch am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin und verfasste neben anderen sprachwissenschaftlichen Lehrbüchern eine in vielen Auflagen erschienene „Griechische Grammatik“ (1792) sowie eine „Griechische Schul-Grammatik“ (1816), die an Schulen (auch in Gutzkows Griechisch-Stunden) lange Zeit als unentbehrliche Lehrmittel in Gebrauch waren.
225,15 durch Zelter, Friedrich Förster […] durchgeführten Goethe-[213]Cultus]
Der Berliner Musiker Karl Friedrich Zelter (1758-1832) und der Berliner Historiker, Schriftsteller und Kustos der königlichen Kunstkammer Friedrich Förster (1791-1868) waren beide mit Goethe persönlich bekannt, Zelter als Briefpartner und musikalischer Berater dem Dichter in enger Freundschaft verbunden. Beide begeisterten sich für Goethe und sein Werk, wobei Zelter in der Öffentlichkeit deutlich präsenter erschien als Förster. Zelter agierte auch (ohne Mitglied zu sein) in der 1824 gegründeten Berliner ›Mittwochsgesellschaft‹, die zum Schwerpunkt des Goethe-Cultus in Berlin wurde. „Die ausdrückliche und augenfällige Verehrung Goethes beförderte eine sich vollziehende literarisch-ästhetische Polarisierung in Berlin. Die MWG [Mittwochsgesellschaft] feierte Goethes Geburtstag mit gleichem Eifer wie den eigenen Stiftungstag, was in anderen literarischen Kreisen Berlins keineswegs mit Beifall registriert wurde.“ (Roland Berbig: Mittwochsgesellschaft [Berlin]. In: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825-1933. Hg. von Wulf Wülfing, Karin Bruns u. Rolf Parr. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1998. S. 326-332, Zitat S. 326-327.) Schon der Student Gutzkow distanzierte sich ironisch-kritisch von der Goethe-Ekstase eines Teils des bildungsbürgerlichen Establishments Berlins und machte sich besonders über die Verknüpfung opulenter, geselliger Schlemmereien mit schwärmerischer Verehrung des Weimarer Dichters lustig: Eine literarische Gesellschaft, deren unaufhörlicher Refrain Saufen und Fressen ist. […] Göthe und Essen! ist die Losung dieser Männer. (Forum der Journal-Literatur. Berlin. Bd. 1, Heft 1, 1831, S. 177.) – Weiter unten im Abschnitt IV. Abschluß (S. 256,19-21) kommt er auf Zelter und den Berliner Goethecultus nochmals zurück.
225,18-19 „Hofräthe“ hat sie Börne]
Den in allen kleinen und großen deutschen Monarchien (auch ehrenhalber) verliehenen Titel ›Hofrat‹ sowie seine Vertreter, die Hofräte, nimmt Börne oft satirisch aufs Korn und spöttelt wiederholt über die titelsüchtigen, servilen, konformistischen Karrieremenschen. (Vgl. die Stichworte „Hofrat“ und „Titelsucht“ im Börne-Index, Bd. 2, S. 1123 u. 1151.)
225,19-20 Man ließ Preisausschreibungen ergehen]
Die Berliner ›Mittwochsgesellschaft‹ veranstaltete unter ihren Mitgliedern im Vorfeld von Goethes Geburtstag am 28. August 1826 ein Lieder-Preisausschreiben zu Ehren des Dichters. Zum Preisrichter wurde Karl Friedrich Zelter ernannt. Die 12 eingegangenen „Gedichte zur Preisbewerbung“ wurden (ohne Verfassernamen) mit „Zelter’s Ausspruch und Preisertheilung“ in „Das Goethe-Fest in Berlin. Gefeiert von der Mittwochs-Gesellschaft am 28. August 1826“ (Berlin: Hayn, 1826. S. 11-36) abgedruckt. Gewinner des Preisausschreibens 1826 waren die Dichter Ernst von Houwald (1778-1845) und Heinrich Stieglitz (1801-1849).
225,22-23 wer Manzoni’s berühmte Ode auf den Tod Napoleon’s]
Am 5. Mai 1821 starb auf St . Helena Napoleon. In Gedenken an ihn schrieb der italienische Dichter Alessandro Manzoni (1785-1873) bald darauf die Ode „Il Cinque Maggio“. Goethe übertrug die Verse des von ihm sehr geschätzten Manzoni und regte indirekt drei Berliner Philologen und einen Dichter an, mit seiner Übersetzung zu wetteifern: Friedrich de la Motte Fouqué, Karl Giesebrecht, August Ferdinand Ribbeck und August Zeune. Das Ergebnis wurde 1828 in einer Broschüre der Öffentlichkeit präsentiert: „Der fünfte Mai. Ode auf Napoleons Tod von Alex. Manzoni. In der Italischen Urschrift nebst Übersezungen von Goethe, Fouqué, Giesebrecht, Ribbeck, Zeune.“ (Berlin: Maurer, 1828.) Ribbecks Versuch wird in der „Vorrede“ besonders hervorgehoben: „Nur Einer von uns hat sich über die strengen Geseze der Form hinweggesezt, und uns an die Romanzen vom Ufer des Manzanares erinnert, in denen die Thaten des Cid fortleben. Seine Uebertragung folgt deshalb gleich hinter Göthe’s, die ebenfalls einen freien Flug genommen.“ (S. IV.)
226,4-5 zu Ribbeck’s Lieblingsschülern gehörte]
Das bezeugen auch ehemalige Mitschüler Gutzkows. So erzählt sein Klassenkamerad Adolf Licht, dass Gutzkow zur Amtseinführung Ribbecks am 18. Oktober 1828 eine lateinische Oder verfasst hatte, die auf Velinpapier gedruckt überreicht wurde. „Ribbeck überfliegt sie, nimmt eine lange Prise und bleibt stumm. Allgemeine Bestürzung, Gutzkow kreidebleich – da erlöst der glücklich einfallende Tusch, das Hurrah der Kommilitonen unten, die peinliche Stimmung […]. Was aber hatte die zarten Philologennerven des Gestrengen an Gutzkow’s Ode verstimmt? Der junge Dichter hatte eine Abweichung vom strengen Schema der alcäischen Strophe regelmäßig durchgeführt. Er erhielt es später von Ribbeck, unter herzlichem Lob für das Ganze, mitgetheilt. Ribbeck selbst trug Gutzkow seitdem auf den Händen und in der ersten Stunde, die er lateinisch gab, begrüßte er den poeta carminis ingeniosi mit besonderer Wärme.“ (Rasch, Gutzkow-Doku. S. 18.) Ribbeck, so Licht, war auch zur Stelle, als Gutzkows Bestnote während des Abiturs durch eine Winzigkeit in Gefahr geriet: „In Gutzkow’s Arbeit hatte sich ein Fehler eingeschlichen; da Ribbeck nun bekannt war, daß dieser zur Erlangung eines Stipendiums die erste Zensur haben müsse, die er auch voll verdiente, so gab er ihm die Arbeit noch einmal zurück; er solle sie einmal durchlesen, es scheine ein Schreibfehler drin zu sein. Bald war der Fehler gefunden und so schmückte Gutzkow’s Abgangszeugniß die Eins.“ (Rasch, Gutzkow-Doku. S. 21.)
226,11 Pastors Jänicke in der böhmischen Kirche]
Johann Jänicke (1748-1827) war seit 1792 Pfarrer der Böhmischen Gemeinde in Berlin und predigte an der Berliner Bethlehemskirche in der Mauerstraße, die auch Böhmische Kirche genannt wurde. Er vertrat eine betont volkstümlich-pietistische Frömmigkeit, erreichte damit vor allem ärmere Bevölkerungsschichten und gehörte auch zu den bevorzugten Predigern von Gutzkows Eltern. Gutzkow schreibt ausführlicher über ihn in Aus der Knabenzeit 1852: Es wurde doch von der Familie keine Nachmittagspredigt in der Böhmischen Kirche versäumt, so lange sie ein seltsamer Geistlicher der mährischen Brüder hielt, der bekannte, von Weltkindern vielbelachte Jänicke. Dieser greise Sonderling vertrat anfangs ziemlich allein die pietistische Richtung Berlins. (GWB VII, Bd. 1, S. 112,34 - 113,5.)
226,13 Röhr-Wegscheider]
Zwei bekannte Vertreter des theologischen Rationalismus: Johann Friedrich Röhr (1777-1848), Generalsuperintendent in Weimar, und Julius August Ludwig Wegscheider (1771-1849) Professor in Halle.
226,14-15 „Die Ganzen und die Halben“]
Der Titel lautet korrekt: „Die Halben und die Ganzen. Eine Streitschrift gegen die HH. DD. Schenkel u. Hengstenberg“ (Berlin: F. Duncker, 1865). David Friedrich Strauß setzt sich darin mit den Kritikern seiner Untersuchung „Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte. Eine Kritik des Schleiermacher’schen Lebens Jesu“ (Berlin: F. Duncker, 1865) auseinander.
226,19 Schulze’s „bezauberte Rose“]
„Die bezauberte Rose. Romantisches Gedicht in drei Gesängen“ von Ernst Schulze (1789-1817) erschien 1818 bei Brockhaus in Leipzig. Schulze hatte 1817 mit dieser Dichtung kurz vor seinem frühen Tod ein Preisausschreiben des Verlages Brockhaus für die beste poetische Erzählung gewonnen. Die gefühlvoll-schwärmerische Verserzählung gehörte im 19. Jahrhundert zu den Lieblingsbüchern vor allem des weiblichen Lesepublikums. Bis 1852 kamen bei Brockhaus davon schon acht Auflagen heraus, nebenher seit 1848 eine Miniaturausgabe (24. Aufl. 1887), 1862 eine illustrierte Prachtausgabe und zahlreiche weitere Einzelausgaben. (Vgl. Goedeke, Bd. 6 (1898), S. 373.)
226,20 Tieck’s Novellen]
Tieck schuf, nachdem er sich 1819 in Dresden niedergelassen hatte, zwischen 1821 und 1841 ein beachtliches Novellenwerk. Viele der knapp über zwanzig Novellen wurden zuerst in populären, jährlich erscheinenden Taschenbüchern und Almanachen veröffentlicht, gesammelt vom Verfasser unter dem Titel „Novellen“ in vierzehn Bänden von 1835 bis 1842. Tieck behandelt darin auch eine Reihe aktueller gesellschaftlicher Fragen und lässt sich u. a. satirisch-kritisch über die jungdeutsche Bewegung aus.
226,26 Uhland]
Ludwig Uhland (1787-1862), Dichter, Germanist, liberaler Politiker und bis 1838 Abgeordneter des württembergischen Landtags. Seine „Gedichte“ erschienen erstmals 1815 bei Cotta in Stuttgart und Tübingen und erreichten in den folgenden Jahren und Jahrzehnten hohe Auflagen. Gutzkow stellte Uhlands lyrisches Werk sehr hoch und bekennt 1835: für die Gattung, für das Lied und die Ballade, hat Uhland Unsterbliches geleistet. (Karl Gutzkow: Göthe, Uhland und Prometheus. In: Ueber Göthe im Wendepunkte zweier Jahrhunderte. Mit weiteren Texten Gutzkows zur Goethe-Rezeption im 19. Jahrhundert hg. von Madleen Podewski. GWB IV, Bd. 3, S. 127.)
226,27 Justinus Kerner]
Der Dichter, Arzt und spiritistische Schriftsteller Justinus Kerner (1786-1862) war ein enger Freund Uhlands; er gehörte als Lyriker zur ›Schwäbischen Dichterschule‹. Das Verhältnis Gutzkows zu diesen spätromantischen Poeten Schwabens war von einer tief sitzenden gegenseitigen Ablehnung geprägt.
226,34 Stuttgarter „Morgenblatts“]
Das seit 1807 bei Cotta erscheinende „Morgenblatt für gebildete Stände“ (später „Morgenblatt für gebildete Leser“), in dessen Nummern auch viele Gedichte von Uhland erstmals veröffentlicht wurden. Seit 1828 hatte Uhlands Freund Gustav Schwab (vgl. → Erl. zu 256,9) die „Redaktion des poetischen Theils“ inne und bemühte sich bevorzugt um die Aufnahme von lyrischen Beiträgen. An die Vorliebe der Redaktion des „Morgenblatts“ für Gedichte und die Begeisterung des Stuttgarter Publikums für Verse um 1830 erinnert sich Gutzkow ausführlich in Wie ich von der Lyrik abkam 1873 (GWB VII, Bd. 3, S. 215ff.) – Zum „Morgenblatt“, seinem Programm, seinen Beiblättern, Redakteuren und Mitarbeitern vgl. die Übersicht in Estermann, Lit.-Zff. 1815-50, Bd. 1, S. 358-408.
227,13 das trauernde Königspaar]
Titel eines Ölgemäldes von Carl Friedrich Lessing (1808-1880), einem Vertreter der Düsseldorfer Malerschule, das er 1829/30 malte und zu dem er von Uhlands Romanze „Das Schloß am Meer“ angeregt worden sein soll. Es vermittelt ebenso wie die Romanze eine bedrückende Stimmung. Wolfgang Müller von Königswinter beschreibt es 1854 so: „Im Hintergrund trifft der Blick in einer schwarz verhangenen, düsteren Halle einen Sarg. Vor demselben sitzen in Schmerz versunken, mit langen Trauerkleidern verhüllt, der König und seine Gemahlin. Es sind stolze, prächtige Gestalten, aber ganz und gar gebrochen durch ein jähes Geschick. Sie haben ihr einziges Kind verloren, kein zweiter Sprößling theilt ihren Schmerz. Eine unaussprechliche Melancholie weht durch das Ganze, denn hier fehlt jeder Trost, jede Hoffnung, jede Sühne. Der menschliche Schmerz ist in seiner höchsten Potenz ausgesprochen. Deuten auch einzelne Symbole auf das Christenthum, die Gruppe deutet auf eine heidnisch starre, trotzige Pein. Viele Kritiker haben in diesen Figuren die trauernden Eltern aus dem Uhland’schen Schloß am Meer finden wollen. Abgesehen davon, daß der Charakter des Königpaares ein ganz anderer, weicherer und milderer ist, hat der Künstler auch nicht daran gedacht.“ (Wolfgang Müller von Königswinter: Düsseldorfer Künstler aus den letzten fünfundzwanzig Jahren. Kunstgeschichtliche Briefe. Leipzig: Weigel, 1854. S. 110.)
227,2-3 auf uns Secundaner]
Schüler der 10. und 11. Klasse, vgl. auch → Erl. zu 214,7. Die Klasse teilte sich in Unter- und Obersekunda. Gutzkow war etwa 1826/27 Secundaner und damit 15 bzw. 16 Jahre alt.
227,14 des Sängers Fluch]
Uhlands zuerst 1815 in seinen „Gedichten“ erschienene Ballade „Des Sängers Fluch“ gehört zu seinen bekanntesten Werken. Es hat eine reiche Wirkungsgeschichte entfaltet, ist nicht nur mehrfach vertont worden, sondern diente auch zur Vorlage eines monumentalen Gemäldes, das Philipp von Foltz (1805-1877) Mitte der 1830er Jahre schuf.
227,14 die Düsseldorfer]
Vertreter der Düsseldorfer Malerschule, die sich seit 1821 an der Düsseldorfer Kunstakademie unter ihrem ersten Direktor Peter von Cornelius bildete und die sich unter seinem Nachfolger Wilhelm Schadow von 1826 bis 1859 weiter entfaltete. In ihrem Kreis sind u. a. etliche Gemälde, Zeichnungen, Stiche, Buchillustrationen nach Werken deutscher Dichter entstanden, darunter auch einige nach Gedichten und Balladen Uhlands.
227,22 Karl Passow]
Carl Passow (1798-1860) studierte in Breslau Altertumskunde, war seit 1820 Lehrer am Gymnasium Zum Grauen Kloster in Berlin und wurde 1822 wegen angeblicher demagogischer Umtriebe suspendiert. Im April 1824 durfte er seinen Beruf als außerordentlicher Lehrer am Friedrichs-Werderschen Gymnasium wieder aufnehmen, wo er vier Jahre blieb. Passow gab Deutsch und Latein und war in Obertertia (9. Klasse), möglicherweise auch in der Untersekunda (10. Klasse) Gutzkows Deutschlehrer. (Vgl. über Passow den Artikel von Richard Hoche in: ADB, Bd. 25 (1887), S. 215.)
227,34 die Episteln und Satiren des Horaz in’s Deutsche]
Von Passow erschienen zwischen 1827 und 1833 drei Horaz-Übertragungen: „Horatius’ dritte Satire. Lateinisch und Deutsch. Mit Rechtfertigungen“ (Berlin: Riemann, 1827), „Horatius’ vierte Satire. Lateinisch und Deutsch. Mit Rechtfertigungen“ (Berlin: Riemann, 1828) sowie „Des Q. Horatius Flaccus Episteln. Hg. von Carl Passow. Über das Leben und Zeitalter des Dichters. Critisch berichtigter Urtext. Übersetzung.“ (Leipzig: Hahn, 1833.) Vgl. über Passow und seine Veröffentlichungen auch Goedeke, Bd. 17 (1990), S. 1035-1036.
228,1 zum Joachimsthal]
Im Herbst 1828 wechselte Passow im Rang eines Professors zum Joachimthalschen Gymnasium, wo er bis zu seinem Lebensende 1860 tätig war.
228,6-7 Giesebrecht]
Benjamin Adolf Heinrich Giesebrecht (1790-1855) studierte Theologie und Philologie in Frankfurt a. d. O., wurde 1815 Lehrer am Gymnasium zu Neu-Strelitz, leitete das Lehrerseminar in Mirow und war von 1826 an zwei Jahre Lehrer am Friedrichs-Werderschen Gymnasium. Im Herbst 1828 ging er als Konrektor an das Gymnasium nach Prenzlau, stieg 1842 zum Provinzialschulrat für Pommern auf und wurde 1848 in Königsberg zum Provinzialschulrat für Preußen. (Vgl. den Personenartikel von Wilhelm von Giesebrecht in: ADB, Bd. 9 (1879), S. 158-159.) – Gutzkow hebt Giesebrecht 1837 in Die Zeitgenossen (Kapitel Die Erziehung) ohne Namensnennung aus der Schar seiner Lehrer lobend hervor, würdigt dessen Unterrichtsmethode und erklärt, durch dessen Lateinstunden sei Tacitus zu einem seiner Lieblingsschriftsteller geworden: Nur ein Lehrer schien von der hohen Bedeutung seines Berufes ergriffen zu seyn. Er war nur eine kurze Zeit an dem Colleg beschäftigt und hatte, wie man sagte, mancherlei Schicksale erlebt. Er hatte sich lange Zeit mit der Bildung junger Männer für den Elementarunterricht beschäftigt, verlor diese Stellung durch ungerechte Beschuldigungen und erklärte interimistisch auf unserm Colleg den Tacitus. Seine Haltung war streng und ernst; alles, was er sprach, hatte die gewählteste Form. Er strebte so sehr nach rhetorischer Abrundung, daß wir Schüler in muthwilligen Stunden sein Pathos gern persiflirten. Dieß hinderte aber nicht, daß uns seine Erklärung des Tacitus mächtig anzog. Man sah, daß er die verhaltene Leidenschaft des großen Römers zu ergründen wußte; seine Erklärung war kritisch und philologisch; allein sie hatte immer nur den Zweck, das dem Sinn Angemessene und mit dem Charakter des Tacitus Uebereinstimmende hervorzuheben. Vieles verstand man nicht, weil der jugendliche Sinn noch nicht reif genug war, um die Schliche der Tyrannei und die Irrsale der menschlichen Natur ganz zu durchschauen; allein man erhielt doch von dem, was noch dunkel blieb, schon die Ahnung seiner hohen Bedeutung. Dieser Unterricht hat gemacht, daß, wenn ich gegenwärtig mich noch mit dem Alterthum beschäftige, ich am liebsten auf Tacitus zurückkomme. (GWB III, Bd. 3, S. 274,31-275,18.)
228,10 Historien des Tacitus]
Von den „Historien“ des römischen Geschichtsschreibers Tacitus (geb. um 55, gest. nach 116) sind nur die ersten fünf Bücher erhalten, in denen die Zeitereignisse der römischen Kaiserzeit des 1. Jahrhunderts behandelt werden. Giesebrecht las und erklärte im ersten Semester des Schuljahrs 1828/29 in Gutzkows Klasse die ersten beiden Bücher von Tacitus’ „Historien“, während im Anschluss daran im zweiten Semester Ribbeck das erste Buch von Tacitus’ „Annalen“ behandelte. (Vgl. die Schulchronik in: Programm womit zu der öffentlichen Prüfung der Zöglinge des Friedrichswerderschen Gymnasiums, welche Mittwochs, den 15. April 1829 […] Statt finden soll […] ergebenst einladet August Ferdinand Ribbeck. [Schulprogramm 1829.] Berlin: Nauk, 1829. S. 41.)
228,24-25 bei Andern Sophokles und selbst Aeschylus]
Dr. Eduard Lange (vgl. → Erl. zu 228,30) „erklärte während des Sommers [1828] in 2, während des 2ten Semesters in 3 wöchentlichen Stunden die Antigone und den Oedipus Rex des Sophocles.“ (Vgl. die Schulchronik in: Programm womit zu der öffentlichen Prüfung der Zöglinge des Friedrichswerderschen Gymnasiums, welche Mittwochs, den 15. April 1829 […] Statt finden soll […] ergebenst einladet August Ferdinand Ribbeck. [Schulprogramm 1829.] Berlin: Nauk, 1829. S. 42.) Vermutlich hat Lange die Schüler auch mit seiner Ausgabe von Aischylos’ „Persern“ (vgl. → Erl. zu 228,31) bekannt gemacht.
228,26-27 metrische System Gottfried Herrmann’s]
Der Altphilologe Gottfried Hermann (1772-1848), seit 1797 Professor für Klassische Philologie in Leipzig, machte sich vor allem mit seinem „Handbuch der Metrik“ (Leipzig: Fleischer, 1799) und anderen profunden Arbeiten zur antiken Metrik einen Namen.
228,27 Schüler August Böckh’s]
August Boeckh (1785-1867), einer der führenden Philologen und Altertumsforscher seiner Zeit, war seit 1811 Professor an der Berliner Universität, später hier auch einer der akademischen Lehrer Gutzkows. Zwischen Boeckh und Gottfried Hermann gab es eine Reihe grundlegender methodischer Differenzen, die auch öffentlich ausgetragen wurden. Welche Schüler Boeckhs Gutzkow hier im Auge hatte, ließ sich nicht feststellen.
228,30 Sophokles erläuterte ein Schlesier]
Der Altphilologe Eduard Reinhold Lange (1799-1850). Er stammte aus Groß-Baudis bei Liegnitz (Niederschlesien, heute Legnica, Polen), studierte in Breslau und Leipzig, habilitierte sich 1824 als Privatdozent an der Berliner Universität und wurde 1826 Lehrer für Latein und Griechisch am Friedrichs-Werderschen Gymnasium, zuletzt Konrektor. 1838 ging er nach Oels (Niederschlesien, heute Oleśnica, Polen), wo er bis zu seinem Tod Direktor des Gymnasiums war. Als Philologe hatte er sich in den 1820er Jahren mit Forschungen zur griechischen Mythologie einen Namen gemacht. (Vgl. über Lange den Artikel von Conrad Bursian in: ADB, Bd. 17 (1883), S. 650-651.) – Lange nahm in Gutzkows Klasse 1828 von Sophokles die „Antigone“ und „Oedipus Rex“ durch (vgl. → Erl. zu 228,24-25).
228,31 Editor der Tragiker]
Lange hat 1825 gemeinsam mit dem Altphilologen Gustav Pinzger (1800-1838) eine mit textkritischem und exegetischem Kommentar begleitete Ausgabe der „Perser“ von Aischylos vorgelegt: Aeschyli Persae. Ex Recensione E. R. Langei et G. Pinzgeri . Subjecta est varietatis Schuetzianae notatio. Berolini: Duncker & Humblot, 1825. Weitere Editionen Langes von griechischen Tragödiendichtern sind nicht bekannt.
228,34-229,3 Wann wird man endlich anfangen […] Uebersetzungen der Alten aufzunehmen!]
Ein Gedanke, den Gutzkow öfter aufgegriffen hat, so auch 1852 in seinem mit Das Alterthum überschriebenen Aphorismus: Der große Schatz des Alterthums liegt für die Menschheit im Großen und Ganzen fast noch unangebrochen da. Man wird ihn erst nutzen, wenn man auf den Schulen die alten Classiker in Uebersetzungen liest und das Studium des Urtextes den Gelehrten allein überläßt. (Unterhaltungen am häuslichen Herd. Leipzig. Bd. 1, Nr. 8, [18. November] 1852, S. 128. – Übernommen in die Sammlung Vom Baum der Erkenntniß (1868), GE, Bd. 12, S. 75.)
229,5 Sänger von Chios]
Homer wurde der Legende nach auf dieser griechischen Insel im Ägäischen Meer (vor der Westküste Kleinasiens) geboren.
229,22 Dove]
Der Physiker und Meteorologe Heinrich Wilhelm Dove (1803-1879), Sohn eines Kaufmanns aus dem schlesischen Liegnitz, hatte sich nach dem Studium in Breslau und Berlin 1826 in Königsberg als Privatdozent habilitiert und war dort außerordentlicher Professor für Physik geworden. 1828 kam er nach Berlin und übernahm am Friedrichs-Werderschen Gymnasium zunächst „interimistisch den naturwissenschaftlichen Unterricht für die Dauer des Wintersemesters 1828/29 […]. Als er Michaelis 1829 als außerordentlicher Professor an die Universität zu Berlin berufen ward, erhielt er zugleich die zweite außerordentliche Lehrerstelle an unserem Gymnasium, welches er erst Ostern 1834 verließ, als er zum ordentlichen Professor der Mathematik an der Berliner Universität ernannt worden war.“ (A. C. Müller: Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin. Berlin, Weidmann, 1881, S. 119). Gutzkow hatte Dove als Physiklehrer nur in seinem letzten Halbjahr auf dem Gymnasium.
229,32-33 Ehrensitz in der Akademie der Wissenschaften]
Dove wurde Anfang 1837 zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin, später (auch ehrenhalber) in zahlreiche weitere wissenschaftliche Gesellschaften des In- und Auslandes aufgenommen.
230,8 Steiner]
Der Schweizer Mathematiker Jakob Steiner (1796-1863), geboren in Utzenstorf (Kanton Bern), studierte vorübergehend in Heidelberg und kam 1821 ohne Examen und durch einen Zufall als Hilfslehrer an das Friedrichs-Werdersche Gymnasium, wo er bis etwa Anfang 1823 in den unteren Klassen Mathematik unterrichtete. Im Herbst 1825 erhielt er eine Stelle an der soeben gegründeten Berliner Gewerbeschule und war hier 1833 auch der Mathematiklehrer Theodor Fontanes. 1834 wurde er außerordentlicher Professor für Mathematik an der Berliner Universität und Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Steiner machte sich besonders als Begründer der synthetischen Geometrie einen Namen.
230,9 Iferten]
Deutscher Name für Yverdon, Ort im Schweizer Kanton Waadt. Im Schloss von Yverdon war von 1805 bis 1825 eine von Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) geleitete Erziehungsanstalt untergebracht, in die Steiner nach dem Besuch einer Dorfschule 1814 aufgenommen wurde und in der er es schon 1817 so weit gebracht hatte, dass er selbst Unterricht erteilen durfte.
230,11-12 pädagogischen Unmöglichkeit für Norddeutschland]
Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Max Lenz 1910, wenn er in einem kurzen Lebensabriss des hochverdienten Akademikers und Mathematikers über den ehemaligen Lehrer bemerkt, „für die Berliner Jungen gab es offenbar keinen ungeeigneteren Lehrer als diesen groben Bauer, der ihnen mit seinem unbehilflichen Vortrag in den schweizerischen Kehllauten die Anfangsgründe seiner Wissenschaft klarmachen sollte, ‚ein Aristoteles vor ABC-Schützen‘, wie Fontane ihn genannt hat“. (Max Lenz: Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. 2. Bd., erste Hälfte: Ministerium Altenstein. Halle a. d. S.: Verl. d. Buchh. d. Waisenhauses, 1910. S. 378.)
230,14-15 kaum länger als ein halbes Jahr]
Diese Zeitangabe ist vermutlich zu knapp bemessen, zumal Gutzkow erst seit Ostern 1822 die Schule besuchte. Max Lenz gibt 1910 an, Direktor Zimmermann (gleichfalls Mathematiker) habe „den zugereisten Fachgenossen als Ersatzmann für einen Freund desselben, der die Stelle nicht angetreten hatte“, übernommen. Da Steiner kein Examen hatte, sei man ihm weit entgegengekommen: „Er durfte auf die Prüfung in den alten Sprachen, der Geschichte und der Philosophie vorläufig verzichten und sich auf sein Fach beschränken. Hierbei erhielt er eine Facultas [Unterrichtserlaubnis] – leider nur bis Obersekunda – und wurde noch zwei Jahre geduldet.“ (Max Lenz: Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. A.a.O., S. 377.) Demzufolge verließ Steiner 1823 das Gymnasium und dürfte etwa ein Jahr lang Gutzkows Mathematiklehrer gewesen sein.
230,18 Professor N. N.]
Carl Heinrich Brunnemann (1786-1858). Vgl. → Erl. zu 218,25.
230,21 schlesische Dichterschule]
Veraltete literaturgeschichtliche Bezeichnung für eine Gruppe von Poeten der deutschen Barock- bzw. Renaissanceliteratur, die sich in der „Ersten Schlesischen Schule“ an Martin Opitz (1597-1639) orientierten, in der spätbarocken „Zweiten Schlesischen Schule“ an Daniel Casper von Lohenstein (1635-1683) und Christian Hofmann von Hofmannswaldau (1616-1679).
230,22 Dach, Weckherlin, Paul Flemming]
Bedeutende Lyriker der Barockzeit und Spätrenaissance: Simon Dach (1605-1659), Georg Rudolf Weckherlin, (1584-1653) und Paul Fleming (1609-1640).
230,28-29 die „philosophische Propaedeutik“ eignete sich der neue Director]
Vgl. → Erl. zu 220,26.
230,32-33 Kant’s Ding an sich und Fichte’s Ich gleich Ich]
Erkenntnistheoretische Grundbegriffe in der Philosophie des deutschen Idealismus: Nach Immanuel Kant (1724-1804) kann man nie das „Ding an sich“, sondern nur die „Erscheinungen“ erkennen, nach Johann Gottlieb Fichte leiten sich Bewusstsein und die Inhalte aus der Selbstsetzung des „Ich“ ab.
231,11 „Selekta“]
Bezeichnung für die Gruppe der Klassenbesten, „ein auserlesener Theil“, auch „die höchste Schulclasse oder Oberabtheilung in manchen Schulen“ (Heyse 1859, S. 840). Vgl. auch → Erl. zu 260,31-32.
231,12 Hermann Böttcher]
Hermann Böttcher (1809-1845). Auf seinen zwei Jahre älteren Schulfreund kommt Gutzkow weiter unten ausführlicher zu sprechen. Vgl. → Erl. zu 244,32.
231,13 George]
Johann Friedrich Leopold George (1811-1873), Sohn eines Berliner Kupferstechers, studierte nach dem Abitur an der Berliner Universität Theologie, war ein emsiger Schüler Schleiermachers und Neanders, widmete sich dann aber orientalischen Sprachen und philosophischen Studien. 1834 habilitierte er sich an der philosophischen Fakultät der Universität Berlin, war dort als Privatdozent tätig und fristete eine Zeitlang als Lehrer für Griechisch, Hebräisch, Latein und Französisch am Friedrichs-Werderschen Gymnasium seinen Lebensunterhalt. Erst 1856 wurde er als außerordentlicher Professor der Philosophie an die Universität Greifswald berufen, 1858 zum Ordinarius befördert. Er war 1865/66 Dekan der philosophischen Fakultät und 1868 Rektor der Universität. George war Mitherausgeber von Schleiermachers „Literarischem Nachlaß“ und gab 1862 dessen „Psychologie“ heraus. 1868 erschien sein Hauptwerk „Die Logik als Wissenschaftslehre“. – Kontakte zwischen George und Gutzkow nach der Schul- und Studienzeit sind nicht belegt. (Über George vgl. die Personenartikel von Adolf Häckermann in: ADB, Bd. 8 (1878), S. 710–712 sowie Hans-Martin Sass in: NDB, Bd. 6 (1964), S. 235-236.)
231,25-26 der täglich viermalige weite Weg zur […] Schule]
Gutzkows Eltern wohnten 1822 in der Mauerstraße 16 und zogen 1825 in die benachbarte Mohrenstraße 15 (Berliner Adressbücher, Jg. 1825 [S. 168]). Die Wohnung war etwas mehr als ein Kilometer Luftlinie vom Gymnasium entfernt. Gutzkow musste die Mohrenstraße bis zum Hausvogteiplatz herunterlaufen, bog dort in die Niederwallstraße ab, die ihn bis zur Alten Leipziger Straße führte. Diese durchschritt er bis zu ihrer Mündung an der Oberwasserstraße, wo die Schule lag. Der Fußweg von der Mohrenstraße 15 in die Kurstraße 52/53, in die die Schule später zog, war keineswegs weiter und dürfte gleichfalls etwa 20 bis 30 Minuten gedauert haben. Warum Gutzkow ihn mehrfach am Tag zurücklegen musste, ist unklar.
231,28 „Fürstenhaus“]
Das Fürstenhaus in der Kurstraße 52/53, als prächtiges Stadtpalais mit drei Etagen 1674 für den Staatsminister Eberhard von Danckelmann errichtet, nach Danckelmanns Sturz von der Preußischen Krone konfisziert, wurde vom Hof als „Quartier für hohe Gäste benutzt“, darunter zahlreiche fürstliche Personen. Davon leitete sich der Name „Fürstenhaus“ ab. (Zedlitz, S. 228-229.) 1822 ging es in das Eigentum der Stadt Berlin über und wurde vom Magistrat vorerst nur provisorisch und nur zum Teil dem Friedrichs-Werderschen Gymnasium überlassen, das hier zu Ostern 1825 einzog und am 14. April den Schulbetrieb aufnahm. „Da aber die Frequenz des Gymnasiums unter Zimmermann sehr gesunken war und das Wohlwollen des Magistrates für unsere Anstalt bedeutend abgenommen hatte, so wurde der beste und größte Teil des Gebäudes vermietet, dem Gymnasium im Vorderhause nur je drei Fenster des Erdgeschosses und des zweiten Stockwerks, Kurstrasse 52, und der größte Teil der Hintergebäude eingeräumt. Im Erdgeschosse wurde die Direktorwohnung mit meist dunklen und kalten Zimmern untergebracht, in der Beletage ein Hörsaal eingerichtet. Die vorderen Räume im Erdgeschosse dienten lange Jahre zu Bureaus des Intelligenz-Komtoirs und des Censurbureaus, die Räume der Beletage dagegen waren bis zum Jahre 1848 Amtswohnungen der Oberbürgermeister von Berlin“, so A. C. Müller in seiner „Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin“ (Berlin: Weidmann, 1881. S. 112-115, Zitat S. 114-115). Das Fürstenhaus blieb 50 Jahre lang Sitz des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums, das erst 1875 in einen großen Neubau der Dorotheenstraße umzog.
260,31-32 beste Zeugniß]
Gutzkow erhielt (wie auch seine Klassenkameraden Hermann Böttcher und Johann Friedrich Leopold George) ein Zeugnis Nr. 1, das heißt eines mit der Gesamtnote „sehr gut“. Als einer der besten Schüler gehörte er zur ‚Selecta‘ (vgl. → Erl. zu 231,11). Im Schulprogramm des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums 1829 wird sein Abgang zur Universität mit den Worten angezeigt: „Carl Ferdinand Gutzkow aus Berlin, 18 Jahre alt; 7 Jahre auf dem Gymnasium, 1½ Jahr in Prima, seit Neujahr in Selecta; er wird mit dem Zeugniss No. I. entlassen und gedenkt in Berlin Philologie zu studiren.“ (Programm womit zu der öffentlichen Prüfung der Zöglinge des Friedrichswerderschen Gymnasiums, welche Mittwochs, den 15. April 1829 […] Statt finden soll […] ergebenst einladet August Ferdinand Ribbeck. [Schulprogramm 1829.] Berlin: Nauk, 1829. S. 56.) Für Gutzkow war die sehr gute Note wichtig, um als Student ein Stipendium beantragen zu können.
244,32 spätere Pfarrer Böttcher]
Johann Hermann Böttcher (auch: Boettcher, 1809-1845), Sohn eines Pfarrers in Herzogswalde (Neumark, heute: Żubrów, Polen), kam 1825 oder 1826 auf das Friedrichs-Werdersche Gymnasium, wo er bald zu Gutzkows engstem Freundeskreis gehörte und in erheblichem Maße zur Politisierung Gutzkows (im Sinne der Burschenschaftsbewegung) beitrug. Nach dem Abitur 1829 studierte er Theologie in Berlin, verbrachte das Wintersemester 1830/31 in Halle an der Saale und beschloss sein Studium im Mai 1832 in Berlin. Mit Gutzkow und Theodor Hache gründete Böttcher schon 1829 eine verbotene Burschenschaft (vgl. → Erl. zu 246,14). 1834/35 geriet er wegen der Teilnahme an einer Burschenschaft in Halle ins Visier der preußischen Behörden, vermutlich ohne schlimmere persönliche Folgen. Denn Ende 1835 wurde er vom Brandenburgischen Kirchenkonsistorium zum Predigtamtskandidaten ernannt (Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin. 53. Stück, 23. Dezember 1835, S. 348) und übernahm 1838 eine Pfarrei in Tirschtiegel (Provinz Posen, heute Trzciel, Polen), wo er schon am 7. Februar 1845 starb. Ob die freundschaftliche Beziehung zwischen Gutzkow und Böttcher auch nach der Schulzeit und dem Studium fortbestand, ist unbekannt; Briefe haben sich nicht erhalten. Allerdings hat Gutzkow schon früh seinem Freund Böttcher literarisch ein Denkmal gesetzt und ihn unter dem Namen Asmodi in seine 1833 verfasste Berliner Skizze Die Singekränzchen eingeführt (vgl. den Kommentar in RABS, S. 144). Vgl. auch → Erl. zu 245,33-34. – Zu einzelnen Lebensdaten Böttchers vgl.: Harald Lönnecker: Die Mitglieder der Halleschen Burschenschaft 1814 – ca. 1850. In: 200 Jahre burschenschaftliche Geschichte. Von Friedrich Ludwig Jahn zum Linzer Burschenschafterturm. Ausgewählte Darstellungen und Quellen hg. von Günter Cerwinka, Peter Kaupp, Harald Lönnecker, Klaus Oldenhage. Heidelberg: Winter, 2008. S. 103.
231,29 „Intelligenzcomtoir“]
Das „Intelligenz- und Adreß-Comptoir“, schon im Jahr 1727 gegründet, unterstand dem preußischen Generalpostamt und beherbergte „die Redaktion und den Debit des Intelligenz-Blattes“, eines staatlichen Mitteilungsblattes, in das „alle Anzeigen für die Zeitungen mit Ausnahme der wissenschaftlichen Artikel und Recensionen vorher eingerückt werden müssen; auf jeden Fall bedürfen alle diese Anzeigen […] des Stempels vom Intelligenz-Comptoir.“ (Zedlitz, S. 341.) Das „Berliner Intelligenz-Blatt“, 1727 ins Leben gerufen unter dem Titel „Wöchentliche Berlinische Frag- und Anzeigungs-Nachrichten“, besaß im Anzeigenbereich lange eine Monopolstellung, die dem Staat lukrative Einnahmen sicherten.
231,29 königliche Münze]
Die königliche Hauptmünze in der Unterwasserstraße 2 mit ihrem Hauptgebäude am Werderschen Markt; hier wurden die preußischen Geldmünzen geprägt. (Vgl. Zedlitz, Artikel „Münz-Gebäude“, S. 508-519.)
231,30 kurz vorher ein Gefängniß für „Demagogen“]
„Im Jahre 1821 wurden die obersten Zimmer am Münzgraben vorübergehend zum Gefängnis für die als Demagogen verfolgten Mitglieder der Studentenverbindung Arminia benutzt“, so schreibt der Chronist der Schule A. C. Müller in der „Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin“ (Berlin: Weidmann, 1881. S. 114). Die 1818 gegründete Berliner Burschenschaft Arminia wurde nach den Karlsbader Beschlüssen von den preußischen Behörden aufgelöst, ihre Mitglieder verfolgt, drangsaliert, inhaftiert oder unter polizeiliche Überwachung gestellt.
232,3 „Hausvoigtei“]
Die Hausvogtei am Berliner Hausvogteiplatz (nicht zu verwechseln mit der Stadtvogtei am Molkenmarkt) war ein berüchtigtes Gefängnis, das zur Zeit der Demagogenverfolgungen mit politischen Gefangenen, vornehmlich jungen Burschenschaftern, überbelegt war und und aufgrund der Enge und mangelhaften hygienischen Verhältnisse traurige Berühmtheit erlangte. Ein Berliner Vers aus den 1820er Jahren spottete: „Wer die Wahrheit kennt und sagt sie frei, der kommt in Berlin auf die Hausvogtei.“ (Gotthold Gloger: Berliner Guckkasten. Geschichten aus der Welt um Schinkel. Berlin: Kinderbuchverl., 1980. S. 103.)
232,4-5 Centraluntersuchungscommission in Mainz]
Nach den Karlsbader Beschlüssen wurde 1819 in Mainz auf Betreiben des leitenden österreichischen Ministers, später Staatskanzlers Fürst Metternich eine „Zentralkommission zur Untersuchung hochverräterischer Umtriebe“ eingerichtetet, um die Demagogenverfolgung in den Staaten des Deutschen Bundes besser zu überwachen und zu koordinieren. Die Aufgabe der Zentralkommission beschränkte sich auf die Untersuchung; die Strafverfolgung blieb Sache der Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes. Geheimagenten der Zentralkommission sammelten Berichte über verdächtige Personen, Vorfälle und Ereignisse. „Die Mainzer Kommission schuf mit ihren ‚Demagogenverfolgungen‘ ein Klima des Mißtrauens, in dem die Angst vor Bespitzelung, Verleumdung und grotesk übertriebener Empfindlichkeit gegenüber allen Formen vermeintlicher Subversität vorherrschte.“ (Hans Adler: Staatsschutz im Vormärz. In: Hans Adler (Hg.): Literarische Geheimberichte. Protokolle der Metternich-Agenten. Bd. 1: 1840-1843. Köln: Leske, 1977. S. 14.)
232,7 Köpenick in jenes Schloß]
Das südöstlich von Berlin gelegene Schloss Köpenick, das auf einer Insel an der Mündung der Dahme in die Spree liegt, wurde nach dem 1806 erfolgten Tod seines letzten Besitzers Friedrich Wilhelm Graf von Schmettau 1811 an die preußische Krone verkauft und zunächst als Militärdepot genutzt. Seit Beginn der 1820er Jahre diente es als berühmt-berüchtigter Internierungsort für die Opfer der Demagogenverfolgungen, die hier zum Teil jahrelang auf ein Urteil warten mussten. Zu den Haftinsassen gehörten u. a. auch Arnold Ruge und Fritz Reuter. 1830 wurde das Schloss offiziell zum Staatsgefängnis, in den 1840er Jahren geschlossen und nach 1848 als Lehrerseminar genutzt.
232,9 Grünau]
Einst Dorf südöstlich von Berlin an den Ufern der Dahme. Wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zum sommerlichen Ausflugsziel der Berliner, nachdem die kleine Ortschaft 1866 an die Berlin-Görlitzer-Eisenbahn angeschlossen worden war. Heute Ortsteil des Berliner Bezirks Treptow-Köpenick.
232,9 Müggelseewarte]
Name nicht nachgewiesen. Vermutlich handelt es sich um eine Ausflugsgaststätte oder Aussichtsplattform auf dem höchsten der Müggelberge, einem bewaldeten Höhenzug südöstlich von Berlin (heute Ortsteil des Berliner Bezirks Treptow-Köpenick). Auch bei Fontane, der 1860 die Müggelberge und ihre Umgebung genau erkundet, findet sich kein Hinweis auf eine Müggelseewarte. (Vgl. Theodor Fontane: Die Müggelberge. – Der Müggelsee. In: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. 4. Teil. Spreeland. Hg. von Gotthard Erler u. Rudolf Mingau. Berlin: Aufbau-Verl. 1997. S. 110-119.)
232,15 purificirt]
Gesäubert, vgl. Heyse 1859, S. 756.
232,16 Kamptz]
Der preußische Jurist und Staatsbeamte Karl Albert von Kamptz (1769-1849), seit 1811 im preußischen Justizdienst, wurde 1817 Direktor im Berliner Polizeiministerium und Mitglied des Staatsrats, 1819 Vorsitzender der Ministerialkommission zur Durchführung der Karlsbader Beschlüsse. Er gehörte zu den treibenden Kräften einer fanatisch geführten Verfolgung politisch verdächtiger oder denunzierter Menschen in Preußen. Der Berliner Kammergerichtsrat E. T. A. Hoffmann, der wider Willen in die Jagd auf Demagogen involviert wurde, verspottet ihn als „Rat Knarrpanti“ in seiner Erzählung „Meister Floh“ (1822). Gutzkow lernte Kamptz als Schüler kennen und erfuhr von diesem jahrelang aufmerksame Förderung. Über Kamptz und seine (möglicherweise unerwarteten) Qualitäten als Gönner und Protektor eines begabten Pennälers aus kleinsten Verhältnissen hatte Gutzkow schon ausführlich in seinen Universitätserinnerungen Das Kastanienwäldchen in Berlin 1869 geschrieben (GWB VII, Bd. 3, S. 86-93). Die Beziehung zu Kamptz hatte sich über dessen Sohn ergeben, einem Klassenkameraden Gutzkows. Vgl. → Erl. zu 258,12.
232,24 Turnen]
Mit den Burschenschaften geriet zu Beginn des Jahrs 1819 auch die Turnerbewegung ins Visier der Staatsschützer. „Noch im März [1819] wurde eine allgemeine ‚Turnsperre‘ verhängt und der Platz an der Hasenheide geschlossen. Die Untersuchung der hochverräterischen Umtriebe der Turner führte eine Kommission durch, in der Wittgenstein und der erzreaktionäre Geheimrat Kamptz Sitz und Stimme hatte.“ (Ribbe, Bd. 1, S. 524.) Das Turnen war bis in die 1840er Jahre in Preußen verboten.
232,26 „Turnziel“]
Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852), der 1811 den ersten Turnplatz in der Berliner Hasenheide gegründet hatte, wollte mit dem Turnen die Kampfkraft und den Kampfgeist der männlichen Jugend im erwarteten Krieg gegen die französischen Besatzer wecken und stärken. „Das Ziel der körperlichen Kräftigung und der Abhärtung verband sich mit einer spartanisch-puritanischen Lebensauffassung und mit einer etwas penetranten Deutschtümelei, die gegen Fremdworte zu Felde zog und in ihrem Kern […] antifranzösisch war. Jahn erzog seine Turner ganz bewußt zu der Überzeugung, dereinst Preußen vom französischen Joche zu befreien. Diese Idee der ‚Wehrertüchtigung‘ verknüpfte sich aber bei dem ‚Turnvater‘ mit einem durchaus kritischen Geist gegenüber Regierung und Behörden, was ihm in der Restaurationszeit Verhaftung und Verfolgung einbrachte.“ (Ribbe, Bd. 1, S. 456.)
232,31-32 Körner’s „Schwert zu meiner Linken“]
Aus dem „Schwertlied“ von Theodor Körner (1791-1813), dem einst populärsten Vertreter der patriotischen Lyrik der Befreiungskriege. Körner schrieb es als Angehöriger des Lützowschen Freikorps kurz vor seinem gewaltsamen Ende am 26. August 1813. Die erste Strophe lautet: „Du Schwerdt an meiner Linken, / Was soll dein heitres Blinken? / Schaust mich so freundlich an, / Hab’ meine Freude dran. / Hurrah!“ (Theodor Körner: Leyer und Schwerdt. Einzige rechtmäßige, von dem Vater des Dichters veranstaltete Ausgabe. Berlin: Nicolai, 1814. S. 84.) Das „Schwertlied“ wurde 1814 von Carl Maria von Weber vertont und war fester Bestandteil von Lieder- und Kommersbüchern im 19. und frühen 20. Jahrhundert.
233,5 Hinter die Schule gehen]
Die Schule schwänzen, „den Schulunterricht absichtlich versäumen“ (Küpper, Bd. 7, S. 2570).
233,20 Hundstagszeit]
Sie liegt zwischen dem 23. Juli und dem 23. August und bringt in Mitteleuropa oft die heißesten Tage des Jahres. Der Name ›Hundstage‹ geht aus einer besonderen Himmelskonstellation hervor: die Sonne kommt in dieser Zeit dem Hundsstern (Sirius) nahe.
233,21 „Schafgrabens“]
Vorläufer des in der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgebauten Berliner Landwehrkanals im Süden Berlins. Der „Schafgraben, auch Landwehrgraben, Floß- und Thiergartengraben genannt, ist ein im Jahre 1705 gegrabener Ausfluß der Spree, den sie bei der sogenannten Ochsenbucht entsendet, […] sich immer mehr der Stadt nähernd, in geringer Entfernung beim Kottbusser Thor vorüber […]. Bis hierher hat er 6 von der Polizei erlaubte Badestellen, dann erheben sich an seinem Ufer jetzt die Gebäude der Gaserleuchtungs-Anstalt, mehrere Fabriken und Badeanstalten.“ (Zedlitz, S. 694-695, Zitat S. 694.)
233,22-23 Tempelhofer und Hallischen Ufer]
Straßen auf der südlichen Seite des Landwehrkanals zwischen Schönebergstraße im Westen und Hallesches-Tor-Brücke im Osten (heute Berliner Ortsteil Kreuzberg). Die Straßen erhielten im November 1849 ihre Namen (Berliner Straßen u. Plätze, Bd. 2, S. 191; Bd. 3, S. 190). Gutzkow wohnte von Oktober 1869 bis September 1871 am Tempelhofer Ufer 33 und zog von dort in die benachbarte Großbeerenstraße.
233,23 Gasanstalten]
Die Englische und die städtische Gasanstalt an der Gitschiner Straße; das Gelände wurde von der Prinzenstraße durchschnitten und im Süden vom Landwehrkanal begrenzt (Berliner Ortsteil Kreuzberg). Die westlich der Prinzenstraße gelegene Englische Gasanstalt hatte hier schon 1825/26 ein Werk errichtet (damals noch vor den Toren Berlins), die städtische Gasanstalt (östlich der Prinzenstraße) ihre Gasometer und Anlagen seit 1847 ausgebaut.
233,25-26 „Wassernix“]
In der nordischen Mythologie männlicher Wassergeist (vgl. Vollmer, S. 352, Stichwort ›Nixen‹).
233,26 jenseits der Linden]
Im Norden Berlins bzw. nördlich der großen städtischen Ost-West-Achse Unter den Linden.
233,27 Oranienburger Thor]
Stadttor im Norden Berlins; hier endete die Friedrichstraße, vor dem Tor begann die Chausseestraße, die in die Müllerstraße überging und durch den Wedding Richtung Tegel führte. Die Gegend vor dem Oranienburger Thor beschreibt Gutzkow 1852 in Aus der Knabenzeit (GWB VII, Bd. 1, S. 78).
233,27 die Panke]
Die Panke entspringt nördlich von Berlin in der Nähe von Bernau, fließt in südwestliche Richtung, durchquert die Berliner Stadtteile Pankow und Wedding und mündet in Höhe des Schiffbauerdamms (Berliner Bezirk Mitte) in die Spree. Heute teilt sie sich in eine Süd- und eine Nordpanke, die im Nordhafen des Berlin-Spandauer Schifffahrtskanals endet. Durch die zunehmende Besiedelung und Industrialisierung des Berliner Nordens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Panke im städtischen Bereich durch die Einleitung von Fäkalien und Industrieabwässern extrem verschmutzt und als übel riechendes Gewässer von den Berlinern gemeinhin „Stinke-Panke“ genannt. An ein Baden – etwa in Nähe der Invalidenhäuser – war in den 1870er Jahren nicht mehr zu denken.
233,27-28 „Bassermann’schen Gestalt“]
Geflügeltes Wort zur Bezeichnung fragwürdiger, finsterer Existenzen, das auf den Politiker Friedrich Daniel Bassermann (1811-1855) zurückgeht. Dieser hatte in der Frankfurter Nationalversammlung vom 18. November 1848 einen Bericht über Berliner Zustände erstattet und dabei schaudernd erklärt: „Ich sah hier Gestalten die Straße bevölkern, die ich nicht schildern will.“ (Büchmann 1879, S. 401.) Übertragen auf die Panke bedeutet dies, dass in Teilbereichen der Fluss noch nicht zur Kloake herabgesunken war.
234,1 der Karlstraße]
Die Karlstraße (seit 1947 Reinhardtstraße, Berliner Bezirk Mitte) verläuft von der Friedrichstraße bis zum Schiffbauerdamm und überbrückte in früheren Zeiten zwischen Albrecht- und Friedrichstraße die Panke, die später als Unterwasserkanal in diesem Stadtgebiet bis zur Mündung in die Spree vollständig überbaut wurde.
234,1 Eimerfrau]
Sie brachte in Eimern den gesammelten Inhalt von Nachttöpfen aus den Häusern. Einer Verfügung von 1814 zufolge durfte sie ihre Arbeit erst um 23 Uhr beginnen. „Große Wagen, die nachts die Stadt durchfuhren, transportierten etwa hundert verdeckte Eimer. Zehn bis zwölf Frauen […] begleiteten, mit Laternen ausgerüstet, jeden Wagen, trugen leere Eimer in die Häuser und holten die gefüllten ab, die dann in die Wasserläufe entleert wurden. In den [18]20er Jahren wurden jährlich schätzungsweise 200 000 Eimer Fäkalien allein von der Jungfernbrücke in die Spree gekippt. Wegen des höllischen Gestanks mußten die Bewohner der umliegenden Häuser abends ihre Fenster oft fest geschlossen halten. Erst 1842 wurde angeordnet, daß keine Nachteimer mehr in die Flüsse geschüttet werden dürften und daß die gesamte Fäkalienabfuhr von einer ‚Latrinen-Reinigungs-Anstalt‘ durchzuführen sei.“ (Ribbe, Bd. 1, S. 510.) In den 1870er Jahren bekam Berlin nach und nach eine kanalisierte Abwasserentsorgung. Das Kompositum Eimerfrau ist in einschlägigen Wörterbüchern nicht zu finden. In Berlin gab es entsprechend dem Lokalidiom „Emmer“ für „Eimer“ den Ausdruck „Emmerweib, Eimerfrau, die die Nachteimer fortträgt“ (Hans Brendicke: Berliner Wortschatz zu den Zeiten Kaiser Wilhelms I. In: Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins. Heft XXXIII. Berlin: Verl. des Vereins, 1897. S. 104.)
234,2 bei den „Invaliden“]
Das nordwestlich von Berlin gelegene „Invalidenhaus oder Berliner Invaliden-Bataillon, in der Invalidenstraße vor dem Oranienburger Thor an der Panke. Es wurde im Jahre 1748 gegründet […]. Sämmtliche Regimenter gaben ihre in dem Schlesischen Kriege verstümmelten, zum Felddienst untauglichen Soldaten in diese Anstalt. […] Die Gebäude der Anstalt bestehen in einem großen, einem Schloß ähnlichen Hause mit zwei Seitenflügeln; es führt die […] Inschrift: Laeso et invicto Militi. Auf beiden Seiten befinden sich die Kirchen, rechts die katholische, links die evangelische, und neben den Seitenflügeln liegen die Wirthschaftsgebäude und hinter dem Hause selbst die Gärten des Kommandanten und der Offiziere.“ (Zedlitz, S. 345-346.)
234,4 „Ikleye“]
Iklei ist die Berliner Bezeichnung für den Ukelei, einen kleinen karpfenartigen Fisch (vgl. Der richtige Berliner 1880, S. 30).
234,5-6 Schmidt von Werneuchen]
Der märkische Dichter und Pfarrer Friedrich Wilhelm August Schmidt (1764-1838), genannt Schmidt von Werneuchen, der als Verfasser naiver Naturgedichte von Goethe und den Romantikern verspottet wurde. Nach dem Studium in Halle übernahm er 1786 eine dürftig besoldete Stelle als Militärgeistlicher am Berliner Invalidenhaus (vgl. → Erl. zu 234,2), bevor er 1795 eine Pfarrstelle im brandenburgischen Werneuchen erhielt. In seinen Gedichten kommt gelegentlich auch die Panke vor.
234,14 „Kalitte“]
Berliner Ausdruck für Kohlweißling („‚Kalitte, Kalitte, setze dir!‘ rufen die Jungen, wenn sie dem Schmetterling nachlaufen.“ Der richtige Berliner 1880, S. 37).
234,15-16 Infandum scelus infanda poena piandum]
(Lat.) „Unerhörten Frevel durch unerhörte Strafe zu sühnen“ (MUE, Bd. 3, S. 439).
234,16 „Fordre Niemand, mein Schicksal zu hören –!“]
Anfang eines Liedes aus Karl von Holteis Liederspiel „Der alte Feldherr“ (1826); gehörte im 19. Jahrhundert zu den geflügelten Worten (Büchmann 1879, S. 162).
234,17 Schul-Strike]
Dieses offenbar kollektive Schulschwänzen im Sommer 1823 wird in der „Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin“ von August Carl Müller 1881 nicht erwähnt. Das deutsche Wort ›Streik‹ für Arbeitsniederlegung war in den 1870er Jahren noch nicht weit verbreitet. Verwendet wurde überwiegend die englische Bezeichnung ›strike‹, die sich auch in einschlägigen Fremdwörterbüchern der Zeit findet (so etwa Petri, S. 810). Vgl. dazu ausführlicher den Stellenkommentar von Kurt Jauslin zum ersten Band von Gutzkows Roman Die neuen Serapionsbrüder, 54,24 Streikgedanken.
234,19-20 „Neuen Reineke Fuchs“]
Zeitkritisch-satirisches Versepos von Adolf Glaßbrenner aus dem Jahr 1846. Diese politische Satire im Gewand der bekannten Tierfabel wurde im Vormärz verboten, was ihrer Popularität in späterer Zeit keinen Abbruch tat. 1866 erschien eine vierte Auflage.
234,22 Adolph Glaßbrenner]
Der Berliner Schriftsteller und Journalist Adolf Glaßbrenner (1810-1876) war bis zur Untertertia (heute 8. Klasse) Mitschüler Gutzkows auf dem Friedrichs-Werderschen Gymnasium und verließ 1824 die Schule auf Wunsch seiner Eltern, die ihn in eine kaufmännische Lehre gaben. Die Beziehungen zwischen Glaßbrenner und Gutzkow gestalteten sich über die Jahrzehnte wechselhaft. In einem Brief vom 28. Juni 1836 schreibt Glaßbrenner bewundernd an den früheren Schulfreund: „Wie kann sich solch ein blöder [im Sinne von schüchterner, W.R.], stiller Junge aus dem kleinen Hause in der Mauerstraße, der mit mir zusammen ‚Maikäfer jebuddelt un Knippkiehler jespielt hat‘, unterstehen, Deutschland und die umliegenden Gegenden zu erschüttern, allem Herkömmlichen eine furchtbare Maulschelle, und der Literatur eine neue Perspective zu geben!“ (Adolf Glaßbrenner: Unterrichtung der Nation. Ausgewählte Werke u. Briefe in drei Bänden. Bd. 3. Hg. von Horst Denkler, Bernd Balzer, Wilhelm Große, Ingrid Heinrich-Jost. Köln: Leske, 1981. S. 230-231.)
235,1-2 Jägerstraße, als diese noch mit „Colonaden“ geschmückt]
Die Jägerstraße (heute Berliner Bezirk Mitte) verlief von der Mauerstraße im Westen durch die Friedrichstadt bis zur Kurstraße (heute endet sie an der Oberwallstraße) und gehörte zu den „schönsten, breitesten und regelmäßigsten Straßen der Hauptstadt“ (Zedlitz, S. 326). Im östlichen Bereich überquerte sie mit der Jägerbrücke den alten Festungsgraben. Die Brücke war 1782 von dem Berliner Architekten Christian Georg Unger mit Kolonnaden geschmückt worden, hinter denen sich kleine Ladengeschäfte befanden. Um- und Ausbauten der Häuser in diesem Bereich verdrängten nach und nach die sogenannten Jägerkolonnaden, die schon zu Beginn der 1830er Jahre nicht mehr sichtbar waren. Zedlitz spricht 1834 von „Arkaden“, die „durch einen Neubau im Jahre 1830“ verloren gegangen seien. (Zedlitz, S. 325, Stichwort ›Jäger-Brücke‹.)
235,3 Der alte Mann, der am Schloß]
Diese originelle Erscheinung erwähnt Gutzkow schon vierzig Jahre zuvor in seinem Beitrag Die Kunst, Könige zu bedienen (Rasch 3.42.11.07.1). Da heißt es: Kennt Ihr am königl. Schlosse in Berlin den Winkel, wo vor noch nicht vielen Jahren ein alter Sonderling von Antiquar mit vergessenen alten Büchern handelte? Gewiß erinnert Ihr Euch des wunderlichen Kauzes. Jeden Morgen kam er mit einem Sack Bücher, die er auf die Gesimse des königl. Schlosses aufstellte, alte, vergessene Werke von Friedrich dem Großen, Macchiavell, Büsching’s Geographie, Heinitzen’s deutschen Briefsteller und Cujas französische Grammatik. Wir Scholaren fürchteten uns vor dem strengen, oft hämisch lachenden geistesverwirrten Büchertrödler, den wir scherzweise: Herr Professor! nannten, indem wir ihm verstohlen uns näherten und ihn an den langen tombacknen Ringketten zweier Uhren zupften, die er regelmäßig in beiden Westentaschen trug. (Telegraph für Deutschland. Hamburg. Nr. 179, November 1842, S. 714.)
235,6 „rothen Schloß“]
Volkstümlicher Name für ein 1866/67 gebautes, großes Waren- und Geschäftshaus an der Werder- und Unterwasserstraße, das keine 200 Meter vom Hohenzollernschloss entfernt lag. Seinen Namen hatte es durch seine rote Sandstein- und Klinkerfassade erhalten. (Vgl. Berlin und seine Bauten. Berlin: W. Ernst, 1896. Bd. 3 (Privatbauten), S. 47 u. 49.)
235,11 Doctors Dulcamara]
Figur aus Gaetano Donizettis 1832 uraufgeführter Oper „L’elisir d’amore“ („Der Liebestrank“).
235,16 Schleusenbrücke]
Die Schleusenbrücke überquert den Spreekanal und verbindet den Werderschen Markt mit dem Schloßplatz. Von der Schleusenbrücke führte am östlichen Ufer des Spreekanals eine kleine Straße mit dem Namen An der Schleuse (Berliner Straßen u. Plätze, Bd. 1, S. 136) zur Spreegasse (heute Sperlingsgasse) unweit der Jungfernbrücke .
235,17 Gsellius]
Der Berliner Buchhändler und Antiquar Friedrich Anton Gsellius (1773-1832), seit 1803 in Berlin ansässig, war als „Bücher-Antiquar“ 1828 An der Schleuse 14 tätig, einem kleinen Haus schräg gegenüber der Schleusenbrücke (Berliner Adressbücher, Jg. 1828 [S. 269].) 1829 wurde sein Geschäft in die Kurstraße 51 verlegt und gehörte später, bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, zu den größten und angesehensten Buch- und Antiquariatshandlungen Berlins. Das Antiquariat von Gsellius An der Schleuse bzw. in der Kurstraße befand sich in unmittelbarer Nähe von Gutzkows Schule.
235,20 Xenophons und Neposse]
Ausgaben bedeutender, vom jungen Gutzkow geschätzter Geschichtsschreiber, des griechischen Schriftstellers Xenophon (um 430-355 v. u. Z.) und des römischen Cornelius Nepos (geb. um 100, gest. nach 27 v. u. Z.).
235,24 die von Stuttgart]
Diese Klassikerbibliothek kam seit 1826 im Stuttgarter Verlag Metzler in zwei Reihen heraus, die beide von Osiander, Tafel und Schwab herausgegeben wurden: „Griechische Prosaiker in neuen Übersetzungen“ (1826-1869, insgesamt 356 Bändchen) und „Römische Prosaiker in neuen Übersetzungen“ (1826-1877, insgesamt 242 Bändchen). Für die Übertragungen dieser jahrzehntelang erschienenen Serien wurden neben den Herausgebern zahlreiche weitere Übersetzer beschäftigt. (Vgl. Goedeke, Bd. 16 (1985), S. 648-649, 672-673.)
235,25 die von Prenzlau]
Sie erschien unter dem Titel „Übersetzungsbibliothek der griechischen und römischen Klassiker“ (vier Abteilungen mit über 100 Einzelbändchen) zwischen 1827 und 1835 im Prenzlauer Verlag der Ragoczy’schen Buchhandlung. (Vgl. Goedeke, Bd. 16 (1985), S. 645-647.)
235,28 Schwab, Tafel und Osiander]
Die drei Herausgeber und Übersetzer kamen alle aus Württemberg: Gustav Schwab (1792-1850) war Theologe, Schriftsteller und Poet, seit 1817 Professor am Gymnasium in Stuttgart; Gottlieb Lukas Friedrich Tafel (1787-1860) war Pfarrvikar am Tübinger Stift, seit 1818 außerordentlicher Professor für alte Literatur an der Universität Tübingen; Christian Nathaniel von Osiander (1781-1855) war seit 1808 Professor am Gymnasium in Stuttgart, seit 1842 Prälat in Ulm.
235,28-29 Cicero’s Briefe]
Der Titel lautet „Des römischen Consulares M. T. Cicero’s vollständige Briefsammlung, in’s Deutsche übersetzt und mit Anmerkungen versehen“ und wurde im Prenzlauer Verlag der Ragoczy’schen Buchhandlung seit 1827 ausgeliefert (bis 1834 zehn Bändchen). Über Cicero vgl. → Erl. zu 261,4.
235,30 Rector Thospann]
Johann Andreas Thospann (1774-1852), Altphilologe und Pädagoge, Lehrer am Gymnasium in Göttingen. Neben Thospann wirkte noch Ernst Wilhelm Eckermann, Rektor der Stadtschule zu Uslar im Solling, an der Übersetzung mit.
236,9 des Professors]
Carl Heinrich Brunnemann, vgl. auch 219,18 Wort aus seiner bessern Stimmung.
236,12-13 den Uebersetzungen Walter Scott’s zu Gute]
Schon 1835 erinnerte sich Gutzkow an den Appell seines Lehrers Brunnemann und an seine jugendliche Scott-Lektüre: Es ist wahr, er gehörte zu jener abscheulichen Partei, welche servil und näselnd die legitimen Lilien küßte, er ist ein ganz feudaler Mensch gewesen, ein Chouan, ein Vendeer; aber seine Dichtungen sind meisterhaft, und der originelle Professor meiner Schuljahre hatte ganz Recht, wenn er uns sagte: Leute, während ich hier Geschichte vortrage, und ihr da unter dem Tisch heimlich Bücher lesen wollt, duld’ ich absolut nur zwei Schriftsteller zu diesem Zweck, den Tazitus oder den Walter Scott! Denn beide haben für die Geschichte gleichen Werth. Dieser treffliche Professor hieß Brunnemann. (Karl Gutzkow: Der historische Roman, eGWB IV, Bd. 6.2, pdf 1.0, S. 2.)
236,13 Zwickauer kleinen Ausgabe]
Bei den Brüdern Schumann in Zwickau erschien von 1822-1830 eine Ausgabe „Sämmtliche Romane“ von Walter Scott in 112 Bändchen (Goedeke, Bd. 16 (1985), S. 1014). Diese Edition im handlichen Duodezformat (Buchhöhe ca. 15 cm) war nicht in Fraktur, sondern in Antiqua, mit lateinischen Lettern (236,14) gesetzt.
236,14-15 sein Zeitalter ergriffen]
Scott gehörte nach 1820 zu den populärsten Autoren der deutschen Lesewelt. Seine Werke erschienen in den 1820er und 1830er Jahren in mehreren, umfangreichen deutschen Parallelausgaben. Über den Berliner Scott-Enthusiasmus schreibt Heine 1822 in seinen „Briefen aus Berlin“: „Von der Gräfin bis zum Nähmädchen, vom Grafen bis zum Laufjungen, liest alles die Romane des großen Schotten; besonders unsre gefühlvollen Damen. Diese legen sich nieder mit ‚Waverley‘, stehen auf mit ‚Robin dem Rothen‘, und haben den ganzen Tag den ‚Zwerg‘ in den Fingern.“ (HSSchr, Bd. 2, S. 34).
236,15 der „große Unbekannte“]
Geflügeltes Wort, das im 19. Jahrhundert vor allem auf Scott bezogen wurde: „Nach Hiob 36, 26: ‚Siehe, Gott ist gross und unbekannt‘ sagt man von einem sich in Werken offenbarenden, sonst unsichtbar bleibenden bedeutenden Geiste: Der grosse Unbekannte. – So wurde (nach J. Ebertys ‚Walter Scott‘ 1, 143, 318, 322; 2, 42) der anonyme Verfasser des ‚Waverley‘ genannt (‚The great Unknown‘)“. (Büchmann 1892, S. 21.)
236,17 Raupach’s Schleichhändler]
In Ernst Raupachs viel gespieltem Lustspiel „Die Schleichhändler“ (Hamburg: Hoffmann u. Campe, 1830) wird die Scott-Manie des deutschen Lesepublikums ins Lächerliche gezogen. Eine der Hauptfiguren des Stücks, Julie von Kiekebusch, ist der Lektüre von Scotts Romanen so verfallen, dass sie zwischen Scotts Phantasiewelt und der Wirklichkeit nicht mehr recht unterscheiden kann. Die romantisch-überspannte Leserin wird damit leicht Opfer einer Intrige.
236,25 Anciennität]
In dienstlichen Verhältnissen „der Vorrang an Jahren, das Dienst- od. Amtsalter, Rangalter, die Alterfolge“ (Heyse 1859, S. 46), hier so viel wie Rangfolge.
236,26 „Quentin Durward“]
Roman von Scott, erschien 1823 (deutsche Übersetzung 1823).
236,27-28 Ludwig XI.]
Ludwig XI., gen. ›der Listige‹ (1423-1483), war seit 1461 König von Frankreich. Der Kampf Ludwigs XI. mit seinem Rivalen Karl dem Kühnen von Burgund (1433-1477) bildet den Hintergrund des Romans „Quentin Durward“.
236,29 ein reicher Zwerg]
Nicht ermittelt. Während Peter Müller in seiner Gutzkow-Edition spekuliert, es sei „wahrscheinlich der Zwerg Fenella in [Scotts] ‚Peveril of the Peak‘“ gemeint (MUE, Bd. 3, S. 441), vermutet Reinhold Gensel in seiner Ausgabe, „Gutzkow meint wohl den Zwerg Elshire von Mucklestane Moor in Scotts ‚The Black Dwarf‘“ (GE, Bd. 12, S. 216).
236,30 „Herzen von Midlothian“]
Scotts Roman „The Heart of Midlothian“ (1818) erschien zuerst 1821 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Der Kerker von Edinburgh“, 1822 dann unter dem Titel „Das Herz von Mid-Lothian“ (vgl. Goedeke, Bd. 16 (1985), S. 1021).
236,30-31 Norne von Faithful Head]
Die geheimnisvolle Norna von Fitful-Head, eine Figur in Scotts Roman „The Pirate“ (1821, zuerst 1822 in deutscher Übersetzung „Der Pirat“ bzw. „Der Seeräuber“, vgl. Goedeke, Bd. 16 (1985), S. 1026).
236,33-34 Macbethhexen]
Die drei unheimlich wirkenden Hexen in Shakespeares Tragödie „Macbeth“, die mehrfach in dem Stück auftreten und vom Titelhelden gebeten werden, ihm sein Schicksal zu prophezeien.
236,34-237,1 Geisterbeschwörungen der Hexenküche im Faust]
In Goethes „Faust. Erster Teil“, Szene „Hexenküche“ (HA, Bd. 3, S. 75-84).
237,5 Petri’sche Leihbibliothek]
Die „Berlinische Leih-Bibibliothek“ des Verlagsbuchhändlers Heinrich Philipp Petri (1788-1855) war Ende 1815 in der Brüderstraße Nr. 1 gegründet worden und gehörte über mehrere Jahrzehnte zu den größten und angesehensten Leihbibliotheken Berlins. Zu Gutzkows Schulzeit war sie am Petrikirchplatz Nr. 4 ansässig, zog später in die Taubenstraße 33, wo sie nach Petris Tod noch einige Jahre von seiner Witwe weitergeführt wurde. Noch 1861 wird die Leihbibliothek in einem Berlin-Führer mit „23,000 Bänden, namentlich in wissenschaftlicher Hinsicht ausgezeichnet“ empfohlen (vgl. Robert Springer: Berlin. Ein Führer durch die Stadt und ihre Umgebungen. Leipzig: J. J. Weber, 1861. S. 248). Die Bibliothek mit ihrem großen, gepflegten Bestand wurde vermutlich zu Beginn der 1860er Jahre aufgelöst und verkauft. Jedenfalls taucht sie im Berliner Adressbuch nicht mehr auf. Kataloge der Leihbibliothek sind offenbar nicht überliefert; in Alberto Martinos „Die deutsche Leihbibliothek“ (Wiesbaden: Harrassowitz, 1990) findet sich kein Nachweis. – Zum Gründungsdatum vgl. das Inserat von Heinrich Philipp Petri „Nachricht an Freunde der Litteratur“ (datiert November 1815) in: Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen. (Spenersche Zeitung.) Berlin. Nr. 146, 7. Dezember 1815, [S. 11].
237,11 Scheible Curiositätencatalogen]
Die 1831 von dem Verlagsbuchhändler Johann Scheible (1809-1866) in Stuttgart gegründete Antiquariatsbuchhandlung war im 19. Jahrhundert eine der bekanntesten Adressen für Liebhaber seltener Drucke: „Mit Kultur und Sittengeschichte, Raritäten und Curiosa wandte er sich an spezialisierte Sammler. Im eigenen Verlag edierte er 1845-1848 die zwölf starke Bände umfassende (jedoch unvollendete) Sammlung ‚Das Kloster. Bibliothek der älteren deutschen Volks-, Wunder-, Curiositäten- und vorzugsweise komischen Litteratur‘ und die ähnliche fünfbändige Anthologie ‚Das Schaltjahr‘. Noch 1888 erschienen monatlich zwei Kataloge (in ihnen hat sich Hugo Hayn für seine ‚Bibliotheca Germanorum Erotica et Curiosa‘ reichst bedient).“ (Georg Jäger u. Reinhardt Wittmann: Der Antiquariatsbuchhandel. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Im Auftr. des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels hg. von der Historischen Kommission. Bd. 1: Das Kaiserreich 1870 – 1918. Berlin/New York: 2010, S. 269-270.) – Nach dem Tod des Firmengründers setzte seine Frau Therese Scheible (1818-1892) Verlag und Antiquariatsbuchhandlung fort.
237,14 Kotzebue und Merkel]
Der Bühnendichter und vielseitige Schriftsteller August von Kotzebue (1761-1819) sowie der Publizist und Journalist Garlieb Merkel (1769-1850) gehörten zu den Gegnern der Romantiker. Beide gaben von 1804 bis 1806 in Berlin die Zeitschrift „Der Freimüthige oder Ernst und Scherz“ heraus und attackierten darin auch die romantische Schule und ihre Protagonisten.
237,14 erste „Bonaparte“-Literatur]
Spottliteratur, polemische Flugschriften, Flugblätter, Karikaturen aus der Zeit von etwa 1805 bis 1815, die sich auf Napoleon Bonaparte (1769-1821, seit 1805 Kaiser der Franzosen) als Eroberer, Tyrannen oder Besatzer beziehen. Eine zweite Welle von „Bonaparte“-Literatur entwickelte sich nach seinem Sturz 1815, seiner Verbannung nach St. Helena (Südatlantik) und seinem Tod 1821.
237,15 Erniedrigungszeit]
Die Zeit der französischen Vorherrschaft und Besatzung in Deutschland, in Preußen zwischen 1806 (nach der verlorenen Schlacht von Jena und Auerstedt) und 1812 (Beginn der Befreiungskriege).
237,15 „Löschbrände“, „Fackeln“]
Zeitschriften aus der Zeit der französischen Besetzung Deutschlands; an den Titel des ersten Journals erinnert sich Gutzkow nur ungenau. Es handelt sich vermutlich um „Neue Feuerbrände zum Brennen und Leuchten. Marginalien zu der Schrift Vertraute Briefe über die innern Verhältnisse am Preußischen Hofe seit dem Tode Friedrichs II. Von demselben Verfasser [d.i. Georg Friedrich von Coelln]. Ein Journal in zwanglosen Heften“ (Amsterdam u. Cölln, 1807-1808) sowie um „Fakkeln. Ein Journal in zwanglosen Heften“ (Leipzig, 1811). Gegen die „Neuen Feuerbrände“ richteten sich „Löscheimer. Ein Journal in zwanglosen Heften“ (o.O., 1807-1808). Auch an diesen Titel könnte sich Gutzkow dunkel erinnert haben.
237,15-16 „Silhouetten Berliner Charaktere“]
Titel nicht ermittelt. Müller vermutet in seiner Gutzkow-Ausgabe: „Gemeint ist wahrscheinlich ‚Kabinet berliner Charaktere‘“ (MUE, Bd. 3, S. 442), ein Buch, das 1808 anonym in Berlin herauskam.
237,16-17 Peter Hammer in Köln und Amsterdam]
Fingierte Verlagsadresse von Periodika und Schriften im Kampf gegen die napoleonische Besatzung. Unter dieser falschen Orts- und Verlagsangabe erschienen auch die „Neuen Feuerbrände“.
237,18 Friedrich]
Nachname des Juristen und Schriftstellers Theodor Heinrich Friedrich (1776-1819); er war 1806 Oberlandesgerichtsrat in Stettin, meldete sich 1813 als Jäger im Lützowschen Freicorps, lebte nach 1815 in Berlin, Wien, Hamburg, schrieb Lustspiele und publizierte patriotische sowie zahlreiche zeitsatirische und humoristische Werke (vgl. Goedeke, Bd. 6 (1898), S. 391).
237,18 Julius von Voß]
Julius von Voß (1768-1832), war zunächst preußischer Offizier, dann Schriftsteller in Berlin, Verfasser politischer und satirischer Schriften sowie zahlreicher humoristischer Romane, Possen und Lustspiele. „Sein Bestes leistete er im Schwanke und im Lustspiele, er ist der Vater der Berliner Posse“ (Goedeke, Bd. 5 (1893), S. 537-539, Zitat S. 537).
237,23 Clauren, Van der Velde, Tromlitz]
Populäre Unterhaltungsschriftsteller der Restaurationszeit, die mit ihren zahlreichen Werken sogenanntes ›Leihbibliothekenfutter‹ lieferten: H. Clauren (eigentl. Karl Heun, 1771-1854), Karl Franz van der Velde (1779-1824) und A. von Tromlitz (eigentl. Karl August Friedrich von Witzleben, 1773-1839); van der Velde und Tromlitz pflegten in Anlehnung an Scott vor allem das Gebiet des historischen Romans.
237,26 „Hymnen an die Nacht“]
Eine der bedeutendsten Dichtungen der Frühromantik von Novalis (Pseudonym für Friedrich von Hardenberg, 1772-1801), zuerst veröffentlicht 1800 in der von August Wilhelm und Friedrich Schlegel herausgegebenen Zeitschrift „Athenäum“.
237,27 Apostrophe an die Sterne]
Gutzkows Verse sind mit An die Nacht überschrieben und erschienen am 20. Oktober 1831 im „Freimüthigen“ (Rasch 3.31.10.20). Wie Gutzkow in einem gedruckten Brief An die Redaction des Freimüthigen (Rasch 3.31.10.28) kurz darauf feststellt, wurden sie für ihn zur Unzeit veröffentlicht – Gutzkow hatte zu dieser Zeit schon sein „Forum der Journal-Literatur“ herausgegeben und steuerte publizistisch mit der Anknüpfung an Wolfgang Menzel ganz neue Ufer an. Er betont daher in seinem Schreiben, dass die poetischen Ergüsse jener trostlosen Mondklage aus einer längst verflossenen Epoche seiner literarischen Entwicklung stammten und dass er sein Gedicht schon vor 800 Tagen an die Redaktion des „Freimütigen“ geschickt habe – also etwa Mitte August 1829. Zu dieser Zeit war er nicht mehr auf der Schule, sondern schon Student. Im Herbst dieses Jahres sandte er auch eine erste Novelle an Saphirs „Berliner Schnellpost“ (vgl. → Erl. zu 239,13).
239,13 Novelle ansetzte für Saphir’s „Schnellpost“]
Sie erschien vom 13. Oktober bis zum 9. November 1829 unter dem Titel Aus dem Tagebuche und Leben eines Subrektors in der „Berliner Schnellpost für Literatur, Theater und Geselligkeit“ (Rasch 3.29.10.13). Die lediglich mit Gutzkows Initialen K. G. versehene Publikation, ein vergleichsweise belangloses Produkt gängiger belletristischer Unterhaltung, ist nach heutigem Kenntnisstand die früheste Veröffentlichung Gutzkows. Gutzkow war zu diesem Zeitpunkt Student. Allerdings will er schon früher während seiner Schulzeit belletristische Beiträge für Berliner Blätter geliefert haben, wie er in Hitzig über die Existenz der Schriftsteller 1838 bemerkt: Ich gestehe, daß mehre alte Jahrgänge Berliner Journale Novellen abgedruckt haben, die ich ihnen als Sekundaner schickte und noch stehen in den Verzeichnissen ihrer Mitarbeiter die Pseudonamen, die ich mir damals gegeben hatte. (GWB IV, Bd. 7, S. 45,30-34.) Nachweisen lässt sich das nicht, da es keine Anhaltspunkte dafür gibt, unter welchen Namen oder Chiffren und vor allem in welchen Blättern Gutzkow publiziert haben will. Bevor er sich 1831 als Journalgründer und Kritiker seinen Weg in die Literatur bahnte, gab es schon eine kurze epigonal-romantische, belletristische Schaffensphase, zu der auch sein Gedicht An die Nacht (vgl. → Erl. zu 237,27) gehört.
237,27-28 W. Häring für sein „Conversationsblatt“]
Der Berliner Schriftsteller und Journalist Willibald Alexis (eigentl. Georg Wilhelm Heinrich Häring, 1798-1871) redigierte mit Friedrich Förster von 1827 bis 1829 das „Berliner Conversations-Blatt für Poesie, Literatur und Kritik“, das nach seiner Zusammenlegung mit dem schon älteren Berliner Unterhaltungsblatt „Der Freimüthige“ zwischen 1830 und 1835 unter dem Titel „Der Freimüthige oder Berliner Conversationsblatt“ fortgesetzt und von Alexis (unter seinem bürgerlichen Namen Wilhelm Häring) allein herausgegeben wurde.
237,29 Veit Weber’s „Sagen der Vorzeit“]
Die „Sagen der Vorzeit“ von Veit Weber (eigentl. Leonhard Wächter, 1762-1837) erschienen in sieben Bänden zwischen 1787 und 1798 bei Friedrich Maurer in Berlin. Weber kultivierte damit das Genre des Ende des 18. Jahrhunderts populär werdenden Ritterromans, der sich in eine stark idealisierte deutsche Vergangenheit des feudalen Mittelalters und der frühen Neuzeit versetzt.
238,6-7 Jean Paul hatte damals die gläubigsten Leser]
Jean Pauls außergewöhnlich große Popularität in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war nach 1850 rapide gesunken. Er geriet an den Rand der Literaturgeschichte und beim Lesepublikum zunehmend in Vergessenheit. Gutzkow gehörte zu den wenigen bekannten Literaturkritikern, die an Jean Paul festhielten und ihn gegen den literarhistorischen Trend als gleichwertigen Dritten neben Schiller und Goethe priesen. Im 1860 veröffentlichten Beitrag Nur Schiller und Goethe? betont Gutzkow, in Jean Paul’s dichterischem Wesen liegt etwas, das sich als vollkommen gleichberechtigt neben Goethe und Schiller stellen darf, und erklärt Jean Paul zum Vater der ganz neuern Literatur (GWB IV, Bd. 3, S. 201-202).
238,8 mit Goethe einen „Tragelaphen“]
Goethe sandte am 10. Juni 1795 Jean Pauls Roman „Hesperus“ an Schiller mit den Worten: „Hiebei ein Tragelaph von der ersten Sorte“. (Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Erster Theil. Stuttgart u. Tübingen: Cotta, 1828. S. 158.) Als „Tragelaph“ (aus griech. tragos für Bock, elaphos für Hirsch: Bockhirsch) wurde in der Antike ein Mischwesen, „ein phantastisch gebildetes Fabeltier“ (Meyer, Bd. 19 (1909), S. 655), bezeichnet. „Goethe und Schiller bedienen sich des Bildes vom Tragelaphen, um das Uneinheitliche und Unorganische dichterischer Schöpfungen zu bezeichnen.“ (Julius Zeitler: Goethe-Handbuch. Bd. 3. Stuttgart: Metzler, 1918. Bd. 3, S. 436-437, Zitat S. 436.)
238,16 Titan – Liane – Roquairol]
Jean Pauls Roman „Titan“ (4 Bde., Berlin, 1800-1803). Liane und Roquairol sind Figuren aus diesem Roman.
238,17 Hebräisch]
Den Hebräischunterricht erteilte in Gutzkows Klasse Friedrich Wilhelm Engelhardt (1793-1880), der nach seinem Theologie- und Philologiestudium 1816 Lehrer am Friedrichs-Werderschen Gymnasium geworden war. 1833 ging er als Direktor des städtischen Gymnasiums nach Danzig. Hebräisch wurde nur in der Oberstufe (Sekunda und Prima) gegeben und war unverzichtbar für alle Schulabgänger, die die theologische Laufbahn einschlugen. In Gutzkows letztem Schuljahr 1828/29 „erklärte [Professor Engelhardt] die ersten 50 Psalmen; und trug die Syntax der hebräischen Sprache vor; zugleich wurden die Abschnitte der Formenlehre von Nomen und Verbum (besonders von dem unregelmäßigen V.) wiederholt.“ (Schulchronik in: Programm womit zu der öffentlichen Prüfung der Zöglinge des Friedrichswerderschen Gymnasiums, welche Mittwochs, den 15. April 1829 […] Statt finden soll […] ergebenst einladet August Ferdinand Ribbeck. [Schulprogramm 1829.] Berlin: Nauk, 1829. S. 42.)
238,19 wo später der Generalintendant]
Dieses Haus befand sich an der Südwestecke der Kreuzung Charlotten- / Jägerstraße; seit den 1850er Jahren hatte hier (Charlottenstraße 55) der Generalintendant der Königlichen Schauspiele Botho von Hülsen (1815-1886) sein Büro und Empfangszimmer.
238,21 ein Antiquar]
Der Antiquariatsbuchhändler und Lotterieeinnehmer Baruch Simonssohn, der in der Charlottenstraße 38 sein Geschäft unterhielt. Nach seinem Tod 1826 setzte seine Witwe noch eine Weile den Laden als ›Bücherantiquarin‹ fort (Berliner Adressbücher, Jg. 1827, [S. 436]). In späteren Jahren wurden die Hausnummern geändert, und aus der 38 wurde die Nummer 55.
238,34 das erste Auftreten M. G. Saphir’s]
Moritz Gottlieb Saphir (vgl. den Lexikon-Artikel) kam im Sommer 1825 aus Wien nach Berlin, gründete hier 1826 die „Berliner Schnellpost, für Literatur, Theater und Geselligkeit“, 1827 den „Berliner Courier“ und trug mit seinen Blättern ganz wesentlich zur Belebung des Berliner Journalismus bei. So war er der Erste, der die „Nachtkritik“ einführte: Die Besprechung einer abendlichen Theateraufführung konnte man schon am nächsten Morgen im „Berliner Courier“ lesen. Im Dezember 1827 gründete Saphir einen literarischen Verein, den „Tunnel über der Spree“, der erst in den 1840er und 1850er Jahren (u. a. durch Theodor Fontane) für Berlins literarisches Leben bedeutsam wurde. Saphirs Berliner Aufenthalt war von zahlreichen Konflikten mit ansässigen Schauspielern, Kritikern, Schriftstellern und der Zensur begleitet. Ende 1829 wurde er aus Berlin ausgewiesen und ging nach München, wo er seine journalistische Karriere fortsetzte. (Vgl. Peter Sprengel: Moritz Gottlieb Saphir in Berlin. Journalismus und Biedermeierkultur. In: Studien zur Literatur des Frührealismus. Hg. von Günter Blamberger, Manfred Engel u. Monika Ritzer. Frankfurt a. M. [usw.]: P. Lang, 1991. S. 243–275.) In Saphirs „Berliner Schnellpost“ debütierte Gutzkow 1829 als Novellist (vgl. → Erl. zu 239,13).
239,1 Komus und Jocus]
Komödie und Scherz, (griech.) Komos, Komödie (im Gegensatz zur Tragödie), (lat.) jocus, Scherz.
239,3 die Königstädtische]
Das Königstädtische Theater am Alexanderplatz, das am 4. August 1824 als erste und für lange Zeit einzige Privatbühne Berlins eröffnet worden war (siehe den entsprechenden Lexikon-Artikel).
239,9 handschriftlich erscheinendes Journal]
Die von Gutzkow und seinem Mitschüler Adolf Licht 1828/29 herausgegebene Schülerzeitschrift hieß „Versuche in Prosa und Poesie“. Gutzkow kommt im Abschnitt IV. darauf zurück (vgl. 258,7-13). Vgl. die Erinnerungen von Adolf Licht an dieses Zeitschriftenprojekt, von dem etwa 12 Nummern herauskamen (Rasch, Gutzkow-Doku, S. 18-20) sowie die Darstellung bei Prölß, S. 222-224. Ein Exemplar der ersten Nummer ist im Nachlass Gutzkows (Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main) erhalten geblieben.
239,11 Oden der Sappho]
Die griechische Dichterin Sappho lebte um 600 v. u. Z. auf Lesbos und schuf in ihren Oden eine metrische Form, die ›sapphische Strophe‹, Vorbild für Horaz und Catull, später auch für Klopstock und Hölderlin. – Die erste Nummer der „Versuche in Prosa und Poesie“ brachte nach einem ausführlichen Editorial „als erste Publikation ‚Sappho an Aphrodite‘ aus dem Griechischen von K. G. […]. Der Ode hatte Gutzkow die Bemerkung beigefügt: ‚Der Uebersetzer bittet die Leser, vorliegende Uebersetzung in metrischer Hinsicht nicht nach dem ängstlichen strengen Schema der Sapphischen Ode beim Horaz, sondern nach der Hellenischen Freiheit des Grundtextes zu beurtheilen.‘ Sie selbst ist schwungvoll und flüssig.“ (Adolf Licht, Johannes Proelß (1883) in: Rasch, Gutzkow-Doku, S. 19.)
239,12 Buche über die öffentlichen Spiele der Römer]
Davon ist offenbar nichts erhalten geblieben.
239,25 der Sonnabend gehörte]
Auf diese Lektürenachmittage in Berliner Lesecafés kommt Gutzkow nochmals weiter unten zurück (254,22ff. Der regelmäßig eingehaltene […]).
239,26-27 „Gesellschafter“]
„Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz“ wurde von Friedrich Wilhelm Gubitz redigiert und erschien von 1817 bis 1848 in Berlin,
239,27 „Freimüthige“]
„Der Freimüthige“, gegründet 1803 von Kotzebue, erschien bis 1829 in Berlin mit wechselnden Titelzusätzen und Herausgebern und wurde unter dem Titel „Der Freimüthige oder Berliner Conversationsblatt“ von 1830-1835 fortgeführt (vgl. → Erl. zu 237,27-28).
239,27 „Kometen“]
„Der Komet. Ein Unterhaltungsblatt für die gebildete Lesewelt“ wurde von Karl Herloßsohn redigiert, erschien von 1830 bis 1848 zunächst in Altenburg, seit 1838 in Leipzig.
239,28 „Planeten“]
„Unser Planet. Blätter für Unterhaltung, Literatur, Kunst und Theater“ erschien seit August 1830 werktäglich in Altenburg, seit 1840 in Grimma, von 1844 bis 1848 unter dem Titel „Der Wandelstern“.
239,29 „Morgenblatt“]
Das seit 1807 bei Cotta in Stuttgart und Tübingen erscheinende „Morgenblatt für gebildete Stände“ (seit 1837 „Morgenblatt für gebildete Leser“) mit seinen Beilagen, dem von Wolfgang Menzel redigierten „Literatur-Blatt“ sowie dem von Ludwig Schorn redigierten „Kunst-Blatt“.
240,3 Rellstab]
Ludwig Rellstab (1799-1860), Berliner Schriftsteller, Journalist, Feuilletonist, Librettist und Übersetzer; er war seit 1826 Musikkritiker der „Vossischen Zeitung“, bis zu seinem Tod auch Mitglied der Redaktion und gehörte im Vormärz zu den einflussreichsten Kritikern und Journalisten Berlins. In den 1820er Jahren zählt er zu den Gegnern Saphirs in Berlin.
240,5 stieg auf dreizehn]
Saphir hatte in Nr. 46 vom 18. März 1828 seiner „Berliner Schnellpost“ einen Beitrag „Etwas über die Stimmung der Berliner Journale und Correspondenzen gegen die königlichen Bühnen in Berlin“ veröffentlicht und darin mehrere Berliner Redakteure und Kritiker angegriffen. Er warf ihnen vor, die königlichen Bühnen in Mißkredit zu bringen, da sie sich als Theaterdichter von ihr zurückgesetzt fühlten. Vier der Attackierten – Friedrich Wilhelm Gubitz, Willibald Alexis, Friedrich Förster und Ludwig Robert – verbündeten sich mit weiteren neun Berliner Autoren, die in der „Vossischen“ und der „Spenerschen Zeitung“ Saphirs Behauptung als „Verläumdung“ zurückwiesen, „daß sich die unterzeichneten Bühnendichter zu dem Zwecke vereinigt hätten, der Königlichen Bühne […] zu schaden.“ Gezeichnet wurde die Erklärung neben den vier oben genannten von Louis Angely, Alexander Cosmar, Karl Johann Gottlob Ludwig Dielitz, Friedrich Baron de la Motte Fouqué, Karl August von Lichtenstein, Ludwig Rellstab, Friedrich Tietz, Adalbert vom Thale und Friedrich von Uechtritz. An diese kurze Erklärung der bald als „dreizehn Bühnendichter“ bezeichneten Gegner Saphirs knüpfte sich 1828 eine ausgedehnte Kontroverse, die darauf zielte, Saphirs überlegene journalistische Stellung in Berlin zu unterminieren und ihn persönlich zu diskreditieren. Saphir wehrte sich u. a. in einer Broschüre: „Der getödtete und dennoch lebende M. G. Saphir, oder: Dreizehn Bühnendichter und ein Taschenspieler gegen einen einzelnen Redakteur“ (Berlin: L. W. Krause, 1828).
240,6 Saphir sagte]
Ein entsprechendes Zitat Saphirs wurde nicht nachgewiesen.
240,6 Bosko]
Bartolomeo Bosco (1793-1863), berühmter Zauberkünstler aus Turin, trat als ›Magier‹ in ganz Europa auf und erregte mit seinen geheimnisvollen Kunststücken gewaltiges Aufsehen. In Berlin gab er im Frühjahr 1828 viel besuchte Vorstellungen.
240,9 Die Offizin]
Buchdruckerei (Heyse 1859, S. 626). Sie befand sich in der Adlerstaße Nr. 6 und gehörte dem Berliner Buchhändler und Verleger Leopold Wilhelm Krause (geb. um 1796, gest. 1846), der in der Adlerstraße 6 auch wohnte. Krause verlegte und druckte zahlreiche Berliner belletristische Blätter (vgl. auch → Erl. zu 240,14).
240,12 Litfaßsäulen]
Die nach dem Buchdruckereibesitzer Ernst Litfaß (1816-1874) benannten Anschlagsäulen, die Litfaß seit 1855 in Berlin aufstellen ließ, um damit dem wilden Plakatieren in der Stadt Einhalt zu gebieten. Litfaß war ein Stiefsohn Krauses und übernahm nach dessen Tod 1846 die Druckerei in der Adlerstraße.
240,13 Kalandsbrüder]
Geistlicher Orden im 14. Jahrhundert, der für mittellose Geistliche sorgte und daher auch ›Elendsgilde‹ genannt wurde. Das Versammlungshaus der Bruderschaft, der Kalandshof, befand sich unweit der Marienkirche in der Klosterstraße (Ecke zur Kalandsgasse) und nicht in der Adlerstraße. Gutzkow irrt sich hier offenbar.
240,13-14 „Schnellpost“, sein „Courier“]
Die „Berliner Schnellpost, für Literatur, Theater und Geselligkeit“ erschien von 1826 bis 1829 (vgl. Estermann, Lit.-Zff. 1815-50, Bd. 4, S. 88-92), „Der Berliner Courier. Ein Morgenblatt für Theater, Mode, Eleganz, Stadtleben und Localität“ von 1827 bis 1830 (vgl. Estermann, Lit.-Zff. 1815-50, Bd. 4, S. 224-226). Die „Schnellpost“, gedruckt im Quartformat, kam drei- bzw. viermal wöchentlich heraus, „Der Berliner Courier“ im kleineren Oktavformat, werktäglich am Morgen.
240,14 „Staffette“]
Dieser Zeitschriftentitel ist nicht sicher zu identifizieren. Vermutlich handelt es sich um die „Die Berliner Estafette. Ein Mittagsblatt“, die vom 10. Juli 1827 bis zum 28. Dezember in Berlin herauskam und– so Ludwig Geiger – ein „vollständiges Concurrenzunternehmen“ zum „Berliner Courier“ von Saphir darstellte. „Erschien jener morgens, so erschien diese mittags, lobte jener das königliche, so pries diese das Königstädtische Theater; war jener Goethe-Feind, so trat diese enthusiastisch für Goethe ein; zapfte jener die Theaterdichter, Zeitungen und Berliner Schriftsteller an, so war diese unerschöpflich in Verhöhnungen Saphir’s, seiner Leistungen ebenso wie seines Charakters, daneben auch seines Glaubens.“ Diese wenig originelle, wie Geiger meint, Anti-Saphir-Zeitschrift hatte mit Saphirs Blättern allerdings eine Gemeinsamkeit: „Sie erschien bei L. W. Krause, demselben Buchhändler, der auch Saphir’s Zeitschriften verlegte.“ (Ludwig Geiger: Berlin. 1688-1840. Geschichte des geistigen Lebens der preußischen Hauptstadt. Bd. 2. 1786-1840. Berlin: Paetel, 1895. S. 514-515.)
240,14 manche spätere Nachahmung]
Dazu gehörte 1831 „Der Berliner Eulenspiegel“ bzw. „Der Berliner Eulenspiegel-Courier“, der von Eduard Maria Oettinger (1808-1872) redigiert wurde und aus dem Ende 1831 der „Berliner Figaro“ hervorging – in diesem Blatt publizierten viele Poeten aus dem Umkreis des „Tunnels über der Spree“ und debütierte Theodor Fontane Ende 1839 mit einer Novelle, 1840 mit Gedichten). Der Verleger und Drucker Leopold Wilhelm Krause zeichnete bis 1846 als Herausgeber des „Berliner Figaro“, der 1848 eingestellt wurde. Gutzkow bemühte sich nach dem Ende seines „Forum der Journal-Literatur“ im September 1831 kurzfristig, aber erfolglos um die Redaktion des „Berliner Eulenspiegel“ (vgl. H[einrich] H[ubert] Houben: Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart. (Berlin: Rowohlt, 1924. S. 256-257), bzw. den Artikel Houbens über Gutzkow und die Zensur im Lexikon). In dieser Zeit dürfte Gutzkow auch bei Krause in der Adlerstraße vorstellig geworden sein.
240,17 Milder-Hauptmann]
Die Opernsängerin Anna Pauline Milder-Hauptmann (1785-1838). Sie gehörte seit 1816 zur Berliner Hofoper und „blieb fünfzehn Jahre lang die Zierde dieser Hofbühne“ (Eisenberg, S. 679).
240,17 Lucca]
Pauline Lucca (1841-1908), berühmte Opernsängerin, von 1861 bis 1872 an der Berliner Hofoper engagiert, war dort eine gefeierte Primadonna.
240,18 Seidler-Wranitzki]
Die Sängerin Caroline Seidler-Wranitzky (1790-1872). Sie kam 1816 an die Berliner Hofoper, wo sie bis zu ihrem Abschied von der Bühne 1838 mit großem Erfolg tätig war
259,33 Hache]
Friedrich Wilhelm Theodor Hache (1810-1849), Sohn eines früh verstorbenen Berliner Polizeibeamten („Polizei-Commissarius“), kam schon 1819 auf das Friedrichs-Werdersche Gymnasium, wo er mit Gutzkow 1829 entlassen wurde: „Friedrich Wilhelm Theodor Hache aus Berlin, 18 Jahr alt, 10 Jahr auf dem Gymnasium, 2 Jahr in Prima. Er erhielt das Zeugniß No. II. und will in Berlin Theologie studiren.“ (Programm womit zu der öffentlichen Prüfung der Zöglinge des Friedrichswerderschen Gymnasiums, welche Mittwochs, den 15. April 1829 […] Statt finden soll […] ergebenst einladet August Ferdinand Ribbeck. [Schulprogramm 1829.] Berlin: Nauk, 1829. S. 56.) Er immatrikulierte sich am 18. April 1829 in der theologischen Fakultät der Berliner Universität (vgl. → Erl. zu 246,11-12), die er schon im August 1830 verließ. Mit Gutzkow und Hermann Böttcher gründete Hache in Berlin eine verbotene Burschenschaft (vgl. → Erl. zu 246,14). Wo er sein Theologiestudium fortsetzte, ist unbekannt. Über seinen weiteren Ausbildungs- und Lebensweg ließ sich lediglich ermitteln, dass er laut „Amts-Blatt der Königl. Preuß. Regierung zu Frankfurt an der Oder“ (Nr. 33, 19. August 1835, S. 255) am 4. August 1835 vom „Königlichen Consistorio“ als „wahlfähig zum Predigtamte“ erklärt wurde und später eine Pfarrstelle in Fürstenberg an der Oder innehatte, wo er am 28. Dezember 1849 starb (das Todesdatum ist notiert in: Neuer Nekrolog der Deutschen. 27. Jg., 1849. Weimar: Voigt, 1851. S. 1319).
240,18 Bader, Blume]
Bekannte Mitglieder der Berliner Hofbühne: Der Sänger Karl Adam Bader (1789-1870) wurde 1820 an der Berliner Hofoper engagiert, wo er zu einem ›Star‹ der Bühne avancierte; er gab 1845 seine Bühnenkarriere auf. Der Schauspieler Heinrich Blume (eigentl. Blum, 1788-1856) war seit 1809 an der Königlichen Hofbühne (Schauspiel und Oper) engagiert und trat 1848 von der Bühne ab.
240,19-20 Olympia, Nurmahal, Vestalin, Alcidor, Iphigenie]
Opern von Gasparo Spontini (1774-1851): „Olimpie“ (zuerst aufgeführt 1819 in Paris, 1821 in Berlin), „Nurmahal oder das Rosenfest von Kaschmir“ (zuerst aufgeführt 1822 in Berlin), „Die Vestalin“ („La vestale“, zuerst aufgeführt 1807 in Paris, 1812 in Berlin), „Alcidor“ (Zauber-Oper mit Ballett, zuerst aufgeführt 1825 in Berlin). „Iphigenie in Aulis“ („Iphigénie en Aulide“) ist dagegen eine Oper von Christoph Willibald Ritter von Gluck (1714-1787) aus dem Jahr 1774.
240,20 der „Freischütz“]
Die Oper von Carl Maria von Weber (1786-1826), Text von Friedrich Kind, wurde am 18. Juni 1821 mit sensationellem Erfolg in Berlin uraufgeführt; Weber wurde als Schöpfer eines nationalen Opernwerks gefeiert und gilt bis heute als Begründer der romantischen Oper.
240,21 Alleinherrschaft Spontini’s]
Der italienische Komponist und Dirigent Gasparo Spontini war von König Friedrich Wilhelm III. 1820 als königlich preußischer Generalmusikdirektor an die Berliner Hofbühne berufen worden. Diese Stelle war eigens für ihn geschaffen worden. Protegiert vom König und von dessen Gefolgsleuten, übte er das Amt bis zu seinem von der Öffentlichkeit erzwungenen Rücktritt 1842 aus. Die Uraufführung von Webers „Freischütz“ 1821 war auch ein Triumph der zahlreichen Gegner Spontinis in Berlin. Varnhagen von Ense notiert in sein Tagebuch am 18. Juni 1821: „Der Freischütz, Oper von Maria von Weber, heute zum erstenmale hier gegeben, und mit größtem Jubel aufgenommen, der Komponist hervorgerufen, Blumen und Gedichte u. s. w. Die sichtbarste Opposition gegen Spontini und gegen die ihm gewogene Hofparthei.“ (K[arl] A[ugust] Varnhagen von Ense: Blätter aus der preußischen Geschichte. Leipzig: Brockhaus, 1868. Bd. 1, S. 327.)
240,22 P. A. Wolf]
Der Schauspieler und Bühnenautor Pius Alexander Wolff (1782-1828) wirkte, von Goethe gefördert und angeleitet, seit 1803 als Darsteller am Weimarer Hoftheater, wo er maßgeblich „mithalf, den Ruhm des Weimarer Theaters zu begründen“ (Eisenberg, S. 1143). 1816 wechselte er an die königliche Bühne in Berlin, wo er auch als Regisseur tätig war. Er gab aus gesundheitlichen Gründen 1823 seine Arbeit als Regisseur auf und trat nur noch selten auf.
240,22 weimarische Schule]
Ein Darstellungsstil auf der Bühne, den Pius Alexander Wolf vermittelte und der sich an Goethes „Regeln für Schauspieler“ hielt. Diese Regeln waren dem Naturalismus (240,24), der nach Gutzkow auf der Berliner Bühne herrschte, entgegengesetzt und leiteten dazu an, „nicht allein die Natur nachzuahmen, sondern sie auch idealisch vorzustellen und so das Wahre mit dem Schönen zu vereinen, jeden Teil des Körpers ganz in der Gewalt zu haben, jedes Glied gemäss dem zu erzielenden Ausdruck frei, harmonisch und mit Grazie zu gebrauchen.“ (Heinrich Hubert Houben: Emil Devrient. Sein Leben, sein Wirken, sein Nachlass. Ein Gedenkbuch. Frankfurt/M.: Literarische Anstalt Rütten & Loening, 1903. S. 46.)
240,22-23 durch die jüngeren Brüder Devrient nach Dresden]
Der Schauspieler, spätere Theaterleiter, Dramatiker und Theaterhistoriker Eduard Devrient (1801-1877) debütierte 1819 als Sänger auf der Berliner Hofbühne und wirkte von 1844 bis 1846 als Oberregisseur in Dresden; sein jüngerer Bruder Emil (1803-1872) war seit 1831 am Dresdener Hoftheater engagiert, wo er zu einem gefeierten Bühnenliebling wurde. Er gehörte seit den 1840er Jahren zum engeren Freundeskreis Gutzkows.
240,24 Frau Stich]
Die Berliner Schauspielerin Auguste Crelinger, geborene Düring, verwitwete Stich (1795-1865), wurde 1812 von Iffland für die Berliner Hofbühne gewonnen, die sie erst 1862 verließ. Seit 1817 war sie mit dem Hofschauspieler Heinrich Wilhelm Stich (1794-1824) verheiratet, in zweiter Ehe seit 1827 mit dem Bankier Otto Crelinger (1802-1874). Später trat sie auch in Stücken Gutzkows auf, der sie als Darstellerin sehr schätzte und wiederholt auf ihrem Sommersitz am Charlottenburger „Knie“ besuchte (vgl. Rückblicke auf mein Leben, GWB VII, Bd. 2, S. 284-285).
240,26 Liebeshandel mit dem jungen Grafen Blücher]
Der Leutnant Graf Gebhard Blücher von Wahlstatt (1799-1875), ein Enkel des Generalfeldmarschalls Gebhard Leberecht von Blücher (1742-1819), hatte der von ihm angebeteten Auguste Stich am 6. Februar 1823 einen Besuch in ihrer Wohnung Mohrenstraße 55 abgestattet und war auf der Treppe mit ihrem Ehemann, dem Schauspieler Wilhelm Stich, zusammengestoßen. Bei einem Wortwechsel zog Blücher einen Dolch und verwundete den Ehegatten damit schwer. Stich überlebte, genas, starb aber am 3. Oktober 1824 an den Spätfolgen der Verletzung. Blücher wurde zu einer dreijährigen Festungshaft verurteilt. Der Vorfall schlug in der Berliner Öffentlichkeit 1823 hohe Wellen. Die Empörung über den brutalen Angreifer Graf Blücher war groß, seine vermeintliche oder tatsächliche Geliebte wurde vom Publikum ausgezischt und geächtet. „Stichs Gattin durfte, obwohl sie ihre Unschuld […] beteuerte, längere Zeit die Bühne nicht betreten, bis sie in ihrer zweiten Ehe als Auguste Crelinger neue Triumphe feierte.“ (Goedeke, Bd. 11/1 (1951), S. 548.)
240,28 Hotel Magdeburg]
Das Hotel Stadt Magdeburg in der Mohrenstraße 11, einer der erstklassigen Gasthöfe Berlins in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es stand dem früheren Wohnhaus von Auguste und Wilhelm Stich Mohrenstraße 55 schräg gegenüber. Deren Haus lag am westlichen Ende der Mohrenstraße, unweit der Mauerstraße 16, wo die Familie Gutzkow 1823 lebte. Das tragische Ereignis hatte sich also in nächster Nachbarschaft Gutzkows zugetragen.
240,29 Raupach]
Der Berliner Bühnendichter Ernst Raupach (1784-1852) gehörte mit Lustspielen und Tragödien zu den populärsten Theaterdichtern seiner Zeit und erfreute sich der besonderen Protektion des preußischen Hofes. Die ersten Erfolgsstücke Raupachs kamen Mitte der 1820er Jahre auf. Vgl. auch den Artikel im Lexikon.
240,29-30 Albini, Frau von Weißenthurn, Houwald, Clauren, Karl Blum]
Außerordentlich produktive und bekannte Bühnenautoren der 1820er und 1830er Jahre: Albini, Pseudonym für Albin Johann Baptist von Meddlhammer (1777-1838), Johanna Franul von Weißenthurn (1772-1847), Ernst von Houwald (1778-1845), Clauren, Pseudonym für Karl Heun (1771-1854) und Carl Blum (1786-1844). Clauren hatte sich vor allem als Erzähler einen Namen gemacht, schrieb aber auch mit Erfolg für die Bühne.
240,32 „Cabinets-Ordres“]
„Cabinéts-Ordre, eine unmittelbar landesherrliche Verfügung“ (Heyse 1859, S. 135). Tatsächlich mischte sich König Friedrich Wilhelm III. damit offensiv in das Berliner Theaterleben ein.
241,13 Strauß, Couard, Jänike, Goßner]
Streng konservative Prediger und fromme Eiferer auf Berlins Kanzeln: Gerhard Friedrich Abraham Strauß (1786-1863), seit 1822 Hof- und Domprediger, Christian Ludwig Couard (1793-1865), Pfarrer an der Georgen-Kirche, Johann Jänicke (1748-1827), seit 1792 Pfarrer der Böhmischen Gemeinde (vgl. → Erl. zu 226,11), Johannes Evangelista Goßner (1773-1858), seit 1829 Pfarrer der böhmisch-lutherischen Bethlehemsgemeinde.
241,18-19 dem exacten Sinne des Beamten]
Gutzkows Vater war seit 1822 Kanzleidiener im preußischen Kriegsministerium und hatte damit eine kleine Beamtenstelle inne. Er gehörte offenbar zu den zuverlässigen Beamten, deren Arbeit von den Vorgesetzten geschätzt wurde. 1842 wurde ihm beim jährlichen Ordensfest im Berliner Schloss als Auszeichnung für seine langjährigen Dienste das „Allgemeine Ehrenzeichen“ verliehen (vgl den Bericht zum Ordensfest und die Listung der Ausgezeichneten in: Kölnische Zeitung. Köln. Nr. 20, 20. Januar 1842, [S. 2].)
241,23-24 aus einer Krise in die andre geschleuderten Königstädter Bühne]
Vgl. den Lexikonartikel Königstädtisches Theater.
241,25 Schmelka und Beckmann]
Populäre Berliner Schauspieler und Komiker: Heinrich Ludwig Schmelka (1777-1837) und Friedrich Beckmann (1803-1866) waren beide seit 1824 am Königstädtischen Theater engagiert und gehörten zu den Hauptstützen dieser Bühne.
241,27-28 der gesungene Refrain, den Holtei im deutschen „Liederspiel“]
Der Schriftsteller, Bühnendichter und Schauspieler Karl von Holtei (1798-1880) gehörte in den 1820er Jahren zu den ersten, die das französische Vaudeville (Liederspiel) auf der deutschen Bühne einführten und populär machten. Für das Berliner Königstädtische Theater schrieb er zahlreiche Liederspiele, Gesangspossen, kleine Stücke mit Gesangseinlagen, darunter scherzhafte Lieder mit Refrain (Couplets, vgl. → Erl. zu 241,29). Sie erschienen erstmals gesammelt und mit einem ausführlichen „Vorwort“ versehen, in dem Holtei auch auf die Gattung des Vaudeville eingeht, in: C[arl] von Holtei: Beiträge für das Königstädter Theater. 2 Bde. Wiesbaden: Haßloch, 1832.
241,29 Couplet]
Scherzhaftes, oft anspielungsreich-spöttisches Lied mit Refrain. In Deutschland kamen Couplets mit den Vaudevilles (Liederspielen) der 1820er Jahre in Mode und waren später fester Bestand von Gesangspossen.
241,30 Zauberposse]
Sie verbindet „Märchen-, Zauber- und Geistermotive(n) mit derb biederen lokalen und z. T. parodistischen Elementen. Sie erreicht […] wahre Kunstvollendung als höchste Form des Volksstücks überhaupt durch F. Raimund („Der Bauer als Millionär“, „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“, „Der Verschwender“ u. a.) später satirisch umgewandt bei Nestroy („Lumpazivagabundus“) und bleibt nicht ohne Einfluß auf das hohe Drama Grillparzers u. a.“ (Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 4., verb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Kröner, 1964. S. 788, Stichwort ›Zauberstück‹).
242,2 Janhagel]
Vor allem in Norddeutschland Ausdruck für „Pöbel, Gesindel. Im 17. Jh zunächst Bezeichnung für die Matrosen, weil sie mit ‚Hagel!‘ fluchten. Von der unflätigen Redeweise weiterentwickelt zur heutigen Bedeutung, die kurz nach 1680 belegt ist.“ (Küpper, Bd. 4, S. 1373.)
242,5 Louis Angely und Kurländer]
Der Berliner Louis Angely (1787-1835) sowie der Wiener Franz August von Kurländer (1777-1836) waren zwei erfolgreiche Bühnenautoren und Übersetzer, Angely einer der Hauptlieferanten von Possen, Lustspielen, Vaudevilles für das Königstädtische Theater, auf dem er auch als Darsteller mitwirkte. In den 1840er Jahren hat sich Gutzkow – inzwischen selbst Verfasser dramatischer Originalwerke – wiederholt gegen die billigen Übersetzungsfabrikate ausgesprochen, mit denen die Bühnen überschwemmt wurden.
242,8 Raimund nach Berlin kam]
Raimund gastierte von April bis Juni 1832 im Königstädtischen Theater in Berlin. Sein „Der Alpenkönig und der Menschenfeind. Romantisch-komisches Original-Zauberspiel in zwei Aufzügen“ wurde mit ihm in der Rolle des reichen Gutsbesitzers Rappelkopf sechs Mal gegeben (27. April, 2., 8. und 21. Mai, 3. und 12. Juni 1832). Welche dieser Aufführungen Gutzkow besucht hat, ist nicht bekannt. Dass Raimund vor fast leeren Rängen gespielt haben soll, lässt sich anhand zeitgenössischer Quellen und Theaterberichte nicht belegen. Raimund verbuchte sein Berliner Gastspiel als Erfolg. (Vgl. Franz Hadamowsky (Hg.): Ferdinand Raimund als Schauspieler. Chronologie seiner Rollen nebst Theaterreden u. lebensgeschichtlichen Nachrichten. Zweiter Teil. 1830-1836. Wien: Schroll, 1925. S. 589-593.)
242,10-11 seinen eigenen „Menschenfeind“]
„Der Alpenkönig und der Menschenfeind“, vgl. → Erl. zu 242,8.
242,13 Timon]
Titelfigur in Shakespeares Tragödie „Timon von Athen“, in der gleichfalls das Motiv der Misanthropie eine Rolle spielt.
242,14 Kaiser Franzel]
Franz I. (1768-1835), seit 1804 Kaiser von Österreich.
242,31-32 Schinkel’s neugebautem „Komödienhause“]
Das im Mai 1821 nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel fertig gestellte Königliche Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, das das 1817 abgebrannte Theater ersetzte. Gutzkow hat die innere Raumgestaltung des Bauwerks wiederholt aus bühnenpraktischer Sicht kritisiert (vgl. etwa Aus der Knabenzeit 1852, GWB VII, Bd. 1, S. 174,19-24, bzw. die → Erl. zu 174,23-24 Anklage in:).
243,6 „Der Galeerensklave“]
Vermutlich handelt es sich um das Melodram nach dem Französischen von Theodor Hell „Die beiden Galeeren-Sclaven oder ‚Die Mühle von Saint Aldervon‘“, das am Berliner Hoftheater am 22. September 1823 erstmals gegeben und bis 1835 dreiunddreißigmal aufgeführt wurde (Goedeke, Bd. 9 (1910), S. 291).
243,6 „Preziosa“]
Schauspiel mit Gesang und Tanz von Pius Alexander Wolf (vgl. → Erl. zu 240,22), mit Bühnenmusik von Carl Maria von Weber zuerst am Berliner Hoftheater am 14. März 1821 aufgeführt. Mit der Musik von Weber erfreute sich das Werk auf deutschen Bühnen lange großer Beliebtheit und wurde allein am Berliner Schauspielhaus bis 1885 110mal gegeben.
243,6 „Künstlers Erdenwallen“]
Lustspiel von Julius von Voß (vgl. → Erl. zu 237,18), zuerst aufgeführt am Berliner Hoftheater am 29. Januar 1810, wurde hier bis 1847 52mal gegeben.
243,10 „Prolegomena“ F. A. Wolf’s]
Die wegweisende Studie „Prolegomena ad Homerum“ (1795) war das Hauptwerk des klassischen Philologen und Pädagogen Friedrich August Wolf (1759-1824), in der er die Entstehung von Homers Werken untersuchte und die viel diskutierte, auch aufgrund akribischer Textkritik untermauerte These vertrat, dass die „Ilias“ und die „Odyssee“ nicht allein auf einen einzigen genialen Dichter Homer zurückgingen, sondern mehrere Rhapsoden als Urheber hätten. Wolf schuf damit „den Ausgangspunkt für die moderne kritische Richtung in der Literaturforschung“ (Meyer, Bd. 20 (1909), S. 721).
243,14-15 Alluvion]
Anschwemmung, nach dem lat. Verb alluĕre (anspülen), Heyse 1859, S. 35.
243,23 generatio aequivoqua]
(Lat.) Urzeugung (Heyse 1859, S. 380).
243,31 Agenden-König]
Der preußische König Friedrich Wilhelm III. (1770-1840, seit 1797 Regent) nahm als oberster Landesbischof das Recht für sich in Anspruch, Anordnungen (Agenden) für die Gottesdienstordnung zu treffen. Die Einführung der Hofagende von 1816 (Rückkehr zur Gottesdienstordnung des 16. Jahrhunderts) bzw. Agende 1822 (Union von Lutheranern und Reformierten) lösten den sogenannten Agendenstreit aus (vgl. Stichwort ›Agendenstreit‹, Meyer, Bd. 1 (1907), S. 165).
243,33 Chios]
Insel im Ägäischen Meer vor der Westküste Kleinasiens; sie galt einigen auch als Geburtsort Homers (vgl. → Erl. zu 229,5).
243,33 Arion]
Legendärer Dichter und Sänger der griechischen Antike, der um 600 v. u. Z. auf Lesbos gelebt haben soll. Er gilt als Schöpfer des Dithyrambos. Der Legende nach wollten ihn während einer Seereise Schiffsleute ausrauben und umbringen. Arion bat darum, ein Abschiedslied singen zu dürfen. Er „sang so schön, dass die Delphine herzukamen und das Schiff umschwärmten. Dieses hatte er gehofft: er vertraute sich den menschenfreundlichen Thieren, indem er sich raschen Sprunges in das Meer warf. Ein Delphin nahm ihn auf seinen Rücken und trug ihn sicher und wohlbehalten zu dem Vorgebirge Tänarus, von wo er nach Corinth ging.“ (Vollmer, S. 66).
244,2 Argolis]
Landschaft im Nordosten des Peloponnes, bildete in der Antike das Kernland der mykenischen Kultur.
244,2 Löwenburg der Atriden]
Als Atriden werden in der griechischen Mythologie die Söhne des mykenischen Königs Atreus bezeichnet: Agamemnon, Anführer der Griechen im Trojanischen Krieg, und dessen Bruder Menelaos, König von Sparta, der gleichfalls am Kampf gegen Troja teilnahm. Die Burg von Mykene, deren Hauptzugang durch ein riesenhaftes, im oberen Teil von zwei kolossalen Löwenreliefs gestaltetes Tor führte, soll der Königssitz Agamemnons gewesen sein. Das im Laufe der Jahrhunderte verschüttete Löwentor – Gutzkow assoziiert vermutlich damit eine Löwenburg – wurde im Jahr 1700 wieder freigelegt.
244,4-5 alle vier Jahre zu Olympia]
Die in der Antike alle vier Jahre festlich begangenen Sportspiele im Heiligen Hain von Olympia, einer antiken Kultstätte in der griechischen Landschaft Elis im Nordwesten des Peloponnes. Der Beginn der Spiele wird heute auf das Jahr 776 v. u. Z., ihr Ende auf das Jahr 393 gelegt.
244,8-9 Anwendung auch auf die Nibelungen]
Durch den Germanisten Karl Lachmann (1793-1851), der diese Theorie mit ausdrücklichem Bezug auf Wolf in seiner Schrift „Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth“ (Berlin: Dümmler, 1816) entwickelte. Lachmann war seit 1825 Professor für Klassische und deutsche Philologie an der Universität Berlin und gehörte zu den akademischen Lehrern Gutzkows.
244,22-23 ob Landsmannschaft, ob Burschenschaft]
Studentische Verbindungen, von denen sich die Landsmannschaften schon im 17. bzw. frühen 18. Jahrhundert entwickelten, die politisierten, deutschnational ausgerichteten Burschenschaften im Zuge der Befreiungskriege. „Nach Begründung der Burschenschaft […] lösten viele L[andsmannschaften] sich auf und schlossen sich jener an […]. Nach Unterdrückung der Burschenschaft tauchten neue L[andsmannschaften] auf, die etwa seit 1820 sich auch Korps nennen.“ (Meyer, Bd. 12 (1908), S. 127). Joachim Leopold Haupt (vgl. → Erl. zu 244,30-31) griff 1820 die vor allem in der akademischen Jugend heiß diskutierte Frage unterschiedlicher studentischer Bünde auf: „Zwei Arten von Burschenverbindungen sind es aber hauptsächlich, welche jetzt die Aufmerksamkeit des Publikums und der Regierungen auf sich gezogen, die Landsmannschaften und die Burschenschaft; jene in veralteten Formen und hergebrachter Sitte sich bewegend, diese anstrebend wider alles, was sie für unzweckmäßig und unsinnig hält; jene der rohen Kraft und dem Schwerte allein huldigend, diese Kraft und Schwert durch die Vernunft zügelnd und dieser unterordnend; jene fröhnend einer geistlosen, albernen Scheinehre, deren Grundlage der Schläger allein ist, diese die Ehre suchend und findend in der Anerkennung wahren, innern Werthes; jene in ihrem alten Dumpf- und Unsinne gedankenlos hinlebend, diese mit kräftigem, frischem Geiste emporstrebend zu den Höhen des Ideals; jene die Zerstückelung unsers Vaterlandes vollkommen darstellend, diese die Idee einer geistigen Einheit desselben in Recht und Freiheit in ihrer Form aussprechend; jene ins Dunkel des Geheimnisses sich flüchtend, diese in möglichster Oeffentlichkeit hervortretend. Daß hier Kampf entstehen mußte, war natürlich; unnatürlich aber war es, daß die Universitätsbehörden und Regierungen fast durchgängig die Landsmannschaften begünstigten, und die Burschenschaft, ungeachtet sie sich überall frei und offen verband, ohne ein Geheimniß daraus zu machen, verfolgten, und nicht bestehen lassen wollten.“ (Joachim Leopold Haupt: Landsmannschaften und Burschenschaft. Ein freies Wort über die geselligen Verhältnisse der Studierenden auf den teutschen Hochschulen. Altenburg: Hofbuchdruckerei; Leipzig: Brockhaus, 1820. S. XIV-XV)
244,25 Spoliationen]
Plünderungen (Heyse 1859, S. 869).
244,29 Müller’schen Stich des Evangelisten Johannes]
Bekanntes Werk des Kupferstechers Johann Friedrich Wilhelm Müller (1782-1816), der zwischen 1802 und 1806 einen Kupferstich und eine Radierung des Evangelisten Johannes nach einem Gemälde des italienischen Malers Domenichino (1581-1641) schuf.
244,30-31 Haupt’s „Burschenschaften und Landsmannschaften“]
Joachim Leopold Haupt (1797-1883) beteiligte sich als Theologiestudent in Leipzig 1818 an der Gründung der Leipziger Burschenschaft, für deren national-politische Ziele er auch publizistisch eintrat, so in seinem 1820 veröffentlichten Werk „Landsmannschaften und Burschenschaft. Ein freies Wort über die geselligen Verhältnisse der Studierenden auf den teutschen Hochschulen“ (Gutzkow zitiert den Werktitel nicht ganz korrekt). Haupt wurde 1825 protestantischer Pfarrer und wirkte von 1832 bis zu seinem Tod als Prediger und Pastor in Görlitz. Vgl. auch → Erl. zu 244,22-23.
244,31 Herbst’s „Ideale und Irrthümer“]
Ferdinand Herbst (1798-1863) gehörte als Student der Philologie, Theologie und Philosophie in Leipzig, Jena, Erlangen zu den engagierten Vertretern der Burschenschaft. In Leipzig wurde er 1818 Mitglied der Alten Leipziger Burschenschaft, in Jena 1818/19 Mitglied der Urburschenschaft. Mit Bezug auf Haupts „Landsmannschaften und Burschenschaft“ und vor dem Hintergrund eines völkisch-nationalistischen Weltbildes verteidigte er in seinem 1823 erschienenen Werk „Ideale und Irrthümer des academischen Lebens in unsrer Zeit, oder der offene Bund für das Höchste im Menschenleben, zunächst für die teutsche studierende Jugend“ das Wesen der Burschenschaft. Gutzkow erwähnt auch 1868 in Das Kastanienwäldchen in Berlin seine um 1828 erfolgte Lektüre des Buches, das in mir einen Revolutionssturm hervorbrachte. (GWB VII, Bd. 3, S. 87,22-23.) Herbst konvertierte 1832 zur römisch-katholischen Kirche, wählte den zusätzlichen Vornamen Ignaz, empfing 1834 die Priesterweihe und war in späteren Jahren als Seelsorger in München und Giesing tätig.
244,34 Jägerstraße]
Vgl. → Erl. zu 235,1-2.
245,1 bei Beyer]
Ein 1864 von F. Beyer eröffnetes, vornehmes Restaurant und Café mit Gartenlokal in der Jägerstraße 19, nahe der Charlottenstraße.
245,25 „Heil dir im Siegerkranz“]
„Anfangsworte der preußischen Volkshymne“ (Meyer, Bd. 9 (1908), S. 97), die, da es in Preußen offiziell keine Nationalhymne gab, als Ersatz dafür bei feierlichen Anlässen von Preußenanhängern und Monarchisten gesungen wurde. Balthasar Gerhard Schumacher (geb. 1755 in Kiel) hatte es 1793 geschrieben und unter dem Titel „Berliner Volksgesang“ veröffentlicht. Gesungen wurde der Text nach der Melodie des englischen Volkslieds „God save the king“. Die Anfangsworte wurden im späteren 19. Jahrhundert auch zum geflügelten Wort und 1892 in die 17. Auflage des Sammelwerkes von Büchmann aufgenommen (Büchmann 1892, S. 134).
245,26 Barbarossa’s Erwachen im Kyffhäuser]
Kaiser Friedrich I. Barbarossa (1122-1190) wurde im 19. Jahrhundert zu einer mythischen Figur, zum Sinnbild nationaler Einheit und der Erneuerung des deutschen Reiches. Einer Sage zufolge soll er tief im Berg Kyffhäuser (Unterharz, Thüringen) so lange schlafen, bis die Einheit, Größe und Macht Deutschlands wiederhergestellt ist und die alte Kaiserherrlichkeit neu aufleben kann.
245,30-31 „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“]
Anfang von Theodor Körners Gedicht „Männer und Buben“, das nach der Melodie des Liedes „Brüder mir ist alles gleich“ gesungen werden sollte (vgl. Theodor Körner: Leyer und Schwerdt. Einzige rechtmäßige, von dem Vater des Dichters veranstaltete Ausgabe. Berlin: Nicolai, 1814. S. 77.) Der Vers ging 1912 in die 25. Auflage von Georg Büchmanns Sammlung „Geflügelte Worte“ ein und wurde vorzugsweise von der deutschen Kriegspropaganda auf Postkarten, Plakaten, Aufrufen im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg verwendet.
245,33-34 Der Aermste war krank am Fuß und hinkte]
So auch Böttchers Alter Ego Asmodi in Gutzkows Die Singekränzchen (Novellen, Bd. 1), der dort als hinkender Freund (GWB I, Bd. 3, S. 185,24) eingeführt wird.
246,7-8 nach seinem rühmlichst bestandenen Abiturientenexamen auf ein halbes Jahr nach Halle]
Gutzkow irrt, denn Boettcher ging nach dem Abitur zunächst nicht nach Halle, sondern immatrikulierte sich am 18. April 1829 an der Berliner Universität in der theologischen Fakultät (vgl.: Die Matrikel der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. 1810-1850. Bearb. u. hg. von Peter Bahl u. Wolfgang Ribbe. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. 421). Am 11. August 1830 ging er ab und wechselte zum Wintersemester 1830/31 an die Universität Halle. Am 25. Juni 1831 schrieb er sich erneut an der Berliner Universität ein.
246,10 Köpenick]
Dem berüchtigten Gefängnis für Demagogen (darunter viele Burschenschafter). Vgl. → Erl. zu 232,7.
246,11-12 trotz unsres „an Eides Statt“ gegebenen Gelöbnisses]
Bei der Immatrikulation Gutzkows, die am 18. April 1829 im Universitätsgebäude Unter den Linden vom Dekan der philosophischen Fakultät vollzogen wurde. 1868 schreibt Gutzkow darüber in seinen Universitätserinnerungen Das Kastanienwäldchen in Berlin, dass dem Dekan feierlich „an Eidesstatt“ gelobt werden mußte, „in keine Verbindung zu treten“, und gerade doch der Lebenslauf eines richtigen Studenten damit anfing, daß er schon an demselben Abend in eine Verbindung trat. Wen traf bei solchem Meineid die größere Schuld, den achtzehnjährigen Jüngling, den heißblutigen, von Schwärmerei erfüllten Kopf, der kein Spandau und kein Köpenik fürchtete? Oder jene Männer, welche, die „Gewissen verwirrend“, „Eide“ oder „Ehrenworte“ abnahmen, von denen sie doch wußten, daß die ganze Richtung der Zeit, die einmal eingerissene Gewohnheit der akademischen Jugend, das Halten eines solchen Versprechens in der Regel unmöglich machte? (GWB VII, Bd. 3, S. 86,12-22.) Neben Gutzkow immatrikulierten sich gleichfalls am 18. April mehrere seiner Klassenkameraden: Friedrich Wilhelm Theodor Hache, Hermann Boettcher, Johann Friedrich Leopold George (alle theologische Fakultät) und Adolf Licht (juristische Fakultät). Vgl.: Die Matrikel der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. 1810-1850. Bearb. u. hg. von Peter Bahl u. Wolfgang Ribbe. Berlin [u.a.]: de Gruyter, S. 421.
246,14 eine Burschenschaft errichtet]
Über diese geheime burschenschaftliche Verbindung berichtet ausführlicher Gutzkows Klassenkamerad und Studienfreund G. Schlemüller 1880 (vgl. Rasch, Gutzkow-Doku, S. 22-23). Seiner Erinnerung zufolge wurde der Bund von Gutzkow, Hermann Böttcher und Friedrich Wilhelm Theodor Hache (vgl. → Erl. zu 259,33) gegründet, das Kneiplokal lag in der Splittgerbergasse. Die Verbindung löste sich Schlemüller zufolge im Sommer 1831 auf, nachdem die Studenten einen Wink erhalten hatten, dass ihnen die Demagogenverfolger auf die Spur gekommen seien. Vgl. zur kurzen Geschichte dieser verbotenen Burschenschaft auch Prölß, S. 244-246.
218,14-15 Die Denunciation ging auf die Religionsgesinnung]
Gutzkows Verdacht, die Machenschaften gegen Zimmermann hätten im Zusammenhang mit dem politischen Klima auch einen ideologischen Hintergrund gehabt, bekräftigt 1923 Eduard Stemplinger. Dieser führt an, „daß nach einer Ministerialverfügung vom 25. Mai 1824 ‚Über die Verletzung der Pflichten gegen den Staat‘ die politische Gesinnung der Lehrer an den Gymnasien aufs strengste von den Provinzialbehörden kontrolliert werden mußte und verdächtige Richtungen oder Äußerungen sofort den Aufsichtsbehörden angezeigt werden sollten; ein Regulativ vom 28. Mai 1826 trug den Lehrern auf, den Schülern korrekte religiöse Ansichten beizubringen anstatt der ‚bloß in der Luft schwebenden, alles tieferen Grundes beraubten sogenannten Moralität‘ Kants.“ Stemplinger folgert daraus: „Dieser Richtung fiel der Rektor Zimmermann zum Opfer.“ (Eduard Stemplinger: Gutzkows Stellung zum neuhumanistischen Gymnasium. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik. Bd. 52. Berlin: Teubner, 1923. S. 111.)
252,30-31 Hinrichtung Ludwig Sand’s]
Am 20. Mai 1820, vgl. Erl. zu 210,16.
253,5 Hermann Böttcher]
Vgl. → Erl. zu 244,32.
247,9 Minerva’s]
In der römischen Mythologie Göttin der Weisheit, „des Handwerks und aller gewerblichen Kunstfertigkeit, wozu die der Musikanten, Bildhauer, Maler, Ärzte, Schauspieler, Dichter und Schullehrer […] gehörte.“ (Meyer, Bd. 13 (1908), S. 872.)
247,10 Stiftungs-Vergünstigungen]
Genaueres nicht ermittelt. Am Friedrichs-Werderschen Gymnasium existierten mehrere private Stiftungen für begabte, leistungsstarke aber mittellose Schüler (vgl. die Übersicht in: Das wohlthätige Berlin. Geschichtlich-statistische Nachrichten über die Wohlthätigkeits-Uebung Berlin’s, zusammengestellt von Friedrich Gustav Lisco. Berlin: G. W. F. Müller, 1846. S. 281-284). Bekannt ist nur, dass Gutzkow in der Oberstufe an einem Freitisch teilnehmen durfte, der 1796 von Charlotte Ernestine Brumbey „für bedürftige und würdige Schüler der obersten Klassen“ gegründet worden war, wie sich Gutzkows Mitschüler Schlemüller 1879 erinnert (Rasch, Gutzkow-Doku, S. 17).
247,11-12 bald wieder mit dem ausgearteten Quartaner versöhnten Zimmermann]
Hier wird ein Konflikt mit dem Rektor Zimmermann (vgl. → Erl. zu 212,11) angedeutet, den Gutzkow nirgendwo an- oder ausführt. Möglicherweise war Gutzkow 1823 durch die Teilnahme am großen Schul-Strike (234,17) zeitweilig in Ungnade gefallen. Jedenfalls saß er zu diesem Zeitpunkt in der Quarta (nach heutiger Rangordnung 8. Klasse).
247,16 Currendedienst]
Tätigkeit mit aufwendiger Laufleistung. ›Currende‹ (nach dem lat. Verb currere: laufen) hier im Sinn von Lauferei.
247,22-23 „europäischen Sklavenleben“]
Vermutlich Anspielung auf Friedrich Wilhelm Hackländers seinerzeit berühmten Roman „Europäisches Sklavenleben“ (4 Bde., 1854).
247,31 Anachoret]
Einsiedler (Heyse 1859, S. 43).
248,1-2 Meierotto über Roms Sitten und Gebräuche]
Der Altphilologe und Pädagoge Johann Heinrich Ludwig Meierotto (1742-1800), von 1775 bis zu seinem Tod Rektor des Joachimsthalschen Gymnasiums in Berlin, hatte 1776 ein Buch „Ueber Sitten und Lebensart der Römer in verschiednen Zeiten der Republik“ veröffentlicht, das Gutzkow vermutlich für seine Studie über die öffentlichen Spiele der Römer (239,12) benutzte.
248,2-3 Niewport über die Feste der Römer]
Der Titel ist nicht ganz sicher zu identifizieren. Peter Müller (MUE, Bd. 3, S. 454) vermutet das Werk des niederländischen Historikers und Juristen Willem Hendrik Nieupoort (1674-1730) „Rituum, qui olim apud Romanos obtinuerunt, succincta explicatio ad intelligentiam veterum auctorum facili methodo“, das zuerst 1713 erschien und im 18. Jahrhundert mehrfach neu aufgelegt wurde.
248,3 Gedichte der Sappho]
Gutzkow arbeitete an einer Übersetzung ihrer Oden, vgl. → Erl. zu 239,11.
248,3-4 Fragmente des Alcäus]
Lat. Namensform für den griechischen Dichter Alkaios, der um 600 v. u. Z. auf Lesbos lebte und neben Sappho zu den bedeutendsten Verspoeten gehörte (er schuf ein vierzeiliges Odenmaß, die ›alkäische Strophe‹). Seine Hymnen, Liebes- und Trinklieder sind nur in Fragmenten überliefert.
248,8-9 Raumer’s „Vorlesungen über die alte Geschichte“]
Friedrich von Raumer (1781-1873), Historiker, Publizist und Politiker, war seit 1819 Professor für Staatswissenschaften und Geschichte an der Berliner Universität. Seine „Vorlesungen über die alte Geschichte“ erschienen 1821.
248,11-12 drei […] Bewerber]
Näheres nicht ermittelt.
248,12 Schwester]
Caroline Gutzkow (geb. um 1802, gest. 1856). Vgl. auch → Erl. zu 248,22.
248,22 wählte einen Andern]
Gutzkows Schwester Caroline heiratete den Berliner Wundarzt Heinrich Christian Bungenstab (gest. 1853), der 1827 in Berlin seine Approbation als Wundarzt 2. Klasse erhielt (Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin. Stück 9, 2. März 1827, S. 43). Später wurde er Stadtwundarzt. Die Hochzeit dürfte etwa 1829 stattgefunden haben.
248,13-14 Militair mit silbernem Porteépée]
„Porteépée ist eine Quaste […] von Gold, Silber oder Wolle, die mittels eines schmalen Bandes, um das Degen- oder Säbelgefäß geschlungen, als Abzeichen der Offiziere getragen wird.“ (Brockhaus 1851-55, Bd. 12 (1854), S. 279.) In der preußischen Armee war das silberne Portepee das Rangzeichen für Unteroffiziere mit Portepee und wurde an der Seitenwaffe getragen. Sie waren den Unteroffizieren ohne Portepee übergeordnet, die eine untere Stufe innerhalb der Militärhierarchie bildeten. (Vgl.: A. von Witzleben: Grundzüge des Heerwesens und Infanteriedienstes der Königlich Preußischen Armee. Berlin: Grobe,1845. S. 24.)
248,17-18 Schiller’s Major Walter]
In Schillers Trauerspiel „Kabale und Liebe“ (erstmals aufgeführt 1784) verliebt sich der Major Ferdinand von Walter in das bürgerliche Mädchen Louise Miller, die Tochter des Stadtmusikanten, bei dem Ferdinand Flötenunterricht nimmt.
248,21-22 Berbiguier und Fürstenau]
Zwei namhafte zeitgenössische Flötenvirtuosen und Komponisten: Benoît Tranquille Berbiguier (1782-1838) und Anton Bernhard Fürstenau (1792-1852). Beide haben zahlreiche Werke für Flöte komponiert.
248,23 Bruders]
August Gutzkow (geb. um 1799); er war gelernter Formschneider, in den 1820er Jahren Soldat bei der Artillerie in Berlin, später Kreisgendarm in Forst. Über seine Lebensverhältnisse ist weiter nichts bekannt.
257,5 Thaten Stein’s]
Der Jurist Karl Freiherr vom und zum Stein (1757-1831), seit 1780 im preußischen Staatsdienst und 1807/08 leitender Minister der Regierung, war zusammen mit Karl August von Hardenberg (vgl. → Erl. zu 248,32) treibende Kraft jener Reformen, die den preußischen Staat im Zuge der napoleonischen Herausforderung modernisierten. Wichtige Maßnahmen waren die Bauernbefreiung (1807), die Städteordnung (1808), die Aufhebung der Zünfte (1810-11) und die zu ihrer Zeit höchst fortschrittliche, in der Restauration jedoch großenteils wieder rückgängig gemachte Judenemanzipation (1812). Stein mußte jedoch schon Ende 1808 auf Druck Napoleons sein Regierungsamt niederlegen.
248,32 Hardenberg]
Karl August Freiherr (seit 1814) Fürst von Hardenberg (1750-1822), seit 1810 preuß. Staatskanzler, gemeinsam mit dem Freiherrn vom Stein (vgl. → Erl. zu 257,5) Motor der Umsetzung von Reformen in Preußen, modernisierte die preußische Verwaltung, erreichte auf dem Wiener Kongress bedeutende Gebietszuwächse für Preußen; nach dem Einsetzen der Restaurationsära 1815 und den Karlsbader Beschlüssen 1819 nahm sein politischer Einfluss deutlich ab.
248,34 zerrüttete Häuslichkeit]
Hardenberg war dreimal verheiratet. Seine erste Frau hatte ein Liebesverhältnis zu einem Prinzen von Wales und provozierte damit einen öffentlichen Skandal; Hardenberg ließ sich von ihr scheiden und ehelichte seine zweite Frau, die sich ihrerseits kurz zuvor hatte scheiden lassen, um Hardenberg zu heiraten. Das wurde in Teilen der Öffentlichkeit mit Entrüstung aufgenommen. Auch von der zweiten Frau ließ sich Hardenberg scheiden und vermählte sich 1807 zum dritten Mal, pflegte neben dieser Ehe aber auch seit 1816 bis zu seinem Tod ein Liebesverhältnis zu einer anderen Frau.
249,1-2 eines der Schwiegersöhne des Fürsten]
Nicht ermittelt.
249,3 Cleanth]
In Aus der Knabenzeit Name für den Porträtmaler Karl Friedrich Minter, vgl. den Artikel im → Lexikon.
249,7 à la fortune du pot]
Frz., sinngemäß für: auf gut Glück mitessen, verzehren was die Küche bietet! Die von Gutzkow gelegentlich verwendete Redensart wird in einem zeitgenössischen Fremdwörterbuch übertragen mit „auf den Zufall des Kochtopfes, d. i. auf Hausmannskost, wie sie gerade die Küche giebt“ (Heyse 1859, S. 363, Stichwort ›Fortuna‹).
249,8 Haugwitz]
Der preuß. Staatsmann und Diplomat Christian Heinrich Kurt Graf von Haugwitz (1752-1832) war seit 1792 Staats- und Kabinettsminister und lenkte bis zur Niederlage des preußischen Heeres bei Jena und Auerstädt 1806 den außenpolitischen Kurs Preußens. Er galt vielen preußischen Patrioten als franzosenfreundlich und zu nachgiebig gegenüber Napoleon.
249,9 Friedrich Nicolai’s]
Vertreter der Berliner Aufklärung (vgl. → Erl. zu 210,20).
249,15-16 wie auf dem Leipziger Platz]
Bei der Familie von Karl Friedrich Minter, der am Leipziger Platz Nr. 12 ein Palais bewohnte (vgl. Aus der Knabenzeit, GWB VII, Bd. 1, S. 163,6-17). Auch Minters Häuslichkeit und Familienleben war vom Geist der Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts geprägt.
249,18 Einer der Hausfreunde]
Carl Joseph Anton Bormann (1766-1840), ein gebürtiger Schlesier, war zunächst Schullehrer in seiner Heimat, wechselte dann zum Militär und brachte es bis zum Leutnant im königlichen Kadetten-Corps Potsdam. Er ging 1811 nach Berlin und wurde hier 1820 Sekretär der Militär-Studien-Commission. (Vgl. [Julius Eduard Hitzig:] Gelehrtes Berlin im Jahre 1825. Berlin: Dümmler, 1826. S. 33.) Als Bormann im Herbst 1840 starb, erinnerte Gutzkow im „Telegraph für Deutschland“ (Rasch 3.40.11.18) an den originelle(n) Mann und dessen philosophisches System: Er knüpfte an Kant’s Kriticismus an und versuchte es, alle Verhältnisse in der sittlichen Welt, alle Begriffe und Vorstellungen unter vier Gesichtspunkten zu betrachten. Er hatte „auf Kosten des Verfassers“ eine Menge kleiner Hefte drucken lassen, in denen er die Moral, die Psychologie, die Theologie, Metaphysik (die er Teleologie nannte) abhandelte. […] Bormann stritt sehr heftig gegen Hegel und sprang einmal zornig auf, als Referent ihn versicherte, Maaß und Zahl könnten eben so identisch werden, wie auf einem gewissen logischen Standpunkte Quantität und Qualität. Er hielt sich die Ohren zu. „Zahl ist Zahl, Beschaffenheit Beschaffenheit,“ sagte er, „wer Qualität mit Quantität verwechselt, ist kein Philosoph.“ Abgesehen von diesen „teleologischen“ Grillen Bormanns war er eine höchst achtbare Persönlichkeit. Das eiserne Kreuz schmückte sein oberstes Knopfloch. Er war Preuße, ehemaliger Freiwilliger, kräftig und bieder in seinen Ansichten. (Telegraph für Deutschland. Hamburg. Nr. 185, [18.] November 1840, S. 740.)
249,21 Hefte drucken]
Zu diesen im Eigenverlag veröffentlichten, heute weitgehend verschollenen Privatdrucken Bormanns gehörten auch umfangreichere Werke wie etwa „Die Lehre von den Zwecken oder die Teleologie“ (Berlin 1826, 468 Seiten). Einige wenige Titel ließ er auch im Buchhandel erscheinen, darunter „Die christliche Lehre von der Wiedergeburt. Im Lichte des Geistes der Wahrheit erkannt und philosophisch betrachtet“ (Berlin: Schade, 1820. 69 Seiten) oder „Die metaphysische Lehre von dem Zusammenhange des Universums oder die Uranologie. Im Lichte des Geistes der Wahrheit erkannt, und vom theosophischen Standpunkte aus betrachtet“ (Berlin: Herbig, 1825. 125 Seiten). Sie werden in Bibliothekskatalogen irrtümlich seinem Sohn Karl Bormann zugeschrieben.
249,30-31 Schulrath Bormann]
Der Pädagoge und Schriftsteller Karl Bormann (1802-1882), von 1849 bis 1872 Provinzialschulrat in Berlin; er war Mitglied im Dichterverein „Tunnel über der Spree“, mit Theodor Fontane befreundet und im Berliner Zweigverein der Schillerstiftung tätig. Im Hauptverband der Schillerstiftung gehörte er zu Gutzkows Widersachern.
249,32 Engelhardt]
Der Kartograph und Topograph Friedrich Bernhard Engelhardt (1768-1854). Er arbeitete seit 1802 in Berlin, war Rat im „statistischen Bureau“ und wohnte in den 1820er Jahren am südlichen Ende der Friedrichstraße (Nr. 219).
250,2 jetzt „Leipziger-Garten“]
Seit den 1860er Jahren bekanntes und beliebtes Restaurant mit Bierausschank in der Leipziger Straße 132, am nordwestlichen Ende der Straße zwischen Wilhelmstraße und Leipziger Platz.
250,3 jetzt „Concert-Garten“]
In den 1870er Jahren Restauration mit großem Festsaal in der Friedrichstraße 218.
250,8-9 Xenophon’s Rückzug der 10,000 Griechen]
Über den entbehrungsreichen und schwierigen Rückzug griechischer Söldner nach der Schlacht von Kunaxa (401 v. u. Z.), dem sogenannten „Zug der Zehntausend“ durch Kleinasien bis zum Schwarzen Meer, berichtet der griechische Geschichtsschreiber Xenophon (um 430-355 v. u. Z.) in seinem Geschichtswerk „Anabasis“. Die „Anabasis“ gehörte im Griechischunterricht zur Schullektüre.
250,9 tractirt]
Behandelt (Heyse 1859, S. 926).
250,12 Sasnoba]
Möglicherweise hatte Gutzkow darüber erst vor kurzer Zeit in einer Studie des Berliner Philologen Carl Abel (1837-1906) gelesen: „Sasnoba, ein unter dem [russischen] Volk sehr gebräuchliches Wort, ist die beginnende Liebe mit ihren süßen Schauern und zarten Hoffnungen. Es heißt eigentlich ‚Schauer‘, wird aber ohne Betonung des Bildlichen für die junge Liebe gesagt.“ (Carl Abel: Ueber den Begriff der Liebe in einigen alten und neuen Sprachen. Berlin: Lüderitz, 1872. S. 31-32.)
250,18 Hochzeit der Schwester]
Etwa 1829. Vgl. → Erl. zu 248,22.
250,34 Passow’s Griechisches Lexikon]
Der Titel lautet vollständig „Handwörterbuch der griechischen Sprache“ (2 Bde., 1819/24). Es war das Hauptwerk des Altphilologen und Lexikographen Franz Passow (1786-1833), der seit 1815 Professor der Altertumskunde in Breslau war und dort zur aktiven Turnerbewegung gehörte. Franz war der ältere Bruder von Carl Passow (vgl. → Erl. zu 227,22).
251,4 „Einsegnung“]
Im Protestantismus die religiöse Feier der Konfirmation, bei der der Taufbund erneuert wird, die Konfirmanden erstmals am Abendmahl teilnehmen und die Aufnahme in die Erwachsenengemeinde erfolgt. Bei der Zeremonie nimmt der Geistliche durch Gebet und Handauflegen die Einsegnung vor. „Norm ist im Durchschnitt daß die Knaben erst mit Erfüllung des 14.-16. Lebensjahres, die Mädchen vom vollendeten 13. Jahre an zu confirmieren sind“ (Brockhaus 1851-55, Bd. 4 (1852), S. 357).
251,10 Mohrenstraße]
Sie durchquert in West-Ost-Richtung die ehemalige Friedrichstadt (heute Berliner Bezirk Mitte) „von der Wilhelm- über die Friedrichstraße bis zu Hausvogteiplatz/Jerusalemer Straße.“ (Berliner Straßen u. Plätze, Bd. 3, S. 175). Gutzkows Eltern wohnten seit 1825 in der Mohrenstraße 15, und so gehörte diese zu Gutzkows täglichem Schulweg (vgl. auch → Erl. zu 231,25-26).
251,11 Secundaners]
Nach heutiger Klassenordnung Schüler der zehnten (Untersekunda) bzw. elften (Obersekunda) Klasse.
251,17 „unter den Palmen nicht mehr sehen“]
Gutzkow lässt hier das geflügelte Wort aus Goethes „Wahlverwandtschaften“ anklingen: „Es wandelt Niemand ungestraft unter Palmen“ (Büchmann 1874, S. 39), um scherzhaft das geschwundene Liebesideal zu bezeichnen und um im folgenden Absatz (Ja, unter den Palmen!) mögliche Kontakte zum weiblichen Geschlecht anzudeuten, die sich im Gartenlokal anbahnen lassen.
251,18 „Schulgarten“]
Ein in den 1820er und 1830er Jahren berühmtes und vielbesuchtes (Garten-)Lokal vor dem Potsdamer Tor am Rande des Tiergartens, das seinen Namen durch den hier angelegten Garten der 1750 gegründeten Königlichen Realschule erhalten hatte. Ausführlich berichtet Friedrich Tietz 1854 über diese Lokalität, die einst „das Amüsements-Alpha und Omega der Berliner Mittelklasse“ gewesen sei („Vom verschollenen Schulgarten. “ In: Fr[iedrich] Tietz: Bunte Erinnerungen an frühere Persönlichkeiten, Begebenheiten und Theaterzustände aus Berlin und anderswoher. Berlin: Lassar, 1854. S. 47-57; Zitat S. 47).
251,19 Lenné-Bellevue-Königgrätzerstraße]
Heute Berliner Bezirk Mitte; die Königgrätzer Straße heißt nach mehreren Umbenennungen seit 1947 Ebertstraße.
251,27 Spandauerstraße]
Führte durch Berlins östliche Mitte von der Neuen Friedrichstraße im Norden zum Molkenmarkt im Süden. Heute Bezirk Mitte.
252,2 Kurfürstenbrücke]
Heutiger Name: Rathausbrücke (Berliner Bezirk Mitte). Überquert den rechten (östlichen) Spreearm und verbindet die Rathausstraße (früher Königsstraße) mit dem Schloßplatz. Ihren (alten) Namen hatte sie durch das Reiterstandbild der Großen Kurfürsten von Andreas Schlüter erhalten, das sich hier seit 1703 befand. Die nur sehr kurze Brücke wurde von den spöttischen Berlinern auch ›Lange Brücke‹ genannt.
252,3 toggenburgartiges Geleit]
Das heißt ein distanziertes Gefolge aus sicherer Entfernung, das die Angebetete nicht aus den Augen lässt. Nach dem melancholischen Helden in Schillers Ballade „Ritter Toggenburg“ (1797), dessen Liebe unerfüllt bleibt und dessen höchstes Glück am Ende lediglich darin besteht, die Geliebte aus der Ferne sehen zu können.
252,6-7 Auskultatoren]
Eigentlich ›Zuhörer‹ (nach dem lat. Verb ›auscultare‹ für ›zuhören‹); im weiteren Sinne „ein bei Gerichtsstellen angesetzter Anfänger, Sitzungshörer“ (Heyse 1859, S. 89), „zur Bezeichnung derjenigen Mitglieder eines Beamtencollegiums gebraucht, die den Verhandlungen […] beiwohnen, aber noch keine Stimme haben. In Preußen führen den Namen Diejenigen, welche, nach abgelegtem ersten Examen, die richterliche Laufbahn bei irgendeinem Richtercollegium antreten.“ (Brockhaus 1851-55, Bd. 2 (1851), S. 74.)
252,9 selbstredend auf sieben]
Mit Blick auf die trostreiche Bibelstelle (1. Mose, 29,20): „So diente Jakob um Rahel sieben Jahre, und es kam ihm vor, als wären’s einzelne Tage, so lieb hatte er sie.“
252,12 languish]
(Engl.) schmachtender Blick (Gensel, Anmerkungen, Bd. 12, S. 217).
252,13 Neuerung der Stadtpost]
Diese war zum 1. Dezember 1827 erfolgt. „Berlin wurde in 36 Zustellbezirke eingeteilt; 60 Kaufleute hatten ihre Geschäfte für die Einlieferung von Postsendungen zur Verfügung gestellt. Die eingetroffene Post […] wurde sechsmal täglich durch die 36 Briefträger zugestellt, die zugleich die eingelieferten Sendungen von den Sammelstellen abholten.“ (Ribbe, Bd. 1, S. 512.) Von dieser Postreform profitierte vor allem auch die innerstädtische Briefkommunikation. Vgl. ausführlich auch Zedlitz, S. 606f.
252,31 Märtyrerschaft]
Sand selbst inszenierte sich als Märtyrer-Vorbild, bereute die Tat nicht, verzichtete auf ein Gnadengesuch und sah seiner Hinrichtung, dem Märtyrertod, entschlossen und (zumindest äußerlich) gelassen entgegen. In einer zeitgenössischen Verteidigung Sands heißt es pathetisch: „Als Heros im Dienste des Vaterlandes hat er über sich genommen, was er von jedem Teutschen erwarten zu können glaubte, und dieser heilige Glaube, für des Vaterlandes Wohl zu wirken, mußte selbst die Furcht des Todes von ihm verbannen, und ihn zum Märtyrer weihen.“ (Zitiert nach C[arl] E[rnst] Jarcke: Carl Ludwig Sand und sein, an dem kaiserlich russischen Staatsrath v. Kotzebue verübter Mord. Eine psychologisch-criminalistische Erörterung aus der Geschichte unserer Zeit. (Neue, aus ungedr. Quellen verm. Bearb.) Berlin: Dümmler, 1831. S. 316.)
253,6 „correcten“ Gemüther]
Vgl. Gutzkows Charakterisierung eines correcten Denkers (222,14) zu Beginn des zweitens Abschnitts (221,19-223,7) sowie → Erl. zu 222,3.
253,15-16 „Vater vergieb […] was sie thun!“]
Zitat aus dem Lukasevangelium (Lk 23,34). Mit diesen Worten betet der gekreuzigte Jesus für seine Peiniger zu Gott.
253,19 Cooper-Irving]
Die beiden US-amerikanischen Erzähler James Fenimore Cooper (1789-1851) und Washington Irving (1783-1859) gehörten seit den 1820er Jahren zu den Modeautoren des deutschen und europäischen Lesepublikums; vor allem die „Lederstrumpf“-Geschichten Coopers begeisterten über viele Generationen die lesende Jugend. Große Verbreitung fanden beide Autoren in Deutschland durch Übersetzungen, die im Frankfurter Verlag von Johann David Sauerländer erschienen. Dieser brachte seit 1826 sowohl Coopers als auch Irvings „Sämmtliche Werke“ in handlichen Kleinoktavbändchen auf den Markt. (Vgl. Goedeke, Bd. 16 (1985), S. 1051f. u.1057.)
253,18 seit Walter Scott’s]
Vgl. Gutzkows Reminiszenz an seine jugendliche Scott-Lektüre 236,11-237,2.
254,19-20 „Gerichtslaube“ des Rathhauses]
Die Gerichtslaube war ein älterer, noch aus der Gotik stammender Teil des (in den 1860er Jahren abgetragenen) Berliner Rathauses an der Ecke Spandauerstraße / Königsstraße (heute Rathausstraße), dem Sitz des Berliner Magistrates, der auch eine Reihe von Stipendien für Studierende vergab (vgl. die Übersicht der „Stipendien für Studirende“ in Zedlitz, S. 746f.).
253,22-23 Abendzeitungsnovellisten […] van der Velde, Tromlitz, Wachsmann]
Die in Dresden 1817 von Theodor Hell und Friedrich Kind gegründete „Abend-Zeitung“ gehörte zu den weit verbreiteten belletristischen Blättern der Restaurationszeit, galt als dezidiert unpolitisch und bot vor allem seichte Unterhaltungsliteratur. Zu ihren (zahlreichen) Autoren gehörten Karl Franz van der Velde (1779-1824), A. von Tromlitz (eigentl. Karl August Friedrich von Witzleben, 1773-1839) sowie Karl von Wachsmann (1787-1862), über den der „Goedeke“ urteilt: „Ein Erzähler recht nach dem Herzen der Abendzeitung: faßlich, breit, voll alltäglicher Erfindung und fast unerschöpflicher Schreiblust; im Übrigen doch ein heilsames Gegengewicht gegen die Unsittlichkeiten des Berliner Clauren bietend.“ (Goedeke, Bd. 10 (1913), S. 263.) Vgl. auch → Erl. zu 237,23.
253,24 Tieck’s Novellen]
Vgl. → Erl. zu 226,20.
253,24-25 Octavian, Blaubart, Gestiefelten Kater]
Romantische Frühwerke Tiecks, zum Teil mit satirischen Tendenzen: „Ritter Blaubart. Ein Ammenmährchen“, „Der gestiefelte Kater. Ein Kindermährchen in drey Akten“ (beide 1797, noch unter dem Pseudonym Peter Leberecht), „Kaiser Octavianus. Ein Lustspiel in zwei Theilen“ (1804).
253,28-29 E. T. A. Hoffmann, der Matador des Tages]
Hoffmann lebte seit Herbst 1814 in Berlin, wo er 1816 Kammergerichtsrat wurde und im Juni 1822 starb. In diesen letzten acht Berliner Lebensjahren entstand sein schriftstellerisches Hauptwerk, und Hoffmann erreichte den Höhepunkt seiner literarischen Popularität, die nach seinem Tod in Deutschland stark abflaute.
253,30 Sala Tarone]
Einst berühmte Weinstube in Berlin an der (Südwest-)Ecke Unter den Linden / Charlottenstraße. Zum Lokal gehörte ein italienisches Delikatessen- und Weingeschäft. Die Firma ›Sala Tarone und Comp.‹ war seit 1812 im Besitz von Joseph Sala, der sie von seinem Vater übernommen hatte. E. T. A. Hoffmann erwähnt das Lokal in seinen Erzählungen „Die Fermate“ (1816) und „Die Brautwahl“ (1820). Jahrzehnte später setzt Theodor Fontane der Weinstube im dritten Kapitel seiner historischen Erzählung „Schach von Wuthenow“ (1883) ein literarisches Denkmal („Bei Sala Tarone“).
253,31 „Fräulein von Scudery“]
Hoffmanns Kriminalgeschichte „Das Fräulein von Scuderi. Erzählung aus dem Zeitalter Ludwig des Vierzehnten“ erschien Ende 1819 zuerst im „Taschenbuch für das Jahr 1820. Der Liebe und Freundschaft gewidmet“ und 1820 im dritten Band seiner „Serapionsbrüder“.
253,32 Jean Paul’s Charaktere]
Hier kommt Gutzkow wiederholt auf seine jugendliche Begeisterung für Jean Paul zurück, die er schon im 3. Abschnitt (vgl. 238,3-16) hervorgehoben hatte. Vgl. auch die → Erl. zu 238,6-7.
254,11 Aeonen]
Der Plural von (griech.) Äon („lange Zeitdauer, Zeitalter, Lebenszeit“) bedeutet „unermeßliche Zeiträume, Ewigkeiten“ (Heyse 1859, S. 59).
254,17-18 schon um Fühlung mit der Theologie]
Johann Gottfried Herder (1744-1803) war auch Theologe, Prediger und Religionsphilosoph; so enthalten die ersten (1805/20, 1827/30) bei Cotta erschienenen Gesamtausgaben Herders jeweils eine eigene mehrbändige Abteilung mit Schriften „Zur Religion und Theologie“.
254,18-19 Denn die Theologie sollte und mußte es werden]
Gutzkow ließ sich jedoch zunächst (18. April 1829) in die philosophische Fakultät einschreiben, „trat dagegen am 9. Juli desselben Jahres, also noch im ersten Semester zur theologischen Fakultät über“, vermutlich um ein Stipendium für Theologiestudenten zu erlangen, „aus der er später, am 25. August 1831, wieder in die philosophische Fakultät zurückgetreten ist“ (Proelß, S. 238). Während die Eltern hofften, ihr Sohn würde den Brotberuf eines Pfarrers wählen, schwebte dem jungen Gutzkow mehr das höhere Lehramt eines Philologen vor Augen.
254,22 Sonnabend-Nachmittag]
Vgl. auch die frühere Textstelle → 239,25 der Sonnabend gehörte [...].
254,22-23 Giovanoly]
Konditorei und Lesecafé in der Berliner Behrenstraße 30, an der Südostecke zur Charlottenstraße. Der Schweizer Konditor Andrea Giovanoli hatte 1818 sein Lokal eröffnet und war der erste in Berlin, der mit seinem Café auch ein ›Lesekabinett‹ einrichtete, in dem aktuelle Tageszeitungen und Zeitschriften ausgelegt waren. Sein Kaffeehaus war daher ein beliebter Treffpunkt beflissener Journalleser. Zur Kultur der Berliner Lesecafés vgl. auch den Lexikonartikel Stehely .
255,5 die hinterlassenen „Briefwechsel“]
Schon 1828/29 erschien in vier Teilen Schillers und Goethes „Briefwechsel in den Jahren 1794-1805“, 1830 der „Briefwechsel zwischen Schiller und Wilhelm von Humboldt 1792-1805“, 1833/34 der „Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1796 bis 1832“ (6 Bde.), gefolgt von einer nicht abreißenden Flut weiterer Briefpublikationen aus den Reihen der Weimarer Klassik und ihrem Umfeld.
255,8-9 Ludwig Uhland]
Vgl. → Erl. zu 226,26.
255,10 Park von „Bellevue“]
Im nordwestlichen Teil des Tiergartens, nahe der Spree, ließ sich Prinz Ferdinand von Preußen (1730-1813), jüngster Bruder von König Friedrich II., in den Jahren 1785/86 das Schloss Bellevue bauen, zu dem auch ein ansehnlicher Park gehörte. Diese gepflegte Grünanlage war von einem noch sumpfigen und verwilderten Tiergarten umschlossen. Über das Schloss sowie die sich anschließenden Gartenanlagen vgl. ausführlich Zedlitz, S. 58-60.
255,11 „Schaafgraben“]
Vgl. → Erl. zu 233,21.
256,5 all’ die Unfläthereien]
Als „Supplement-Band“ zu Heines „Sämmtlichen Werken“ gab Strodtmann 1869 „Letzte Gedichte und Gedanken von Heinrich Heine. Aus dem Nachlasse des Dichters“ heraus. Der Band enthält auch eine Reihe von „Gedanken und Einfällen“ und versammelt unter der Überschrift „Gutzkow“ auf den Seiten 169-170 einige maliziöse Noten Heines über Gutzkow. Wesentlich anstößiger dürften auf Gutzkow jedoch einige gehässige Äußerungen Heines über ihn in der Sammlung der Briefe gewirkt haben, die Strodtmann als Band 19-21 der „Gesammelten Werke“ (gefolgt 1873 von einem weiteren Band) veröffentlichte. Die teilweise verletzenden Veröffentlichungen – ein Persönlichkeitsschutzrecht im modernen Sinne gab es damals noch nicht – führten in Gutzkows letzter Schaffensphase dazu, längst abgetane Konflikte wiederholt zu durchleben, alte Wunden aufzureißen und damit sein eindimensional abwertendes Heine-Bild zu verhärten.
255,13 Heinrich Heine]
Über das zunächst ambivalente, seit 1839/40 zerrüttete Verhältnis zwischen Gutzkow und Heine siehe auch den Lexikon-Artikel über Heine von Madleen Podewski. In der Rückschau 1873 ignoriert Gutzkow alle positiven Beiträge und anerkennenden Worte, die er für Heine in den 1830er Jahren gefunden und veröffentlicht hatte. In seinen letzten Lebensjahren war seine zwischenzeitlich in den Hintergrund gerückte Enttäuschung und Verbitterung über Heine durch Veröffentlichungen aus dem Nachlass des Dichters neu entfacht worden (vgl. → Erl. zu 256,5).
255,13 „Reisebilder“]
Von Heines „Reisebildern“ erschienen der erste Teil 1826 und der zweite 1827 bei Hoffmann und Campe in Hamburg. 1830 folgte der dritte Teil, 1831 die „Nachträge zu den Reisebildern“. Einzelne Teile aus den „Reisebildern“ konnte man vorab im Berliner „Gesellschafter“ (vgl. → Erl. zu 255,14) lesen, so etwa im Januar und Februar 1826 die „Harzreise“.
255,14 Mittheilung im „Gesellschafter“]
Heine, der als Student der Jurisprudenz von März 1821 bis Mai 1823 in Berlin lebte, veröffentlichte seit Mai 1821 zahlreiche Lieder und Gedichte (aber auch Prosatexte) in der von Friedrich Wilhelm Gubitz herausgegebenen belletristischen Zeitschrift „Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz“ (→ Erl. zu 239,26-27). Diese Publikationen machten Heine weit über Berlin hinaus bekannt. Über Heine und dessen nicht immer konfliktfreie Mitarbeit am Blatt berichtet Gubitz ausführlich im zweiten Band seiner „Erlebnisse. Nach Erinnerungen und Aufzeichnungen“ (Berlin: Vereins-Buchhandlung, 1868. S. 260-297). Zu Heines Einzelveröffentlichungen im „Gesellschafter“ vgl. Goedeke, Bd. 8 (1905), S. 549-554.
255,15 „loddrig“]
Berliner Ausdruck für „nachlässig“ (Der richtige Berliner 1880, S. 48).
255,19-20 Commis voyageurs]
(Frz.) Handlungsreisende. Mit dem Begriff ›Commis‹ wurde ein Handlungsdiener oder -gehilfe bezeichnet (Heyse 1859, S. 187). Der Ausdruck war für Gutzkow gleichbedeutend mit einem leichtlebigen, oberflächlichen, vergnügungssüchtigen Zeitgenossen ohne höhere Bildung, dem Kunst und Literatur lediglich zur kurzweiligen Zerstreuung dienen. Das Bild eines Commis schwebt ihm auch vor Augen, wenn er in einem Brief an Heine vom 6. August 1838 vor dem Druck von dessen etwas frivol wirkenden neuen Gedichten mit den Worten warnt, dergleichen würde zum Jocus der Commis herausgegeben, Gedichte, die man sich vorliest in Tabacksqualm, bei ausgezogenen Röcken, in einem gemietheten Zimmer, unter leeren Flaschen, die auf dem Tische stehen (HSA, Bd. 25 (1974), S. 158), Komponenten einer öden Spaßkultur ohne höheren Wert.
255,22 „Knaben Wunderhorn“]
Die von Achim von Arnim und Clemens Brentano herausgegebene Sammlung volkstümlicher Lieder „Des Knaben Wunderhorn“ erschien 1806 mit einer Widmung an Goethe, gefolgt 1808 von einem zweiten und dritten Band. Sie gilt als eine der bedeutendsten Schöpfungen der Heidelberger Romantik, fand weite Verbreitung und inspirierte zahlreiche Lyriker des 19. Jahrhunderts wie etwa Uhland, Heine, Eichendorff, Mörike zu poetischen Nachbildungen. Heine macht in „Die romantische Schule“ (1836) darauf aufmerksam, dass sich das Volksliedgut aus „Des Knaben Wunderhorn“ nicht so einfach adaptieren lasse: „Es liegt in diesen Volksliedern ein sonderbarer Zauber. Die Kunstpoeten wollen diese Naturerzeugnisse nachahmen, in derselben Weise, wie man künstliche Mineralwässer verfertigt. Aber wenn sie auch, durch chemischen Prozeß, die Bestandteile ermittelt, so entgeht ihnen doch die Hauptsache, die unzersetzbare sympathetische Naturkraft. In diesen Liedern fühlt man den Herzschlag des deutschen Volks.“ (HSSchr, Bd. 3, S. 450). Vgl. auch → Erl. zu 255,26-27.
255,23 defecten Bibliothek]
Vom lückenhaften Bestand der Schulbibliothek spricht Gutzkow schon früher (211,27 ff.).
255,23-24 Bernhardi-Zeit]
Dem Rektorat Bernhardis zwischen 1808 und 1820, vgl. → Erl. zu 211,6.
255,26-27 „In Straßburg auf der Schanz“]
In „Des Knaben Wunderhorn“ trägt dieses Lied die Überschrift „Der Schweizer. Fliegendes Blatt“ und beginnt mit „Zu Straßburg auf der Schanz, / Da ging mein Trauren an“ (L. Achim v. Arnim, Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Heidelberg: Mohr u. Zimmer, 1806. S. 145-146). In seinem Buch „Die romantische Schule“ (1836) hebt Heine das Lied und das beeindruckende Sammelwerk von Arnim und Brentano begeistert hervor: „Dieses Buch kann ich nicht genug rühmen; es enthält die holdseligsten Blüten des deutschen Geistes, und wer das deutsche Volk von einer liebenswürdigen Seite kennen lernen will, der lese diese Volkslieder. […] Auf dem Titelblatte jenes Buches ist ein Knabe, der das Horn bläst; und wenn ein Deutscher in der Fremde dieses Bild lange betrachtet, glaubt er die wohlbekanntesten Töne zu vernehmen, und es könnte ihn wohl dabei das Heimweh beschleichen, wie den Schweizer Landsknecht, der auf der Straßburger Bastei Schildwache stand, fern den Kuhreigen hörte, die Pike von sich warf, über den Rhein schwamm, aber bald wieder eingefangen und als Deserteur erschossen wurde. Das Knaben Wunderhorn enthält darüber das rührende Lied: Zu Straßburg auf der Schanz“ (HSSchr, Bd. 3, S. 448-449).
255,28 Tannhäuser]
Die Sage vom Ritter Tannhäuser im Venusberg findet sich unter dem Titel „Der Tannhäuser“ in „Des Knaben Wunderhorn“ (Heidelberg: Mohr u. Zimmer, 1806. S. S. 86-90). Heine ließ sich 1836 davon zu einer volksliedhaften „Legende“ anregen, die erst 1844 in den „Neuen Gedichten“ erschien (HSSchr, Bd. 4, S. 348-355). Der Stoff der Tannhäusersage wurde im 19. Jahrhundert sehr oft literarisch verarbeitet.
255,28-29 Heine’s Judenthum]
Gutzkow hat wiederholt erklärt, als Gymnasiast antijüdische Vorurteile und Ressentiments gepflegt zu haben. Er führt diese Affekte 1875 in den Rückblicken auf mein Leben auf seine jugendliche Begeisterung für das völkisch-nationalistische Weltbild der Burschenschaften und auf unerquickliche Auseinandersetzungen mit einem jüdischen Mitschüler zurück: „Christlichgermanischen“ Judenhaß brachte schon die Burschenschaft mit sich. Auf der Schule hatte ich Juden als Verräther und Angeber kennen gelernt. Ein buckliges Ungethüm aus Polen, rachsüchtig wie Shylock, wurde von Allen gefürchtet. Erst dem Studenten traten liebenswerthere gemüthvolle Juden entgegen (GWB VII, Bd. 2, S. 58). 1838 bemerkt er angesichts der jüdischen Herkunft seines Idols Ludwig Börne und des damals von ihm noch hochgeschätzten Heine: Ich gestehe, daß ich in früherer akademischer Zeit Heinen auch deßhalb nicht mochte, weil er Jude war und daß mir vor acht Jahren ein Dolch in’s Herz fuhr, wie ich hörte, daß auch mein angebeteter Börne […] ein Jude sein sollte. Aber ich glaube, daß man allen antijūdischen Fanatismus naturgemäß verlieren muß, wenn man so ehrlich ist, seine Liebe zu so ausgezeichneten Geistern, wie diese, nicht zu betäuben, sondern sie zu hegen quand même! (Karl Gutzkow: Götter, Helden, Don-Quixote. Abstimmungen zur Beurtheilung der literarischen Epoche. Hamburg: Hoffmann u. Campe, 1838. S. 258.) Ein Jahr später sieht er in seinem Essay Vergangenheit und Gegenwart Heine und Börne durch ihre jüdische Herkunft als besonders prädestiniert, beengenden Gefühls-Nationalismus zu überwinden, nötige Reformen der festgefahrenen öffentlichen und politischen Verhältnisse klarer zu erkennen und anzumahnen: Börne und Heine zersprengten die übel gewählten Stellungen der öffentlichen deutschen Bildung. Unberührt geblieben von den Hochgefühlen, welche die Brust der Deutschen schwellten, als sie die Herrschaft der Franzosen abgewälzt hatten, nüchtern, wo wir schwärmten, kalt, wo wir glühten, hatten sie alle Vortheile prüfender Vernunft vor der Schwärmerei voraus. Nur aus dem Judenthume konnte vielleicht eine so wahre und dankenswerthe Reaktion gegen unsere Ideologie, die sich selbst die Fesseln einer neuen Sklaverei schmiedete, kommen. Die Juden waren frei gewesen unter Napoleon und Heine und Börne konnten mit bitterm Hohne fragen, was wir gewonnen, seitdem wir ihn besiegten? (Karl Gutzkow: Vergangenheit und Gegenwart. In: eGWB IV, Bd. 6.2, pdf 1.0, S. 9.) – Über Gutzkows Verhältnis zum Judentum vgl. die ausführlichen Studien von Heinrich Hubert Houben „Karl Gutzkow und das Judentum“ (in: Houben, Gutzkow-Funde, S. 144-280) sowie Hartmut Steinecke „Gutzkow, die Juden und das Judentum“ in: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Teil 2. Hg. von Hans Otto Horch u. Horst Denkler. Tübingen: Niemeyer 1989. S. 118-129.
255,29 Bild von alten erborgten Kleidern]
Damit assoziierte der junge Gutzkow vermutlich den Kauf und Verkauf gebrauchter Kleider, der in Berlin eine Domäne jüdischer Kleinhändler war, nachdem den Juden zu Beginn des 18. Jahrhunderts unter König Friedrich Wilhelm I. dieser Handel erlaubt worden war.
255,31 Tafft]
Der Taft (früher auch Taffet, vom pers. tâftah für ›gesponnen‹), ein glänzender Seidenstoff bzw. ein „leichtes, glattes Seidenzeug“ (Heyse 1859, S. 899, Stichwort ›Taffet‹).
255,30-31 in einer meiner ersten Kritiken]
In Nr. 9 seines „Forums der Journal-Literatur“ vom 22. August 1831 (Rasch 7.31.08.22.3) glossiert Gutzkow die Kritik Wolfgang Menzels von Heines „Nachträgen zu den Reisebildern“ in Nr. 79 und 80 des „Literatur-Blatts“ vom 3. und 5. August 1831. In diesem launigen Kommentar spricht Gutzkow von Heines Dichtungen als von in Jasminöl getauchten Taftblumen (S. 32). 1839 greift er das Bild wiederholt auf, wenn er sich (keineswegs so geringschätzig wie 1873) an die Wirkung der Lyrik Heines auf die Jugend um 1830 erinnert: An seinen Versen gefiel der wunderliche Einfall, in ihnen die Prosa durch geschickte und naive Behandlung zur Poesie zu erheben, gefiel die oft sehr gelungene Nachahmung der im altdeutschen Volksgesange herrschenden Einfachheit und Kürze; aber dem, was in ihnen Wahrheit und Gefühl sein sollte, schenkte man keinen Glauben. Seine Zauber schienen keine göttliche, sondern magische zu sein, seine Sterne waren nicht immer silbern, sondern oft versilbert, seine Blumen waren oft aus Taft gemacht und nur mit künstlichem Wohlgeruch angefeuchtet. (Karl Gutzkow: Vergangenheit und Gegenwart. In: eGWB IV, Bd. 6.2, pdf 1.0, S. 10.)
255,34 Schumann und Mendelssohn]
Robert Schumann (1810-1856) gehörte als Vertreter der musikalischen Romantik neben Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) zu den beliebtesten Liedkomponisten der Zeit. Beide vertonten in den 1830er und 1840er Jahren zahlreiche Gedichte Heines und trugen mit ihren gefühlvollen Kompositionen zur wachsenden Popularität des Dichters im 19. Jahrhundert bei. Zu Schumanns bekanntesten Vertonungen gehört etwa der 16 Lieder umfassende und 1844 erschienene Heine-Zyklus „Dichterliebe“ (Opus 48) aus Heines „Buch der Lieder“.
256,4 Herausgeber seines Nachlasses]
Herausgeber der ersten rechtmäßigen Ausgabe der Werke Heines war der Schriftsteller, Dichter und Publizist Adolph Strodtmann (1829-1879), der dabei vom Verleger Julius Campe und anderen Beiträgern unterstützt wurde. Die „Sämmtlichen Werke“ erschienen zwischen 1861 und 1866 in 21 Bänden bei Hoffmann und Campe in Hamburg. Strodtmann verfasste auch die erste umfassende, materialreiche Heine-Biographie („H. Heine’s Leben und Werke“, 2 Bde., Berlin 1867-1869; 2. Aufl. Berlin 1873-1874), in der Gutzkow überaus schlecht wegkommt.
256,8 „Morgenblatt“]
Vgl. → Erl. zu 226,34.
256,9 Gustav Schwab]
Gustav Schwab (1792-1850) war Theologe, Gymnasiallehrer, Schriftsteller und Übersetzer und gehörte als Lyriker zur ›Schwäbischen Dichterschule‹. Seit 1828 besorgte er die Redaktion der poetischen Beiträge zum „Morgenblatt“ und förderte mit Nachdruck die Aufnahme von Gedichten. Gutzkow schreibt etwas ausführlicher über Schwab und seine Mitwirkung am „Morgenblatt“ in Wie ich von der Lyrik abkam (GWB VII, Bd. 3, S. 216,34-217,12) sowie in den Rückblicken auf mein Leben (GWB VII, Bd. 2, S. 64,24-65,6).
256,10 Wolfgang Menzel]
Der Stuttgarter Literaturkritiker und Schriftsteller Wolfgang Menzel (1798-1873) übernahm 1825 die Redaktion des „Literatur-Blatts“, die als Beilage zu Cottas „Morgenblatt für gebildete Stände“ erschien. Vgl. über Menzel den Artikel im Lexikon.
256,15-16 Polemik Menzel’s gegen Goethe]
Menzel gehörte zu den entschiedensten Goethe-Gegnern und ließ seiner Abneigung gegen den Weimarer Dichterfürsten schon in seinem Buch „Die deutsche Literatur“ (1828) freien Lauf. Seine Kritik folgt dabei (ähnlich wie dreißig Jahre später Julian Schmidts Angriffe auf Gutzkow) mehr persönlich-weltanschaulichen als ästhetischen Gesichtspunkten. Menzel wirft Goethe vor, charakterlos, unmoralisch, irreligiös, unpatriotisch zu sein und sich ohne jeden inneren Halt geschickt und erfolgreich den Moden der Zeit angepasst und damit große Wirkung erreicht zu haben. Diese Attacken Menzels hat Goethe beständig ignoriert.
256,19 Goethecultus]
Vgl. → Erl. zu 225,15.
257,3-4 Tugendbundes]
Der Tugendbund, 1808 in Königsberg als „sittlich-wissenschaftlicher Verein“ gegründet, verfolgte das Ziel, „für volkstümliche Jugenderziehung zu sorgen, die Reorganisation des Heeres zu betreiben, Patriotismus und Anhänglichkeit an die Dynastie allenthalben zu pflegen“ (Meyer, Bd. 19 (1909), S. 793), aber auch den preußischen Staat zu reformieren und insgeheim alle patriotischen Kräfte zum Aufstand gegen Napoleon zu mobilisieren. Die vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. zunächst genehmigte Vereinigung, die etwa 400 Mitglieder gehabt haben soll, wurde von diesem am 31. Dezember 1809 auf Drängen Napoleons wieder aufgelöst (vgl. Meyer, Bd. 19 (1909), S. 793-794).
257,4-5 während des Drucks]
Während der französischen Besatzung und Vorherrschaft in Preußen zwischen 1806 und 1812.
257,5 Aufrufe Jahn’s, Arndt’s, Görres’]
Namhafte nationalistische Wortführer, die vor und in den Befreiungskriegen 1812/15 zum Widerstand gegen die französische Fremdherrschaft aufriefen: Der völkische Politiker, Publizist und Initiator der Turnbewegung Friedrich Ludwig Jahn (vgl. → Erl. zu 232,26), der ›Sänger der Befreiungskriege‹, Schriftsteller und Politiker Ernst Moritz Arndt (1769-1860) sowie der zunächst liberale Publizist Joseph Görres (1776-1848), dessen 1814 gegründete Zeitung „Rheinischer Merkur“ der antifranzösischen bzw. antinapoleonischen Opposition in Deutschland ein bedeutendes Forum bot.
257,17 „Die deutsche Literatur“]
Kam 1828 in zwei Teilen (Bänden) heraus, wurde viel besprochen (u. a. auch von Heine) und erregte erhebliches Aufsehen. Für den jungen Gutzkow wurde Menzels Buch zu einer regelrechten Erweckungslektüre.
257,17-18 Gebrüdern Franckh]
Friedrich Gottlob Franckh (1802-1845) gründete 1822 in Stuttgart mit seinem Bruder Johann Friedrich Franckh (1795-1865) die Verlagsbuchhandlung ›Gebrüder Franckh‹, die in den 1820er Jahren nicht nur im Vertrieb belletristischer Literatur (u.a. Walter Scott) erfolgreich war, sondern auch durch neue, geschickt eingefädelte buchhändlerische Verkaufsmethoden reüssierte: „Als Initiant der in der Buchhandelsgeschichte mit ‚Stuttgarter spekulative Richtung‘ bezeichneten Geschäftspraxis entwickelte F[ranckh] seinen Verlag zu einem selbst von Cotta gefürchteten Erfolgsinstitut: Der durch Preissenkung ermöglichte Massenabsatz guter Literatur […], die sich damit sowohl als volksbildend wie rentabel erwies, machte Schule.“ (Inge Rippmann, Börne-Index, Bd. 1, S. 187.)
257,29 Palladium]
„Schutzbild; Schutz, Bürgschaft, Freiheitswehr“; ursprünglich ein „fabelhaftes Pallasbild [griech. Palladion, Bild der Göttin Pallas Athene], von welchem das Schicksal der Stadt Troja abhing, die man nämlich für unüberwindlich hielt, so lange sie dieses sorgfältig bewahrte Heiligthum besaß“ (Heyse 1859, S. 648).
258,3 neuen Leipziger Commersbuches]
Gutzkow erinnert sich in den Rückblicken auf mein Leben: Unser Liederbuch war das bekannte Serig’sche von Leipzig. (GWB VII, Bd. 2, 43,28-29.) Der Titel der Sammlung lautet „Auswahl deutscher Lieder“ und war zuerst 1825 bei Serig in Leipzig erschienen; eine zweite Auflage kam 1827, eine dritte, vermehrte und verbesserte Auflage 1830 heraus. Das Liederbuch enthält im ersten Teil zahlreiche „Vaterlands- und Bundeslieder, Kriegs- und Heldenlieder“, im zweiten u. a. „Trinklieder für allgemeine Gelage nebst Rundgesängen“, Wander-, Volks- und Turnlieder, war mit Noten versehen und wurde vielfach von Studenten als Kommersbuch benutzt.
258,3-5 Vossens Luise […] Schulze’s „Bezauberte Rose“]
Bekannte Versdichtungen namhafter Autoren aus der Zeit um 1800, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Teil hohe Auflagen erreichten und lange zum eisernen Bestand gefälliger Modebücher des gebildeten Lesepublikums gehörten: „Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen“ (erste Buchausgabe 1795) von Johann Heinrich Voß (1751-1826), „Jucunde. Eine ländliche Dichtung in fünf Eklogen“ (1803) von Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten (1758-1818), „Urania über Gott, Unsterblichkeit und Freiheit. Ein lyrisch-didaktisches Gedicht in sechs Gesängen“ (zuerst 1801), von Christoph August Tiedge (1752-1841); zu Schulzes Werk vgl. → die Erl. zu 226,19.
258,10 „Blätter für Poesie und Prosa“]
Die handschriftlich vervielfältigte Schülerzeitschrift nannte sich „Versuche in Prosa und Poesie“, wurde von Gutzkow und seinem Schulfreund Adolf Licht (1811-1885) herausgegeben und erschien seit Frühjahr 1828. Gutzkow nennt hier seinen Mitstreiter Licht vermutlich aus persönlichen Rücksichten nicht, denn dieser lebte 1873 noch als Justizrat in Potsdam. Mit Licht war er zeitlebens in loser Verbindung geblieben. Licht hat nach Gutzkows Tod ausführlich über das kurzlebige Zeitschriftenprojekt berichtet (vgl. Rasch, Gutzkow-Doku., S. 18-20). Ein Fragment der Schülerzeitschrift hat sich in Gutzkows Nachlass erhalten (Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt/M., Sammlung Gutzkow, Signatur: A.1.a.1).
258,12 der Sohn]
Vermutlich Ludwig von Kamptz (1810-1884), der später als preußischer Beamter hohe Ämter bekleidete (Polizeidirektor, Landrat in Magdeburg, Regierungspräsident in Königsberg, Potsdam, zuletzt in Erfurt) und (ähnlich wie sein Vater) reaktionäre Ansichten vertrat, liberale und demokratische Bestrebungen fanatisch bekämpfte.
258,13 Kamptz]
Vgl. → Erl. zu 232,16.
259,6 mit förmlichem Liebesschauer einen Kuß drückte]
Anwandlungen homoerotischer Neigungen bei Mädchen und Jungen werden von Gutzkow schon 1837 in Die Zeitgenossen thematisiert, wo er sich an die innige Schwärmerei für einen Freund erinnert sowie an das Wonnegefühl, diesem einen Kuss auf den Arm gegeben zu haben: Junge Mädchen verlieben sich in ältre, eine Erscheinung, die sich freilich auch bei den Knaben findet: wie ich mir denn bewußt bin, einst als Knabe zu einem meiner Kameraden, der mir jetzt ganz fatal ist, die heißeste Leidenschaft getragen zu haben. Wenn ich mit ihm zusammen arbeitete, so war mir dieß ein Festtag und die Krone desselben, wenn ich seinen fleischigen Arm überraschen und einen Kuß, der aber mehr Biß als Kuß war, darauf drücken konnte. (GWB III, Bd. 3, S. 47.)
259,9 Jahn, Sand, Herbst, Haupt]
Prominente Repräsentanten der seit den Karlsbader Beschlüssen 1819 politisch verfolgten nationalistischen Turn- und Burschenschaftsbewegung: Der völkische Politiker, Publizist und Initiator der Turnbewegung Friedrich Ludwig Jahn (vgl. → Erl. zu 232,26), der militante Burschenschaftler Karl Ludwig Sand (vgl. → Erl. zu 210,16), sowie die Propagandisten der Burschenschaften Ferdinand Herbst (vgl. → Erl. zu 244,31) und Joachim Leopold Haupt (vgl. → Erl. zu 244,30-31).
259,11 Bibliothekar des Gymnasiums geworden]
Gutzkow hatte vermutlich als Primaner, also 1828/29, dieses Ehrenamt übernommen (vgl. sowie im ersten Abschnitt Lehrer-Originale die Erinnerungen an die Bibliothek und ihre früheren Verwalter (GWB VII, Bd. 1, 211,20-212,10).
259,14 Zeit Nicolai’s]
Die Periode der Berliner Aufklärung gegen Ende des 18. Jahrhunderts, maßgeblich repräsentiert und geprägt vom Berliner Buchhändler, Verleger und Schriftsteller Friedrich Nicolai (1733-1811).
259,14-15 Berliner Monatsschrift Gedicke’s und Biester’s]
Die von Friedrich Gedicke und Johann Erich Biester herausgegebene „Berlinische Monatsschrift“ erschien von 1783 bis 1796 in Berlin (1791 legte Gedicke die Redaktion nieder) und war ein zentrales Organ der Aufklärung, in dem u. a. Immanuel Kant 1784 seinen programmatischen Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ veröffentlichte. Johann Erich Biester (1749-1816) lebte als Bibliothekar, Schriftsteller, Übersetzer, Publizist und Freimaurer in Berlin; über Gedicke vgl. → Erl. zu 210,21.
259,17 Antiquare der Königsstraße]
Vgl. → Erl. zu 211,33.
259,18 „Studien“ von Creuzer und Daub]
Sie erschienen in sechs Jahrgängen von 1805 bis 1810 in Frankfurt/M. und Heidelberg. Neben den Herausgebern gehörten als Mitarbeiter zu dem bedeutenden wissenschaftlichen Organ der Heidelberger Romantik u. a. die Theologen und Philologen Philipp Conrad Marheinecke, Wilhelm Grimm, August Böckh, Joseph Görres, Martin Leberecht de Wette, Friedrich Gottlieb Welcker. Eine genaue Inhaltsangabe der sechs Bände liefert Goedeke, Bd. 6 (1898), S. 210-211 (im Artikel über Friedrich Creuzer). Der Philologe, Orientalist, Archäologe und Mythenforscher Friedrich Creuzer (1771-1858), ein Vertreter der jüngeren Romantik, war seit 1804 Professor der Philologie und alten Geschichte in Heidelberg, wo auch sein Kollege, der protestantische Theologe Karl Daub (1765-1836), seit 1795 als Professor für Theologie und badischer Kirchenrat wirkte.
259,20-21 Voß und Creuzer in Streit]
Der Übersetzer, Dichter, Philologe und Pädagoge Johann Heinrich Voß (1751-1826) lebte seit 1805 in Heidelberg und gehörte dort als Vertreter der Aufklärung zu den entschiedenen Gegnern der Romantik. Gegen das Hauptwerk Creuzers, „Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen“ (4 Bde., Leipzig u. Darmstadt, 1810-1812; 2. Aufl. 1819-1821), polemisierte er scharf in seiner „Antisymbolik“ (2 Bde., Stuttgart, 1824-1826) und fachte damit die öffentliche Kontroverse um Creuzers umstrittenes Werk gewaltig an.
259,24 aufregenden Streit gemischt]
Menzel hatte mit seiner Schrift „Voß und die Symbolik. Eine Betrachtung“ (Stuttgart: Friedrich Franckh, 1825) in die Auseinandersetzung eingegriffen.
259,27 marktet und dingt nicht]
Veraltete Verben für ›Handel treiben, schachern, feilschen‹. (Vgl. ›dingen‹, „verhandeln, feilschen, miethen“, Grimm, Bd. 2, Sp. 1169.)
259,31 „Alles Wissen bläht auf“]
Nach 1. Korinther 8,1: „Wissen bläht auf, die Liebe hingegen erbauet.“ In einem Notizbuch aus den letzten Lebensjahren greift Gutzkow diese Bibelstelle wiederholt auf, gibt ihr eine andere Richtung und notiert: „Viel wissen bläht auf; wenig wissen freilich noch mehr.“ (Zitiert nach Joseph Dresch: Gutzkow et la jeune Allemagne. Paris: Société nouvelle de librairie et édition (Librairie Georges Bellais), 1904. S. 462.)
260,6 Parthenon]
Marmortempel der Athene Parthenos auf der Akropolis von Athen, unter Perikles zwischen 447 und 432 v. u. Z. errichtet.
260,9 Vetter Apokalyptiker]
Der Musselinweber und religiöse Schwärmer Wilhelm Berg (Lebensdaten unbekannt), ältester Bruder von Gutzkows Mutter Sophie. Über diesen Vetter Wilhelm schreibt Gutzkow ausführlich zu Beginn des 3. Abschnitts von Aus der Knabenzeit 1852 (GWB VII, Bd. 1, S. 49-52).
260,22 Becker’sche Weltgeschichte]
„Die Weltgeschichte für Kinder und Kinderlehrer“ von Karl Friedrich Becker (1777-1806), ein weit verbreitetes, populäres Geschichtswerk, erschien zuerst von 1801 bis 1805 in neun Bänden, fortgesetzt 1809 von Johann Gottfried Woltmann mit einem zehnten Band. Das Werk kam bei Duncker und Humblot in Berlin heraus und war in Russland verboten. Als Minter im Frühjahr 1822 nach Warschau übersiedelte, ließ er die prächtige Beckersche Weltgeschichte als Geschenk für Gutzkow zurück (Aus der Knabenzeit (1852), GWB VII, Bd. 1, 202,21-24). Beckers „Weltgeschichte“ wurde später wiederholt fortgesetzt und überarbeitet, erreichte hohe Auflagen und gehörte im 19. Jahrhundert zu den bekanntesten Lesestoffen und Unterrichtswerken für bildungsbürgerliche Jugendliche.
260,15 Interjectionen]
Zwischenrufe; als Interjection wird in der Sprachlehre auch ein „Empfindungswort, Empfindungslaut, z. B. ach! o! ei!“ bezeichnet (Heyse 1859, S. 464).
260,24-25 „Briefe aus Warschau“]
Bezieht sich auf die Familie Minter (siehe im Lexikon den Artikel über Minter und seine Familie), die im Frühjahr 1822 von Berlin nach Warschau gezogen war. Mit seinem Jugendfreund Karl Julius Minter korrespondierte Gutzkow seitdem.
260,32-33 Programm der feierlichen Entlassung]
Diese fand mit den jährlich veranstalteten öffentlichen Prüfungen von Schülern aller Klassen am 15. April 1829 statt. Der Festablauf liegt in einer Schulschrift von 1829 detailliert gedruckt vor: Programm womit zu der öffentlichen Prüfung der Zöglinge des Friedrichswerderschen Gymnasiums, welche Mittwochs, den 15. April 1829 […] Statt finden soll […] ergebenst einladet August Ferdinand Ribbeck. [Schulprogramm 1829.] Berlin: Nauk, 1829. S. 59-60.
260,33 eine lateinische Rede]
Das Thema des lateinischen Vortrags, den der Abiturient Gutzkow am 15. April bei der Schulfeier hielt, lautete: Qui fiat, ut, quum multi in veterum scriptorum lectione versentur, perpauci tamen illorum dignitatem et praestantiam aut oratione aut moribus repraesentent? („Wie mag es geschehen, dass, obwohl sich viele mit der Lektüre der alten Schriftsteller beschäftigen, trotzdem nur sehr wenige die Würde und Vortrefflichkeit jener in Sprache oder Lebensführung vergegenwärtigen?“) Vgl. auch die Erinnerung daran von Gutzkows Klassenkameraden Schlemüller (Rasch, Gutzkow-Doku. S. 21).
260,33-34 Actusphrase]
›Actus‹ (lat.) hier in der Bedeutung „öffentliche Schulfeierlichkeit“ (Heyse 1859, S. 14).
261,5 Muretus]
Der frz. Humanist, neulateinische Stilist und berühmte Rhetoriker Marc-Antoine Muret (lat. Muretus, 1526-1585); er hielt seit 1563 in Rom Vorträge über griechische und lateinische Klassiker und wurde 1576 zum Priester geweiht.
261,5 Verherrlicher der Batholomäusnacht]
Muret hatte 1572 in Rom eine Rede gehalten, in der er die Massaker und brutalen Gewalttaten an den Hugenotten während der Bartholomäusnacht (vom 23. auf den 24. August 1572) lobte und verteidigte. „Am Ende des Jahres 1572 am 27. December hielt in Rom vor dem Papst Gregor XIII. der Franzose Anton Muret, ein Lehrer der Rechte, eine Rede zur Feier der pariser Schlächterei, in welcher er ob deren Veranstaltung den jungen König auf’s höchste als einen neuen Herkules und David pries. ‚Heller,‘ ruft Muret aus, ‚leuchteten die Sterne bei dieser herrlichen That.‘ Ein Tag der Freude sei es gewesen, an dem der Papst diese Kunde empfangen.“ (Heinrich Wuttke: Zur Vorgeschichte der Bartholomäusnacht. Leipzig: Weigel, 1879. S. 210-211.)
261,7 Suada]
„Redefluß, ein angenehm fließender Vortrag“ (Heyse 1859, S. 880).
261,8 esse videatur]
Wörtlich (lat.): es scheine zu sein. In der antiken Rhetorik wurde dieser Ausdruck unabhängig von seiner spezifischen inhaltlichen Bedeutung benutzt, um einen Satz oder Gedanken rhythmisch zum eleganten Abschluss (lat. clausula) zu bringen und so dem Ende eines Satzes oder eines Abschnitts Endgültigkeit zu verleihen. Es gab in der römischen Rhetorik eine große Auswahl an beliebten Clausulae. Die von Cicero sehr oft verwendete Clausula „esse videātur“ gehörte zu den berühmtesten.
261,9 Freimaurer- und Liedertafel-Meisters]
Theodor Kanzler, vgl. → Erl. zu 213,14-15.
261,10 Sätze aus Cherubini’s Requiem]
Möglicherweise Erinnerungsfehler von Gutzkow. Denn nach dem gedruckten Programm wurden keine Passagen aus dem Requiem von Luigi Cherubini (1760-1842) gesungen, sondern vormittags ein „Choral und Chor (von B. Klein) für Männerstimmen“, nachmittags „Hymnus für Männerstimmen von B. Klein“ und zum Abschluss ein „Choral aus Graun’s Tod Jesu“. (Programm womit zu der öffentlichen Prüfung der Zöglinge des Friedrichswerderschen Gymnasiums, welche Mittwochs, den 15. April 1829 […] Statt finden soll […] ergebenst einladet August Ferdinand Ribbeck. [Schulprogramm 1829.] Berlin: Nauk, 1829. S. 59-60.)
261,13 Rectors]
August Ferdinand Ribbeck, → Erl. zu 223,10.
261,17 Paränesen]
Ermahnungen (Heyse 1859, S. 656), hier auch im Sinne von gut gemeinten Ratschlägen für das weitere Leben.
261,20 Johannes Schulze, Süvern, Nicolovius]
Preußische Beamte, die sich um die Reform des Bildungswesens verdient gemacht hatten: Johannes Schulze (1786-1869), 1818 von Altenstein ins Kultusministerium berufen, war Leiter des gesamten höheren Unterrichtswesens; Johann Wilhelm Süvern (1775-1829) war seit 1817 Mitdirektor des Ministeriums für Kultus und öffentlichen Unterricht; Georg Heinrich Ludwig Nicolovius (1767-1839), Leiter der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht, erwarb sich – von Pestalozzi beeinflusst – große Verdienste um die Reform des Volksschulwesens und erneuerte das höhere Schulwesens im neuhumanistischen Geist.
261,21 „Frei ist der Bursch! Halle soll leben!“]
Versatzstücke aus der ersten Strophe eines bekannten Studentenlieds von August Binzer (1793-1868) aus dem Jahr 1818, das sich auch in dem von Gutzkow als Student benutzten Kommersbuch findet: „Stoßt an! Halle soll leben, hurrah hoch! / Die Philister sind uns gewogen meist, / sie ahnen im Burschen, was Freiheit heißt; / frei ist der Bursch, frei ist der Bursch!“ (Auswahl deutscher Lieder. 3., verm. u. verb. Aufl. Leipzig: Serig, 1830. S. 180-181.)
261,4 dem gefeierten Cicero]
Der römische Politiker, Schriftsteller und Philosoph Marcus Tullius Cicero (106-43 v. u. Z.); er gehörte zu den bedeutendsten Redenschreibern und Rhetorikern des römischen Altertums. Seine Schriften und Reden waren von großem Einfluss auf die Entwicklung des abendländischen Denkens in Europa und später fester Bestandteil des gymnasialen Lateinunterrichts.
261,11 Singakademie]
Die 1791 von Carl Friedrich Fasch (1736-1800) gegründete Berliner Singakademie, eine Vereinigung von Musikliebhabern, die besonders den geistlichen Chorgesang pflegte. Faschs Nachfolger als Chorleiter und später Direktor der in der Musikwelt hoch angesehenen Einrichtung war Carl Friedrich Zelter (1758-1832).
261,22 Fuchs]
Student im ersten Jahr seines Studiums bzw. Neuling einer studentischen Verbindung. Die Herkunft des Begriffs aus der Studentensprache ist nicht ganz eindeutig. „Nach einigen kommt das Wort nicht von dem Tiernamen her, sondern lautet in der ältern Form Feix oder Feux, was soviel wie Faxenmacher oder Fatzke, Dümmling, Possenreißer bedeutet.“ (Meyer, Bd. 7 (1908), S. 189.)
261,24-25 Abhängigkeit von einer immer mehr gesteigerten Reizbarkeit des Hauses]
Von dieser Abhängigkeit befreite sich der junge Student gleich nach dem Abitur. Er bezog mit Beginn des Sommersemesters 1829 ein eigenes kleines Zimmer in der Kronenstraße 65 (Parallelstraße zur Mohrenstraße, Lebensmittelpunkt der Eltern, vgl. → Erl. zu 231,25-26), wo er bis zum Ende seiner Berliner Studienjahre wohnen blieb.
261,33-34 Abhandlung über die Schicksalsgottheiten der Alten]
Die philosophische Fakultät der Universität Berlin hatte für das Studienjahr 1829/30 eine Preisaufgabe gestellt mit dem Thema „De diis fatalibus“ („Über die Schicksalsgottheiten“). Gutzkow beteiligte sich daran, arbeitete zwischen Herbst 1829 und Frühjahr 1830 seine Untersuchung aus und reichte sie schließlich der Fakultät ein. In einer akademischen Feier der Universität am 3. August 1830 wurde sie vom damaligen Rektor der Universität Hegel unter den „eingelaufenen fünf Arbeiten […] für die beste und des Preises würdig“ befunden und Gutzkow „empfing aus Hegels Hand die goldene Medaille im Werth von 72 Thalern“ (Proelß, S. 242-243; Zitat S. 243). Gutzkows Preisarbeit blieb ungedruckt (vgl. dazu auch seine Universitätserinnerungen Das Kastanienwäldchen in Berlin GWB VII, Bd. 3, 92,22-93,6). Eine Abschrift (das Original ist verschollen) findet sich in Gutzkows Nachlass (Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt/M., Sammlung Gutzkow, Signatur: A.1.b.1). Gutzkow modifizierte seine Preisschrift zwei Jahre später leicht und promovierte damit 1832 an der Universität Jena (Proelß, S. 243).
262,7 Schlegel’s „Weisheit der Indier“]
Friedrich von Schlegel (1772-1829, geadelt 1815), Schriftsteller der Romantik, Philosoph, Literaturtheoretiker und -historiker, Sprachforscher, Indologe; er veröffentlichte 1808 „Über die Sprache und Weisheit der Indier“, eine der ersten ausführlichen Studien über Sprache, Literatur und Geschichte Indiens.
262,7 Windischmann]
Der Mediziner, Naturwissenschaftler und Naturphilosoph der Romantik Karl Joseph Hieronymus Windischmann (1775-1839), seit 1818 Professor für Geschichte, Philosophie und Geschichte der Medizin in Bonn. Er war u. a. mit Friedrich Schlegel befreundet und von Schelling beeinflusst.
262,9 „Alarcos“ und „Ion“]
Theaterstücke der Brüder Schlegel: „Alarcos. Ein Trauerspiel“ von Friedrich Schlegel (Berlin 1802) und „Ion. Ein Schauspiel“ (Hamburg 1803) von August Wilhelm Schlegel. Die Bühnenwerke wurden 1802 von Goethe in Weimar zur Aufführung gebracht, der auch „Partei für die Brüder [ergriff], als sich gegen beide Stücke Widerspruch erhob.“ (Goethe-Handbuch. Hg. von Julius Zeitler. Bd. III. Stuttgart: Metzler, 1918. S. 278.)
262,16 „Einleitung in’s Neue Testament“]
„Die Einleitung ins N. T. trägt Hr. Prof. Dr. Schleiermacher vor, Morgens von 7-8 Uhr, fünfmal wöchentlich.“ (Verzeichniss der Vorlesungen, welche von der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin im Sommersemester 1829 vom 27. April an gehalten werden. Berlin, 1829, S. 1.) Der „Einleitung“ ging noch eine andere Vorlesung Schleiermachers voraus, an der Gutzkow gleichfalls teilnahm: „Die theologische Encyclopädie trägt Hr. Prof. Dr. Schleiermacher vor nach seinem Lehrb.: ‚Kurze Darstellung etc.‘ in fünf wöchentlichen Stunden, Morgens v. 6-7 Uhr.“ (Ebenda, S. 1.) Über Schleiermachers Vorlesungen zu früher Stunde und seine Vortragskunst vgl. Gutzkows Erinnerungen Das Kastanienwäldchen in Berlin (GWB VII, Bd. 3, 94,21-95,13).
262,21 Am 28.]
Am 28. April 1829, einem Dienstag. An diesem Tag fand auch Gutzkows Immatrikulation an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität statt.
262,28 im Herbst 1829 im Dorfe Weißensee]
Ein genaues Datum für die Predigt ist nicht festzustellen, Näheres nicht bekannt. Weißensee, ein östlich der Stadt gelegenes „kleines Kirchdorf am weißen See, an der Kunststraße von Werneuchen“ (Zedlitz, S. 794), gehörte damals noch zur weiteren Umgebung Berlins. 1920 wurde Weißensee eingemeindet und ist heute ein Ortsteil des Berliner Bezirks Pankow.
262,30 in meinem Roman „Blasedow und seine Söhne“]
Pfarrer Blasedow erzählt diese Jugendreminiszenz im ersten Teil des Romans (Karl Gutzkow: Blasedow und seine Söhne. Theil 1. Stuttgart: Verl. der Classiker, 1838. S. 183-197). Weißensee nennt er hier Schwarzensee, welches aber lieber Weißensee hätte heißen sollen, der vortrefflichen Schafmilch wegen (S. 185).
262,31 Gesammelte Werke. Bd. VI.]
Bezieht sich auf Gutzkows Gesammelte Werke. Erste vollständige Gesammt-Ausgabe, die zwischen 1872 und 1876 bei Costenoble in Jena herauskam. Hier erschien Blasedow und seine Söhne erst 1874 im 5. und 6. Band; die entsprechende Episode findet sich nicht im 6., sondern im 5. Band (S. 78-84) der Ausgabe.
249,17 musikalischen „Zukunft“]
Anspielung auf das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts grassierende Schlagwort ›Zukunftsmusik‹, das im heftig geführten Streit um Richard Wagners Musikästhetik sowohl vom Komponisten und seinen Anhängern als auch (im spöttischen bzw. pejorativen Sinne) von seinen Gegnern verwendet wurde. Vgl. zum Schlagwort ausführlich Ladendorf, S. 352-354.